Mitten ins Herz

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Der Weingutbesitzer Rome d'Angelo ist verzweifelt: Sein Großvater will, dass er die Enkelin seines Erzfeindes verführt. Dabei hat er sich längst in die hübsche Cory verliebt! Aber wird sie ihm das auch glauben, wenn sie von dem Racheplan erfährt?


  • Erscheinungstag 04.12.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733774387
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Der Wohltätigkeitsball war schon im vollen Gang, als der Fremde eintraf.

Er ging durch das prächtige, marmorverkleidete Foyer des Park Lane Hotels und steuerte zielstrebig das imposante Portal an, durch das man den Ballsaal erreichte. Der Türsteher überlegte kurz, ob er den neuen Gast nach seiner Karte fragen sollte, entschied sich aber nach einem kurzen Blick auf das markante Gesicht mit dem entschlossenen Ausdruck dagegen.

Rome d’Angelo betrat den Saal und blieb kurz stehen. Das laute Lachen und das Stimmengewirr, die die Musik fast übertönten, fielen ihm unangenehm auf. Unwillkürlich musste er an seine Weinberge denken, den hohen blauen Himmel, an dem ein Falke kreiste, und an die Stille und Abgeschiedenheit von Montedoro.

Hierherzukommen war ein Fehler gewesen, das wusste er, aber er hatte keine andere Wahl gehabt. Um seine Zukunft zu sichern, musste er alles auf eine Karte setzen. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte er sich geschworen, genau das nie wieder zu tun. Dabei hatte er jedoch vergessen, dass er auch noch einen Großvater besaß.

Rome nahm sich ein Glas Champagner von dem Tablett, das ihm ein Kellner reichte, und ging auf die Galerie, um sich ganz vorn an die Balustrade zu stellen, sodass er die gesamte Tanzfläche übersehen konnte. Falls er die neugierigen Blicke bemerkte, mit denen er mehr oder weniger unverhohlen bedacht wurde, ließ er sich davon nichts anmerken. Mit seinen gut einsneunzig und der athletischen Figur war er es gewohnt, Aufmerksamkeit zu erregen.

In jüngeren Jahren war es ihm peinlich gewesen, wenn ihn die Frauen bewundernd und verlangend betrachtet hatten, jetzt amüsierte es ihn lediglich, oder – was häufiger der Fall war – es langweilte ihn.

Im Moment jedoch war es ihm ganz einfach egal. Mit missbilligendem Blick beobachtete er die Paare, die nach dem Takt der Musik tanzten – oder sich wenigstens darum bemühten.

Er entdeckte sie sofort. Allein stand sie am Rand der Tanzfläche und trug ein silberfarbenes Kleid, das weder ihrer extrem schlanken Figur noch ihrem sehr hellen Teint schmeichelte. Sie sieht blass und farblos aus, wie ein Gespenst im Kettenhemd, dachte Rome kritisch. Wahrscheinlich hatte sie für dieses Aussehen lange hungern müssen und würde auch noch stolz darauf sein.

Warum will sie nicht aussehen wie eine Frau? fragte er sich. Und warum hatte eine Tochter aus derart reichem Hause niemanden, der sie bei der Auswahl ihrer Garderobe beriet?

Allein ihr schulterlanges hellbraunes Haar, das perfekt geschnitten war, hielt seiner Kritik stand. Auch dass sie außer einer Armbanduhr keinen Schmuck zu tragen schien, gefiel ihm. Wenigstens stellte sie ihren Reichtum nicht zur Schau.

In sich gekehrt und allein stand sie reglos inmitten des festlichen Treibens. Doch obwohl sie sich so betont von der Menge abgrenzte, konnte Rome sich nicht vorstellen, dass sie ohne Begleiter zu diesem Ball gekommen war.

Sie ist blasiert, folgerte er und lächelte verächtlich, überhaupt nicht mein Typ.

Mädchen wie sie hatte er schon genug getroffen. Den Reichtum der Familie im Rücken, setzten sie sich über die Regeln des Anstands und der Höflichkeit hinweg, behandelten ihre Mitmenschen mit Herablassung und hielten sich für etwas Besseres.

Eine solche Frau hatte er einmal sogar sehr gut gekannt.

Er runzelte die Stirn.

Es war schon lange her, seit er zuletzt an Graziella gedacht hatte, denn er hatte für immer mit ihr abgeschlossen. Warum kam sie ihm jetzt in den Sinn?

Weil sie dem Mädchen dort unten glich. Wie diese war sie mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden und hatte noch nie im Leben um etwas kämpfen müssen. Graziella konnte tun und lassen, was sie wollte, um ihre gesellschaftliche Stellung brauchte sie nicht zu fürchten.

Und Cory Grant schien der gleiche Typ zu sein: Während andere Frauen sich bemühten, möglichst schön auszusehen, zog sie sich ein unmögliches, wenn auch sündhaft teures Kleid an und provozierte die gute Gesellschaft, indem sie sich mit einer Aura der Unnahbarkeit umgab.

Ein gefährliches Spiel, Cory, dachte er, denn es reizt mich, dir diese Maske der Blasiertheit abzureißen.

Bei näherem Hinsehen fiel ihm jedoch auf, dass sie nicht so ruhig war, wie sie tat. Ihre Finger, die nervös mit den Falten ihres Abendkleides spielten, verrieten sie.

In diesem Moment schien Cory zu spüren, dass sie beobachtet wurde, denn sie hob den Kopf und sah zur Galerie – genau in Romes Augen.

Er wich ihrem Blick nicht aus, zählte lautlos bis drei, lächelte, hob sein Glas und prostete ihr zu.

Selbst auf die Entfernung konnte er erkennen, dass sie errötete. Dann drehte sie sich abrupt um und ging auf die Bar zu.

Wenn ich noch pokern würde, sagte er sich, würde ich jetzt alles wetten, dass sie sich noch einmal nach mir umdreht.

Erst schien es, als hätte er sie falsch eingeschätzt. Doch direkt vor der Bar verlangsamte sie ihre Schritte und blickte kurz über die Schulter zu ihm hin, bevor sie zwischen den anderen Gästen verschwand.

Rome lächelte selbstzufrieden, trank den letzten Schluck Champagner, setzte das leere Glas auf der Balustrade ab und drehte sich um. Schließlich holte er sein Handy aus der Brusttasche des Smokings hervor.

„Ich habe sie gesehen. Unsere Abmachung gilt“, sagte er lediglich, stellte das Handy wieder ab und ging denselben Weg, den er gekommen war, zurück auf die Straße.

Cory hatte nicht zum Ball kommen wollen – und schon gar nicht mit Philip, den, wie sie vermutete, ihr Großvater auf sie angesetzt hatte.

Gramps kann es einfach nicht lassen, dachte sie und musste unwillkürlich lächeln. Sie wusste, dass Arnold Grant nur das Beste für sie wollte – darüber jedoch, was „das Beste“ war, hatte er völlig andere Ansichten als sie.

Arnold Grant dachte an einen zuverlässigen und sozial ebenbürtigen Ehemann, ein schönes Heim und Kinder.

Cory verstand darunter Unabhängigkeit und eine Karriere, die nichts mit Grant Industries zu tun hatte. Zurzeit arbeitete sie als persönliche Assistentin ihres Großvaters und erhielt ein völlig überzogenes Gehalt dafür, dass sie ihn bei gesellschaftlichen Anlässen begleitete, seinen Terminkalender führte, als Gastgeberin fungierte und darauf achtete, dass der Haushalt reibungslos lief.

Sie wusste, dass sie diese Aufgaben auch neben einem richtigen Job hätte erledigen können, bei dem sie ihr Geld auch wirklich verdient hätte. Aber Arnold behauptete, ohne sie nicht auskommen zu können, und hatte nicht die geringsten Skrupel, den hinfälligen Greis zu spielen, sobald er spürte, dass sie rebellieren wollte.

Dass er ihr erlaubt hatte, aus der Villa in Chelsea auszuziehen und sich eine eigene kleine Wohnung zu mieten, sah ihr Großvater als ungeheures Zugeständnis an. Cory hatte fast ein Jahr lang all ihre Überredungskünste aufbieten müssen, bis er endlich eingewilligt hatte. Aber obwohl sie nun nicht mehr unter seinem Dach lebte, sah Arnold Grant es als sein gutes Recht an, sich in all ihre Angelegenheiten einzumischen.

So war sie auch zu diesem Ball gekommen, den sie eigentlich gar nicht hatte besuchen wollen. Aber Arnold Grant, der ein bedeutender Förderer der veranstaltenden karitativen Vereinigung war, hatte darauf bestanden, sie als seine Vertreterin zu schicken. Philip, den Sohn eines Geschäftsfreundes, hatte er – wahrscheinlich durch eine mehr oder weniger offene Androhung finanzieller Konsequenzen – dazu gebracht, sie zu begleiten. Keine sehr angenehme Vorstellung, wie Cory zugeben musste.

Zudem hatten sich bisher all ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet. Philips Gesicht, nachdem sie ihren Mantel abgelegt und er ihr Kleid gesehen hatte, hatte Bände gesprochen.

Findest du dieses Kleid so schlimm? hätte sie ihn am liebsten gefragt. Dann hättest du erst einmal die anderen Roben sehen sollen, die man mir gezeigt hat. Ich habe es nur gekauft, weil ich keine Zeit mehr hatte, jedoch unbedingt ein Kleid brauchte – ich weiß natürlich, dass ein großer Sack, der auch mein Gesicht verdeckt hätte, besser zu mir gepasst hätte.

Natürlich hatte sie nichts dergleichen geäußert. Sie hatte sich zusammengerissen, gelächelt und Philip erlaubt, ihren Arm zu nehmen und sie in den Saal zu führen.

Und als er sie dann pflichtschuldigst zum Tanz aufgefordert hatte, war sie ihm ungeschickterweise auf den Fuß getreten. Daraufhin hatte er sofort angeboten, ihr etwas zu trinken zu holen, hatte sie an den Rand der Tanzfläche geführt und war in der Bar verschwunden.

Das war nun schon über eine Viertelstunde her, höchste Zeit, um nach ihrem säumigen Begleiter zu suchen, denn sie hatte wirklich Durst.

Cory seufzte leise. Bei Anlässen wie diesen fühlte sie sich immer als Außenseiterin – wie ein Elefant im Porzellanladen, sagte sie sich mit leiser Selbstironie. Mit ihren beinahe einsachtzig überragte sie fast alle Frauen und viele Männer. Obwohl sie flache Schuhe trug, war Philip kaum größer als sie – ein weiterer Wermutstropfen, der ihr Glück an diesem Abend trübte.

Außerdem bin ich eine schlechte Tänzerin, fuhr sie in ihrer Selbstkritik fort. Ich habe kein Gefühl für Rhythmus, meine Bewegungen sind hölzern und manchmal sogar ausgesprochen ungeschickt: Stolpere ich nicht über die Füße meines Partners, dann über meine eigenen. Und viel schlimmer noch, bei dem bei diesen Gelegenheiten üblichen Small Talk kann ich höchstens einige Minuten mithalten, dann gehen mir die Themen aus!

Cory wünschte im Moment nichts sehnlicher, als zu Hause mit einem Buch und einem guten Glas Wein auf der Couch zu liegen.

Aber jetzt musste sie sich in Bewegung setzen, sonst würden die Leute noch meinen, sie wäre zur Salzsäule erstarrt. Auch wollte sie nach ihrem unglücklichen Begleiter suchen. Vielleicht sollte sie sich gleich mit Kopfschmerzen entschuldigen und ihn aus der Pflicht entlassen.

Plötzlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Wahrscheinlich fragt sich jemand, ob ich nur eine Schaufensterpuppe in einem unmöglichen Kleid bin, dachte sie und sah unwillkürlich auf.

Als sich ihr Blick mit dem eines Fremden oben auf der Galerie traf, stellte sie fest, dass ihr Herz aufgeregt klopfte, denn von Männern wie ihm wurde sie im Allgemeinen nicht beachtet.

Der Mann war tadellos gekleidet und trug einen Smoking, wie es sich für diesen Anlass gehörte, doch Kopftuch und schwarze Augenklappe eines Piraten hätten besser zu seinem Typ gepasst.

Cory schalt sich eine unverbesserliche Romantikerin, denn trotz seiner ungewöhnlich langen schwarzen Locken war dieser Mann wahrscheinlich ein erfolgreicher Rechtsanwalt oder Bankmanager. Kein Freibeuter würde sich die Eintrittskarten für diesen Ball leisten können.

Außerdem war es höchste Zeit, sich diskret zurückzuziehen, anstatt dazustehen wie ein Mondkalb und diesen Mann anzustaunen.

Bevor sie jedoch ihre Absicht in die Tat umsetzen konnte, lächelte der Fremde, hob sein Glas und prostete ihr zu.

Cory fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, ohne dass sie dagegen etwas hätte unternehmen können – ein Übel, unter dem sie schon seit ihrer Kindheit litt.

Ich drehe mich jetzt um, dann werde ich sehen, welcher Frau seine Bewunderung in Wirklichkeit gilt, sagte sie sich. Wahrscheinlich einer hinreißenden Blondine, die weiß, wie man sich anzieht – und auszieht. Einer Frau, deren Ausstrahlung vor Erotik knistert, selbst wenn sie nur eine banale Bemerkung über das Wetter macht.

Aber niemand, auch keine aufsehenerregende Schönheit, stand hinter ihr. Sie, Cory, war es, der die Aufmerksamkeit des Fremden galt, und allein sie war es, die er erwartungsvoll anlächelte.

Ihr Atem ging schneller. Am liebsten wäre sie quer über die Tanzfläche geeilt, die Stufen der breiten Marmortreppe hinaufgestiegen und zu ihm gegangen. Sie verspürte plötzlich eine Sehnsucht, die so schmerzte, dass sie aus ihrer Trance erwachte.

Das darf doch nicht wahr sein, schalt sie sich, ich bin wohl völlig verrückt geworden! Nichts wie weg hier!

Abrupt drehte sie sich um und machte sich auf den Weg in die Cocktailbar, um Philip zu suchen. Trotz aller guten Vorsätze konnte sie es jedoch nicht lassen, einen letzten, kurzen Blick über die Schulter zu riskieren. Schockiert stellte sie fest, dass der Fremde immer noch am selben Fleck stand, lächelte und sie beobachtete. Das ist verrückt! dachte sie noch einmal.

Philip besaß zwar weder eine beeindruckende Persönlichkeit, noch erinnerte er sie an einen Seeräuber aus einem Abenteurerfilm, dafür brachte er aber auch ihr Seelenleben nicht durcheinander. Sie drängte sich in die überfüllte Bar und fand ihn schließlich mit einigen Freunden an einem Ecktisch. Die Männer lachten schallend, und sofort bildete sich Cory ein, dass sie Witze über sie machten.

Du leidest unter Wahnvorstellungen, vermutete sie, höchstwahrscheinlich hat Philip längst vergessen, dass es eine Frau wie dich überhaupt gibt. Sie zuckte die Schultern. Dann leide ich eben unter Wahnvorstellungen, resignierte sie, schließlich habe ich meine Erfahrungen …

Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge und bestellte sich an der Theke eine Weinschorle. Gerade wollte sie das Glas an die Lippen setzen, als ihr jemand auf die Schulter klopfte.

In panikartigem Schrecken zuckte sie zusammen, kippte sich fast den gesamten Inhalt ihres Glases über das verhasste silberne Kleid und drehte sich um, zwischen Angst und Hoffnung hin und her gerissen.

Doch nur Shelley Bennet stand vor ihr, eine alte Schulfreundin, die jetzt hauptberuflich für eine karitative Organisation arbeitete. „Cory! Ich habe dich gesucht wie eine Stecknadel im Heuhaufen. Ich dachte schon, du hättest doch noch gekniffen.“

Cory seufzte und versuchte, ihr Kleid mit einem winzigen Spitzentaschentuch trocken zu tupfen. „Das hätte ich auch gern, aber du kennst ja Gramps und seinen eisernen Willen!“

„Bist du etwa allein hier?“ Shelley runzelte die Stirn.

„Nein, mit Philip Hamilton. Er sitzt dort drüben und gönnt sich eine wohlverdiente Pause“, klärte Cory ihre Freundin auf. „Es kann durchaus sein, dass ich ihm einen Zeh gebrochen habe.“ Sie zögerte. „Shelley, ist dir eben im Ballsaal ein Mann aufgefallen?“

„Dutzende, um ehrlich zu sein, und sie haben sogar getanzt, mit Frauen in langen Kleidern. Eigenartiges Benehmen auf einem Ball, findest du nicht auch?“

„Sei nicht albern, Shelley! Der Mann, den ich meine, war anscheinend allein da – und er sah auch nicht so aus, als ob er zum Tanzen gekommen wäre.“ Eher zum Rauben und Plündern, dachte sie, vielleicht sogar zum Brandschatzen.

Shelley bekam glänzende Augen vor Neugier. „Interessant! Und wo hast du ihn entdeckt?“

„Oben auf der Galerie.“ Cory überlegte. „Eigentlich sonderbar, denn normalerweise weiß man schon im Voraus, wen man auf einem Anlass wie diesem trifft. Dieser Mann jedoch war ein Fremder, ich habe ihn noch nie zuvor gesehen.“

„Jedenfalls hat er dich tief beeindruckt und aus deinem Dornröschenschlaf aufgeschreckt.“ Shelley lächelte amüsiert. „Endlich wirkst du wie eine Frau aus Fleisch und Blut und nicht wie eine Statue aus Marmor.“

„Red keinen Unsinn!“ Cory war entrüstet.

„Was zahlst du, wenn ich die Gästeliste durchgehe und dir seinen Namen und seine Telefonnummer verrate?“

„Du hast mich völlig falsch verstanden!“, protestierte Cory. „Ich bin lediglich überrascht, auf diesem Ball ein neues Gesicht entdeckt zu haben.“

„Wenn du meinst“, lenkte Shelley ein, ohne ihre Freundin dabei jedoch aus den Augen zu lassen. „War es denn wenigstens schön, das neue Gesicht?“

„Nein, das würde ich nicht behaupten.“ Cory schüttelte den Kopf. „Nicht schön – aber interessant.“

„In diesem Fall werde ich die Gästeliste natürlich genauestens durchforsten.“ Shelley hakte sich bei ihrer Freundin ein. „Komm, zeig ihn mir.“

Der geheimnisvolle Fremde war jedoch verschwunden. Hätte nicht noch das leere Champagnerglas auf der Balustrade gestanden, Cory hätte geglaubt, er sei nur ein Hirngespinst von ihr gewesen.

„Wahrscheinlich ist er in die Fänge einer Nymphomanin geraten.“ Shelley seufzte gespielt dramatisch. „Oder er hat die Stimmung hier auf sich wirken lassen und sich dann gesagt, dass es zu Hause doch am schönsten ist.“

Auf alle Fälle hat er mich auf sich wirken lassen und ist dann wahrscheinlich zu der Überzeugung gekommen, dass ich eine zwar bedauernswerte, aber im höchsten Maße langweilige Außenseiterin bin, dachte Cory enttäuscht.

Dennoch gab sie sich fröhlich. „Da kann ich Mr Unbekannt nur zustimmen! Auch ich würde jetzt lieber gemütlich auf meinem Sofa sitzen – und genau das werde ich auch tun.“ Sie winkte einen Ober herbei, schrieb eine kurze Nachricht für Philip auf seinen Bestellblock, gab ihm ein Trinkgeld und bat ihn, den Zettel dem Herrn drüben am Ecktisch zu bringen.

Shelley seufzte. „So einfach lässt du deine beste Freundin im Stich?“

„Tut mir leid.“ Cory lachte. „Aber ich habe meine Pflicht und Schuldigkeit getan und mich auf dem Ball gezeigt. Gramps wird zufrieden sein, und das ist alles, was ich wollte.“

„Und Philip?“

„Er hat mich nur gezwungenermaßen begleitet und wird froh sein, auf dem Heimweg nicht den leidenschaftlichen Liebhaber spielen zu müssen“, antwortete Cory ironisch.

„Vielleicht müsste er ja gar nicht spielen.“ Shelley überlegte. „Cory, erzähl mir bloß nicht, dass du noch diesem Windhund von Rob hinterhertrauerst! Du kannst dir doch nicht durch eine einzige schlechte Erfahrung das ganze Leben verderben lassen!“

„An Rob denke ich überhaupt nicht mehr“, behauptete Cory und wünschte, das würde auch stimmen. „Aber ich habe meinen Märchenprinzen einfach noch nicht gefunden.“

„Dann vertreib dir doch die lange Zeit des Wartens, und gönn dir ein kleines Abenteuer mit einem attraktiven Nicht-Märchenprinzen – einfach so aus Spaß“, schlug Shelley vor und lächelte hintergründig.

Cory musste an den geheimnisvollen Fremden auf der Galerie denken, und obwohl ihr Herz schneller schlug, gab sie sich gelassen.

„So etwas kann mich nicht reizen, das ist mir zu gefährlich“, antwortete sie betont gleichgültig. „Ich bleibe lieber Single, das ist sicherer.“

Shelley seufzte. „Und langweiliger. Aber wenn du meinst, dass du jetzt unbedingt nach Hause musst, dann geh. Ich ruf dich dann morgen an, und wir verabreden uns zum Essen. Hinterher könnten wir noch ins Kino gehen – wie wäre es mit dem neuen Film mit Nicholas Cage?“

„Gegen den guten alten Nicholas Cage habe selbst ich nichts einzuwenden.“ Cory gab Shelley einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ging.

Der Taxifahrer war ein schweigsamer Mensch, was Cory nur recht war. Sie kuschelte sich in ihren Sitz und fühlte, wie ihre innere Anspannung langsam nachließ.

Ich muss Gramps gegenüber nachdrücklicher werden, nahm sie sich vor, ich muss verhindern, dass er Verabredungen für mich organisiert.

Obwohl sie über Philips Benehmen nur den Kopf schütteln konnte und sich elegant aus der Affäre gezogen hatte, war sie doch gekränkt. Philip hatte sie einfach allein an der Tanzfläche stehen lassen und sich mit seinen Freunden amüsiert. Er hatte sie den neugierigen Blicken eines Mannes ausgesetzt, der ganz offensichtlich ein Frauenheld war.

Als Cory zu Hause ihren Mantel auf den Bügel hängte, gestand sie sich bedrückt ein, dass das Singledasein einen großen Nachteil hatte: Niemand war da, mit dem man seine Probleme hätte besprechen können.

Sie hätte natürlich ihre Mutter anrufen können, die nach Miami gezogen war, um ihr Witwendasein in vollen Zügen zu genießen. Aber wahrscheinlich war Sonia um diese Zeit gar nicht zu erreichen, weil sie gerade Bridge spielte. Mit Gramps konnte sie auch nicht sprechen, denn er würde Begeisterung über den gelungenen Abend von ihr erwarten. Sie musste sich also erst eine passende Geschichte ausdenken, bevor sie sich wieder bei ihm meldete.

Vielleicht sollte ich mir eine Katze anschaffen, überlegte sie, wie es sich für eine alte Jungfer gehört – aber vielleicht war es mit dreiundzwanzig doch noch etwas zu früh dazu.

Sie streifte sich das silberne Abendkleid von den Schultern und legte es sorgfältig über einen Stuhl. Sie würde es reinigen lassen und einem Wohltätigkeitsbasar spenden.

Als sie nach ihrem seegrünen Morgenmantel griff, hielt sie plötzlich mitten in der Bewegung inne. Normalerweise sah sie nur in den Spiegel, wenn sie sich schminkte oder frisierte, jetzt ertappte sie sich dabei, wie sie nicht nur ihr Gesicht, sondern den ganzen Körper kritisch musterte.

Ihre spitzenbesetzten Dessous aus silbergrauer Seide waren so zart, dass sie nichts verhüllen konnten. Meine Brüste sind zwar gut geformt, aber viel zu klein, stellte sie selbstkritisch fest, und auch sonst fehlen mir die typisch weiblichen Rundungen. Mein einziger Pluspunkt sind die langen Beine.

Kein Wunder, dass ihre Mutter mit ihrer verführerischen Figur sie immer betrachtet hatte, als hätte sie eine Giraffe statt einer Tochter geboren.

Ich habe mein Aussehen von Gramps und Dad geerbt, stellte Cory fest. Es wäre wirklich besser gewesen, wenn ich ein Junge geworden wäre.

Entschlossen schlüpfte sie in ihren Morgenmantel und genoss das Gefühl des warmen, weichen Samts auf der Haut. Dann verteilte sie etwas Reinigungsmilch im Gesicht und entfernte mit einem Schwämmchen das bisschen Schminke, das sie zu verwenden pflegte. Ein Hauch Lidschatten, etwas Lipgloss und dunkle Wimperntusche, um ihre braunen Augen zu betonen, war alles, was sie brauchte. Auf Rouge konnte sie verzichten, denn ihre hohen Wangenknochen waren auch so ausdrucksvoll genug.

Mein Gesicht ist eigentlich ganz in Ordnung, fand sie, schade, dass ich so knochig bin.

Warum nur betrachtete sie sich heute derart kritisch? Vielleicht, weil Shelley Rob erwähnt hatte, denn sein Einfluss auf sie war immer noch so stark, dass die bloße Erwähnung seines Namens die ganze unglückliche Vergangenheit wieder lebendig werden ließ.

Mir ist anscheinend nicht zu helfen, dachte sie. Ich sollte diesen Mann endlich vergessen und meinem Leben eine neue Perspektive geben. Diesen guten Ratschlag höre ich schließlich oft genug.

Aber für Cory gab es Dinge im Leben, die sie nicht so einfach vergessen konnte, obwohl sie es gern getan hätte.

Sie ging in ihre winzige Küche und machte sich Milch warm. Ein schöner, heißer und stark gesüßter Kakao war genau das, was sie jetzt brauchte.

Den Becher mit dem dampfenden Getränk in der Hand, machte sie es sich in ihrem Lesesessel bequem und blickte versonnen in die bläulichen Flammen, die über die imitierte Kohle ihres Gaskamins zuckten. Eines Tages, schwor sie sich, werde ich ein Haus mit einem echten Kamin besitzen, einem, der so groß ist, dass man ein ganzes Spanferkel darin grillen kann.

Cory wusste, dass sie sich diesen Wunsch sofort hätte erfüllen können. Ein Wort, und Arnold Grant würde einen Makler beauftragen, sofort nach einem entsprechenden Anwesen zu suchen.

Das wollte sie jedoch nicht.

Schon sehr früh hatte sie herausgefunden, dass sie als Alleinerbin der Baugesellschaft ihres Großvaters nur eine Bitte zu äußern brauchte, und schon wurde sie erfüllt. Arnold Grant wartete nur darauf, seiner Enkelin den ausgefallensten Wunsch zu erfüllen. Deshalb überlegte sie stets genau, was sie sagte, und blieb bescheiden in ihren Ansprüchen.

Und diese Wohnung mit den zwei Zimmern, der winzigen Küche und dem ebenso winzigen Bad war genau das, was sie im Moment brauchte. Cory sah sich zufrieden um.

Der Vermieter hatte ihr erlaubt, die Auslegeware zu entfernen, und wunderschöne alte Dielenbretter waren zum Vorschein gekommen. Cory hatte sie abschleifen und ölen lassen, sodass die Maserung und der honigfarbene Ton des Holzes wieder zur Wirkung kamen.

Die Wände waren in sattem Creme gestrichen, und das große Sofa und ihr Lesesessel waren grün bezogen. Ein Glastisch mit zwei zierlichen Stühlen bildete den Essbereich, und auf einem Eckschreibtisch – den sie in Einzelteilen gekauft und in stundenlanger mühsamer Arbeit selbst zusammengebaut hatte – standen Telefon, Fax und Laptop.

Das bedeutete jedoch nicht, dass Cory den Großteil ihrer Arbeit von zu Hause aus erledigte. Die Wohnung hatte von Anfang an eine Fluchtburg sein sollen, und Cory bemühte sich stets, mit dem Öffnen der Eingangstür die Firma mit all ihren Problemen zu vergessen – was ihr jedoch nie für längere Zeit gelang.

Den Computer benutzte sie hauptsächlich, um online Aktiengeschäfte zu tätigen. Das hatte sie von Rob gelernt, und auch die traumatische Trennung von ihm hatte ihr Interesse an Börsengeschäften nicht mindern können. Für Cory war es ein ideales Hobby, da sie es ohne Partner betreiben konnte.

Sie hatte schon früh gelernt, sich allein zu beschäftigen, da sie ein Einzelkind geblieben war, was ihre Eltern eigentlich gar nicht beabsichtigt hatten, denn weitere Kinder hätten folgen sollen.

Aber Sonia und Ian Grant hatten keine Eile gehabt. Sie war Tennisspielerin gewesen, er ein bekannter Rallyefahrer, beide hatten das Leben in vollen Zügen genossen und waren berühmt gewesen für ihre rauschenden Partys.

Sonia spielte damals gerade in Kalifornien, als sie die Nachricht von Ians Tod erhielt. Wegen eines geplatzten Reifens war sein Auto mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Baum geprallt.

Sonia versuchte, ihre Trauer im Tennis zu vergessen, und die folgenden zwei Jahre verbrachte Cory mit ständig wechselnden Kindermädchen in ständig wechselnden Hotelsuiten.

Als Cory dann schulpflichtig wurde, schaltete sich Arnold Grant ein. Er bestand darauf, dass das Kind zu ihm nach England kam, um einen geregelten Tagesablauf zu haben und eine hervorragende Privatschule besuchen zu können. So spielte sich Corys Kindheit sowohl in der Villa in London als auch auf dem Landsitz in Blundham ab, wo sie es viel schöner fand als in der Stadt.

Autor

Sara Craven
Sara Craven war bis zu ihrem Tod im November 2017 als Autorin für Harlequin / Mills & Boon tätig. In über 40 Jahren hat sie knapp hundert Romane verfasst. Mit mehr als 30 Millionen verkauften Büchern rund um den Globus hinterlässt sie ein fantastisches Vermächtnis. In ihren Romanen entführt sie...
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