Mondschein über dem Nil

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Verführerisch glänzen seine Augen im Licht des Mondes. Und diese sinnlichen Lippen ... Entzückt bewundert Brianna Donally das Antlitz des Fremden, der da mitten in einer Wüstenoase vor ihr steht - bis ihn ein plötzlicher Hieb außer Gefecht setzt. Woher sollte Briannas Schwägerin auch wissen, dass der Unbekannte nicht zu den berüchtigten Skarabäus-Banditen gehört, die sie verfolgen? Aber dreist wie ein Bandit ist Major Michael Fallon allemal. Erregend dreist! Als er Brianna einen Kuss raubt, strömt eine prickelnde Welle durch ihren Körper. Und ehe sie sich versieht, steckt sie mitten in einer heißen Affäre mit Kairos größtem Frauenheld!


  • Erscheinungstag 28.11.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769406
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Ägypten 1870

Major Michael Fallon ging in die Hocke und hielt mit zusammengekniffenen Augen Ausschau nach dem Ding, das er beim Erklimmen der letzten Düne erspäht hatte. Es war nur ein dunkles Flattern in der gleißenden Sonne gewesen, aber schließlich fand er es zwischen losem Geröll – ein dünnes Gespinst, verhakt an einem Gesteinsbrocken. Er hob den Schleier an die Nase. Der Duft nach englischen Rosen berührte seine Sinne. Michael ließ die Seide durch die Finger gleiten und wandte sich einem grauen Araberpferd zu, dessen Zügel im Sand schleiften. Wo war der Reiter, dem er gefolgt war?

Er griff nach dem Feldstecher an seiner Brust und stülpte die Lederkappen über die Linsen, um zu verhindern, dass die tief im Westen stehende Sonne die Gläser aufblitzen ließ. Ein Wachturm und eine bröckelnde Ruine, vor Jahrhunderten errichtet und längst den Wüstenstürmen überlassen, bildeten eine dunkle Silhouette gegen den indigoblauen Himmel in der rasch hereinbrechenden Dämmerung. Für einen geübten Schützen wäre er ein leichtes Ziel, sobald er sich in offenes Gelände wagte.

Leise fluchend warf er einen Blick zurück auf sein Kamel, das sich in einiger Entfernung im Sand niedergelassen hatte, hoheitsvoll und gelangweilt, ohne sich um die aufsteigende Nachtkälte zu kümmern. Er zog eine Dose Pfefferminz aus seinem Burnus, schob sich eine Pastille unter die Zunge und schnupperte noch einmal an dem Schleier, bevor er ihn einsteckte.

Den Karabiner in der Hand, mit wehendem Burnus, der gegen seine Stiefel schlug, stapfte er im Schutz der Düne hinter dem Pferd her auf den Wachturm zu. Drei schlaflose Nächte – wohl auch die Nachwirkungen der Prügel, die ihm eine Bande Sklavenhändler bei einem Überfall in Kharga vor ein paar Tagen verpasst hatten – machten sich bemerkbar. Er spürte jeden Muskel in Rücken und Beinen, während er sich in gebückter Haltung durch den tiefen Sand kämpfte.

Das Pferd trottete einen Pfad hinauf – und blieb stehen.

Michael ging in die Hocke, seine Faust fest um den Gewehrkolben. Quer über der Brust hatte er zwei Pistolen geschnallt, in der linken Hand hielt er einen Dolch. Solche alten Wachtürme wiesen meist auf ein Wasserloch hin. Er sah zwar kein Vieh, vermutete aber, dass hinter der Ruine ein paar Ziegen in einem Pferch standen. Direkt vor ihm zeichnete sich ein schmaler Fußabdruck im Sand ab. Er verlagerte das Gewicht, hob den Blick in die Felsen und hörte direkt hinter sich das Klicken einer Pistole.

Michael erstarrte.

„Keine Bewegung oder ich schieße!“, warnte eine unverwechselbar weibliche Stimme.

Ohne die Waffen fallen zu lassen, richtete Michael sich langsam auf und drehte sich um. Der Tagilmust seines Turbans hing ihm lose über die Schulter. Einen atemlosen Moment stand er der Frau gegenüber, den Blick auf ihre Augen geheftet. Vermutlich lagen hinter den Mauerresten noch andere Menschen auf der Lauer. Aber er hatte nicht erwartet, in der Sahara auf eine blauäugige Frau zu treffen, die einen Pistolenlauf auf ihn richtete.

Gegen das Mondlicht zeichneten sich ihre weiblichen Formen unter ihrem Gewand ab. Eine dunkle Haarsträhne hatte sich aus dem dicken Zopf gelöst und hing ihr ins blasse Gesicht.

Michaels Augen funkelten in bitterer Selbstironie. Die Kaltblütigkeit der Frau flößte ihm gleichermaßen Respekt ein wie ihre Pistole. „Da habe ich wohl noch mal Glück gehabt“, stellte er gleichmütig fest, hob die Arme und ergab sich.

Die Bewegung gab weite, weiße Sirwal-Hosen unter seinem Burnus frei, die in hohen Lederstiefeln steckten.

Die Frau hielt weiterhin unverwandt seinen Blick fest. Dieses faszinierende Blau hatte ihn wahrscheinlich daran gehindert, sie zu töten. Und die Tatsache, dass sie Englisch sprach – und er Englisch antwortete.

Er hörte das Rascheln hinter sich nicht, sah nur die Sterne, die in seinem Kopf explodierten. Dann fiel er nach vorn und schlug mit dem Gesicht in den Sand.

Brianna Donally konnte kaum atmen, als sie das Fernglas an die Augen setzte und die Wüste absuchte, während die Übelkeit in ihrer Magengrube sich mit jeder Sekunde verstärkte. Das weiße Kamel lag immer noch in majestätischer Ruhe im Sand. Sie war gezwungen, sich ins offene Terrain hinauszuwagen, obwohl da draußen in der Dunkelheit gewiss noch ein Mensch herumschlich. Trotz aller Bemühungen, ihre Spuren zu verwischen, waren ihnen Verfolger auf den Fersen. Zuerst die zwei Männer heute früh. Und dann der Mann auf dem Kamel.

Ein Verfolger lag mittlerweile tot in der Wüste. Sie hatte ihn am Morgen erschossen. Und nun lag der Bärtige bewusstlos hinter ihr.

Ihre Schwägerin kauerte an der Steinmauer, erschöpft und keuchend, nachdem sie zu diesem Unterschlupf gerannt waren.

„Meinst du, ich habe ihn getötet, Brianna?“, fragte Lady Alexandra bang und warf ihren breitrandigen Strohhut neben sich in den Sand. Ihre linke Wange war geschwollen, aus einer Wunde am Mund tropfte Blut auf ihre zerrissene Bluse. „Wir können ihn nicht … den Aasgeiern überlassen … wie den andern.“

Es war ihnen gelungen, zwei Verfolger abzuschütteln. Brianna schloss die Augen und lehnte die Stirn gegen die Mauer, spürte die wohltuende Kühle. Die Banditen würden mit Sicherheit nach den zwei inglizi missies suchen, die das Massaker überlebt hatten. Brianna war jedenfalls nicht bereit, sich von Lady Alexandras unangebrachtem Mitgefühl ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen, genauso wenig wie sie ihre kostbare Kraft damit vergeuden würde, einen eiskalten Mörder zu verscharren.

Wie viel von dem Blut auf Alexandras zerrissenem Leinenjackett und Hosenrock von dem Soldaten stammte, der dicht neben ihr erschossen worden war, wusste niemand.

„Hätte der Schuft den Wunsch gehabt, nach den Riten seines Stammes begraben zu werden, hätte er uns nicht angreifen dürfen.“

Brianna blinzelte heftig, um ihre Benommenheit abzuschütteln und klar denken zu können. Der Halbmond hing wie ein gelber Lampion am Himmel. Nichts rührte sich in der fahlen Wüste; das absolute Schweigen machte die tote Landschaft noch Furcht einflößender. Wenn sie sich auf offenes Gelände wagten, waren sie dem Tod geweiht, wenn sie aber in ihrem Versteck ausharrten, waren sie genauso verloren – das Sterben wäre nur langsamer und qualvoller.

„Oh Gott, Brianna“, flüsterte Lady Alex in die tödliche Stille. „Ich fürchte, mir wird wieder übel.“ Sie legte die Stirn auf ihre angezogenen Knie.

Brianna schlang die Arme um ihre Schwägerin. „Versuch tief und gleichmäßig zu atmen. Wir müssen stark bleiben.“

Ein Windstoß wehte ihr Sand ins Gesicht. Der Gedanke, dass die unerschrockene Lady Alexandra auf ihre Hilfe angewiesen war, versetzte Brianna in Panik. Sie war nicht daran gewöhnt, Verantwortung für andere zu tragen, und hatte Angst zu versagen.

Sie hatte bereits versagt.

Wenn Alex zusammenbrach, war es an ihr, sie in Sicherheit zu bringen. Wie aber sollten zwei hilflose Frauen die Entbehrungen und Strapazen in der Wüste durchstehen?

Jetzt hatten sie noch zwei weitere Pistolen und ein scharfes Messer, einen gekrümmten Dolch, dessen bloßer Anblick ihr kalte Schauer über den Rücken jagte. Der Gedanke, mit dieser Waffe zu töten, lähmte sie vor Grauen. Ihre Flinte war am Schaft gebrochen, als Alex sie dem Mann mit dem dunklen Bart über den Schädel geschlagen hatte. Sein Gewehr aber war so schwer, dass sie es kaum hochheben konnte. Diese Waffe war praktisch nutzlos, um einen Angriff aus der Ferne abzuwehren.

Munition hatten sie nun reichlich. Schade, dachte Brianna in bitterer Ironie, wenn man Schießpulver essen könnte, würden sie davon satt werden.

Sie sollte das Kamel holen, aber beim Gedanken, sich in die offene Wüste zu wagen, brach ihr der kalte Angstschweiß aus allen Poren. Brianna Donally, die berüchtigte Aktivistin in politischen Kämpfen, hatte Angst vor der Dunkelheit.

Wie unbedeutend und lächerlich waren doch all ihre Probleme, verglichen mit dieser Situation, da es einzig und allein darauf ankam, kaltblütig zu töten, um das eigene Leben zu retten.

Wahrscheinlich würden sie ohnehin verhungern. Es gab nichts zu essen, und Brianna hatte keine Ahnung, wo und was man in der Wüste jagen könnte. Das einzige Wasser, das sie seit Tagen gefunden hatten, lag an einer Stelle, die nicht vor Eindringlingen sicher war.

Brianna legte die flache Hand an Lady Alex’ Stirn. „Wenigstens hast du kein Fieber.“ Sie setzte ihr den Wasserschlauch an die Lippen.

„Der Sand knirscht mir zwischen den Zähnen.“ Das wirre Haar fiel Alex halb über die angstvoll geweiteten Augen. „Ich habe einen Mann getötet und sollte mir Gedanken machen, was passiert, wenn ich ihm in der Hölle begegne.“

Brianna stand auf. „Wir werden ihm wohl beide begegnen, meine Liebe, aber auch den Mördern, die unsere Karawane überfallen und ausgeraubt haben.“ Ihre Stimme klang schärfer als beabsichtigt. „Du hast nur getan, was du tun musstest, weil ich zu feige war abzudrücken.“

„Brianna …“

„Hier können wir nicht bleiben. Da draußen treiben sich mit Sicherheit noch mehr Banditen herum.“

Brianna nahm eine der schweren Pistolen an sich und huschte gebückt hinter den Turm, um nach dem Kamel zu sehen und nach dem Pferd, das hinter ihnen hergetrottet war. Es hatte sie schon ungeheure Überwindung gekostet, eine Waffe aus einer Entfernung von hundert Schritten zur Selbstverteidigung abzufeuern; aber auf einen Mann aus nächster Nähe zu schießen, der noch nicht einmal abstoßend ausgesehen hatte, das hatte sie nicht über sich gebracht. Der Kerl hatte etwas Seltsames in ihr ausgelöst, etwas wie ungläubiges Staunen, und sie hatte gezögert. Die Augen in seinem markant geschnittenen dunklen Gesicht hatten beinahe silbern gefunkelt; seine melodisch dunkle Stimme hatte kultiviert geklungen, und er hatte akzentfreies Englisch gesprochen. Hätte Alex ihm den Gewehrkolben nicht über den Schädel geschlagen, hätte der hünenhafte Beduine Brianna vermutlich mit seinem abscheulichen Krummdolch die Kehle aufgeschlitzt.

Am liebsten hätte sie vor Verzweiflung geweint. Seit Tagen hielt sie ihre Tränen zurück.

Das Kamel bewegte sich, als sie sich näherte. „Wie geht es dir, meine Schöne?“, flüsterte Brianna und rieb ihm die weiche braune Schnauze, wurde aber nur mit einem übellaunigen Grunzen belohnt, dem Brianna keine weitere Beachtung schenkte, da dieses Kamel ständig schlechter Laune war. „Wenigstens müssen wir nicht mehr zu zweit auf dir reiten. Jetzt haben wir ein Pferd.“

Ohne das ausdauernde Wüstenschiff hätten Alex und sie es wohl nicht so weit geschafft. Seit drei Tagen waren sie nun in der sengenden Hitze unterwegs, hatten sich in kalten Nächten aneinandergekuschelt, bis sie die Pfütze einer Oase zwischen verstreuten Gesteinsbrocken gefunden hatten. In der Nähe einer Turmruine, vermutlich irgendwann von Nomaden errichtet, um ihre Ziegen zu bewachen. Wobei Brianna sich nicht vorstellen konnte, wo die Tiere Nahrung gefunden haben mochten. Nur ein paar vertrocknete Dattelpalmen und dürres Dornengestrüpp kämpften ums Überleben.

Sie mussten bald aufbrechen. Aber vielleicht war alles sinnlos, und sie würden sowieso sterben, ob sie nun blieben oder weiterzogen. Brianna hatte keine Ahnung, in welcher Richtung das Camp ihres Bruders lag.

Mittlerweile hatte Christopher gewiss erfahren, dass ihnen etwas zugestoßen war.

Brianna warf einen Blick über die Schulter: Höchste Zeit umzukehren und sich davon zu überzeugen, ob der Beduine wirklich tot war.

Es war wohl eine Viertelstunde her, seit sie ihn mit Stricken an Händen und Füßen gefesselt und den Unterschlupf verlassen hatten. Vielleicht sollten sie noch einen Tag bleiben, um zu schlafen und nach etwas Essbarem zu suchen.

Hoffentlich war er tot.

Brianna öffnete ihre verkrampften Finger und starrte auf die Pistole in ihrer Hand. Seine Waffe. Der glatte Elfenbeingriff war zu groß für ihre zierlichen Finger. Sie dachte an Captain Pritchards und all die anderen, die so grausam ums Leben gekommen waren. An den dunkeläugigen Burschen, mit dem sie sich angefreundet hatte: der Neffe eines Karawanenführers. An all die Soldaten, die im Kugelhagel der Banditen gefallen waren. Diese Schreckensbilder hatten sich in ihr eingebrannt. Brianna kniff die Augen zusammen, um das Blutbad zu verdrängen.

„Wo ist all meine Energie geblieben?“, flüsterte sie, und ihr Blick fiel auf die Kiste mit ihrer Fotoausrüstung, die immer noch hinten am Kamelsattel festgezurrt war. Sie war mit hochfliegenden Träumen in dieses Land gereist, um ihre Ziele zu verwirklichen. „Gibt es kein Zeichen, dass wir in dieser Wüste nicht elend zugrunde gehen müssen? Lieber Gott, schick mir wenigstens einen Blitz vom Himmel.“

Brianna hatte sich in den Sand gekauert und die Sattelgurte fester gezurrt. Plötzlich schnellte eine große Echse aus den Gesteinsbrocken neben ihr. Erschrocken sah sie, wie das Tier mit aufgestelltem Schwanz watschelnd den Felsen auf der anderen Seite des Wasserlochs zustrebte.

Sie packte die Pistole fester und nahm die Verfolgung auf. Dieses Zeichen gab ihr mehr Hoffnung als ein Blitz vom Himmel!

Kurzerhand nahm sie eine Abkürzung, watete durchs Wasser und spähte nach Ritzen im Gestein, wo die Echse sich zu verstecken suchte. Wenn sie das Biest nicht mit den Händen fangen konnte, würde sie schießen. Drei weitere Eidechsen huschten aus den Felsspalten und flohen in verschiedene Richtungen. Brianna erwischte mit mehr Glück als Verstand die große am Schwanz und hatte Mühe, das zappelnde Reptil festzuhalten. Dabei verlor sie die Pistole, stolperte ins Wasserloch und hielt ihre Beute mit beiden Händen fest. Ihr Triumph machte sich in einem aufgeregten Schrei Luft.

Die Echse hatte jeden Widerstand aufgegeben und stellte sich tot. Ratlos, was nun zu tun war, blieb Brianna im Wasser sitzen, mit wirr ins Gesicht hängendem Haar, ohne den Mann zu bemerken, der am Rand des Tümpels stand.

Zunächst sah sie nur eine schwarze Stiefelspitze neben einem Felsbrocken, dann den Strick, der von einer Hand baumelte. Weite Hosen steckten in hohen Stiefeln. Mit wild klopfendem Herzen hob Brianna den Blick. Das lange Beduinengewand war alles, was sich an dem Mann bewegte, als sie dem Funkeln seiner silbergrauen Augen begegnete.

Gütiger Himmel! Er war es!

Etwas Weißes blitzte in seinem dunklen, bärtigen Gesicht. „Steh auf, amîri“, forderte er in akzentfreiem Englisch. „Bevor ich dich aus dem Wasser ziehe.“

Sie warf einen Blick auf die Echse in ihrer Hand, war sich kaum bewusst, dass sie sich weigerte, sie loszulassen, und tat es dann doch.

Brianna stieß sich tiefer in den Tümpel, tastete blind nach der Pistole, bevor aufspritzendes Wasser ihre Niederlage ankündigte. Der Mann packte ihre Handgelenke mit eisernem Griff, erstickte ihren Schrei, indem er ihren Kopf untertauchte und ihr mit der freien Hand den Mund zuhielt. Dann zog er die wild um sich schlagende Frau aus dem Tümpel, während sie versuchte, ihn zu beißen, und ihm die Fingernägel in den Arm grub, der sie wie eine Eisenklammer festhielt. Ihr langes nasses Haar klebte an ihm wie Seetang. Auf der nassen Böschung rutschte er aus und wäre mit seinem ganzen Gewicht auf ihr gelandet, hätte er sich nicht blitzschnell zur Seite geworfen.

Brianna spuckte ihm arabische Beschimpfungen ins Gesicht, nannte ihn einen hâwi, einen Schlangentöter und Barrakuda.

„Was du nicht sagst.“ Er lachte spöttisch. „Du hast ja keine Ahnung.“

Mit einer wütenden Bewegung warf er die kleine Wildkatze auf den Rücken, zog sie halb unter sich, wobei er ihren Burnus bis zu den Hüften hochschob. Sein sehniger Schenkel lag über ihren nackten Beinen; ihre Arme hielt er über ihren Kopf gestreckt mit einer Hand gefangen.

„Lass die Waffe fallen!“, knurrte er und drückte ihr Handgelenk gnadenlos zusammen. „Oder ich breche dir die Knochen.“

Sie funkelte ihn wütend an. Michael verzog die Mundwinkel zu einem dünnen Lächeln. Ihr Mut gefiel ihm. Aber sie hatte versucht, ihn zu töten. Und was war mit dem Reiter auf dem grauen Araberhengst geschehen? Wer, zum Teufel, war diese Frau überhaupt? Ihm brummte der Schädel von dem Prügel, den ihm jemand über den Schädel gezogen hatte. Und dieser Jemand war noch in der Nähe.

An seiner Wange spürte er ihren heißen Atem, sein Blick senkte sich auf ihren Mund. Sie sah aus wie ein ertränktes Frettchen, aber die Rundungen ihres sich aufbäumenden Körpers unter dem weiten Gewand fühlten sich aufreizend weiblich an.

Er bemühte sich nicht, seine Reaktion zu verbergen, die sie eindeutig spürte, denn sie hörte auf, sich aufzubäumen und unter ihm zu winden. Ihr Herz schlug wild, ihre großen Augen versuchten, ihn abzuschätzen. „Geh weg und tu, als hättest du uns nie gefunden“, flehte sie bang. „Niemand muss etwas davon erfahren.“ Sie strich sich mit der Zunge über die ausgedörrten Lippen. „Wir haben seit Tagen nichts gegessen und sterben ohnehin vor Hunger.“

Michael nahm ihr die Pistole aus den verkrampften Fingern. Seine Kleider waren durchnässt. „Hör auf zu jammern! Dir trau ich nicht über den Weg.“ Er hielt ihre Arme immer noch über ihrem Kopf gefangen und durchsuchte sie sorgfältig nach versteckten Waffen, tastete dabei auch ihr Hinterteil ab und griff ihr zwischen die Schenkel. Sie versuchte, nach ihm zu treten. Er zog sie unsanft auf die Füße.

Augenblicklich wich sie zurück und stolperte. An ihren Händen klebte sein Blut, und endlich las er Angst in ihren Augen. Das war auch gut so. Nur weil der Schlag von hinten ihn völlig unvorbereitet getroffen hatte, war sein Kopf seitlich weggeschnellt; die Bewegung hatte verhindert, dass ihm Schlimmeres als Bewusstlosigkeit passiert war. „Ja, ihr habt mir den Schädel eingeschlagen. Jeder andere hätte dich dafür umgebracht. Wie viele seid ihr?“

„Fünf.“

„Du lügst.“ Er prüfte die Munition in der Pistole; seiner Pistole. „Ihr reitet auf einem Kamel. Also könnt ihr nur zu zweit sein.“ Er stieß sie vor sich her. „Los! Beweg dich!“

„Bitte tu es nicht … bitte.“ Sie schnellte herum und warf sich ihm vor die Füße. Unter den nassen Kleidern fühlte sich ihr Körper erhitzt an. „Du kannst reich werden, wenn du willst. Ich habe Geld. Mein Bruder ist ein reicher Mann. Lass uns am Leben.“

Michael Fallon blickte hilflos auf ihren zerzausten Scheitel, während sie etwas von Lösegeld stammelte. Er glaubte, einen winzigen irischen Akzent herauszuhören.

Sein Kamel, das in einiger Entfernung im Sand kauerte, wählte diesen Moment, um laut zu blöken. Das Tier stieß ein markerschütterndes Gebrüll aus, gequälten Menschenschreien unter Folter zum Verwechseln ähnlich, das in der Einsamkeit der Wüste gespenstisch von den Felsen widerhallte.

Der Mut der jungen Frau, der sie kurzfristig verlassen hatte, kehrte mit dem Echo zehnfach verstärkt zurück. In letzter Sekunde wich er ihrem nach oben stoßenden Knie aus, und auch nur, weil er spürte, wie ihre Muskeln sich anspannten, bevor sie zustieß. Sie versuchte zu fliehen, aber er holte sie nach wenigen Schritten ein.

„Lass mich los!“, kreischte sie und schlug wie eine Besessene mit Händen und Füßen auf ihn ein. Und dann entdeckte er den Schatten einer zweiten Frau, im gleichen Moment, in dem die Wildkatze sie sah. „Bitte lass mich los!“ Sie zerkratzte ihm die Hände. „Bitte, es ist ihr etwas zugestoßen.“

Im Sand waren Abdrücke von festen englischen Damenstiefeln zu sehen. Kein Feuer erhellte die Lagerstelle. Er sah kein Gepäck, nichts Essbares, keinen Rucksack, nur einen Wasserschlauch. Das alles registrierte er mit einem flüchtigen Blick, und dann gab er die strampelnde Frau frei.

Die andere Frau lag, offenbar ohne Bewusstsein, mit dem Rücken gegen ein bröckelndes Mauerstück gelehnt, ihr bleiches Gesicht ruhte auf ihrem ausgestreckten Arm. Auch sie war Europäerin. Ihre zerrissenen Kleider wiesen deutliche Spuren ihrer Flucht der letzten Tage auf.

Während er beobachtete, wie die dunkelhaarige Frau leise auf die andere einsprach, ihren kastanienbraunen Kopf in ihren Schoß bettete, näherte er sich zögernd.

Und blieb jäh stehen.

Michael erkannte die bewusstlose Frau.

Welcher in Ägypten lebende Engländer hätte die vornehme Gemahlin des Ministers für öffentliche Bauvorhaben im Dienste des Vizekönigs nicht erkannt? Michael hatte zwar die meisten Empfänge gemieden, zu denen auch Sir Christopher Donally und seine Gemahlin geladen waren. Und in den drei Jahren seines Aufenthaltes in Kairo hatte sich keine Gelegenheit ergeben, der berühmten Archäologin persönlich vorgestellt zu werden. Wie die meisten Männer hatte er die Dame aus der Ferne bewundert. Und von seinen Quellen in Kairo hatte er erfahren, dass Donallys Schwester vor wenigen Monaten in Ägypten eingetroffen war.

Offenkundig waren die beiden Frauen mit der Karawane gereist, die in Donallys Basislager erwartet wurde.

Die Karawane, der er entgegenreiten sollte.

Michael hob den Blick – direkt in den Lauf der zweiten seiner Pistolen. „Verdammter Mist!“

Die junge Frau schob einen zitternden Finger an den Abzug. „Diesmal schieße ich …“ Die Pistole in ihrer Hand zitterte. Lady Alexandras Kopf ruhte in ihrem Schoß. „Geh endlich und lass uns zufrieden.“

„Das kann ich nicht, amîri.“

Er hätte versuchen können, ihr die Waffe zu entreißen – um von einer Kugel getroffen zu werden. Michael kauerte sich in den Sand. Sein Burnus verdeckte seine Knie, der Tagilmust fiel ihm nach vorne über die Schulter. Er stützte den Ellbogen auf ein Knie. „Es gab einen zweiten Reiter, der Ihnen gefolgt ist“, sagte er gelassen. „Aber der bin ich nicht. Ich bin nicht Ihr Feind, Miss Donally.“

Brianna stockte der Atem, als er ihren Namen nannte. „Kommen Sie mir nicht zu nahe. Ich meine es ernst. Woher wissen Sie, wer wir sind, wenn Sie nicht einer der Banditen sind?“ Donallys Schwester war noch nicht lange genug in Ägypten, um zu wissen, wer er war. Vermutlich würde sie ihm ohnehin nicht glauben, schließlich sah er nicht unbedingt vertrauenerweckend aus. „Ich stehe, wie Ihr Bruder, im Dienst des Khedive“, antwortete er ruhig.

Die Pistole zitterte ein wenig, aber als ihre Blicke sich begegneten, bemerkte er ihre Verwirrung. „Das k…kann jeder sagen.“ Ein Frösteln durchlief sie, teils durch den Schock, teils wegen der nassen Sachen, die an ihr klebten. Es würde nicht lange dauern, bis sie die schwere Waffe nicht mehr halten konnte. Er wartete geduldig, bis es so weit war.

„Fragen Sie, aus welcher Gegend in England ich komme“, schlug er vor, um sie abzulenken.

„Sie sprechen ohne Akzent.“ Ihre leise Stimme klang angestrengt. „Offenbar haben Sie längere Zeit in E…england gelebt. Das … das ist nicht ungewöhnlich.“

Sie hielt den Kopf hocherhoben, ihre zerzausten, dunklen Locken umrahmten ihr bleiches Gesicht. Michael fühlte sich seltsam angerührt von dieser tapferen kleinen Person. Sie war durch die Hölle gegangen und kämpfte immer noch wie eine Tigerin. Michael wurde seltsam warm ums Herz, ihm, der in seinem Leben wenig Zärtlichkeit kennengelernt hatte, dem Gefühle im Grunde ein unergründliches Geheimnis waren.

Leider würde sie dieses Kräftemessen verlieren. Andererseits waren die Iren immer schon zäher, als man vermutete.

Sie hielt eine halbe Stunde länger durch als erwartet.

Brianna schlug die Augen auf, rührte sich nicht und lauschte. Sie lag auf dem Rücken in einem Zelt, dessen Klappen hochgeschlagen waren. Eine nächtliche Brise ließ die gestreiften Wände leise flattern. Sie drehte den Kopf. Das Lagerfeuer draußen war heruntergebrannt, auf der Glut standen ein Blechtopf und eine Kanne, die verführerischen Kaffeeduft verbreitete.

Brianna setzte sich auf. Die Decke rutschte ihr bis zu den Hüften. Das Haar hing ihr als wirre Mähne ins Gesicht, sie trug nur ein dünnes Hemd, immer noch feucht von ihrem unfreiwilligen Bad im Wasserloch. Sie schaute verwirrt und desorientiert an sich herunter. Jemand hatte ihr das lange Gewand ausgezogen und eine Decke über sie gebreitet.

Sie drehte sich zur Seite und entdeckte neben sich die schlafende Alexandra, immer noch in ihren zerrissenen und blutverschmierten Kleidern. Im Schlaf hatte sie die Decke abgeworfen, die ihr Brianna wieder bis zu den Schultern hochzog. Alex murmelte etwas, offenbar von Albträumen gequält. Brianna war vermutlich von der Ruhelosigkeit ihrer Schwägerin geweckt worden.

Mit klopfendem Herzen kroch sie zum Zelteingang und spähte in die Nacht. Das Zelt war unter zwei knorrigen Bäumen an einem Wassertümpel aufgeschlagen worden. Der englisch sprechende Nomade war nirgends zu sehen. Sie fand auch keine Waffen, als sie sein Gepäck durchwühlte. Aber es roch nach Essen. Brianna verbrannte sich die Finger, als sie den Deckel von dem Blechtopf hob. Sie stieß einen spitzen Laut aus.

Unwillig lutschte sie an ihrem Finger. Dann entdeckte sie ein Blechgeschirr und Besteck, griff nach der Gabel und fischte sich etwas aus dem Topf, das aussah wie Fleisch. Vorsichtig prüfte sie mit der Zunge, bevor sie den Bissen in den Mund schob. Es schmeckte himmlisch. Noch nie hatte sie etwas Köstlicheres gegessen. Halb verhungert schaufelte sie gierig Gabel um Gabel in den Mund, in der Annahme, diese lebensrettende Stärkung den Eidechsen zu verdanken, die sich unvorsichtigerweise aus ihren Felsspalten gewagt hatten.

Hingebungsvoll mit dem Essen beschäftigt, hörte und sah sie nichts, bis sie mit vollen Backen kauend aufschaute und den Nomaden entdeckte, der sich dem Lager näherte. Er trug sein Gewehr und einen Spaten in einer Hand, in der anderen einen Rucksack, und verlangsamte seine Schritte.

Mit einem flüchtigen Blick registrierte er, dass sie seine Sachen durchsucht hatte. Er ließ den Rucksack fallen, zog den mörderisch scharfen Krummdolch aus seinem Burnus und stieß die Klinge in den Stamm der Palme, knapp außerhalb ihrer Reichweite. „Nicht, dass Sie auf dumme Gedanken kommen“, sagte er. „Wie ich sehe, haben Sie mein Gepäck bereits durchwühlt.“ Brianna schluckte den Bissen hinunter und zog die Decke bis zu den Schultern hoch, da seine männliche Gegenwart ihr sehr bewusst war. Während sie auf die Füße kam, überlegte sie fieberhaft, ob er sie töten wollte. Aber wenn er ihr nach dem Leben trachtete, hätte er sie längst umgebracht und im Sand verscharrt. Er war ungewöhnlich groß und breitschultrig, unter dunklen Bartstoppeln waren markant geschnittene Gesichtszüge zu erkennen. Nicht, dass sie das interessiert hätte, dennoch erschrak sie, dass ihr sein gutes Aussehen überhaupt auffiel. Sie reckte das Kinn vor. „Wo sind meine Kleider?“

„Auf den Felsen zum Trocknen ausgebreitet.“ Er näherte sich geräuschlos und ließ die Schaufel fallen. „Bald geht die Sonne auf, dann trocknen sie schnell.“

Er nahm einen Lederriemen von der Schulter und hielt ihr die daran hängende Feldflasche hin. „Trinken Sie. Das hilft gegen den Hunger.“

Zögernd setzte sie die Flasche an die Lippen, schmeckte Kaffee und einen Hauch von Pfefferminz, wo sein Mund den Flaschenhals berührt hatte. Ihr Blick flog zu ihm. Dann hob sie die Flasche, schluckte warme Milch – und würgte.

„Der Geschmack ist gewöhnungsbedürftig“, meinte er leicht belustigt, „aber die Milch gibt Ihnen Kraft.“ Widerwillig und mit angehaltenem Atem trank sie noch einen Schluck; sie hatte gehört, dass Kamelmilch sehr nahrhaft sei. Schließlich gab sie ihm die Feldflasche zurück und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Es schien ihm nicht im Geringsten peinlich zu sein, sie entkleidet zu haben, womit er ihr, wenn sie es sich recht überlegte, einen Gefallen getan hatte. Mit den nassen Sachen am Leib in der kalten Wüstennacht hätte sie sich wahrscheinlich eine Erkältung zugezogen. Wenigstens hatte er so viel Anstand besessen, sie nicht völlig nackt auszuziehen.

Sie zog die Decke enger um die Schultern und beobachtete ihn. „Was haben Sie mit uns vor?“

„Ich bringe Sie zu Ihrem Bruder“, antwortete er, ohne aufzuschauen, während er am Feuer kauerte und sich Kaffee eingoss.

„Zu Christopher? Sie wissen, wo er ist?“

Die Glut spiegelte sich in seinen Augen, als er den Kopf hob. Wieder fiel ihr dieser Anflug von Heiterkeit in seinem Blick auf, als ahne er den Grund ihrer Verlegenheit, als sei er daran gewöhnt, dass Frauen sich in seiner Nähe beklommen fühlten. „Sie hätten nach Süden statt nach Norden reiten müssen, dann wären Sie auf sein Lager gestoßen.“ Er fixierte sie über den Rand des Bechers. „Haben Sie den Mann da draußen erschossen?“

Ihre Finger krallten sich in die Decke. „Ich bin ein guter Schütze. Sehr zum Leidwesen meiner Familie war ich Mitglied im Schützenverein unseres Dorfes und habe auf Jahrmärkten Preise gewonnen.“ Ihr Blick fiel auf den Spaten. „Haben Sie ihn begraben?“, fragte sie bang.

„Niemand wird Sie des Mordes beschuldigen“, sagte er leise, als lese er ihre Gedanken. „Ich habe ihn begraben, um keine Spuren zu hinterlassen.“

Brianna war nicht naiv. Sie misstraute diesem Kerl gründlich. Wenn er sie nicht tötete, wollte er sie vermutlich an einen Sklavenhändler verkaufen. Sie hatte nicht das Grauen der vergangenen Tage überstanden, um sich der Gnade eines gefährlichen Banditen auszuliefern, mit Augen wie Rauchkristalle und einem tödlich scharfen Messer. Woher sollte sie wissen, dass er nicht der zweite der Beduinen war, die ihnen auf den Fersen waren?

„Sind Sie tatsächlich Engländer?“

„Waschecht.“ In seiner knappen Antwort schwang ein ironischer Unterton. „Und mitten in der Sahara unterhalte ich mich mit einer Landsmännin. Wer hätte das gedacht!“

„Welche Schulen haben Sie besucht?“

Hinter ihnen im Zelt stöhnte Alex im Schlaf, offenbar wieder von einem Albtraum gepeinigt. Er trank noch einen Schluck Kaffee und machte ein besorgtes Gesicht, dann goss er den Rest des Bechers in den Sand und stand auf. „Seit wann ist sie in diesem Zustand?“, fragte er und griff nach der Feldflasche mit der Kamelmilch.

„Sie muss essen.“

Brianna hatte außerdem den Verdacht, Lady Alexandra könnte in anderen Umständen sein.

Alex richtete sich halb auf und blickte dem Mann, der sich unter dem Zelteingang duckte, ängstlich und verwirrt entgegen, bis sie Brianna entdeckte. Dann redete sie ihn auf Arabisch an. Er kauerte sich neben sie und antwortete gleichfalls arabisch; seine tiefe Stimme hatte etwas seltsam Bezwingendes. Er untersuchte den provisorischen Verband an ihrer Armwunde, half ihr, sich aufzusetzen, und gab ihr die Feldflasche.

„Die Milch wird Ihnen guttun.“

Alex streifte das lange Ende des Tagilmusts von seiner Wange und blickte dem Mann fragend ins Gesicht. „Major Fallon?“

Briannas Blick flog zum kantigen Profil des Mannes. Er schien keineswegs verblüfft, dass Lady Alex ihn kannte. „Wie bedauerlich, dass wir uns nicht unter günstigeren Umständen kennenlernen, Lady Alexandra.“

Ein wehmütiger Schatten huschte über ihr Gesicht, als sie sich an die Grauen der letzten Tage erinnerte, die den dünnen Schleier vermeintlichen Friedens so grausam zerrissen hatten. Sie senkte den Blick auf ihre blutbefleckten Kleider und strich sich mit fahrigen Fingern über die zerrissene Bluse. Auch Brianna spürte den Stich der Hoffnungslosigkeit, der ihr wie ein Dolch in die Brust fuhr.

„Diese Schreckensbilder werde ich wohl immer vor Augen haben“, flüsterte Alex und hob den Blick in das Gesicht des Majors. „Sind Sie wirklich so gefährlich, wie man sagt?“ Major Fallon hob ihr Gesicht ans Licht, um den Bluterguss zu untersuchen. „Diese Frage könnte ich Ihnen stellen, Lady Alexandra.“

Er sprach ernst, doch Brianna hörte wieder diesen ironischen Unterton. „Ich fürchte, die Erinnerung an unsere erste Begegnung dürfte mir noch eine Weile Kopfschmerzen bereiten.“ Brianna strich sich die feuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht, ohne den Blick von dem unrasierten Männerprofil zu wenden, während die beiden sich weiter unterhielten.

Seit ihrer Ankunft in Ägypten hatte sie seinen Namen mehr als einmal gehört. Obgleich sie dem britischen Offizier nie begegnet war, den der Khedive El Tazor, den Barrakuda, nannte, hatte sie den Schauergeschichten, die in den Damensalons im Konsulat kursierten, gebannt gelauscht.

Berühmt für seine Bemühungen, dem Sklaven- und Rauschgifthandel in Ägypten Einhalt zu gebieten, wurde Major Fallon in manchen Kreisen des britischen Konsulats wie ein Held verehrt und von anderen zutiefst gehasst. Und prüde Sittenwächter empörten sich darüber, dass der Mann sich mit seiner ägyptischen Geliebten völlig ungeniert in der Öffentlichkeit zeigte.

Lady Alex schien versunken in den Anblick des Majors, der aussah wie ein nomadischer Märchenprinz, als er die Risswunde an ihrem Mund behutsam mit einem Tuch betupfte. Die beiden schienen Brianna völlig vergessen zu haben.

Sie verließ das Zelt.

In die Decke gehüllt, stand Brianna reglos und hob das Gesicht in den kühlen Wind. Im Mondschein glich der bleiche Sand silbrigen Wellen; im samtschwarzen Nachthimmel funkelten unzählige Sterne; ein Bild göttlicher, unendlich reiner Schönheit, die das erlebte Grauen unwirklich erscheinen ließ.

Sie wagte nicht, den tröstlichen Schein des Lagerfeuers zu verlassen, setzte sich auf ein Gepäckstück und zog die Decke bis zum Kinn hoch.

Alex und sie hatten Todesängste ausgestanden, als sie von Mördern verfolgt wurden. Auch jetzt noch, als sie in die funkelnde Sternennacht blickte, glaubte sie, um ihr Leben laufen zu müssen.

Sie spürte mehr als sie hörte, wie Major Fallon sich näherte. Eine staubige Stiefelspitze kam in ihr Gesichtsfeld. Sie hob den Kopf. Einen Augenblick fühlte sie sich unter seinem Blick wie gelähmt. Er suchte die Umgebung ab, bevor er neben ihr in die Hocke ging und Kaffee einschenkte.

„Sie hat Fieber.“ Er reichte Brianna den Becher. „Aber jetzt hat sie etwas im Magen und wird besser schlafen. Sie wurde angeschossen.“

„Ich weiß“, sagte Brianna und wärmte sich die kalten Finger am Becher. „Lady Alexandra wollte, dass ich Fotografien für ihr Buch mache.“ Danach schwieg sie lange. Plötzlich aber sprudelten die Worte aus ihr heraus, die sie nicht zurückhalten konnte.

„Wir waren nicht im Lager, als die Banditen uns überfielen“, erklärte sie. „Wir waren losgeritten, um die koptische Ruine zu besuchen, die wir aus der Ferne erspäht hatten. Es existiert keine Beschreibung darüber, und sie wollte sich die Chance auf keinen Fall entgehen lassen. Wir ritten mit einem Karawanenführer und einem Soldaten los.“ Brianna trank einen Schluck. „Wir blieben länger als geplant. Als die Banditen angriffen, waren wir etwa eine halbe Meile vom Lager entfernt.“

Sie hob den Kopf und bemerkte den aufmerksam auf sie gerichteten Blick von Major Fallon. „Früher hatte ich mir manchmal überlegt, wie ich in Todesgefahr reagieren würde“, fuhr sie fort. „Aber dann war ich starr vor Entsetzen, als die Reiterschar die Dünen herunterstürmte. Ich weiß nicht, wie lange wir wie gelähmt auf unseren Kamelen saßen. Vielleicht zehn Sekunden, vielleicht fünfzehn Minuten. Ich weiß es nicht.“ Einen Herzschlag lang zögerte sie. „Plötzlich hob unser Führer die Waffe und schoss dem Soldaten in den Hinterkopf. Im nächsten Moment richtete er die Waffe auf Lady Alexandra. Sie hatte ihr Kamel bereits gewendet, und der Schuss traf das Tier in den Schädel. Die Kugel muss ihren Arm gestreift haben. Sie ging zu Boden, und ich glaubte, der Sturz habe sie getötet. Als der Mann sich mir zuwandte, hatte ich meine Pistole bereits in der Hand. Ich drückte ab.“ Sie umklammerte den Becher, spürte die Wärme, die sich in ihr ausbreitete. „Danach …“ Brianna hob den Blick. „Irgendwie schaffte ich es, Lady Alex unter dem toten Tier hervorzuziehen. Wir flüchteten auf meinem Kamel. Den ganzen Tag hielten wir uns möglichst auf steinigem Boden. Später im Sand, befestigte ich eine Zeltplane am Sattel, die wir hinter uns herschleiften, um unsere Spuren zu verwischen. Durch den Wind ist der Sand ja ständig in Bewegung …“ Ihre Stimme verlor sich. „In der Karawane befanden sich auch die Familien der Kaufleute. Frauen und Kinder.“

„Welcher Offizier hatte das Kommando, Miss Donally?“ Brianna entsann sich des schneidigen jungen Offiziers mit der verbrannten roten Nase. „Captain Pritchards.“

Das leise Fluchen ihres Gegenübers machte sie stutzig. „Sie kannten ihn?“

Er sah sie an, nein, er schaute durch sie hindurch, erst nach einer Weile fixierte sich sein Blick auf sie. Sie konnte kaum atmen.

„Sie sollten schlafen, bevor wir in ein paar Stunden aufbrechen.“

Gleichzeitig mit ihm stand sie auf. Er verharrte, als ihre Hand seinen Arm berührte. Sie spürte seine sehnige Kraft unter ihren Fingern. „Was ist aus dem zweiten Mann geworden, der uns auf den Fersen war?“

Der Major blickte auf ihre Hand, bevor er den Kopf hob. Briannas Puls beschleunigte sich. Sein Blick war träge, mit einer Mischung aus … etwas, an das eine sittsame Frau bei einem völlig Fremden niemals denken durfte. Ein Hitzeschwall durchströmte sie.

Hastig zog sie ihre Hand zurück.

„Der zweite Mann ist keine Gefahr mehr, Miss Donally.“

Seine Schritte verursachten kein Geräusch im weichen Sand, als er sich entfernte, um sich an der Mauer zur Nachtwache niederzulassen.

Sie hatte keinen Schuss gehört. Aber ein Schuss wäre noch in großer Entfernung zu hören gewesen, und Major Fallon schien kein Mann zu sein, der durch laute Geräusche auf sich aufmerksam machte. Brianna dachte an sein tödlich scharfes Messer.

Später, als sie sich zum Schlafen hinlegte, versuchte sie, es sich im Sand bequem zu machen. Die Zeltklappe blieb offen. Sie roch türkischen Tabak, drehte den Kopf in der Armbeuge und erspähte die schwarz verhüllte Gestalt von Major Fallon. Er hockte an der Steinmauer, das Gewehr lässig über den Knien. Sie sah ihn im Halbprofil. Eine Zigarette glühte auf. Als spüre er ihren Blick, drehte er ihr das Gesicht zu, und ein seltsamer Stich durchfuhr sie.

Es dauerte noch lange, bis der erlösende Schlaf sie übermannte.

2. KAPITEL

Ich weiß, dass der Captain dein Freund war, Major Fallon.“ Halid al-Nahars Schatten fiel auf die große quadratische Grube. Er sprach arabisch.

„Was ist aus den Frauen und Kindern in Begleitung der Kaufleute geworden?“ Michael beobachtete Halid scharf über den Tagilmust, den er über Mund und Nase gelegt hatte. „Miss Donally sagt, es waren auch Frauen und Kinder in der Karawane.“

„Wir fanden nur Männer.“ Halid stand neben dem aufgeschütteten Erdwall, seine Faust schloss sich um den Krummsäbel an seiner Seite. „Schakale haben das Massengrab aufgescharrt, sonst hätten Donally Paschas Männer die Leichen vermutlich gar nicht entdeckt.“

„Es muss Stunden gedauert haben, eine so große Grube auszuheben.“ Der Boden war steinhart. Aus dem ausgetrockneten Wadibett ragten langdornige Strünke verdorrten Loranthusgestrüpps. „Wieso machten die Kerle sich überhaupt die Mühe, die Leichen zu begraben?“

Und mit jeder unbeantworteten Frage überlegte Michael fieberhaft, wie es möglich gewesen war, eine schwer bewaffnete Militäreskorte zu überfallen und auszulöschen. Es grenzte an ein Wunder, dass nur zwei englische Frauen den Angriff überlebt hatten und entkommen konnten. Er kletterte einen Hang hinauf, vorbei an einem abgestorbenen Olivenbaum, ließ den Blick über das ausgedörrte Land schweifen und wartete auf eine Eingebung. In dieser dürren Talsenke hing das Überleben davon ab, mehr zu sehen als nur mit den Augen. Diese Gegend war seit jeher als Tal des Todes verrufen, es gab keinen Brunnen, keine Wasserstelle, und die einzigen Lebewesen, die diese Geisterwelt bevölkerten, waren die riesigen Schwärme schwarzer Fliegen, die den Himmel verdunkelten.

Die Karawane hatte sich auf dem Weg zu Donallys Camp befunden. In weiter Ferne ragten die Zelte der Arbeitertrupps auf, die Telegrafenmasten in den Wüstenboden rammten, wie Termitenhügel aus der Sandwüste. Dank Donallys rastlosem Bemühen würden in absehbarer Zeit auch entfernte Oasensiedlungen durch diese moderne Technik mit dem Rest der Welt verbunden sein.

Aber vor einer Woche war Donallys Basislager etwa vierzig Meilen von diesem Ort des Grauens entfernt gewesen. Michaels Nackenhaare sträubten sich. Die Karawane war meilenweit vom Weg abgekommen.

„Wer heuert die Führer an, Halid?“

„Der Chef des Generalstabs bestimmt, wer die Leute anheuert. Donally Pascha müsste darüber Bescheid wissen“, antwortete er. „Du könntest ihn fragen, wenn er nicht gestern losgeritten wäre.“

Michael fuhr herum. „Donally ist fortgeritten? Wohin?“

Halid zuckte die Achseln in seinem weißen Leinenanzug. Der Sohn eines reichen Scheichs, in England erzogen, vertrat die Überzeugung, dass modisch gekleidete Männer einen wichtigen Beitrag zur Verbreitung westlicher Zivilisation leisteten, worüber sich selbstverständlich streiten ließe. Jedenfalls war er der Kommandant des in der Nähe stationierten Außenpostens.

„Ich weiß nur, dass er einen Stoßtrupp losgeschickt hat, als die Karawane überfällig war. Als die Soldaten dann das Massengrab gefunden haben, muss er außer sich gewesen sein vor Zorn. Er griff sich zwei Gewehre, eine Pistole, packte Proviant ein und ritt nach El-Musa.“

„Nicht nach Kairo?“ Michael starrte in die Ferne, ohne die wirbelnden Sandböen zu sehen. „Was könnte einen Mann wie Donally veranlassen, durch die Wüste in eine Stadt zu reiten, die von einem Scheich regiert wird, der ein berüchtigter Rauschgiftschmuggler ist?“

„Jedenfalls kann ein Mann, der sich so sehr für die Fellachen einsetzt, kein Dieb oder Mörder sein. Er wird gute Gründe dafür gehabt haben.“

„Ich schicke Soldaten in die entlegeneren Oasen, um nach Vermissten zu suchen.“ Michael stapfte den Hügel hinunter, sein Burnus bauschte sich im Wind. „Sie sollen der alten Sklavenroute folgen …“

„Es ist zu viel Zeit vergangen.“ Halid hatte Mühe, mit Michael Schritt zu halten. „Selbst wenn die Frauen überlebt haben, weiß man, was ihnen blüht, wenn sie in die Hände der Sklavenhändler fallen. Die Suche hat keinen Sinn.“

Michael verabscheute prüde Moralapostel, die den Wert einer Frau ausschließlich nach ihrer Unberührtheit bewerteten, eine Jungfrau sozusagen mit einem Heiligenschein umgaben und jede andere verteufelten. „Wer darf sich das Recht herausnehmen, die Rettung eines Menschenlebens nach gesellschaftlichen Moralvorstellungen zu bewerten? Alles was recht ist, Halid. Komm mir bloß nicht mit solchen Reden.“

„Du bist wütend. Aber dich trifft keine Schuld.“

„Captain Pritchards führte die Lohngelder mit sich, mit denen Donally die Arbeiter bezahlen sollte. Und den Sold für deine Truppen. Der Transport dieser Gelder war geheime Verschlusssache. Wie viele Menschen wussten davon? Und überlege, was das bedeutet.“

Michaels Anspielungen waren ungeheuerlich und brandgefährlich. Wie viele Karawanen waren denn verschwunden, die Kriegsmaterial und kostbare Schätze des Altertums mit sich führten? Gerade mal so viele, um die Überfälle als zufällig erscheinen zu lassen.

„Major …“ Halid hielt Michael am Arm zurück, bevor sie die anderen erreichten. „Ohne stichhaltige Beweise kommst du vors Kriegsgericht, wenn du auch nur andeutungsweise den Verdacht auf einen hohen Staatsbeamten lenkst.“

„Erspare mir deine weisen Ratschläge, Halid. Du sprichst den Dialekt der Beduinen. Deine Familie lebt in der Wüste. Finde jemand, der den Cousin oder den Onkel eines Freundes kennt. Diese Banditen verstecken sich irgendwo. Der verlorene Sohn wird seinen Verwandten einen Besuch abstatten und ihnen ein paar Fragen stellen.“

Halids Gesicht verdunkelte sich vor Zorn. „Du … du bist ein …“ Er fuchtelte entrüstet mit der Faust vor Michaels Nase herum. „Nenn mir einen anschaulicheren Ausdruck für einen Eselsschwanz.“

„Das Wort heißt Scheißkerl, Halid.“

Halid spuckte verächtlich in den Sand. „Wa hasratan, Allah hat dich verflucht. Du hast Glück, dass ich dein Freund bin, Engländer. Sonst würde von dir nichts übrig bleiben als deine schwarze Seele.“

Michael sah zu, wie Halid sich aufs Pferd schwang und davonpreschte, griff in seinen Burnus, holte Tabak und Papier heraus und drehte sich eine Zigarette. „Vergiss nicht, Blau zu tragen“, rief er dem Freund nach. „Es wäre schade, wenn deine Leute dich für einen Engländer halten und dich abknallen.“

Halid hob den angewinkelten Arm hoch in einer weltweit verständlichen Geste, die keiner Erklärung bedurfte. Missmutig zündete Michael die Zigarette an, machte einen tiefen Zug und legte den Kopf nach hinten. Der Himmel hatte sich bleigrau und schwefelgelb verfärbt. Eins hatte er in Ägypten gelernt. Hier draußen in der Wüste konnte einem rasch der Verstand in der sengenden Hitze verschmoren.

Er suchte nicht nach Gründen für seine düstere Stimmung, wusste nur, dass er in diesem Zustand keine angenehme Gesellschaft war. Im Übrigen war Halid zweifellos aufgefallen, dass der großartige Effendi, Herr über einen riesigen Verwaltungsbezirk, sich dort hinten am Massengrab beinahe die Seele aus dem Leib gespien hätte.

Außerdem ließen ihn dessen Worte keineswegs unberührt. Aber Halid irrte, wenn er glaubte, der Effendi wisse nicht um militärische Ehrbegriffe. Das Militär unterschied sich in seinen Moralvorstellungen in keiner Weise von denen der englischen Aristokratie.

Doch dieses schreckliche Massaker betraf ihn mittlerweile persönlich.

Der britische Offizier in dem Massengrab war nicht nur sein Freund seit der Studienzeit in Eton, sondern auch sein Kamerad an der Front gewesen. Michael hatte mit Captain Pritchards in China gekämpft, bevor sie gemeinsam vor drei Jahren nach Ägypten gegangen waren. Vor einem knappen Jahr hatte er auf Pritchards’ Hochzeit eine Rede gehalten.

Michael zog tief an der Zigarette, bevor er sie in den Sand warf. Dann bestieg er sein Pferd und begab sich auf die Suche nach dem Vorarbeiter. Später sprach er mit den fünf Männern, die das Massengrab gefunden hatten, anschließend ließ er sich Donallys Zelt zeigen, das eine Stunde entfernt lag. Niemand fragte nach seinen Beweggründen. Ein Offizier seines Ranges wurde stets und überall zuvorkommend aufgenommen, als sei er der Sultan persönlich.

Unter einem gestreiften Vorzelt standen Tisch und Stühle auf einem Teppich am Rand eines Wassertümpels. Und Michael sah seit Monaten das erste Grün. Vorsichtig näherte er sich dem Zelt, dessen Klappen offen waren, um den Wüstenwind einzulassen. Sein Blick wanderte über ein paar Sitzkissen auf dem roten Teppich zu einem Regal mit Büchern, Landkarten und gerahmten Fotografien. Kaum zu glauben, dass in diesem Ödland so etwas existierte, das beinahe aussah wie ein gemütliches Heim.

„Ich lasse Ihr Gepäck bringen, Effendi“, sagte ein Diener.

„Nein.“ Er drehte sich um. „Wo sind Lady Alexandra und Miss Donally?“

Der Diener wies mit der Hand zu einer Stoffbahn aus schwerer Seide, die den Raum teilte. „Die Damen schlafen. Sie haben sich seit Stunden nicht gerührt.“

„Kümmert sich jemand um mein Pferd?“

„Ja, Effendi.“ Mit einer Verbeugung zog sich der Mann zurück.

Der Beduine, der Koch und gleichzeitig Donallys persönlicher Diener war, huschte durchs Zelt, um die Lampen anzuzünden. Nachdem auch er gegangen war, beugte Michael sich über die Karten auf dem Tisch und wischte den Staub weg. Auf dem grob gezimmerten Regal hinter ihm standen gerahmte Fotografien. Ein Bild zog seine Aufmerksamkeit an.

Interessiert trat er näher und nahm das Bild zur Hand, auf dem ein Mann und eine Frau auf einem Kamel zu sehen waren. Er hatte den Arm liebevoll um ihre Mitte gelegt, die Frau blickte bewundernd zu ihm auf. Im Hintergrund verschwand die sinkende Sonne hinter den Pyramiden von Gizeh in einem Strahlenglanz, der dem Foto eine mystische Aura verlieh.

Gebannt hielt er das Bild näher an die Lampe. Dem Fotografen war es gelungen, einen seltenen Kontrast zwischen Poesie und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, Licht und Dunkel einzufangen. Dann fiel sein Blick auf eine kleinere Fotografie, die unten im Rahmen steckte. Bei genauerem Hinsehen erkannte er Lady Alexandra Donally im Schleierkostüm und der Pose einer Bauchtänzerin. Donallys Gemahlin, die Tochter eines englischen Hochadeligen! Welch interessante Studie kultureller Vielfalt, stellte Michael amüsiert fest und wandte sich wieder ihrem Gatten zu und den Fragen, die seine Abwesenheit aufwarfen.

„Die Schwester von Donally Pascha ist eine gute Fotografin, nicht wahr?“

Michael stellte den Rahmen zurück ins Regal, das Bild der tollkühnen jungen Frau mit der auf ihn gerichteten Pistole vor Augen. „Hat Miss Donally diese Bilder gemacht?“

„Ja“, antwortete der Diener. „Sie begleitet Lady Alexandra auf ihren Studienreisen durch Ägypten. Die Lady schreibt an einem Buch für das Britische Museum. Sie kennen die Damen?“

Michael mied die vornehme englische Gesellschaft in Kairo, die ihn zutiefst langweilte, Kreise, die er in England mehr als genug genossen hatte. Er hatte es gerne Captain Pritchards überlassen, seine Abende mit dem seichten Geschwätz aufgeblasener, dünkelhafter Aristokraten zu verschwenden. Nun aber bedauerte er sein Desinteresse beinahe.

„Warum ist Donally nach El-Musa geritten?“, fragte er.

„Donally Pascha war außer sich, Effendi. Nach der Besichtigung des Massengrabes wirkte er wie ein Besessener. Er packte das Nötigste ein, griff sich die Waffen und ritt los.“

„Allein? Er reitet hundert Meilen durch die Wüste ohne Bewachung?“

„Sie reiten auch allein. Was nützen Wachen, wenn sie einen Mann nicht wirklich schützen können? Er spricht Arabisch und kennt die Wüste.“

Darauf wusste Michael kein logisches Gegenargument. Offenbar war Donally kein verweichlichter Europäer. Wenn er nur halb so mutig war wie seine Schwester, würde er auch in der Hölle überleben.

Jedenfalls gefiel ihm Donallys Kunstsinn.

„Ich heiße Abdul“, stellte der Diener sich mit einer Verneigung vor.

„Sehr schön, Abdul.“

„Zum Abendessen gibt es Gemüse mit Hammelfleisch.“

Michael nickte und fing an, sich eine Zigarette zu drehen, besann sich aber eines Besseren und steckte die Tabaksdose wieder ein. Nicht, dass der süßliche türkische Tabak ihm nicht geschmeckt hätte, aber er wollte sich nicht von der Sucht beherrschen lassen – auch nicht von Empfindungen, die er längst vergessen geglaubt hatte, dachte er, während er sich noch einmal der Fotografie zuwandte.

Lady Alexandra war in der gleichen vornehmen Welt erzogen worden, in der er den Großteil seines Lebens verbracht hatte. Dass sie es geschafft hatte, den engen Grenzen ihrer Klasse zu entfliehen, gefiel ihm. Dass sie einen Iren, der nicht aus Adelskreisen stammte, geheiratet hatte, beeindruckte ihn noch mehr.

Verdammt, Pritchards’ Tod hatte ihn aus der Fassung gebracht. Der Mann, den die letzten zehn Jahre aus Michael geformt hatten, neigte weder zu Sentimentalitäten noch zu Gefühlsduselei. Er legte sich auf die Pritsche, ohne die Stiefel auszuziehen, beide Füße auf dem Boden. Diese Schlafposition hatte er sich angewöhnt, um jederzeit sprungbereit zu sein. Einen angewinkelten Arm unter den Kopf gelegt, schloss er die Augen. Er gestattete es sich nur selten, völlig zu entspannen. Aber er war hundemüde, jeder Knochen tat ihm weh. Er musste über seine Rückkehr nach Kairo nachdenken. Er musste Donally ausfindig machen und ihm seine Gemahlin und seine Schwester unversehrt aushändigen, ein Auftrag, der ihm durch eine Ironie des Schicksals zugedacht worden war.

Aber im Moment wollte er an gar nichts denken.

Er wachte nicht auf, als Brianna ihm nach Sonnenuntergang eine Decke brachte. Sie betrachtete sein bärtiges Gesicht im Schein der Lampe. Selbst im Schlaf ging eine gefährliche Wildheit von ihm aus.

Major Fallon war ein hagerer, sehniger Mann mit ungewöhnlich breiten Schultern und kraftvollen Armen, an die sie sich nur zu gut erinnerte, als er ihr beinahe die Knochen gebrochen hatte. Sein Burnus hing lose an ihm und gab den Blick auf das Messer frei, das in einer roten Schärpe um seine Hüften steckte. Seine strammen, langen Schenkel zeichneten sich unter den ehemals weißen Sirwal-Hosen ab. Sie waren drei Tage durch die staubige Wüste geritten; er hatte sie gezwungen weiterzureiten, als sie glaubte, nicht mehr im Sattel sitzen zu können; er hatte Alex gehalten, als sie entkräftet vom Kamel zu rutschen drohte.

Brianna breitete die Decke über ihn. Als sie die Lampe neben der Pritsche löschen wollte, spürte sie seine Finger an ihrem Handgelenk.

Erschrocken fuhr sie herum und begegnete seinem Blick, mit dem er sie unter halb geschlossenen Lidern aus grauen Augen musterte. Er war noch nicht völlig wach, im Nachhall eines Traums gefangen.

Brianna hielt still und erwiderte seinen Blick mit einiger Beklommenheit, spürte sie doch bei all ihren hochtrabenden Reden über die Gleichstellung der Frauen und ihrem kühnen Auftreten eine gute Portion viktorianischer Prüderie in sich, mehr als sie je zugeben würde. Michael Fallon machte sie nervös, was sie als störend empfand, da sie die Gegenwart von Männern noch nie aus der Fassung gebracht hatte.

Meist fand sie die herablassende Art und die gönnerhaften Plattitüden eines Vertreters des sogenannten starken Geschlechts lästig und empörend. Es war ihr nie schwergefallen, einen aufgeblasenen Wichtigtuer in seine Schranken zu weisen. Abgesehen von Stephan, ihren früheren Verlobten.

Stephans offenes Wesen hatte ihr stets das Gefühl der Geborgenheit gegeben. Einen Rückhalt, den sie nie wirklich zu schätzen gewusst und als Selbstverständlichkeit angesehen hatte. Mit fünfundzwanzig war er drei Jahre älter als sie, studierte Jura, um Rechtsanwalt zu werden und bald eine hochrangige Position im englischen Rechtswesen einzunehmen. Sie hatte keinen anderen Mann geliebt, nur ihn. Nach seinem Abschlussexamen hätten sie geheiratet, hätte ihr Lebensplan nicht einen gravierenden Mangel aufgewiesen.

Stephan hatte sich Kinder gewünscht und eine Ehefrau, die ihm ein gemütliches Heim gestaltete in seinem respektablen, friedvollen Leben. Sie aber hatte ihn in ihren verliebten Jungmädchenträumen angeschwärmt und darüber die Wirklichkeit völlig außer Acht gelassen. Eine Schwärmerei, die ihr nun lau erschien, verglichen mit der Heftigkeit und Neugier, die sie beim Anblick von Major Fallon verspürte.

Ein gefährliches Prickeln durchrieselte sie.

Gefährlich, da sie seine Hände schon einmal auf sich gespürt und sich nach seiner Berührung gesehnt hatte.

Nun richtete er sich auf einen Ellbogen auf und fixierte sie. „Was tun Sie hier?“ Er war wach, seine Stimme klang belegt.

Sie zog eine Braue hoch und betrachtete seine Finger, die ihr Handgelenk umspannten. „Wollen Sie mich küssen, Major? Oder lassen Sie mich los?“

Sie hatte diesen begehrlichen Blick an ihm wahrgenommen, als er sie zum ersten Mal berührt hatte, und fragte sich nun, an wen er dachte.

Ihre Blicke versanken einen Moment ineinander, bevor er sich umschaute, als müsse er sich orientieren, wo er war. „Ich habe geschlafen.“

Er gab ihre Hand frei. „Den ganzen Tag, Sir, wie mir scheint.“

Ihr Haar war aufgelöst, und sie strich sich eine Locke hinters Ohr. Sie hatte es aufgegeben, die zerzauste Mähne zu kämmen, und hatte sie kurzerhand mit einem Lederband im Nacken festgezurrt. „Haben Sie heute noch etwas vor, Major?“, fragte sie spitz. „Oder ziehen Sie die Stiefel zum Schlafen nie aus?“

Die Zeltklappe wurde aufgeschlagen und Christophers Diener trat ein. Als er Brianna neben der Pritsche stehen sah, flog ein Lächeln über sein bärtiges Gesicht. „Sitt Donally, ich freue mich, Sie wohlauf zu sehen. Ich habe Sie bei Ihrer Ankunft gar nicht begrüßt.“

„Abdul.“ Sie nahm seine beiden knorrigen Hände. „Auch ich freue mich, dich zu sehen.“

Er trug einen weißen Turban und eine langärmelige, um die Mitte gegürtete Tunika, die ihm bis zu den Knien reichte. „Schade, dass Ihr Bruder nicht noch einen Tag wartete, bevor er losritt. Sie hätten ihn kaum wiedererkannt, Sitt.“

Er redete im Flüsterton, um Alex nicht zu wecken. Brianna wandte sich an Fallon, der sich immer noch nicht von seiner Pritsche erhoben hatte. „Abdul, hol bitte seine Sachen. Er schläft hier.“

„Aber er wollte nicht, dass ich sein Gepäck bringe.“

„Tu, was sie sagt, Abdul“, bestätigte Fallon müde und blinzelte zu ihr hoch. „Und eine Schüssel Wasser. Ich muss mich waschen.“

„Und rasieren sollten Sie sich auch, Major.“ Brianna lächelte, als Abdul sich eilig entfernte. „Sonst ist die Frau zu bedauern, die Sie heute Nacht küssen werden.“

Ein träges Lächeln spielte um seine Mundwinkel, weiße Zähne blitzten im dunklen Gesicht. „Sind Sie immer so kühn im Umgang mit Männern, Miss Donally?“

„Nur mit solchen, die mich bereits halb nackt gesehen haben. Die Umstände zwangen uns, höfliche Förmlichkeiten beiseitezulassen, habe ich nicht recht, Major Fallon?“

Sein unschlüssiger Blick verriet ihr, dass sie ihn überrascht hatte. Das war ihr gerade recht. Sie verabscheute es, berechenbar zu sein. Um Abstand zu gewinnen, ging Brianna hinaus, als Abdul gerade mit einem Essenstablett auftauchte.

Christophers Zelt stand am Rand eines großen Wasserlochs. Ein riesiger Stern blinkte tief am Himmel. Ironischerweise schien das Gestirn mit seiner kalt glitzernden Pracht der toten Sandwüste Leben einzuhauchen. In einiger Entfernung trieb ein Junge eine meckernde Ziegenherde zusammen. Brianna hörte, wie hinter ihr die Zeltklappe hochgeschlagen wurde. Major Fallons dunkel gewandete Gestalt füllte die Öffnung. Dann sah sie, wie er mit wachsamen Augen die Umgebung absuchte.

Die Gegend gefiel ihm offenbar nicht. Er kniff die Lider zusammen. Brianna folgte seinem Blick und versuchte zu entdecken, was er sah. Hatte er den Verdacht, dass sie noch immer verfolgt wurden?

Abdul drängte sich durch die Öffnung. „Das Abendessen ist angerichtet, Sitt. Soll ich Ihrer Ladyschaft auch eine Schüssel bringen?“

„Nur, wenn sie wach ist. Wohin wurde mein Gepäck gebracht? Ich finde meine Kamera nicht.“

„Kommen Sie, Sitt.“

Ohne einen Blick an Major Fallon zu verschwenden, folgte sie Abdul und entdeckte eine Frau, die sich von der Wasserstelle entfernte. „Wieso ist sie nicht verschleiert?“, fragte sie, während Abdul sie zu einem größeren Zelt brachte.

„Manche Nomadenfrauen gehen unverschleiert.“ Abdul hielt ihr die Klappe auf, und Briannas Herz machte einen Satz.

Da war ihre Kamera.

Nichts schien zerbrochen zu sein in der Kiste, die ihr Fotomaterial, die Chemikalien zum Entwickeln, das schwarze Tuch und die Fotoplatten enthielt. Diese Kiste begleitete sie seit dem Tag, an dem sie mit Alex aufgebrochen war, um die koptische Ruine zu fotografieren. „Du bist in der Wüste geboren, Abdul. Bist du nicht auch ein Nomade?“

„Pah!“ Seine Augen funkelten entrüstet. „Ich bin der Sohn eines Kaufmanns“, beteuerte er im Brustton der Überzeugung, als rede er mit einem Menschen, den Allah nur mit einem halben Verstand ausgestattet hatte. „Ich bin häufig aus den Städten in die Oasen gereist und wäre ein reicher Mann geworden durch den Handel mit Seidenballen aus Damaskus. Ich hätte das Geschäft meines Vaters übernommen, hätte er sich nicht dem Würfelspiel ergeben. Leider bin ich nur ein Diener. Aber Ihr Bruder bezahlt guten Lohn.“

Abdul gehörte zu den wenigen Männern, die sie in diesem Land kennengelernt hatte, die Frauen mit einem gewissen Respekt behandelten, wobei sie gestehen musste, dass es den Männern in England meist auch am nötigen Respekt für die Weiblichkeit fehlte. Sie hatte Abdul in Kairo getroffen und war froh, ihn in ihrer Nähe zu wissen. Brianna nahm die Kamera aus der Kiste.

„Ich trage das, Sitt Donally.“

„Nein, Abdul. Du trägst bitte die Kiste.“

Sie stellte die Kamerabox beiseite, während Abdul die Kiste durch den Sand zog. Sie ging in die Knie und löste die Lederriemen, die den Deckel sicherten. „Was für ein Glück, dass meine Ausrüstung nicht gestohlen wurde.“

„Und Sie hatten noch mehr Glück, dass El Tazor Sie gefunden hat.“

Sie hielt inne. „Wie kommt es, dass du einen Mann so gut kennst, den man den Barrakuda nennt, Abdul?“

„Mein Vetter beliefert Fallon Effendi mit Informationen. Und der Major sorgt dafür, dass mein Vetter ein gutes Leben hat. So einfach ist das.“

„Einfach?“ Sie war entsetzt.

Abdul grinste breit. „Der Major hätte meinen Vetter auch im Gefängnis verrotten lassen können.“ Der Mann zuckte die Achseln. „Das hat er nicht getan.“

Sie hob den Kistendeckel. „Erpressung und Nötigung scheinen hierzulande offenbar gang und gäbe zu sein.“

Abdul machte ein beleidigtes Gesicht. „Zeigen Sie mir einen Mann ohne Laster, Miss, und ich zeige Ihnen einen Mann, der nicht atmet.“

Brianna betrachtete das oberste Foto eines Bilderstapels, der das Massaker überstanden hatte, weil sie die Platten rechtzeitig entwickelt hatte. Aus diesem Grund waren sie und Alex an jenem verhängnisvollen Tag verspätet zur Karawane zurückgekehrt.

Sie beugte sich vor und hielt das Bild ans Licht. Darauf war ein junger Mann zu sehen, der mit einem Gewehr im Arm posierte. Er hatte sich Selim genannt. Er trug das lose, knöchellange Gewand und den Turban seines Stammes und stand in der Haltung eines Feldherrn neben einem Kamel. Sie hatte oft mit ihm geplaudert und gelacht; er hatte ihr gezeigt, wie man Kuskus zubereitet, wobei es eigentlich unter der Würde der Männer seines Stammes war, einen Kochlöffel zur Hand zu nehmen. Und nun war er tot.

„Wird Lady Alex wieder gesund?“, fragte Abdul nach einer Weile.

Brianna legte die Fotografien zurück und blickte in die Wüste hinaus. Wenn nur Christopher hier wäre! Die Spannung, die seit dem Überfall in ihr war, verstärkte sich wieder. Sie war in großer Sorge, wie sie es schaffen sollte, Alex nach Kairo zurückzubringen. Sie war ein anfälliges, zartes Geschöpf wie alle vornehmen Damen aus Adelskreisen, und nicht an Strapazen gewohnt. Brianna fühlte sich für ihre Schwägerin verantwortlich, nach allem, was sie gemeinsam durchgestanden hatten.

„Abdul, überleg dir bitte, wie du uns nach Kairo zurückbringst. Ich weiß nicht, ob Major Fallon uns die ganze Strecke begleitet. Ich weiß nur, dass wir hier nicht lange bleiben dürfen.“

„Machen Sie sich keine Sorgen, Sitt.“ Abdul klemmte sich das Kamerastativ unter den Arm und zog die Kiste mit ihrer Fotoausrüstung hinter sich her am Feuer vorbei ins Zelt. Nein, sie machte sich keine Sorgen, das redete sie sich zumindest ein.

Major Fallon lehnte an einer Palme, als sie um die Ecke des Zeltes bog. In der Dunkelheit bemerkte sie ihn erst, als er sie ansprach. „Wenn Sie so leichtsinnig sind, hier draußen herumzuspazieren“, sagte er streng, und sie zuckte zusammen, „sollten Sie eine Waffe tragen.“

Es störte sie, dass sie sich von ihm so leicht erschrecken ließ. Er trat auf sie zu, in seiner Hand glänzte etwas. „Sie ist geladen.“ Er reichte ihr die Pistole, die er ihr an der Ruine des Wachturms abgenommen hatte. „Hier draußen ist Wachsamkeit eine Lebensnotwendigkeit, Miss Donally. Es wäre schade, wenn Sie nach allem, was Sie ausgestanden haben, durch Ihren Leichtsinn doch noch ums Leben kämen.“

Seine warnenden Worte wurden durch zwei bewaffnete Wächter am Rand des Lagers unterstrichen. „Major Fallon?“ Sie griff nach seinem Arm, als er sich zum Gehen wandte. „Vielen Dank für alles, was Sie für uns getan haben. Ohne Sie wären wir wohl nicht mehr am Leben.“

„Sie machen mir nicht den Eindruck, als würden Sie so schnell aufgeben, Miss Donally.“ Er lächelte dünn. „Das muss man Ihnen lassen.“

„Mit fünf älteren Brüdern habe ich gelernt, mich durchzusetzen, sonst hätten sie mich niedergetrampelt. Meine Jugend war so etwas wie ein ständiger Überlebenskampf.“

Sie standen keine Handbreit voneinander entfernt. Er musterte sie aufmerksam. „Stört Sie mein Bart?“

„Wie bitte?“ Seine unerwartete Frage brachte sie aus der Fassung, stellte er mit einem belustigten Funkeln in seinen grauen Augen fest.

„Wollten Sie, dass ich Sie küsse?“, fragte er unverblümt in Anspielung auf ihre Bemerkung von vorhin.

„Seien Sie nicht albern. Ich kenne keine Frau, die Gefallen an haarigem Gestrüpp im Gesicht eines Mannes findet, Major Fallon.“

„Sprechen Sie aus Erfahrung?“

„Sie können mich nicht in Verlegenheit bringen.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe viele Männer geküsst.“

„Ja, amîri.“ Brianna spürte seinen Blick, der über ihre Gestalt wanderte, als dringe er durch ihren Burnus. „Und wie viele erwachsene Männer?“

Ihre Finger trommelten gegen ihre Ellbogen, während sie darauf wartete, dass sein Blick sich wieder in ihr Gesicht hob. „Wenn ich darüber nachdenke“, sie lächelte verschmitzt, „war es nur einer. Aber ich fürchte, dieser eine hat mich gründlich verdorben.“

Sie ließ ihn stehen und huschte ins Zelt.

Nachdenklich strich Michael sich über seinen Anstoß erregenden Bart und lächelte in sich hinein. Miss Donally hatte eine entzückende Figur.

„Wie kommst du nur damit zurecht, Brianna?“, fragte Alex zum vierten Mal an diesem Morgen und stocherte lustlos mit der Gabel in ihrer Blechschale herum.

„Ich denke nicht darüber nach, Mylady.“ Brianna saß mit übergeschlagenen Beinen auf dem Teppich und putzte ein Objektiv ihrer Kamera.

„Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, Christopher wissen zu lassen, dass wir am Leben sind. Ich ertrage den Gedanken nicht, dass er sich Sorgen macht.“

In den letzten zwei Tagen drehten sich alle Gespräche nur darum. Nichts vermochte Alex zu trösten. Sie hatte geweint, mit dem Schicksal gehadert und zwischendurch geschlafen, im sinnlosen, aber verständlichen Bedürfnis zu begreifen, was ihnen zugestoßen war. Nach einem Bad trug sie einen dunkelroten Kaftan und war endlich bereit, etwas zu essen. „Ob Major Fallon uns nach Kairo begleitet?“, fragte sie.

Brianna blickte unter der Kapuze ihres Kaftans hervor und äugte zum Wassertümpel hinüber, wo das Objekt, um das ihr Gespräch kreiste, sich über einen kleinen Spiegel beugte. Das Gewehr lehnte an einer Dattelpalme neben ihm. Vor einer Weile war er ins Lager geritten, hatte sein Pferd abgegeben und war zum Tümpel gestapft. Brianna ließ die Linse sinken.

Gestern Abend hatte er versucht, sie zu kränken mit seiner Unterstellung, sie habe noch keinen Mann geküsst, höchstens unerfahrene Knaben. Seine Kränkung hatte ihre Wirkung zwar verfehlt, zumindest weitgehend, aber er hatte die Dreistigkeit besessen, ihr auch noch zu verstehen zu geben, Bartwuchs sei ein Zeichen von Männlichkeit.

Andererseits hatte diese humorvolle Seite an Major Fallon sie angenehm überrascht, die sie bei einem Mann, der sich darin gefiel, ständig ein tödlich scharfes Messer im Gürtel zu tragen, eigentlich nicht erwartet hatte.

Ein Mann, den sie nun ungeniert beim Rasieren beobachtete.

Er hatte Hemd und Turban abgelegt. Brianna trank einen Schluck Tee. Sein Haar war nicht ganz so schwarz und lang, wie sie vermutet hatte. Dunkle Locken, an den Seiten kürzer geschnitten, kringelten sich in seinem Nacken. Sein nackter Oberkörper war gebräunt, er verbrachte wohl viel Zeit in der Sonne. Die sehnigen Muskeln seiner Schultern und Arme bewegten sich mit jedem Strich des Rasiermessers.

Brianna war sich der Unschicklichkeit wohl bewusst, einen halb nackten Mann heimlich beim Rasieren zu beobachten, konnte aber den Blick nicht abwenden. „Kennen Sie diesen Mann gut, Mylady?“

Alex drehte den Kopf. „Höre ich etwa einen Anflug von Missbilligung?“

Beschämt über ihre Neugier, nahm Brianna ihre Arbeit wieder auf und hob die Kamera aus dem Holzgehäuse. „Ich bin wohl unzufrieden mit der ganzen Weltordnung.“

„Das ist nichts Neues“, entgegnete Alex ironisch. „Ich kenne Major Fallon von ein paar Empfängen in Kairo. Aber viel weiß ich nicht über ihn, niemand weiß wirklich etwas über ihn, obwohl die Damen großes Interesse an ihm zeigen.“ Lady Alex zeichnete mit der Gabel Muster in den Eintopf in ihrem Blechnapf und studierte sie aufmerksam. „Ehrlich gestanden ist es mir lieber, die Damen schmachten ihn an und nicht meinen Ehemann.“ Sie aß einen Bissen. „Kairo hat im Winter ein reges Gesellschaftsleben. Gottlob ist das auch die Jahreszeit, in der die Ausgrabungsstätten zugänglich sind, und ich verbringe die meiste Zeit außerhalb der Stadt. Ich versuche, mich zu beschäftigen und nicht an andere Dinge zu denken.“

Das konnte Brianna gut verstehen. Sie hatte weiß Gott vieles in ihrem Leben falsch gemacht, Fehler, die sie letztlich nach Ägypten verschlagen hatten, allerdings war ihre Lust an Abenteuern in der Zwischenzeit merklich abgeklungen.

Es hatte damit angefangen, dass sie im September wegen eines entgleisten Zuges eine ganze Woche in einem halb verfallenen Dorf festsaßen. Dann hatte es im Oktober einen gefährlichen Zwischenfall mit ihrem Kameltreiber gegeben. Da Brianna sich nicht zum Opfer gewalttätiger Geschlechtstriebe eines Nomaden machen wollte, hatte sie den Kerl, der ihnen eigentlich als Beschützer zugeteilt worden war, mit der Pistole bedroht. Und zu guter Letzt dieser schreckliche Überfall vor einer Woche …

„Major Fallon wirkte sehr verstört, als er erfuhr, dass Captain Pritchards die Leitung der Karawane unterstellt war“, sagte Brianna.

„Eigentlich war der Major für das Kommando vorgesehen.“

„Verstehe.“ Brianna säuberte die Linse mit einem weichen Pinsel.

„Christopher wollte nicht, dass ich mich der Karawane anschließe“, erklärte Alex leise. „Hätte ich mich ihm nicht widersetzt, wärst du jetzt nicht in dieser scheußlichen Situation.“

„Ich habe Sie auf eigenen Wunsch begleitet, Mylady.“ Brianna begann, Kamera und Objektive wieder im Gehäuse zu verstauen. Der Morgen war noch frisch, aber die Luft erwärmte sich rasch, und in einer knappen Stunde würden sie wieder Schutz im Zelt suchen müssen. Sie wechselte das Thema. „Weiß Christopher schon von dem Baby?“

„Nein.“ Alex betupfte sich mit dem weiten Ärmel die Stirn. „Ich bin zweiunddreißig. Wir beide haben eigentlich nicht mehr damit gerechnet.“

„Mylady …“

„Brianna …“ Alex klang nun sehr weich. „Warum bist du so störrisch? Ich wollte von Anfang an, dass du mich beim Vornamen nennst.“

Brianna brachte ihrer Schwägerin große Achtung entgegen. Alex war ihr in jeder Weise ein Vorbild. Sie war intelligent. Mutig. Unabhängig. Ihre Familie und ihre Freunde waren stolz auf sie. „Gott bewahre“, lachte Brianna. „Alle zehn Vornamen?“

„Du bist ein Frechdachs, Schwesterherz. Und eigensinnig wie ein Maultier.“ Alex spießte ein Stück Fleisch auf die Gabel. „Ich finde, das schmeckt fast so gut wie Major Fallons Hühnerfleisch.“

„Ich bitte dich, Alex.“ Brianna konnte es kaum fassen, dass ihre weit gereiste Schwägerin eine so törichte Bemerkung machte. „Hast du an der Turmruine etwa gackernde Hühner gesehen?“

Alex’ grüne Augen wurden rund. Und plötzlich lachten beide. Die aufgestaute Spannung machte sich in einem prustenden Lachanfall Luft. Zwei hysterisch kichernde junge Frauen in einer feindlichen Welt bogen sich vor Lachen, bis ihnen die Tränen über die Wangen liefen. Ihr eiserner Lebenswille hatte dafür gesorgt, dass sie in der Wüste nicht elend zugrunde gegangen waren. Wen störte es, wenn sie jetzt wie zwei Irrsinnige lachten? Es war, als öffne sich ein Ventil, um Dampf abzulassen, bevor der Kessel explodierte.

Alexandra lag auf dem Rücken im Sand. „Mir tut alles weh vor Lachen.“

Brianna fiel neben sie und landete beinahe auf zwei staubigen Stiefelspitzen, die plötzlich aufgetaucht waren. Major Fallon blickte auf die beiden Frauen herunter. Er trug keinen Bart mehr. War er als bärtiger Wilder bereits ansehnlich gewesen, so sah er nun einfach umwerfend aus. Brianna drehte sich herum. In Augen wie diesen könnte eine Frau ertrinken.

„Major Fallon.“ Alex richtete sich auf. „Wir haben grade Ihre Kochkünste gelobt.“

„Ihr Lob war nicht zu überhören.“ Falls ihn das kindische Kichern gekränkt hatte, ließ er sich zumindest nichts anmerken.

Unter einem offenen Kaftan, der ihm bis zu den Knien reichte, war sein Oberkörper nackt, seine Brust von dunklem krausen Haar bedeckt, das sich zu einem schmalen Strich verjüngte, der über seinen flachen Bauch nach unten führte und im Bund seiner weiten Hosen verschwand. In einer Hand trug er sein Gewehr. Als er in die Knie ging, umwehte ihn ein Hauch seiner Rasierseife.

„Ich bin sehr erfreut, dass die Damen sich erholt haben.“ Sein Blick zu Brianna war beinahe zärtlich.

Brianna wurde von einer seltsamen Beklommenheit erfasst. „Wir Donallys sind aus ziemlich hartem Holz geschnitzt“, erwiderte sie zu ihrer eigenen Überraschung.

„Das klingt beruhigend.“ Seine Stimme war seidig und dunkel. Er richtete sich wieder auf. „Weil ich Ihre Kleider brauche. Morgen Nacht reiten wir wieder in die Hölle.“

3. KAPITEL

Mir bleibt auch nichts erspart“, stöhnte Alex naserümpfend. „Musste mir Major Fallon ausgerechnet die Kleider eines Mannes bringen, der sich seit einem Jahr nicht gewaschen hat?“ Brianna zurrte die Bandagen fest, die ihren Busen platt drückten, und streifte sich das lange Gewand über den Kopf. „Hoffentlich weiß er überhaupt, was er tut.“

„Sind die Damen bereit zum Aufbruch?“, fragte Abdul von der anderen Seite des Seidenvorhangs.

„Ja, gleich.“ Brianna half Alex beim Umwickeln des Turbans und steckte ihr eine von der Sonne gebleichte helle Locke unter die Stoffbahn. Sie war besorgt, da Alex sich fiebrig erhitzt anfühlte. „Bemüh dich, wie ein Mann zu gehen“, flüsterte sie ihr zu, als sie hinter der Trennwand hervortraten.

In ihrer Verkleidung sollte man sie für Männer halten und denken, die beiden englischen Ladys schliefen in ihrem Zelt, um Major Fallons Plan nicht zu gefährden.

In diesem Moment kam er herein, das Abbild eines verwegenen Wüstenbewohners.

Er hatte den Frauen genaue Anweisungen erteilt. Alex, in den Kleidern des Kochs ihres Ehemanns, sollte als Erste das Lager verlassen.

„Sie bleiben zwei Nächte bei der Familie des Vorarbeiters, bevor die Karawane aufbricht“, sagte Fallon, und als er sah, wie ihr Blick die Fotografien auf dem Regal streifte, fügte er beruhigend hinzu: „Seien Sie unbesorgt, alles wird sorgfältig verpackt.“

Autor

Melody Thomas
Jahre nachdem Melody Thomas ihren Abschluss in Kriminalistik an der Universität von Oklahoma gemacht hat, entdeckte sie das Genre historische Romane. Wahre Legenden wie M.M. Kaye, Kathleen Woodiwiss, Judith McNaught und Penelope Williamson entfachten bei ihr den Funken zu schreiben. Die Bücher von Melody Thomas waren fünfmal vom Romantic Times...
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