Nach all den Jahren

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Als Marsh - ihre erste große Liebe - von heute auf morgen verschwindet, bricht eine Welt für Tory zusammen. Niemals soll er erfahren, dass sie die gemeinsame Tochter Kim haben! Doch neun Jahre später passiert genau das, was sie vermeiden wollte: Marsh erfährt von Kim und macht Tory sofort einen Heiratsantrag …


  • Erscheinungstag 28.03.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733756277
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Herbeordert.

Es gab kein anderes Wort dafür.

Marsh Bravo war herbeordert worden – von seinem Vater, den er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Dem Vater, den er ebenso hinter sich lassen wollte wie die Stadt in Oklahoma, in der er geboren worden war. Und genau wie Tory.

Tory.

Er hatte sich gezwungen, nicht an sie zu denken. Und er tat es nur noch selten. Es war sinnlos. Selbst nach all diesen Jahren tat es weh. Victoria Winningham hinter sich zu lassen war nicht einfach gewesen. Eigentlich war es das Schwerste gewesen, was er je getan hatte.

Und seinen Vater hinter sich zu lassen? Nun ja, das war eine Erlösung gewesen.

Blake Bravo bewegte sich im Krankenhausbett. Er drehte den Kopf, öffnete seine tief in den Höhlen liegenden, glasigen Augen, sog keuchend den Sauerstoff ein und hob mühsam eine faltige, fleckige Hand, an der Schläuche befestigt waren. Er tastete nach dem Schlauch, der in seiner Nase verschwand, ließ die Hand jedoch wieder auf die Decke sinken, bevor er ihn versehentlich lösen konnte.

Der alte Mann.

So hatte Marsh ihn immer genannt. Inzwischen traf es wirklich zu. Blake Bravo war erst achtundfünfzig, sah jedoch viel älter aus. Er hätte auch siebzig sein können. Oder sogar achtzig.

Sein Blick fiel auf Marsh, und die blassen Augen verengten sich zu Schlitzen. „Du bist gekommen“, flüsterte er heiser, und es klang wie das Zischen einer Schlange.

„Hallo, Dad.“

„Schöner Anzug.“

„Ja.“

„Gefällt mir.“

Blake grinste boshaft. „Du bist groß herausgekommen, oben in Chicago, was?“

„Es geht mir ganz gut.“

Ein kleines, gehässiges Schmunzeln trat auf Blakes Gesicht. „Das weiß ich. Ich weiß alles über dich. Bilde dir ja nicht, du könntest mir irgendetwas verheimlichen. Ich kenne sogar den Name des kleinen Colleges, auf dem du deinen Abschluss gemacht hast. Du hast noch während des Studiums deine Firma gegründet. Ich habe dich im Auge behalten und hätte dich jederzeit gefunden. Du würdest dich wundern, was für Tricks dein alter Dad im Ärmel hat.“

„Nein, das würde ich nicht.“

Blakes Augen wurden noch enger, und er verzog die faltigen, schmalen Lippen zu einem höhnischen Ausdruck. „Deine Art gefällt mir nicht, Mr. Aufschneider.“ Er seufzte. „Aber das hat sie nie …“ Mühsam hob er die knochige Hand, wedelte kraftlos damit und wandte das Gesicht wieder ab.

Marsh wartete. Es gab viele Fragen, die er dem alten Mann hätte stellen können. Aber er tat es nicht. Er kannte seinen Vater. Ein Jahrzehnt war nicht genug, um einen anderen Menschen aus ihm zu machen. Blake Bravo liebte es, wenn man ihn etwas fragte. Es gab ihm die Macht, nicht zu antworten.

Marsh hob den Blick und blickte durch das einzige Fenster nach draußen. Das Zimmer befand sich in einem der obersten Stockwerke. Alles, was er sehen konnte, war der graue Himmel. Oklahoma im Mai. Eben noch strahlender Sonnenschein, dann Regen und häufig sogar Gewitter oder Sturm.

Aber nicht heute. Wenn ein Tornado drohte, türmten sich die Wolken zu dunklen Gebirgen. Heute war der Himmel eine einzige graue Masse.

Erneut richteten die blassen Augen sich auf ihn. „Ich sterbe“, wisperte die zittrige Stimme.

Marsh nickte fast unmerklich. Das hatte sein Vater ihm schon gesagt. Vor vierundzwanzig Stunden am Telefon. Der Arzt, mit dem Marsh vorhin gesprochen hatte, war hoffnungsvoll gewesen, dass Blake den Infarkt überleben würde. Aber jetzt, nachdem er ihn gesehen hatte, war Marsh sicher, dass der Doktor nur rücksichtsvoll war – oder ein Lügner.

„Herzinfarkt“, fuhr Blake fort. „Ein schwerer. Und bald kommt der Nächste, das fühle ich. Aber das habe ich dir schon erzählt, nicht wahr?“

„Ja, am Telefon.“

„Ich wiederhole mich, was?“

Marsh hob die Schultern. „Das macht nichts.“

„Doch, das macht was.“

Sie wechselten einen Blick. Einen langen Blick, in dem Herausforderung lag. Und Trotz. Auf beiden Seiten.

„Mein Bruder ist an einer Gehirnblutung gestorben. Im November ist es dreißig Jahre her. Dreißig Jahre.“ Blake holte tief Luft. „Er war erst dreiunddreißig.“ Der Kranke zog eine graue Braue hoch. „Früh, was? Na ja, er stand unter einer Menge Stress in den Monaten vor seinem … bedauerlichen Ableben.“

Marsh antwortete nicht. Wozu auch? Er kannte die verschrobenen Spielchen seines Vaters.

Blake keuchte. „Willst du denn nichts über deinen Onkel wissen?“

Nein. Marsh bezweifelte, dass es überhaupt einen gab. „Sag einfach, was du mir sagen willst.“

Sein Vater schmunzelte. Daraus wurde ein leises Lachen, das in ein Husten überging. Der Husten wurde immer schlimmer, und der Sauerstoffschlauch rutschte ihm aus der Nase. Langsam und vorsichtig schob Blake ihn wieder zurück und atmete tief ein, bis der Husten sich wieder legte.

„Widerlich, dieses Sterben“, keuchte Blake und warf seinem Sohn einen kurzen Blick zu. „Gib es zu, du wusstest nicht, dass ich einen Bruder hatte, nicht wahr?“

„Du hast recht. Ich wusste nicht, dass du einen Bruder hattest.“

„Es gibt viel, was du nicht weißt.“

„Auch damit hast du sicher recht, Dad.“

„Verdammt richtig.“ Sein Atem wurde pfeifend, und Blake schloss die Augen.

Plötzlich war es still im Zimmer. Marsh sah, wie die Lösung aus dem Beutel in den Schlauch tropfte, der zum Handrücken seines Vaters führte. Auf dem Korridor ging jemand mit quietschenden Schuhen an der Tür vorbei.

„So verdammt müde“, murmelte der alte Mann im Bett. „Und die Medikamente, die sie mir immerzu geben … machen mich benommen. Das Denken fällt mir schwer. Und du … du hilfst mir auch nicht gerade weiter, Mr. Aufschneider. Du stellst mir überhaupt keine Fragen.“

Fast hätte Marsh gelächelt. Es wäre ein Lächeln ohne jede Wärme gewesen. Er zögerte, bevor er dem Sterbenden den erbetenen Gefallen tat. „Na gut, Dad. Wenn du unbedingt willst … Warum hast du mich zu dir gebeten?“

„Ich habe dich nicht gebeten.“

„Du hast recht. Du hast immer recht. Warum hast du mich herbeordert?“

Blake verzog seine Lippen zu einem Ausdruck gehässiger Belustigung. „Sterben ist teuer. Jemand muss die verdammte Krankenhausrechnung bezahlen.“

„Kein Problem. Die übernehme ich.“

„Natürlich, Mr. Aufschneider. Du hast genug Geld, was?“

„Ich sagte, ich übernehme sie“, erwiderte Marsh gereizter als beabsichtigt.

„Du bist ja nicht wieder zu erkennen in deinem teuren Anzug“, sagte sein Vater. „Aber so sehr hast du dich nun auch nicht geändert. Du mochtest es nie, wenn ich dich Mr. Aufschneider nenne. Und du magst es noch immer nicht, was?“

Marsh beschloss, die bissige Frage einfach zu ignorieren. „Ist das also alles? Du brauchtest jemanden, der bezahlt?“

„Das würde dir so passen.“

„Warum sollte ich herkommen, Dad?“

„Das ist das dritte Mal, dass du das fragst.“ Die wässrigen Augen glänzten, als Blake sich über seinen billigen Triumph freute. „Keine Angst, Junge. Das mit der Rechnung war nur ein Scherz. Die kann ich selbst bezahlen, du wirst schon sehen. Ich habe … diverse verborgene Rücklagen, um es mal so zu nennen.“ Er grinste hämisch.

Marsh glaubte ihm. Er konnte sich nicht erinnern, dass sein Vater jemals regelmäßig gearbeitet hatte. Manchmal war er einfach verschwunden und monatelang fort geblieben. Vielleicht hatte er irgendwo eine Stelle gefunden, aber er hatte niemals davon erzählt. Das Geld hatte Marshs Mutter verdient. Tammy Rae Sandovich Bravo hatte sich immer neue Gelegenheitsjobs gesucht und schwer geschuftet, um ihre Familie zu ernähren. Marsh war stets davon ausgegangen, dass seine Mutter das bisschen Geld, das sie zur Verfügung hatte, ins Haus brachte. Aber dann war sie gestorben, als er sechzehn war. Doch auch danach hatte es in der schäbigen Behausung genug zu essen gegeben, und irgendwie waren die Stromrechnungen stets bezahlt worden, bevor die Lampen ausgingen.

Sein Vater redete noch immer und klang ungemein selbstzufrieden. „Ja, genau. Verborgene Rücklagen. Sehr gut verborgen. Und bald wird alles dir gehören“, fuhr Blake fort.

Obwohl er wusste, dass er keine Antwort bekommen würde, stellte Marsh die Frage, die der alte Mann hören wollte. „Was wird mir gehören, Dad?“

„Das wirst du bald erfahren. Auf dich wartet deine große Überraschung. Deine große, funkelnde Überraschung.“

Marsh sah ihn nur an.

Blakes Gesicht verzog sich zu einem fratzenhaften Grinsen. „Du hast keine Ahnung, was? Das gefällt mir. Keiner hat eine Ahnung. Seit dreißig Jahren. Jetzt kriegen sie mich nicht mehr. Dazu müssten sie mir schon in die Hölle folgen.“ Er begann zu lachen, aber ihm fehlte die Kraft, und das Lachen ging in ein atemloses Seufzen über. „Verdammt. Ich bin müde …“ Er fluchte leise. „Bin jetzt immer müde …“

Die Lider schlossen sich vor dem wilden Blick – und zuckten wieder hoch. „Deshalb bist du also hier. Wegen deiner großen Überraschung. Deinem … Erbe. Aber das kriegst du erst, wenn ich nicht mehr bin.“

Marsh spürte, wie er die Geduld verlor. „Spende es der Wohlfahrt. Ich will es nicht.“

Blake schnalzte mit der Zunge. „Du hast nie etwas von deinem alten Dad gebraucht, Mr. Aufschneider.“ Er fuhr sich mit der rechten Hand, der ohne Schläuche, über das schüttere graue Haar. „Jetzt musst du mich nicht mehr umbringen. Das erledigt die Natur für dich. Es dauert nicht mehr lange.“

Marsh holte tief Luft, um sich abzuregen. Es wirkte. Sein Puls ging langsamer, die geballte Faust entspannte sich.

„Dad …“

Blake zwinkerte ihm zu. „Du willst wieder weg, was?“

„Nein. Ich werde ein oder zwei Tage hier bleiben.“

„Richtig, das wirst du. Sie haben mich aufgeschnitten, habe ich dir das erzählt.“

„Ja, das hast du.“

„Vor drei Tagen. Fünffacher Bypass. Und ein kleines Plastikventil. Ich kann hören, wie es funktioniert, wenn es leise ist, wenn ich allein bin … Aber wozu? Ich werde bald tot sein.“

Marsh schüttelte den Kopf. „Der Arzt hat mir gesagt, dass du eine gute Chance hast.“

„Ärzte“, entfuhr es Blake. „Was wissen die schon?“

Marsh hatte genug. „Bis später, Dad.“

„Warte!“

Marsh zögerte, die Hand schon am Türknauf.

„Die Schlüssel sind in meiner Hosentasche.“ Mit dem Kopf zeigte Blake zum Schrank. „Aber schnüffle nicht in meinen Sachen herum, bis ich tot bin, klar?“

„Ich werde nicht im Haus wohnen.“

„Nimm die verdammten Schlüssel trotzdem. Ich brauche sie nicht mehr.“

Marsh drehte den Türknauf.

„Ich bin noch nicht fertig.“

„Erzähl es mir später.“

Sein Vater sprach einfach weiter. „Das Mädchen“, flüsterte er. „Die hübsche Rothaarige. Die Arzttochter …“

Marsh erstarrte. Tory. Was immer die Erwähnung ihres Namens in ihm auslöste, er würde es sich nicht anmerken lassen.

Sein Vater grinste jedoch nur. „Ruf sie an. Du kennst die Nummer doch noch, oder? Es ist noch die Alte.“

Marsh öffnete die Tür. „Ich komme wieder. Wahrscheinlich heute Abend.“

„Ruf sie an“, befahl Blake. „Sie wird überrascht sein. Freu dich drauf.“

Marsh trat auf den Korridor und zog die Tür hinter sich zu.

Fünf Minuten später saß er in seinem Mietwagen. Er fuhr vom Parkplatz des Krankenhauses und bog nach Süden ab. Ohne nachzudenken, nahm er die Main Street, bis sie keine Einbahnstraße mehr war.

Norman, Oklahoma. Seine Heimatstadt. Sie wirkte irgendwie größer. Wohlhabender. Die Straßen waren voller als früher. Aber gleichzeitig hatte sich nichts verändert. Er wusste noch genau, wo er was finden konnte – in diesem Fall ein großes Hotel an der Interstate.

Er kam an der High School vorbei, deren Fassade gerade erneuert wurde. An der hölzernen Statue, dort, wo die Wylie Street die Hauptstraße kreuzte. Irgendein Held aus dem Bürgerkrieg, wenn er sich recht erinnerte.

Ein paar Blocks weiter kam die Querstraße, die er hätte nehmen müssen, um …

Marsh nahm sie nicht. Und auch nicht die Nächste. Oder die danach. Er nahm keine der drei Straßen, die ihn zu dem stattlichen Backsteinhaus geführt hätte, in der das Mädchen gelebt hatte, dem er ewige Liebe geschworen hatte – und sie ihm.

Ruf sie an. Du kennst die Nummer doch noch, oder?

Marsh befahl sich, die geflüsterten Worte seines Vaters zu ignorieren. Blake Bravo tat nur, was er immer tat. Er brachte seinen Mitmenschen Unglück, sobald sich ihm die Gelegenheit dazu bot.

Nein, er würde sie nicht anrufen. Sie würde ihm die Tür vor der Nase zuschlagen. Er war zurückgekommen, weil sein Vater im Sterben lag. Das war der einzige Grund.

Vergangen war vergangen.

Schlafende Hunde zu wecken war gefährlich. Und die Zeit heilte alle Wunden – wenn man sie ließ.

Vermutlich war sie längst verheiratet. Eine Ehefrau, Mutter – und glücklich. Ohne den wilden Jungen, den sie einst geliebt hatte. Sie verdiente das Beste, und Marsh hoffte inständig, dass sie es bekommen hatte.

Trotzdem …

Er hatte sie geliebt, aus tiefster Seele. In den letzten zehn Jahren hatte es niemanden gegeben, der sie hätte verdrängen können.

Marsh blinzelte.

Verdammt. Er hatte die Interstate längst überquert, und selbst das Einkaufscenter lag hinter ihm. In dieser Gegend gab es weit und breit kein Hotel. Fluchend wendete er.

Wenige Minuten später hatte er ein Zimmer und rief sein Büro in Chicago an. Und noch während er telefonierte, schlich Tory sich wieder in seine Gedanken.

Hastig vertrieb er sie. Das Hotel hatte einen kleinen Fitnessraum. Er ging nach unten und verbrachte eine Stunde an den Geräten. Danach etwas Zeit in der Sauna. Und zum Schluss duschte er ausgiebig.

Als er aus dem Bad kam, war es erst sechs. Und er dachte wieder an Tory. Wie mochte ihr Leben jetzt aussehen?

Hatte sein Vater die Wahrheit gesagt? Wohnte sie noch immer in dem großen Backsteinhaus in Westwood Estates, bei ihren Eltern?

Schlafende Hunde, dachte Marsh erneut.

Lass sie in Ruhe. Sie will dich nicht wieder sehen.

Aber in seinem Zimmer gab es ein Telefonbuch, und er schlug die Ärzte nach. Kein Dr. Seth Winningham. Auch Seth oder Audra Winningham waren nicht verzeichnet.

Aber dann sah er es: V. J. Winningham. V für Victoria. J für Justine. Die alte Adresse, die alte Nummer. Genau wie sein Vater es gesagt hatte. Der Doktor und seine Frau hatten sich vermutlich zur Ruhe gesetzt, waren nach Florida gezogen und hatten das Haus ihrem einzigen Kind hinterlassen.

Und das hieß noch immer Winningham. Ihre Tochter hatte nicht geheiratet – jedenfalls sah es so aus. Aber manche Frauen behielten ihren Mädchennamen bei.

Lange starrte Marsh auf das offene Telefonbuch. Auf die Nummer, die er nie vergessen hatte.

„Tory?“

Mehr sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung nicht. Es klang vorsichtig. Hoffnungsvoll.

Nur ihr Name.

Aber es brachte Tory Winninghams Welt aus den Fugen.

Sie erkannte die Stimme sofort. Selbst nach zehn Jahren.

Ein flaues Gefühl machte sich in ihr breit.

„Tory?“, wiederholte die Stimme. „Hallo? Tory?“

Kim beobachtete sie und spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Die kleine Stirn legte sich in Falten. „Mama! Wer ist das? Was ist los?“

„Augenblick, bitte“, sagte Tory in den Apparat und legte die Hand um die Sprechmuschel, damit der Anrufer nichts hören konnte. Dann riss sie sich zusammen und setzte ein munteres Lächeln auf. „Nur ein alter Freund, Honey. Niemand, den du kennst. Iss jetzt.“

Es kam Tory vor wie eine Ewigkeit, bis Kims Gesicht sich entspannte und sie achselzuckend wieder nach ihrer Gabel griff.

Sie kehrte ihrer Tochter den Rücken zu und telefonierte weiter. „Ja?“ Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie musste schlucken. „Hier ist Tory.“

„Ich bin es. Marsh“, erwiderte er. „Bravo“, fügte er rasch hinzu, als wäre es möglich, dass sie seinen Nachnamen vergessen hatte.

Bleib ruhig, dachte sie. Deine Stimme darf dich nicht verraten. „Ja. Ja, ich weiß.“

„Es ist ziemlich verrückt, das ist mir klar“, sagte er. „Nach so langer Zeit …“ Seine tiefe Stimme klang zaghaft und hoffnungsvoll.

„Ja.“ Atme, dachte sie. Entspann dich. Bleib ruhig. Ihr Hals war so schrecklich trocken. „Verrückt … Das ist das richtige Wort.“

„Du bist nicht …“ Er verstummte. Sie hörte, wie er ebenfalls versuchte, tief durchzuatmen. „Ich weiß nicht, wie ich es anders fragen soll … Bist du verheiratet?“

Warum wollte er das wissen? Es ist zu spät, Marsh Bravo, dachte sie. Du hast deine Wahl vor zehn Jahren getroffen.

„Tory?“

„Nein“, antwortete sie sanft. „Nein, ich bin nicht …“ Sie sprach das gefährliche Wort nicht aus.

Sie schwiegen beide. Hinter ihr hatte Kim gerade einen Schluck Milch getrunken. Tory wusste es, weil sie hörte, wie ihre Tochter das Glas wieder auf den Tisch stellte.

„Störe ich gerade?“, fragte er leise.

Warum fragte er das? Wusste er … Konnte es sein, dass er es wusste?

„Tory, bist du noch da?“

Sie warf einen Blick über die Schulter. Zum Glück war ihre Tochter mit dem Thunfischauflauf beschäftigt. „Ich esse gerade“, sagte Tory.

Wieder schwieg er. Dieses Mal nur kurz. „Ich weiß, ich habe kein Recht, dich darum zu bitten. Ich weiß, dass ich dir gesagt habe, du sollst mich vergessen. Aber ich … Tory, ich würde dich wirklich gern wieder sehen. Können wir uns irgendwo treffen? Auf einen Drink vielleicht?“

Er weiß es, dachte sie panisch. Er musste es wissen. Deshalb hatte er angerufen. Vermutlich hatte er mit seinem Vater gesprochen, und der grässliche alte Mann hatte es ihm schließlich doch erzählt.

Tory schloss die Augen – und sah Blake Bravos Gesicht vor sich. Grinsend. Eine bösartige, hässliche Fratze. Hastig schüttelte sie den Kopf, um das Bild zu vertreiben. Aber wenn Marsh es wusste, warum sprach er es dann nicht einfach an?

„Hör zu“, erwiderte sie. „Gibt es eine Nummer, unter der ich dich nachher zurückrufen kann?“

„Du meinst, du kannst jetzt nicht reden.“ Es war eine Feststellung. Eine grimmige.

„Ja, das meine ich.“

„Ich gebe dir meine Handynummer.“

Das machte ihr Hoffnung. Vielleicht war er noch nicht in der Stadt. Vielleicht war er meilenweit entfernt, in einem anderen Bundesstaat. Vielleicht wollte er gar nicht herkommen. Vielleicht …

Doch dann sprach er weiter. Er nannte den Namen eines Hotels und dessen Adresse, keine zwei Meilen von ihrem Haus entfernt. Ihr Herz schlug schneller, und plötzlich hatte sie einen bitteren Geschmack im Mund. Er sagte etwas von seinem Vater. Von einem Herzinfarkt.

„Das tut mir leid“, antwortete sie.

„Warum? Ich glaube, da bist du die Einzige.“

„Ist er …“

„Er lebt noch. Aber es sieht nicht gut aus. Er liegt im Kreiskrankenhaus in Norman.“

Was hat er über mich erzählt? Ist es das? Hast du deshalb angerufen? Aber Tory sprach die Fragen nicht aus.

„Hast du … mit ihm gesprochen?“, erkundigte sie sich vorsichtig.

„Ich war vor zwei Stunden bei ihm.“

„Und?“

„Er ist sehr krank. Abgesehen davon hat er sich kein bisschen geändert. Wann rufst du mich an?“

Nervös nagte sie an ihrer Lippe. Wenn Marsh wirklich von Kim wusste, würde er jetzt nicht darüber sprechen.

Das war gut. Jetzt konnte sie nämlich nicht darüber sprechen. Sie schaute auf die Uhr am Herd. 18 Uhr 23. Nach dem Essen musste Kim ihre Schulaufgaben machen. „In einer Stunde?“

„Okay.“

Sie legte auf und wartete einen Moment, bevor sie sich zu ihrer Tochter an den Tisch setzte.

Kimmy versuchte gerade, Butter auf ein Brötchen zu streichen. Es zerbrach.

„Komm, ich helfe dir.“ Tory streckte die Hand aus und sah erstaunt, dass sie nicht zitterte. Kim gab ihr das Brötchen und beobachtete interessiert, wie ihre Mutter es bestrich. „Marmelade?“, fragte Tory.

„Ja, bitte.“

Tory löffelte etwas Erdbeermarmelade auf die beiden Stücke und legte sie auf Kims Teller.

Kim nahm sich eins. „Mit wem hast du telefoniert?“, fragte sie.

„Nur ein alter Freund.“

Ihre Tochter legte das Stück wieder auf den Teller, ohne abzubeißen. „Das hast du schon gesagt. Was für ein alter Freund? Wer?“

„Niemand, den du kennst.“

„Das hast du auch schon gesagt.“

Tory setzte eine strenge Miene auf. „Und mehr wirst du auch nicht erfahren.“

Kimmy stöhnte. „Ach, Mama …“

„Iss dein Brötchen. Und trink die Milch aus.“

„Kann ich danach einen Müsliriegel haben?“

„Die Milch und das Brötchen. Aber sofort.“

Tory verbrachte die folgende Stunde damit, sich ihre Unruhe nicht anmerken zu lassen. Es war nicht einfach.

Nach so langer Zeit.

Nachdem sie geschafft hatte, was sie einst für unmöglich gehalten hatte: sich damit abzufinden, dass Marsh nicht eines Tages zu ihr zurückkehren und sie auf Knien bitten würde, ihn zu heiraten, weil er nicht mehr ohne sie leben konnte.

Es war ihr lange Zeit schwergefallen, aber in letzter Zeit hatte Tory ihren inneren Frieden gefunden. Ihre Eltern hatten sich in New Mexico zur Ruhe gesetzt und ihr geräumiges Haus Tory und ihrer geliebten Enkeltochter überlassen. Tory besaß ihr eigenes Geschäft, und die Arbeit machte ihr Spaß. Kim war hübsch, gesund, intelligent und fröhlich.

Tory gefiel ihr Leben.

Und jetzt das!

Marsh Bravo. Zurück in der Stadt.

Sein Auftauchen konnte ihr Leben auf den Kopf stellen – genau wie vor einem Jahrzehnt sein Verschwinden.

Dennoch – Marsh Bravo war der Vater ihrer Tochter.

Das war eine unbestreitbare Tatsache. Und er hatte ein Recht, sein Kind kennenzulernen.

Und Kim fragte sie nach ihm. Immer häufiger. Tory war klar, dass ihr nichts anderes übrig blieb. Sie würde sich mit ihm treffen müssen.

Als Tory Marsh zurückrief, tat sie es von ihrem Schlafzimmer aus, bei geschlossener Tür. Betsy, die Schülerin, die drei Häuser weiter wohnte, hatte sie bereits gebeten, auf Kim aufzupassen. Betsy Tilden sprang immer dann ein, wenn Rayanne Pickett von nebenan keine Zeit hatte.

Rayanne gehörte praktisch zur Familie. Sie war eine gute Freundin von Torys Mutter und war für Kim wie eine zweite Großmutter. Aber an diesem Abend wollte Tory nicht riskieren, dass Rayanne sie fragte, wo sie mitten in der Woche nach neun Uhr abends so plötzlich hingehen wollte. Wie ihre Eltern, so wäre auch Rayanne nicht gerade begeistert, wenn sie erfuhr, dass Marsh Bravo wieder in der Stadt war.

Sicher, irgendwann würde sie es Rayanne erzählen müssen. Aber nicht an diesem Abend.

Also hatte sie Betsy gebeten, auf Kim aufzupassen. Das Mädchen hatte zugesagt, um Viertel nach neun zu kommen, wenn Kim schon im Bett lag.

Das zweite Telefonat mit Marsh hielt Tory kurz. „Wir treffen uns in der Halle deines Hotels“, erklärte sie nach einer knappen Begrüßung. „Gegen halb zehn?“

„Einverstanden. Und Tory?“

„Ja?“

„Danke, dass du dich mit mir triffst.“

Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, also legte sie einfach auf.

Tory quälte sich mit der Frage, ob sie Kim sagen sollte, dass sie ausgehen würde. Solange ihre Tochter im Bett blieb, brauchte sie es nicht zu wissen. Aber wenn sie es ihr verschwieg und Kim aufwachte, während sie fort war – nein, das ging nicht.

Also erzählte Tory ihr, dass sie eine Weile weg sein musste und Betsy da sein würde für den Fall, dass Kim etwas brauchte. Kim stellte die logische Frage. Die, vor der ihre Mutter sich gefürchtet hatte.

„Wohin gehst du?“

„Das ist etwas für Erwachsene“, wich Tory aus, anstatt glattweg zu lügen.

Kim verstand, was ihre Mutter damit sagen wollte. „Du meinst, du willst es mir nicht erzählen.“

„Richtig. Aber ich verspreche, ich bin nicht lange weg.“

Ein schelmisches Glitzern trat in Kims große dunkle Augen. Augen, die sie von dem Vater hatte, den sie nicht kannte. Noch nicht. „Weißt du was? Ich bleibe einfach auf, leiste Betsy Gesellschaft und warte auf dich.“

Tory schüttelte den Kopf. „Nein. Betsy muss Schulaufgaben machen. Und du kannst gern auf mich warten – hier im warmen Bett, mit dem Licht aus.“

„Oooch, Mom …“

„Gib mir einen Kuss.“

„Na gut.“

Betsy kam pünktlich um Viertel nach neun. Tory dankte dem Mädchen, dass es so kurzfristig einsprang, und sagte zu, spätestens um elf zurück zu sein. Betsy erwiderte, sie könne sich ruhig Zeit lassen.

Tory stieg in ihren Wagen. Erst als sie am Steuer saß, begann ihr Herz zu rasen. Auch ihre Hände zitterten plötzlich.

Sie klappte die Sonnenblende herunter und schaute in den beleuchteten Spiegel. „Beruhige dich. Alles wird gut“, flüsterte sie.

Es schien nicht zu helfen.

Sie klappte die Blende wieder hoch und startete den Motor.

Autor

Christine Rimmer
<p>Christine Rimmers Romances sind für ihre liebenswerten, manchmal recht unkonventionellen Hauptfiguren und die spannungsgeladene Atmosphäre bekannt, die dafür sorgen, dass man ihre Bücher nicht aus der Hand legen kann. Ihr erster Liebesroman wurde 1987 veröffentlicht, und seitdem sind 35 weitere zeitgenössische Romances erschienen, die regelmäßig auf den amerikanischen Bestsellerlisten landen....
Mehr erfahren