Nacht des Schicksals

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Auf dem Landsitz ihrer Familie will Kendra ein ganz neues Leben beginnen. Noch immer belastet sie ein traumatisches Erlebnis, das vor Jahren ihre Welt zum Einstürzen brachte. Nach einem Rockkonzert hatte sie einen Unfall, der einen totalen Gedächtnisverlust auslöste. Was war in dieser Nacht passiert? Mit wem hatte sie sich geliebt? Seit acht Jahren verheimlicht Kendra ihrer Tochter, dass sie selbst nicht weiß, wer der Vater ist. Sie hofft, auf Lakeview die Schatten der Vergangenheit verdrängen zu können. Doch als sie dem Unternehmer Brodie den Auftrag gibt, ihr Anwesen zu renovieren, benimmt er sich sehr merkwürdig. Mal küsst er sie heiß, dann wieder bleibt er eiskalt. Kennt er ihr Geheimnis?


  • Erscheinungstag 02.02.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733745738
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Mom, ich möchte allein hineingehen.“ Megan Westmores dunkle Augen funkelten zornig. „Ich werde im nächsten Monat acht. Ich bin doch kein Baby mehr!“

„Aber die Lakeview-Grundschule ist neu für dich, und das Schuljahr hat schon vor vier Tagen angefangen …“

„Ich werde mich schon nicht verlaufen!“ Megan stieß die Tür des weißen Autos auf und sprang hinaus. „Wir haben am Freitag mit meiner Klassenlehrerin gesprochen. Ich weiß, wo ich hinmuss. Okay?“

Kendra Westmore sah ihre Tochter an und fragte sich, wie so oft, ob sie wirklich die Mutter dieses Kindes sein konnte. Oh ja, sie sahen sich sehr ähnlich. Sie hatten das gleiche weizenblonde Haar, die gleichen haselnussbraunen Augen und waren beide zierlich, aber ihre Persönlichkeiten hätten kaum unterschiedlicher sein können. Megan war selbstbewusst und furchtlos, während sie, Kendra …

„Bye, Mom!“ Megan setzte ihren Rucksack auf. „Bis um halb vier.“ Sie schlug die Wagentür zu und lief auf den Schulhof, ohne sich noch einmal umzusehen.

Kendra seufzte. Sie wusste, dass sie ihre Tochter zu sehr behütete, aber sie konnte es sich einfach nicht abgewöhnen. Megan war das Einzige, was sie auf dieser Welt besaß. Sie wusste nicht, was sie tun würde, wenn der Kleinen jemals etwas zustoßen sollte.

Das Schrillen der Schulglocke ließ Kendra zusammenzucken. Zögernd legte sie den Gang ein, doch als sie anfahren wollte, scherte ein roter Pick-up vor ihr ein und blieb mit quietschenden Reifen knapp vor dem Bordstein stehen.

Kendra musste hart auf die Bremse treten, um nicht auf ihn aufzufahren. Sie atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen, während der Fahrer seinen Passagier aussteigen ließ.

Ein Kind sprang aus dem Fahrerhaus des Pick-ups, ein kleines Mädchen, das etwa in Megans Alter war. Doch die Kleine war kräftiger gebaut, und ihr Gesicht wurde von schwarzen Locken umrahmt. Schnell lief sie davon. „Bye, Dad! Danke fürs Herbringen! Bis dann!“, rief sie über die Schulter zurück.

Der Mann drückte zum Abschied auf die Hupe, dann fuhr er an, aber kurz darauf leuchteten seine Bremslichter erneut auf.

Auch Kendra hatte schon Gas gegeben, doch nun musste sie erneut heftig bremsen. Wütend sah sie zu, wie der Fahrer aus dem Wagen sprang.

„He, Jodi!“, rief er dem Kind nach. „Ist heute nicht Hot-Dog-Tag?“

„Oh ja!“ Das Mädchen fuhr herum und rannte zu ihm zurück. Kendra trommelte ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad und sah zu, wie er sein Portemonnaie herausnahm und dem Kind einen Geldschein reichte. Dann rannte die Kleine wieder davon und war Augenblicke später im Schulgebäude verschwunden.

Ihr Vater ging langsam zu seinem Auto zurück. Kendra musterte ihn missmutig. Er war groß, hatte welliges schwarzes Haar, war tief gebräunt und sehr attraktiv. In den eng sitzenden Jeans und dem schwarzen T-Shirt, unter dem sich seine kräftigen Muskeln abzeichneten, sah er sogar richtig sexy aus.

Auch er sah jetzt zu ihr herüber, und als sich ihre Blicke trafen, lächelte er ihr freundlich zu. „Kinder!“, rief er mit einem Augenzwinkern, während er das Portemonnaie wieder in die Gesäßtasche schob. „Man muss …“

Er verstummte mitten im Satz und sah sie ungläubig an. Er hatte sie im selben Moment erkannt wie sie ihn.

Sie konnte nicht anders, als ihn starr anzublicken. Die Luft zwischen ihnen schien zu vibrieren, so wie es immer gewesen war, wenn sie ihn in der Vergangenheit angesehen hatte. So war es ihr mit keinem anderen Menschen jemals ergangen, mit keinem anderen Mann.

Allerdings war er damals noch kein Mann gewesen, sondern ein Teenager. Er war rau und wild gewesen und aus dem falschen Milieu gekommen. „Der Bursche ist nichts für dich, Kleines!“ Es hätte der ständigen Warnungen ihres Großvaters nicht bedurft. Sie war sich bewusst gewesen, dass sie allzu verschieden waren.

Was er jetzt wohl denken mochte? Sein Lächeln war nicht mehr freundlich, sondern spöttisch und herausfordernd. Er schien sich daran zu erinnern, wie herablassend sie ihn stets behandelt hatte.

„Na so was!“ Mit dem lässigen Gang, der schon damals sein Markenzeichen gewesen war, kam er auf sie zu. Er stützte eine Hand auf das Dach des Autos und beugte sich vor dem offenen Wagenfenster zu ihr nieder. „Wenn das nicht die hochnäsige Westmore-Göre ist. Bist du gekommen, um das Erbe anzutreten?“

„Na so was“, versuchte Kendra ihn zu imitieren. „Wenn das nicht der nichtsnutzige Spencer-Flegel ist!“

Sie hob das Kinn und blickte unverwandt in die blaugrünen Augen. „Könntest du vielleicht deine alte Klapperkiste aus dem Weg schaffen, Brodie? Ich habe es eilig.“

Es war gerade neun, aber bereits sehr heiß an diesem Septembermorgen. Kendra spürte, wie ihr der Schweiß über den Rücken rann.

„Du willst also den Familienbesitz verscherbeln und dich dann wieder aus dem Staub machen“, sagte Brodie spöttisch. „Ich habe gehört, du bist vor einiger Zeit unter die Haube gekommen. Ist dein Mann auch hier in Lakeview?“

Sein Blick fiel auf ihre Hände, mit denen sie krampfhaft das Lenkrad umklammerte. An der linken Hand glänzte ein goldener Ring. Er wirkte wenig überzeugend. Vielleicht hätte sie vor der Heimkehr noch etwas Geld in einen Verlobungsring investieren sollen, um ihre Geschichte glaubwürdig erscheinen zu lassen.

Dabei konnte es ihr völlig gleichgültig sein, was dieser Mann von ihr dachte. „Würdest du dich bitte in Bewegung setzen!“, forderte sie ihn kühl auf. „Wie gesagt, ich bin beschäftigt.“

„Wozu die Eile? Wie wär’s mit einem Kaffee? Um der alten Zeiten …“

Kendra legte den Rückwärtsgang ein und setzte den Wagen nach einem kurzen prüfenden Blick in den Rückspiegel zurück. Als sie Brodies erschrockenes „He!“, hörte, huschte ein zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht. Dann riss sie das Steuer herum und fuhr haarscharf an seinem Pick-up vorbei auf die Straße hinaus. Ohne noch einmal zurückzublicken, brauste sie davon.

Die unerwartete Begegnung hinterließ einen unschönen Nachgeschmack. Es war jetzt mehr als acht Jahre her, dass sie die kleine Stadt Lakeview in British Columbia verlassen hatte. In der ganzen Zeit hatte sie nicht einen einzigen Gedanken an Brodie Spencer verschwendet. Warum auch? Er hatte ihr nie wirklich etwas bedeutet. Sein Vater, Danny Spencer, hatte als Gärtner bei ihrer Familie gearbeitet, und da Brodie seinem Vater gelegentlich dabei geholfen hatte, hatte sie ihn ab und zu auf dem Grundstück gesehen. Gewiss, sie hatte den wilden Burschen aus der Ferne ein wenig bewundert, aber davon abgesehen hatten sich ihre Wege kaum jemals gekreuzt. Ich hätte nichts dagegen, beschloss sie grimmig, wenn es auch jetzt dabei bleiben würde.

Die Lakeview Construction Company, bestehend aus Büros, Materiallagern und Maschinenpark, erstreckte sich über ein großes Areal am östlichen Ortsrand von Lakeview. Brodie fuhr von der Schule direkt dorthin.

Er parkte seinen Wagen auf dem Hof und sprang die hölzernen Stufen zum Hintereingang empor. Als er den Flur entlangschritt, hörte er Stimmen aus dem Büro. Mitzi war leicht an dem immer etwas atemlos wirkenden Tonfall zu erkennen. Als Brodie sich der offenen Tür näherte, sagte Pete gerade: „… und sie hat den Vertrag am Freitag unterzeichnet. Es ist ein riesiger Auftrag, Mitzi.“

„Ich werde Sam Fleet damit beauftragen.“

„Ja, Sam ist genau der Richtige … Oh, hallo, Boss.“ Pete, der in der Firma für die Kostenvoranschläge zuständig war, nickte Brodie freundlich zu.

Ihr gefärbtes blondes Haar, das sie hochgesteckt hatte, wippte, als Mitzi sich eilig erhob. Schnell zog sie ihr kurzes weißes Strickkleid zurecht. „Ich hole Ihnen Kaffee, Chef.“

„Lieber Eistee, Mitzi. Vielen Dank.“

Während die Sekretärin auf ihren hochhackigen Sandaletten zur kleinen Teeküche auf der anderen Seite des Flurs stöckelte, griff Brodie nach einem Blatt Papier auf ihrem Schreibtisch. „Was haben Sie eben gesagt, Pete … über einen großen Auftrag?“

„Sie hatten ihn gerade in der Hand. Es geht um Rosemount, das Westmore-Anwesen. Es ist ein enormer Besitz am Westufer des Sees, hoch auf einem Hügel. Fantastischer Blick von dort.“

„Ich kenne es.“ Brodie dachte daran, dass Pete erst seit sechs Monaten in der Stadt war und nicht viel über ihre Vergangenheit wusste. „Der alte Besitzer ist kürzlich gestorben. Edward Westmore. Er hat sein Vermögen vor langer Zeit an der Börse gemacht. Sein Sohn Kenneth und seine Schwiegertochter Sandra sind vor ungefähr zwanzig Jahren ums Leben gekommen. Deren Tochter, die Enkelin des alten Westmore, hat den Besitz jetzt geerbt. Sie hat sich also in unsere Obhut begeben.“

„Besiegelt und unterschrieben. Sie will die Küche modernisiert haben.“

„Will sie selbst einziehen … oder verkaufen?“

„Sie will einziehen. Sie wünscht eine professionelle Küchenausstattung, weil sie Rosemount als Pension führen will.“

Während Brodie diese Neuigkeit zu verdauen versuchte, fuhr Pete fort. „Außerdem möchte sie, dass wir die alte Treppe herausreißen und stattdessen eine leichtere, geschwungene Konstruktion einbauen.“

„Sie will die Mahagonitreppe abreißen?“ Brodie sah Pete ungläubig an. „Die Frau ist verrückt. Das Ding ist ein Kunstwerk! Verdammt, allein die Schnitzereien …“

„Ja, ich weiß. Ich habe versucht, es ihr auszureden, aber sie war stur wie ein Maultier. Bis dahin war sie freundlich und zuvorkommend, aber als ich ihr wegen der Treppe zu widersprechen wagte …“ Pete fuhr sich in einer eindeutigen Geste mit dem Zeigefinger über die Kehle.

Brodie schüttelte den Kopf. „Unglaublich. Ich habe gehört, dass Mitzi Sam damit beauftragen will?“

In dem Moment kam die Sekretärin ins Büro zurück und reichte ihm ein Glas Eistee. „Stimmt. Oh, bevor ich es vergesse, Chef, Hayley hat angerufen. Sie möchte, dass Sie nach der Arbeit einen Liter Milch mitbringen. Der Kühlschrank ist leer, und sie hat nicht die Zeit, noch am Supermarkt anzuhalten.“

„Milch. Okay.“

„Sie sagte, Sie sollten unbedingt darauf achten, dass es fettarme ist.“

Brodie lächelte schief. „Ich stehe anscheinend ganz schön unter ihrem Pantoffel. Aber es ist ja bekannt, wer in meinem Haushalt das Sagen hat.“ Er trank ein paar Schlucke aus seinem Glas. „Ach Mitzi … haben Sie über den Westmore-Job schon mit Sam gesprochen?“

„Nein, noch nicht.“

„Dann lassen Sie es auch.“ Brodie ging ans Fenster und blickte hinaus. Der Hof wirkte wie ein Bienenstock. Gabelstapler transportierten Material hin und her, Kunden begutachteten die Ausstellungsstücke, Lastwagen kamen und fuhren, und in der Abteilung mit den Gartengeräten herrschte Hochbetrieb wegen des Saisonschlussverkaufs. Brodie schlug sich mit dem zusammengerollten Vertrag in die offene Hand. „Ich werde mich selbst darum kümmern.“

„Viel Glück!“, sagte Pete trocken. „Mit Mrs. Westmore werden Sie allerhand zu tun haben.“

„Sie heißt nicht Westmore“, korrigierte Brodie ihn. „Sie war einmal eine Westmore. Wie sie jetzt heißt, weiß ich allerdings auch nicht.“

„Es muss doch im Vertrag stehen.“ Mitzi nahm ihm die Papiere aus der Hand und blätterte darin, bis sie die gesuchte Stelle fand. „Kendra Westmore!“ Sie verzog das Gesicht. „Manche Frauen finden es ja schick, ihren Namen zu behalten. Ich könnte mir das nicht vorstellen. Wenn ich einen Mann liebe, würde ich doch seinen Namen tragen … und Kinder mit seinem Namen großziehen wollen. Allerdings soll sie sich damals mit ihrem Großvater zerstritten haben, weil er mit ihrer Wahl nicht einverstanden war. Vielleicht hat sie den Familiennamen behalten, um den Alten zu besänftigen.“ Mitzi wandte sich an Pete. „Bist du ihrem Mann begegnet?“

„Nein, er war nicht dabei.“

„Was ist mit Kindern?“, fragte Mitzi. „Hat sie überhaupt welche?“

„Sie hat eine Tochter“, erklärte Pete. „Ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.“

„Na“, sagte Mitzi, „dann muss die Kleine ja bildhübsch sein. Kendra Westmore war zwar eine hochnäsige Ziege, aber eine Schönheit.“

Und das ist sie immer noch, dachte Brodie. Das ist sie wahrlich! Er konnte es kaum erwarten, ihr Gesicht zu sehen, wenn er morgen vor ihrer Tür stehen würde.

„Megan, du hast dein Lunchpaket ja nicht einmal aufgemacht!“ Kopfschüttelnd zog Kendra die braune Tüte aus dem Rucksack ihrer Tochter.

„Das esse ich jetzt, Mom.“ Megan beugte sich auf ihrem Stuhl vor und griff nach der Tüte, bevor Kendra sie in den Kühlschrank legen konnte. „Ich bin am Verhungern!“

„Kein Wunder, wenn du mittags nichts gegessen hast!“ Kendra sah ihre Tochter missbilligend an.

„Heute war Hot-Dog-Tag. Die Klassenlehrerin hat vergessen, dir zu sagen, dass ich Geld mitbringen sollte.“ Megan öffnete die Tüte und nahm ein Käsebrot heraus. „Aber meine neue Freundin hat mir ausgeholfen. Sie wäre heute Morgen fast zu spät gekommen, und in der Eile hat ihr Vater ihr zu viel mitgegeben. So konnte sie meinen Hot Dog und meinen Kakao mitbezahlen. Beim nächsten Mal bin ich dann dran, hat sie gesagt.“

Bei den Worten „neue Freundin“, atmete Kendra erleichtert auf. Sie hatte sich Gedanken gemacht, wie Megan in ihrer neuen Klasse aufgenommen werden würde. Wie es schien, brauchte sie sich nicht zu sorgen. Doch bei den Worten „Sie wäre fast zu spät gekommen“ war sie alarmiert.

„Ach“, sagte sie beiläufig, „wie heißt denn deine neue Freundin?“

„Jodi. Sie ist genauso alt wie ich, und sie hat ganz viele schwarze Locken.“

Mehr brauchte Kendra nicht zu hören. Den Rest wusste sie selbst. Von allen Kindern in der Klasse musste sich Megan ausgerechnet Brodie Spencers Tochter aussuchen! Wenn Jodi ihrem Vater ähnelte, würde Megan durch ihren schlechten Einfluss in alle möglichen Schwierigkeiten geraten.

Aber das war ja lächerlich! Es war Megans erster Tag in der Schule. Gewiss würde sie noch andere Kinder kennenlernen – Mädchen, die besser zu ihr passten.

„Ich gebe dir das Geld für sie morgen mit“, sagte Kendra.

„Mom …“

„Du weißt, was ich von Schulden halte. Es war nett von dieser Jodi, dir zu helfen, aber du wirst ihr das Geld morgen zurückgeben.“ Kendras Ton ließ keinen Widerspruch zu.

Megan zuckte die Schultern. „Also gut.“ Sie biss in ihr Käsebrot. „Aber ich hoffe, ich kränke sie damit nicht“, murmelte sie. „Sie ist nämlich richtig nett. Sie hat mich schon gefragt, ob ich am Samstagnachmittag zum Spielen zu ihr komme.“

„Du weißt, dass du solche Verabredungen nicht treffen sollst, ohne es vorher mit mir zu besprechen!“

Kendras Erwiderung war ungewöhnlich scharf. Megan sah sie erstaunt an. „Habe ich doch gar nicht! Aber sie hat einen Bruder und eine Schwester und einen Hund und einen Swimmingpool, und ihr Haus scheint ganz toll zu sein!“

Kendra setzte sich an den Tisch. „Liebes“, sagte sie vorsichtig, „binde dich nicht zu schnell an eine neue Freundin. Lass dir Zeit, und lern erst alle kennen. Dann kannst du entscheiden, wen du am liebsten magst.“

„Hat deine Mutter deine Freundinnen für dich ausgesucht“, konterte Megan herausfordernd, „als du in meinem Alter warst?“

„Ich habe meine Eltern verloren, als ich sechs war. Ich habe dir schon oft gesagt, dass mich mein Großvater aufgezogen hat. Er hat meine Freunde nicht für mich ausgesucht, aber er hat darauf geachtet, dass ich richtig gewählt habe.“

„Dann lass uns doch Jodi am Wochenende hierher einladen, damit du sehen kannst, ob sie die richtige Wahl ist.“

Jetzt saß sie, Kendra, in der Falle. Megans Vorschlag klang durchaus vernünftig. Wie konnte sie nur ablehnen, ohne völlig unglaubwürdig zu wirken?

„Es ist erst Montag“, sagte sie. „Lass uns bis zum Ende der Woche warten. Vielleicht lernst du noch jemanden kennen, den du am Samstag viel lieber einladen würdest.“

„Na gut.“ Megan griff nach der Flasche mit dem Orangensaft. „Warten wir bis Freitag.“

Kendra seufzte erleichtert auf, doch die Freude war nur von kurzer Dauer.

„Aber ich kann dir jetzt schon sagen“, stellte Megan trotzig fest, „dass ich niemanden kennenlernen werde, den ich lieber mag als Jodi Spencer!“

Das Telefon klingelte, bevor Kendra zu einer Erwiderung ansetzen konnte. Sie schob ihren Stuhl zurück und griff nach dem Apparat. „Westmore“, meldete sie sich.

„Guten Tag, Mrs. Westmore. Hier ist Mitzi von Lakeview Construction. Jemand wird morgen Vormittag zu Ihnen hinauskommen, um mit Ihnen über die neue Küche zu sprechen. Ist Ihnen halb neun zu früh?“

„Nein, halb neun ist mir recht. Vielen Dank.“ Kendra hängte auf. „Fertig mit dem Essen?“, fragte sie Megan.

„Ja, ich bin satt.“

„Dann lass uns die Fahrräder herausholen und zur Schule radeln. Ich möchte sicher sein, dass du die Strecke gut kennst. Morgen früh werde ich dich nicht zur Schule fahren können. Ich muss hier bleiben, um mit einem Arbeiter von der Baufirma zu sprechen.“

„Vollfett!“ Der Minirock wehte ihr um die sonnengebräunten Schenkel, als Hayley Spencer vom Kühlschrank herumfuhr. Sie verdrehte die Augen und knallte die Milchflasche auf den Tisch. „Ich versuche abzunehmen, und der Mann kauft mir Vollmilch!“

Sie setzte sich seufzend auf ihren Stuhl und schüttete Cornflakes in eine Schüssel. „Ich habe der blöden Mitzi doch ausdrücklich gesagt, dass ich fettarme Milch will!“, rief sie Brodie nach, der sich zur Tür gewandt hatte. „Warum feuerst du die Frau nicht und stellst jemanden ein, der wenigstens eine einfache Nachricht übermitteln kann?“

Brodie blieb an der Tür stehen und drehte sich mit schuldbewusstem Lächeln um. „Mitzi hat es erwähnt … und du weißt ganz genau, dass sie keineswegs blöde ist. Sie sieht nur manchmal so aus. Es ist meine Schuld. Ich muss gestern mit meinen Gedanken woanders gewesen sein.“ Wahrscheinlich bei Kendra Westmore.

Er trat zur Seite, um Jodi und ihren Bruder vorbeistürmen zu lassen. Jodi trug pinkfarbene Jeans und eine bunte Bluse, Jack ein verblichenes graues T-Shirt und ausgebeulte Shorts. Der Junge hatte sein schwarzes Haar in der Mitte gescheitelt und sich mit parfümiertem Gel an den Kopf geklebt. Brodie hatte schon eine bissige Bemerkung auf den Lippen, aber er schluckte sie noch rechtzeitig hinunter. Er wusste, wie sehr Jack seine nicht zu bändigenden Locken hasste. In dem Alter war es ihm genauso ergangen – bis er begriffen hatte, dass die Mädchen sein Haar unwiderstehlich fanden. Bei der Erinnerung daran zuckten seine Mundwinkel.

„Guten Morgen, Kinder“, sagte er.

„Guten Morgen, Dad.“ Jodi schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

„Morgen“, grüßte Jack unwirsch. Er hatte sich bereits auf seinen Stuhl geflegelt und griff nach den Schokoflocken.

Jodi musterte Brodie prüfend. „Wieso bist du so herausgeputzt? Gehst du heute nicht in die Firma?“

„Er geht zu den Westmores.“ Hayleys leuchtend blaue Augen funkelten, während sie Brodies smaragdfarbenes Polohemd und die sorgfältig gebügelte Leinenhose betrachtete.

„Tust du mir einen Gefallen, wenn du dorthin fährst, Dad?“, fragte Jodi.

Brodie blickte auf seine Uhr. „Ich muss mich jetzt ziemlich beeilen.“

„Wir haben eine Neue in der Klasse. Das habe ich gestern ganz vergessen zu erzählen. Sie heißt Megan Westmore. Sie hat keine Geschwister, und deshalb habe ich sie für Samstagnachmittag zu uns eingeladen. Sie wollte erst ihre Mutter fragen, aber das kannst du ja machen, wenn du dort bist.“

Hayley runzelte die Stirn. „Jodi, du weißt doch, dass der Samstagnachmittag für die Familie reserviert ist.“

„Wenn du sie schon eingeladen hast“, erklärte Brodie, „muss es wohl dabei bleiben.“

Hayley hob die schmalen Schultern. „Na ja, wenn du meinst …“

Obwohl sie eingelenkt hatte, spürte Brodie ihre Missbilligung. Wieder sah er auf die Uhr. Es wurde höchste Zeit! Er trat an den Tisch, beugte sich zu Hayley hinab und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Nasenspitze. „Keine Sorge, ihre Mutter wird sie wahrscheinlich gar nicht kommen lassen.“

Als er ging, ertappte er sich dabei, wie er sich prüfend umblickte. Das hatte er schon lange nicht mehr getan. Die große Küche wirkte hell und freundlich … und ein wenig abgenutzt. So hatte es ihm immer gefallen, aber zweifellos brauchte das Haus ein wenig mehr Pflege.

Anfangs hatte er eine Haushälterin einstellen wollen, doch Hayley hatte nichts davon wissen wollen. Er hatte nachgegeben und seine Entscheidung nie bereut. Doch während er seinen Wagen anließ, fragte er sich, wie das Haus wohl auf die hochnäsige Mrs. Westmore wirken würde. Sie würde manches daran auszusetzen haben. Die Küche musste dringend renoviert werden, wie eigentlich der gesamte Rest des bescheidenen zweistöckigen Hauses.

Ob die Kinder inzwischen alt genug waren, um mit Veränderungen in ihrer Umgebung fertig zu werden? Sie hatten so viel durchmachen müssen. Vielleicht sollte er nach dem Westmore-Projekt auch zu Hause ein paar Änderungen einführen. Schritt für Schritt. Die Neuerungen sollten sie nicht überfordern.

Ja, beschloss er im Stillen, während er in die Straße nach Rosemount einbog, ein Schritt nach dem anderen.

Kendra holte gerade Megans Fahrrad aus dem Schuppen, als das Kind aus der Küchentür gelaufen kam.

„Hast du alles?“, fragte Kendra.

„Ja.“

„Und du kennst den Weg? An der ersten Kreuzung …“

„Mom, das haben wir doch gestern erst geübt!“ Ungeduldig griff Megan nach ihrem Fahrrad. „Vielen Dank.“ Sie sprang auf das Mountainbike und flitzte los. „Bye, Mom! Bis heute Nachmittag!“

„Auf Wiedersehen, Liebes! Pass gut …“

Doch Megan war bereits um die Hausecke verschwunden.

Kendra wandte sich um und ließ den Blick über die prachtvolle weiße Villa schweifen, die seit mehr als sechzig Jahren auf diesem Hügel stand.

Eine leichte Brise vom See strich ihr durchs Haar, und die Morgensonne wärmte ihr angenehm den Rücken. Vergnügt lächelnd ging Kendra zur Küchentür. Sie war froh darüber, zu Hause zu sein. Als ihr Großvater sie vor acht Jahren verstoßen hatte, war ihr Herz in Lakeview geblieben. Nun war sie zurück und würde diesen Ort nie wieder verlassen, was auch geschehen mochte.

Sie ging durch die Küche, den Flur entlang und hielt einen Moment in der Eingangshalle inne. Das Sonnenlicht flutete durch die hohen Fenster und ließ die Farben des Perserteppichs auf dem Parkettfußboden leuchten. Der eigentliche Blickfang in der Halle jedoch war die sanft geschwungene Mahagonitreppe mit dem blauen Handlauf.

Sie war als Kind nie auf die Idee gekommen, das Geländer hinabzurutschen, doch Megan schien das unwiderstehlich zu finden. Kendra wusste genau, dass ihre Tochter jede Gelegenheit dazu nutzte, in der sie sich unbeobachtet fühlte. Früher oder später musste sie unweigerlich …

Die Türklingel schreckte Kendra aus ihren Gedanken. Während sie sich zur Tür wandte, überlegte sie, ob es nicht besser wäre, das Küchenprojekt zu verschieben und stattdessen zuerst die Treppe umbauen zu lassen. Dann brauchte sie endlich keine Angst mehr zu haben. Ja, das war sicher am besten.

Zufrieden mit ihrer Entscheidung, öffnete sie die Tür und sah sich Auge in Auge dem Mann gegenüber, dem sie nie wieder hatte begegnen wollen. Brodie Spencer! Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn misstrauisch an. „Was, zum Teufel, hast du hier zu suchen?“

2. KAPITEL

„Ein einfaches ‚Guten Morgen‘“, erwiderte Brodie, „hätte mir schon genügt.“

Um seine Mundwinkel zuckte es, als er ihre grimmige Miene sah. In ihrem Zorn war Kendra noch attraktiver! Ihre Augen schienen Funken zu sprühen, und ihre Brust hob und senkte sich!

Ihre Stimme war eisig. „Was willst du?“

Er räusperte sich. Was er wollte? Eine ehrliche Antwort auf diese Frage würde ihr bestimmt nicht gefallen. „Lakeview Construction zu Ihren Diensten, Madam“, sagte er stattdessen.

Volle sieben Sekunden sah sie ihn verständnislos an – was ihm Zeit gab, ihr Haar zu bewundern. Es fiel ihr an diesem Morgen offen auf die Schultern, und jede Strähne glänzte, als wäre sie in weißes Gold getaucht. Er verspürte das starke Bedürfnis, die Hand auszustrecken und mit den Fingern durch …

Kendra stieß einen seltsamen Laut aus und riss ihn damit aus seiner Betrachtung. „Du machst Witze“, stieß sie hervor.

„Aber keineswegs.“ Er legte die rechte Hand wie zum Schwur auf seine Brust. Dabei musste er feststellen, dass sein Herz ein wenig schneller schlug als gewöhnlich. „Ich bin hier, um mit dir über deine Küche zu sprechen.“ Er nahm das Auftragsformular aus der Tasche und hielt es ihr hin.

Kendra warf nur einen flüchtigen Blick darauf. „Dann kommst du wohl besser herein.“ Ihre Miene war nicht weniger abweisend. Sie drehte sich um und überließ es ihm, die Tür zu schließen. Offenbar, dachte Brodie, haben die Reichen auch nicht immer die besten Manieren.

Autor

Grace Green
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