Niemals mehr die Liebe erleben?

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Als der Feuerwehrmann Ross Tanner mit einer Rauchvergiftung in die Notaufnahme eingeliefert wird, funkt es sofort zwischen ihm und der diensthabenden Ärztin Heather Cooper. Doch sie lässt ihn abblitzen. Nachdem ihr Verlobter bei einem Brand ums Leben gekommen ist, hatte sie geschworen, sich nie wieder zu verlieben ...


  • Erscheinungstag 24.08.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751527415
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Der Notruf ging kurz vor Schichtende in der Feuerwehrzentrale ein. Bis dahin war es ungewöhnlich ruhig gewesen, obwohl normalerweise am Samstag die Sirenen pausenlos heulten. Gerade mal ein Alarm am Nachmittag, weil Jugendliche auf dem Parkplatz des Supermarktes einen zurückgelassenen, mit Müll gefüllten Container angezündet hatten.

Innerhalb von einer Stunde brachte die Mannschaft der Feuerwache von Hexton die Flammen unter Kontrolle und veranlasste die Entsorgung der verkohlten Überreste. Die Männer fuhren bereits zurück zur Wache, als sie der zweite Notruf erreichte. Allen wurde schlagartig klar, dass es sich bei diesem Alarm nicht um eine Lappalie handelte. Wenige Minuten später trafen sie am Einsatzort ein.

Das Feuer war im Keller eines heruntergekommenen, im viktorianischen Stil gebauten Haus ausgebrochen und hatte sich schnell über alle vier Stockwerke ausgebreitet. Der Löschmannschaft bot sich ein Bild des Schreckens. Rotgelbe Flammen schossen meterhoch in den Himmel, eine dicke Rauchwolke legte sich wie ein dunkler Mantel über die Umgebung.

Jede Sekunde zählte, und außer der Mannschaft von Hexton waren Feuerwehren von benachbarten Stadtteilen alarmiert worden. Routiniert stülpte Ross Tanner einen Helm mit Atemschutzmaske über den Kopf, während ein Kollege die Sauerstoffflasche prüfte. Ross nickte und hob beide Daumen – okay, er war einsatzbereit. Ungeduldig wartete er, dass die Ausrüstung seines Partners Terry Green gecheckt wurde. Sie durften keine Zeit verlieren, denn es bestand die Gefahr, dass das Feuer auf angrenzende Gebäude übergriff. Doch Ross Tanner beunruhigte noch etwas anderes. Angeblich war ein dreijähriges Kind in dem brennenden Haus eingeschlossen.

„Ich will nicht, dass einer von euch da drinnen irgendetwas riskiert. Die oberen Stockwerke können jeden Moment einstürzen, und wenn ihr dafür auch nur das kleinste Anzeichen entdeckt, müsst ihr euch so schnell wie möglich in Sicherheit bringen.“

Mike Rafferty, der verantwortliche Einsatzleiter, gab in letzter Minute noch einige Anweisungen. Ross hörte aufmerksam zu. Als Chef der Wache von Hexton kannte er seine Truppe und wusste, dass keiner der Männer fahrlässig sein Leben riskieren würde – mit einer Ausnahme: Sobald ein Kind in Gefahr war, dachte jeder an sich selbst zuletzt. Kein Feuerwehrmann würde sich zurückziehen, wenn es auch nur die geringste Chance gäbe, den kleinen Jungen, der noch in dem brennenden Haus sein sollte, zu retten.

Sekunden später stand Ross direkt vor dem lodernden Inferno. Links und rechts von ihm schoss Wasser aus dicken Schläuchen auf die Flammen. Seine Ausrüstung war zwar schwer und sperrig, und er hatte wenig Bewegungsfreiheit, aber die immer gleichen, stundenlangen Übungen in der Wache zahlten sich wieder einmal aus. Ross spürte weder die Sauerstoffflasche auf dem Rücken noch die enge Schutzmaske auf dem Gesicht. Je näher er kam, desto unerträglicher wurden die Hitze und der dichte Rauch. Vorsichtig arbeitete er sich vom Eingang zur hinteren Treppe vor.

Ross ahnte, was ihn erwartete, und wusste, was er zu tun hatte. Er war seit zehn Jahren bei der Feuerwehr und hatte schon unzählige Brandherde erfolgreich bekämpft. Doch hier ging es um mehr als reine Schadenbegrenzung. Er musste in dem Flammenmeer ein Kind finden und es in Sicherheit bringen …, lebend.

„Bin ich froh, wenn diese Schicht vorbei ist. Sollte noch einer eingeliefert werden, der mit seinem Hobby Selbstzerstörung im fortgeschrittenen Stadium betreibt, schreie ich!“

Heather Cooper sah ihre lachende Kollegin Melanie Winters stirnrunzelnd an. „Was ist daran komisch? Sag bloß, du bist es nicht leid, Holzsplitter aus Augen zu waschen und Schnittwunden zu nähen?“

„Doch, doch.“ Melanie klang belustigt. „Ich bin nur überrascht, dass die ach so kühle Frau Dr. Cooper ihre Beherrschung verliert. Du bist sonst doch die Kontrolle in Person!“

„Hmm! Der Schein kann trügen.“

Heather zwang sich zu einem Lächeln, um den Schmerz zu verbergen, der sich allzu sichtbar in ihren sanften graublauen Augen spiegelte. Sie drehte sich zu einer Tafel, auf der stand, in welcher Kabine noch Patienten auf die Behandlung warteten.

Niemand in ihrem Team hatte eine Vorstellung, wie schwer ihr das Leben in den letzten drei Jahren gefallen war. Sie hatte sich keinem anvertraut, nicht einmal eine vage Andeutung gemacht. Als sie den Job der Oberärztin in der Not- und Unfallambulanz des St. Gertrude’s Hospital im Südosten Londons annahm, hatte sie sich geschworen, nie ein Wort über die Vergangenheit zu verlieren.

Heather wischte mit einem kleinen Schwamm den Namen des letzten Patienten von der Tafel. Sie spürte einen unbeschreiblichen, langsam wachsenden Druck. Die Erinnerung an jene düsteren Tage stellte sich ein wie lähmendes Gift. Damals, gleich nach Stewarts Tod, hatte sie das Gefühl gehabt, als sei sie mit ihm gestorben. Sie hatte nicht einen Funken Lebensmut mehr besessen, keine Energie, quälte sich jeden Morgen aus dem Bett. Nicht einmal die Tatsache, dass sie schwanger war, konnte sie aus der Lethargie reißen. Im Gegenteil, die Schwangerschaft machte alles noch unerträglicher und wirkte wie eine Fessel, denn sie hatte Stewart nicht mehr sagen können, dass sie ein Kind von ihm erwarte.

Erst die Geburt ihrer Tochter befreite sie aus der Depression. Grace war ihr Sonnenschein, und Heather tat alles, damit die Kleine glücklich und geborgen aufwuchs. Nie wieder wollte sie sich verlieben und damit riskieren, verwundbar zu sein.

„Du könntest eigentlich Pause machen. Es ist nicht mehr viel los“, schlug Heather vor. Um ihre wahren Gefühle zu überspielen, wandte sie sich betont munter an die junge Krankenschwester: „Geh nur in die Kantine! Ich esse später.“

„Meinst du wirklich …?“

Heather nickte zustimmend.

„Bin schon weg“, rief Melanie in Eile. „Ich habe nämlich gerade eben zufällig den charmanten Dr. Carlisle Richtung Aufzug schlendern sehen. Die Gelegenheit will ich nicht versäumen. Es wird Zeit, dass ich ihn unter vier Augen darüber aufkläre, was er bisher in seinem Leben verpasst hat, dazu zählt im Allgemeinen und Besonderen meine Wenigkeit!“ Mit einem koketten Winken wirbelte sie aus dem Zimmer.

Heather seufzte und genoss für einen Augenblick die Stille. Melanie war dreiundzwanzig, nur zehn Jahre jünger als sie. Aber gelegentlich fühlte sie sich, als sei sie die Mutter der jungen Krankenschwester. Hatte es irgendwann eine Zeit gegeben, in der sie so sorglos gewesen war wie Melanie? Wenn ja, würde sie es überhaupt jemals wieder sein können?

Mit der rechten Hand rieb sich Heather den verspannten Nacken. Seit Grace’ Geburt übte sie sich ständig in Selbstdisziplin, zügelte ihre Emotionen und erstickte aufkommende Gefühle im Keim. Kinder spürten intuitiv, wenn Eltern Probleme hatten, und Heather wollte ihre Tochter unter keinen Umständen belasten oder aufregen. Eher verleugnete sie sich selbst.

Sie schob den Vorhang einer Behandlungskabine beiseite und begrüßte die junge Frau, die auf einem Bett hockte. „Hallo, Sie sind Tanya Harvey?“

„Richtig.“ Die Patientin warf selbstbewusst ihr blond gesträhntes Haar in den Nacken und musterte Heather erbost. „Es ist unfassbar. Die Zeitungen haben geschrieben, dass sich die Gesundheitsversorgung verbessert habe. Aber wissen Sie, wie lange ich hier schon warte? Über zwei Stunden. Das nennt man wohl eine Verschlimmbesserung!

„Leider sind wir auf dieser Station im Dauereinsatz“, entgegnete Heather und studierte das Aufnahmeprotokoll von Tanya Harvey. „Sie haben Halsschmerzen? Dann hätten Sie doch genauso gut zu Ihrem Hausarzt gehen können, meinen Sie nicht?“

„Die Praxis ist am Samstagnachmittag geschlossen, darum sitze ich hier. Ich hoffe, Sie weigern sich nicht, mich zu behandeln. Sie sind nämlich aufgrund Ihres ärztliches Eids verpflichtet …“

„Wie der Name sagt, werden in der Notfallambulanz Notfälle behandelt“, unterbrach Heather forsch Tanyas Besserwisserei. „Diese Station ist nicht die Alternative zur Praxis Ihres Hausarztes. Außerdem gibt es den Notärztlichen Dienst, wenn Sie außerhalb der üblichen Sprechstunden Hilfe brauchen.“

Sie zog eine schmale Stablampe aus der Brusttasche ihres Arztkittels. „Jetzt öffnen Sie bitte den Mund, aber nicht um zu reden, sondern damit ich mir die Sache anschauen kann!“

Routiniert leuchtete Heather den Rachen der Patientin aus und sah ihre Vermutung bestätigt. Die Zunge war ein wenig gerötet und geschwollen, doch es gab keine Symptome einer ernsten Erkrankung. Eine kleine Infektion, die mit Antibiotika kuriert werden konnte. Heather wusch sich die Hände, füllte ein Rezept aus und reichte es Tanya Harvey.

„Wenn Sie die Tabletten einnehmen, wird es Ihnen bald besser gehen“, erklärte die Oberärztin kühl. „Drei Mal täglich eine, mit Wasser, so lange, bis die Packung leer ist.“

„Und wo soll ich mir das Medikament besorgen?“, fragte Tanya trotzig. „Mittlerweile haben die Apotheken geschlossen. Können Sie mir die Dinger nicht mitgeben?“

„Es tut mir leid, aber wir verteilen hier keine Antibiotika. Die Krankenhausapotheke im Foyer ist noch geöffnet. Da bekommen Sie die Tabletten.“

Heather merkte, dass die junge Frau noch etwas loswerden wollte – einen patzigen Widerspruch, zweifellos. Doch bevor es dazu kam, riss Rob Bryce, der Arzt im Praktikum, hektisch den Vorhang auf.

„Entschuldige die Störung, Heather, wir kriegen einen Notfall, Ankunft des Rettungswagens in fünf Minuten!“

„Kein Problem. Ich bin sowieso fertig.“ Wortlos, mit einem knappen Nicken, verabschiedete sich Heather von Tanya, wandte sich an Rob und folgte ihm auf den Krankenhausflur. „Was wissen wir bereits?“

„Ein dreijähriges Kind ist aus einem brennenden Haus gerettet worden.“ Rob überflog die Telefonnotiz in seiner Hand. Ihm entging, dass Heather tief Luft holte. „Laut Auskunft des Unfallarztes hat das Kind Brandverletzungen ersten Grades und starke Rauchvergiftungen, ebenso der Feuerwehrmann, der es geborgen hat. Er wird auch eingeliefert.“

„Verstehe.“ Heather ließ sich nichts anmerken, obwohl die wenigen Informationen, die Rob Bryce ihr gegeben hatte, in ihrem Kopf wie ein Echo hallten. Sie strich sich über das goldbraune Haar und steckte ein paar herunterhängende Strähnchen zurück in den Chignon, der, wie sie es nannte, ihre liebste Dienstfrisur war. Ihre Hand zitterte. Auch Stewart war in einem Meer von Flammen …

Abrupt zerriss sie das Band der Erinnerung.

„Informiere sofort die Station für Verbrennungen! Könnte sein, dass wir von dort Unterstützung brauchen. Und lass bitte Ben und Melanie in der Kantine ausrufen, sie müssen sofort hier auf die Station! Wir sind schon jetzt am Rande unserer Kapazität und benötigen für die zwei Patienten jeden, der im Haus ist.“

Um ihren aufreibenden Beruf als Ärztin durchzustehen, hatte Heather im Laufe der Jahre gelernt, sich mit einem kleinen psychologischen Trick selbst zu überlisten. Inständig hoffte sie, es würde ihr in wenigen Minuten wieder gelingen: Sie konzentrierte sich ausschließlich auf die medizinischen Maßnahmen und versuchte, die emotionalen Aspekte ihrer Arbeit zu ignorieren. „Schwester Abby muss vorsichtshalber sämtliche Apparate überprüfen und sicherstellen, dass wir ausreichend Verbandsmaterial und Infusionen haben“, wies sie Rob an. „Bei der letzten Inventur waren die Bestände arg geschrumpft. Außerdem soll Abby den Krankenwagen anrufen und nachfragen, ob wir mit noch mehr Verletzen rechnen müssen … Ach nein, das tue ich selbst!“

„Wird gemacht.“ Rob eilte davon und wiederholte halblaut, was Doktor Cooper ihm eben gesagt hatte. Es war sein dritter Arbeitstag im Krankenhaus, und Heather konnte sich gut vorstellen, was das für ihn bedeutete. Ein Sprung ins kalte Wasser.

Normalerweise wurde man in der Not- und Unfallambulanz erst dann als Arzt im Praktikum zugelassen, wenn man bereits Erfahrung auf anderen Stationen gesammelt hatte. Aber in Ermangelung geeigneter Kandidaten war Rob nach dem Staatsexamen frisch von der Uni eingestellt worden. Zwar machte er seine Sache gut, aber Heather wollte ihn im Auge behalten. Die Behandlung von Brandverletzten hinterließ oft bleibende Narben. Nicht nur bei den Patienten, sondern auch bei den Ärzten.

Heather wollte nicht schon im Vorfeld über die Situation nachdenken, mit der sie in wenigen Minuten konfrontiert sein würde. Sie telefonierte mit den Sanitätern im Krankenwagen und registrierte erleichtert, dass es sich tatsächlich nur um zwei Personen handelte. Ein Kind und einen Feuerwehrmann.

In dem Moment, in dem Heather den Telefonhörer auflegte, hörte sie schon die Sirene direkt vor der Ambulanz. Sie atmete tief durch und zwang sich, ihre Ängste zu verdrängen. Da draußen wurden Menschen eingeliefert, die ihr, der Ärztin, ihr Leben anvertrauten. Sie durfte sie nicht enttäuschen.

„Ich lasse Sie jetzt direkt zum Reanimationsraum bringen, dort wird Ihr Kreislauf stabilisiert.“

Ross hörte eine weibliche Stimme und nestelte an der Atemmaske. Durch den Rauch, der trotz des Schutzes seine Schleimhäute angegriffen hatte, war seine Zunge rissig und geschwollen. „Kümmern Sie sich nicht um mich! Versorgen Sie das Kind.“

„Überlassen Sie uns die Reihenfolge, in der wir die Patienten behandeln! Jetzt sind Sie dran, und Sie benötigen Sauerstoff …“

Eine kühle Hand streifte sanft seine Stirn und rückte die Maske zurecht. Ross war perplex. Seine Blicke wanderten suchend umher, aber die Frau, deren Stimme er gehört, deren Hand ihn berührt hatte, verschwand durch eine Schwingtür. Ross sah nur noch flüchtig den Rücken eines schlanken, in einen frisch gestärkten weißen Mantel gehüllten Körpers. Es war ein kleiner Augenblick, kurz nur, aber doch lang genug, um ihn zu faszinieren. Wer war die Frau?

Er hätte die Frage gern laut gestellt, aber die klare Anweisung der Unbekannten wurde sofort von zwei Sanitätern befolgt. Noch bevor Ross wusste, wie ihm geschah, rollten sie ihn auf der Krankenliege durch dieselbe Tür, durch die auch die Frau verschwunden war.

Wie durch einen durchsichtigen Schleier nahm Ross den Reanimationsraum der Notfallambulanz wahr. Er spürte eine sonderbare Erregung, als er schemenhaft eine weiß gekleidete, vertraute Gestalt erkannte, die sich über ein Bett beugte. Wieder sah er nur ihren Rücken und wünschte sehnlich, sie würde sich jetzt, während die Sanitäter ihn von der Liege hoben, umdrehen und sich ihm zuwenden. Was ihn überhaupt so an ihr faszinierte, konnte er nicht sagen. Nur eines wusste er ganz sicher. Er wollte unbedingt herausfinden, wer sie war.

Seine Gedanken wurden abgelenkt, als eine Krankenschwester neben seinem Bett erschien. Sie pflasterte kleine runde Haftpolster mit Elektroden an seine nackte Brust, schloss dünne Drähte zusammen und klemmte eine Plastikklammer mit einem Kabel an den Zeigefinger seiner linken Hand. Geschickt stöpselte die Schwester die Kabelenden in ein EKG, schaltete die Monitore ein und zwinkerte Ross aufmunternd zu.

„Dr. Carlisle kommt gleich, um nach Ihnen zu sehen. Machen Sie sich keine Sorgen! Sie sind in guter Verfassung.“

Ross hätte gern ein Dankeschön gemurmelt. Doch die Atemmaske klebte auf seinem Mund und seiner Nase, und er fühlte sich bedrohlich eingeengt. Es war allerdings nicht ratsam, das verdammte Ding abzunehmen. Garantiert würde er sich einen zweiten Rüffel einhandeln …

Plötzlich wurde sein Puls schneller. Die feine grüne Linie auf dem Bildschirm schlug aus. Die Frau, die sich scheinbar eine halbe Ewigkeit über das Bett auf der gegenüberliegenden Zimmerseite gebeugt hatte, drehte sich zu ihm. Zum ersten Mal sah Ross ihr Gesicht. Er blinzelte. Ein Mal, zwei Mal. Seine Augen waren gereizt … Ross vermutete, dass es an dem Rauch lag, denn eine andere Erklärung hatte er nicht für das, was er gerade sah. Ein Gesicht, engelsgleich und nicht von dieser Welt. Überirdisch schön.

Er sog ihren Anblick in sich auf: die sinnlich geschwungenen Lippen, die wundervollen graublauen Augen mit dichten schwarzen Wimpern, die hübsche Nase, die hohe, glatte Stirn und die feinen Wangenknochen, die ein Bildhauer nicht formvollendeter hätte modellieren können.

Ihr goldbraunes Haar war zu einem Knoten gebunden, ein wenig streng vielleicht, doch Ross fand, dass dadurch ihre Schönheit noch stärker betont wurde. Er fühlte, wie ihn ein prickelndes Gefühl überkam, und in seiner Fantasie löste er den Chignon und die kleinen Spangen. Weich und verspielt fiel das Haar auf ihre Schultern …

Die Unbekannte drehte sich zu einer Krankenschwester um, die mit einem Infusionsbeutel ins Zimmer kam. So gut es ging, holte Ross tief Luft. Sein Rachen war rau wie ein Reibeisen, seine Lunge schien zu brennen, und in seinem Kopf schwirrten lauter Fragen. Was ging hier eigentlich vor? Warum ließ ihn die Frau nicht zur Ruhe kommen? Warum war alles so unwirklich?

Er konzentrierte sich darauf, Sauerstoff in seinen geplagten Körper zu pumpen. Die Wirkung, die diese Frau auf ihn hatte, machte ihn nervös. Ihr Gesicht hatte sich geradezu eingebrannt in sein Bewusstsein. Selbst wenn er die Augen schloss, sah er nur eines …, den wunderschönen Engel, seinen Engel.

„Nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte“, sagte Heather. „Aber ich möchte trotzdem, dass der Oberarzt der Station für Verbrennungen die Haut oberhalb seines linken Fußgelenks untersucht. Ansonsten ist alles in Ordnung, der Patient hat wirklich Glück gehabt.“

Heather war zufrieden mit sich und froh, dass es ihr gelang, die Situation nüchtern zu beschreiben. In Wahrheit versteckte sich hinter ihrer Professionalität die schiere Panik, die nur bedingt mit den hohen Anforderungen dieses besonderen Falls zusammenhing. Ein merkwürdiger Ausdruck lag in den Augen des Feuerwehrmannes. Warum wurde sie durch die Art, wie er sie ansah, so verwirrt?

In der Hoffnung, keiner im Team würde ihre Unsicherheit bemerken, lächelte Heather den kleinen Jungen an. Ben Carlisle kümmerte sich mittlerweile um den anderen Verletzten. Sie war erleichtert, ihn im Moment nicht behandeln zu müssen, und versuchte zu ignorieren, dass er mit ihr im selben Raum war.

„Du bist wirklich sehr tapfer, Damien. Die Schwester gibt dir noch eine Spezialmedizin, damit dein Bein nicht mehr so wehtut, und dann kommt ein anderer Doktor.“

„Will meine Mummy“, jammerte der Junge. Seine Augen füllten sich mit Tränen.

„Das weiß ich, kleiner Mann.“ Heather tätschelte Damiens Hand und blickte zu Melanie. „Wartet die Mutter draußen? Vielleicht ist es besser, wenn sie hier bei ihm ist. Wir sollten ihn nicht unnötig aufregen.“

„Seine Mutter war bei seiner Einlieferung nicht da“, flüsterte Melanie, damit der Junge sie nicht hörte. „Soviel ich mitbekommen habe, war sie nicht zu Hause, er war allein in der Wohnung. Ein Nachbar hat die Feuerwehr alarmiert und gesagt, dass nur der Kleine in dem brennenden Haus sei.“

„Aber er ist doch noch ein Baby!“ Heather war außer sich. „Wie kann eine Mutter ihr Kind unbeaufsichtigt lassen?“

„Keine Ahnung, aber es passiert wahrscheinlich öfter, als wir denken“, seufzte Melanie und deutete mit dem Kopf auf den Feuerwehrmann. „Der hatte einen Schutzengel. Er hätte sterben können. Sekunden, nachdem er das Kind gerettet hatte, ist das Haus eingestürzt.“

Heather bekam eine Gänsehaut. Plötzlich sah sie Szenen, die sie schon längst vergessen geglaubt hatte, Szenen des immer gleichen Albtraums, der sie seit Stewarts Tod verfolgte. Alle, die damals bei dem Unglück dabei gewesen waren, hatten ihr später versichert, dass Stewart bis zum Schluss gekämpft habe. Einen Helden hatten sie ihn sogar genannt. Aber das war nur ein leeres Wort und für Heather kein Trost für das, was sie an dem Tag verloren hatte.

„Geht’s dir nicht gut?“

„Alles bestens. Ich frage mich nur, ob wir die Polizei bitten sollen, Damiens Mutter zu finden“, sagte Heather schnell, als sie den besorgten Klang in Melanies Stimme bemerkte. Sie zwang sich, die Erinnerung an Stewarts Tod zu unterdrücken. Sie musste jetzt dem Jungen helfen. „Die Polizei kann die Nachbarn befragen. Die wissen vielleicht, wo sie ist.“

„Draußen steht ein Polizist. Soll ich den mal fragen?“, bot Melanie an.

„Nein, ich mache das. Der Oberarzt der Station für Verbrennungen müsste schon längst hier sein …“ Heather brach mitten im Satz ab, weil die Tür aufschwang und Doktor Alan Fountain in den Reanimationsraum kam.

Zügig rekapitulierte Heather für den Kollegen die Diagnose und die bisherige Behandlung. Alan schloss sich der Auffassung an, dass das Kind sehr, sehr viel Glück gehabt habe, denn die Hautverbrennungen waren minimal. Bevor er hastig das Zimmer verließ, veranlasste der Oberarzt die Verlegung des Jungen auf seine Station.

„Wenn du Damien in die andere Abteilung bringst, dann rede ich mit dem Polizisten.“ Heather wandte sich wieder an Melanie, wollte noch etwas hinzufügen, wurde allerdings abermals unterbrochen, weil Ben Carlisle zögernd auf sie zukam.

„Könntest du dir zusammen mit mir mal den Mann da drüben anschauen, Heather? Sein Zustand ist zwar stabil, aber ich habe noch nie so einen Fall gehabt und möchte nichts falsch machen.“

Seit der gut aussehende Doktor Carlisle in der Notfallambulanz arbeitete, waren alle wie verwandelt, und die Krankenschwestern führten sich auf wie schwärmerische Teenies. Sie himmelten den Arzt an, doch die Begeisterung blieb einseitig. Bis jetzt hatte sich Ben noch mit keiner der Frauen verabredet. Zumindest wusste Heather nichts davon. „Bis vor Kurzem war ich auf der Entbindungsstation“, sagte Ben mit einem Lächeln. „Dort sind Rauchvergiftungen nicht allzu häufig.“

„Das will ich hoffen“, antwortete Heather abwesend. Sie hatte sich noch nie davor gefürchtet, einen Patienten zu behandeln, denn ihr kleiner Trick, ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf die medizinischen Maßnahmen zu richten, hatte immer perfekt funktioniert. Doch bei dem Feuerwehrmann schien ihr der Selbstbetrug zu misslingen. Warum verstörte sie ausgerechnet dieser Patient?

„Ich bitte den Polizisten, die Mutter des Jungen zu finden“, sagte Melanie und strahlte dabei Ben an.

„Danke!“ Heather wollte lächeln, doch dies schien ihr nicht zu gelingen. Selbstverständlich musste sie Ben unterstützen. Keine Frage. Es wäre unverzeihlich, wenn sie das Leben des Verletzten gefährdete, weil der unerfahrene Arzt möglicherweise wichtige Symptome übersehen hatte.

Schweigend ging Heather hinüber und las sorgfältig das Patientenprofil, das Ben ihr gegeben hatte. Ihr Herz raste, und sie war froh um jede Zeile, die ein weiteres Zusammentreffen mit dem Patienten verzögerte. Schließlich reichte sie den Bericht zurück und wandte sich an den Mann, der auf dem Bett lag:

„Mein Name ist Heather Cooper, und ich bin Oberärztin der Not- und Unfallambulanz.“

Sie hatte nicht gezählt, wie oft sie diese Begrüßungsformel gesagt hatte. Doch die eigenen Worte klangen jetzt seltsam neu, als kämen sie zum ersten Mal über ihre Lippen und hätten zum ersten Mal wirklich eine Bedeutung.

Erschrocken sah sie den Mann an. Sie wollte seinem Blick ausweichen, doch seine braunen Augen zogen sie in ihren Bann. Heather spürte einen sonderbaren Zauber, der sie beide erfasste. Sie wusste, dass dieser wunderbare Moment des Gleichklangs keine Einbildung war. Doch plötzlich ergriff sie eine panische Angst.

Sie hatte in ihrem Leben keinen Platz für einen zweiten Helden!

Autor

Jennifer Taylor
Jennifer Taylor ist Bibliothekarin und nahm nach der Geburt ihres Sohnes eine Halbtagsstelle in einer öffentlichen Bibliothek an, wo sie die Liebesromane von Mills & Boon entdeckte. Bis dato hatte sie noch nie Bücher aus diesem Genre gelesen, wurde aber sofort in ihren Bann gezogen. Je mehr Bücher Sie las,...
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