Nonne oder Braut?

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Freudig sieht die junge Nell de Bonevile dem großen Tag entgegen: Bald wird sie das Gelübde als Nonne ablegen. Doch ihre Pläne erfahren eine dramatische Wendung: Ihr Vater beschließt, sie mit dem Ritter Roger de Roche zu verheiraten. Mit bangem Herzen tritt die unschuldige Schönheit ihrem zukünftigen Gemahl entgegen. Aber ihre Sorge vergeht, als sie in seine Augen blickt. Denn nur zärtliche Zuneigung liest sie darin. Beruhigt legt sie ihr Schicksal in Rogers starke Hände - bis sie gemeinsam seine mächtige Burg Wilton Castle erreichen. Denn dort wird Nell bereits von einer intriganten Rivalin erwartet, die entschlossen ist, ihr das Leben zur Hölle zu machen ...


  • Erscheinungstag 19.12.2017
  • Bandnummer 35
  • ISBN / Artikelnummer 9783733779931
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Die Totenmesse für Sybilla de Bonvile wurde in der Kathedrale von Lincoln gelesen. Der Tag war wolkenverhangen und windig. Gemeinsam mit ihren Eltern folgte Nell de Bonvile dem Sarg ihrer einzigen Schwester, der von sechs Rittern zur Chorschranke getragen wurde. Der Erzbischof persönlich besprengte den Sargdeckel mit Weihwasser, ehe er sich würdevoll dem Chor zuwandte und die Stufen zum Altar erklomm, um die Messe zu lesen.

Nell kniete neben ihrer Mutter und lauschte den ihr vertrauten lateinischen Worten. Ihr Blick ruhte auf dem Sarg, der den Leichnam der erst achtzehnjährigen Sybilla enthielt. Tiefer Kummer befiel sie, als sie sich das kurze Leben ihrer Schwester vergegenwärtigte, dem ein heftiges Fieber und ein quälender Husten ein jähes Ende bereitet hatten – Sybilla war erloschen wie eine Kerzenflamme im kalten Luftzug.

Wenn man doch nur Schwester Helen zu Hilfe geholt hätte, dann hätte Sybilla vielleicht gerettet werden können, dachte Nell betrübt. Aber niemand hatte die heilkundige Schwester – eine Nonne des Klosters, dem auch Nell seit ihrem achten Lebensjahr angehörte – zurate gezogen, und somit war Sybilla gestorben.

Aus den Augenwinkeln sah Nell, wie ihre Mutter sich ein Taschentuch vors Gesicht hielt und leise zu schluchzen begann. Nell wollte ihrer Mutter Trost zusprechen, zögerte jedoch, sie zu berühren. Denn sie war sich nicht sicher, ob ihre Mutter sich von ihrem einzigen überlebenden Kind würde trösten lassen. Wusste sie doch, dass sie die schöne Schwester oder den begabten Bruder nie ersetzen könnte. Vielleicht würde es die Trauernde gar verletzen, wenn sie sich der geliebten Kinder entsann, die von ihr gegangen waren, und ihr bewusst wurde, dass nur noch Nell übrig war.

Nell schaute verstohlen zu ihrem Vater hinüber. Das Antlitz des Earl of Lincoln war wie versteinert. Er machte keine Anstalten, seine Gemahlin zu trösten.

Zögerlich streckte Nell die Hand aus und berührte ihre Mutter am Arm. Die Countess ließ sich jedoch nicht anmerken, ob sie die Finger ihrer Tochter überhaupt spürte; sie schluchzte weiterhin leise in ihr Brokattuch. Nell zog die Hand zurück und faltete die Hände zum stillen Gebet.

Lieber Gott, betete sie, bitte nimm Sybilla bei dir auf und hilf meinen Eltern, Trost in den Stunden der Trauer zu finden.

Als feierliche Gesänge die Messe beendet hatten, ließen die Hinterbliebenen den Sarg in der Kirche zurück und traten hinaus in den windigen Tag. Sybilla sollte im Seitenschiff neben ihrem Bruder zur letzten Ruhe gebettet werden.

Nell hatte die Nacht gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer Tante im Bischofspalais verbracht, doch jetzt, da die Beerdigung vorüber war, war ihr Vater erpicht darauf, zu seiner Festung Bardney Castle zurückzukehren, die etwa zwanzig Meilen von Lincoln entfernt lag. Er bedeutete den mitgereisten Rittern, die Pferde zu holen, während Nell vor den Stufen der Kathedrale wartete und den ungewohnten Anblick von Lincolns Straßen außerhalb der Burgmauern auf sich wirken ließ.

Nell hatte den Großteil ihres Lebens hinter hohen Klostermauern verbracht und beobachtete das geschäftige Treiben der Arbeitswelt daher wie gebannt. Die Leute gingen ihrem Tagewerk nach. Manch einer hatte in der Burg zu tun, die hoch über der Stadt aufragte, während andere an den Marktständen entlang den äußeren Wehrmauern Handel trieben. Viele warfen den Trauergästen neugierige Blicke zu – wusste doch jeder in der Stadt, wer an diesem Tag zu Grabe getragen worden war.

Wie unterschiedlich die Menschen leben, dachte Nell voller Staunen. Wie wäre mein Leben wohl verlaufen, wenn meine Eltern mich nicht als Kind ins Kloster geschickt hätten?

Ein altes Weib ging leicht gebeugt am Portal der Kathedrale vorbei, wandte das greise Haupt und sah Nell an. Sofort spürte Nell das Mitgefühl der Alten, als ihre Blicke sich trafen. Dankbar nickte sie der alten Frau zu, die das Nicken erwiderte und dann ihres Weges ging.

Die stumme Beileidsbekundung tat gut, aber für Nells Empfinden hätte sie nicht ihr, sondern Mutter und Vater zugestanden. Schließlich hatte sie ihre Schwester kaum gekannt. Man hatte die Mädchen in jungen Jahren getrennt, und Sybilla war nur selten zu Besuch ins Kloster gekommen.

„Nell, hör auf, die Leute anzustarren, und steig auf dein Pferd.“ Ihr Vater klang ungeduldig. Rasch trat Nell zu der kleinen Stute, die einer der Ritter für sie bereithielt, und ließ sich von ihm in den Sattel helfen. Noch immer spürte sie den langen Ritt des Vortages in den Knochen; das Klosterleben sah keine Gelegenheit für das Reiten vor.

Sobald ihr Vater auf den großen, kastanienbraunen Hengst gestiegen war, setzten sich die Ritter an der Spitze des kleinen Trosses in Bewegung. Das Pferd ihres Vaters fiel ebenfalls in leichten Trab, dahinter ritten Nells Mutter, die Schwester ihrer Mutter, Tante Alida, und schließlich Nell selbst. Hinter der Familie folgten wiederum einige Ritter, die die Nachhut bildeten.

Nells Schleier wehte im Wind, und so versuchte sie, den dünnen Stoff an der Kopfbedeckung zu befestigen. Sie würde ihr Gelübde nicht vor dem achtzehnten Lebensjahr ablegen, aber schon die Novizinnen des Klosters trugen Nonnentracht. Ihre kleine Stute blieb sehr ruhig und schenkte den Leuten, die den Tross angafften, keinerlei Beachtung – ganz anders dagegen der Hengst ihres Vaters, der unruhig tänzelte und schnaubend den Kopf hin und her warf. Aber der Earl war ein geübter Reiter und sprach beruhigend auf das Tier ein. Ehrfurchtsvoll beobachtete Nell, wie er das große Pferd allein durch den Klang der Stimme und die streichelnde Hand beschwichtigte.

In der Stadt folgte der Reiterzug des Earls der Ermine Street, der alten Römerstraße Lincolns, vorbei an Geschäften und Herbergen, in denen die Besucher der Stadt Unterkunft fanden. Sie passierten die Kirche Sankt Peter, überquerten den Fluss und ritten zum Stadttor hinaus. Bardney befand sich südöstlich von Lincoln, wohingegen Nells Kloster im Nordosten lag. Keine zwei Tage war es her, dass Nell von fünf Rittern ihres Vaters abgeholt worden war, und nun ging sie davon aus, die Nacht auf der Burg ihres Vaters zu verbringen, ehe sie am folgenden Morgen wieder zum Konvent zurückkehren würde.

Der Weg nach Bardney führte durch mehrere kleine Dörfer mit alten Steinkirchen und durch das üppige Weideland der Grafschaft, wo Kühe friedlich grasten. Schon aus beträchtlicher Entfernung war die Burg auszumachen, deren mit Zinnen besetzte Steinmauern trotzig und weithin gebietend aus dem Boden aufragten.

Nell hatte zwar die Jahre der frühen Kindheit auf Bardney Castle verbracht, aber sie vermochte sich kaum noch an das Leben in der Burg zu erinnern. Als sie acht Jahre alt war, war ihr Bruder, der lang ersehnte männliche Erbe, zur Welt gekommen. Daraufhin hatten ihre Eltern sie in das Kloster Sankt Cecelia geschickt, um das Versprechen zu erfüllen, das sie Gott gegeben hatten. In unzähligen Gebeten hatten sie den Allmächtigen ersucht, er möge ihnen einen Sohn schenken. Das einzige Leben, das Nell kannte, war das Klosterleben; vor zwei Tagen, als sie im Burghof vom Pferd gestiegen war, war sie sich wie eine Fremde vorgekommen.

Auch jetzt noch, als sie über den Wassergraben und die Zugbrücke und schließlich durch das Tor mit dem schweren, eisernen Fallgatter ritt, das Bardney Castle des Nachts und in schwierigen Zeiten Schutz bot, mutete die Burg ihr seltsam fremd an. Der Reitertross ritt durch den äußeren Burghof, passierte das kleinere Tor, das in den inneren Burghof führte, und hielt vor dem großen, aus Stein erbauten Wohnturm. Die Ritter, die Brustharnische mit Halsbergen und Helme mit Nasenschutz trugen, stiegen von ihren Pferden. Einer von ihnen kam zu Nells Pferd und half ihr aus dem Damensattel. Als der Ritter sie auf die Füße stellte, zitterten ihre Knie ein wenig, und daher stützte er sie sogleich mit seinem Arm.

„Danke, mir geht es gut“, sagte Nell zu dem jungen Ritter mit den braunen Augen. „Ich hatte bloß nie Gelegenheit, mich im Reiten zu üben.“

„Ihr habt Euch trefflich im Sattel gehalten, Mylady“, erwiderte der Ritter.

„Komm mit, Nell“, rief ihre Mutter im selben Augenblick. „Trödel nicht.“

Nell schloss sich sogleich ihrer Mutter und ihrer Tante an und folgte den Damen in die Große Halle, die im Burgfried mehr als die Hälfte des untersten Stockwerks einnahm. Bei ihrer Ankunft vor zwei Tagen hatte sie sich ehrfürchtig in dem großen Saal umgesehen, und auch jetzt staunte sie, wie weitläufig die Halle war. Beeindruckt ließ sie die farbenprächtigen Wandbehänge an den hohen Wänden auf sich wirken. Im Kloster waren die Räume klein, und das bloße Mauerwerk zierte allenfalls ein Kruzifix.

Ihr Vater, Lord Raoul, und ihre Mutter, Lady Alice, strebten zu den hohen Lehnstühlen, die vor dem munter flackernden Kaminfeuer standen. Nell und ihre Tante taten es ihnen gleich.

„Ich denke, uns allen dürfte nun ein wenig Wein guttun“, meinte Lady Alida mit einem Seufzer.

„Fürwahr“, sagte der Earl. „Lassen wir uns welchen kommen.“

In gebieterischem Tonfall wandte Lady Alice sich an die beiden jungen Pagen, die auf einer Holzbank an der einen Seite der Halle auf Anweisungen warteten. „Robin, geh und bring uns etwas Wein.“

Augenblicklich sprang der Bursche auf und eilte in Richtung der Speisekammer, wo die Getränke aufbewahrt wurden.

Nell schaute ihren Vater an, der in dem größten Stuhl Platz genommen hatte und die Beine dem wärmenden Feuer entgegenstreckte. Er sagte kein Wort, und die anderen respektierten sein Schweigen. Nell senkte den Kopf und faltete die Hände züchtig im Schoß.

Der Page kehrte mit einem silbernen Tablett zurück, auf dem vier Kelche mit Wein standen. Er bediente zunächst seinen Herrn, sodann die Countess, hiernach Lady Alida und schließlich Nell. Sowohl der Earl als auch die Countess nahmen einen kräftigen Schluck, Nell indes nippte zögerlich an ihrem Kelch. Die Novizinnen im Kloster tranken für gewöhnlich Ale zu den Mahlzeiten, der Geschmack von Wein war Nell neu.

„Wohlan“, sagte der Earl, als er den Kelch auf dem kleinen Tisch neben dem Lehnstuhl abgesetzt hatte. „Das war es also.“

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie von uns gegangen ist“, merkte Lady Alice traurig an. „Wie kann Gott nur so grausam sein?“

„Gott verfährt mit den Menschen, wie es Ihm, verflucht noch mal, gefällt“, meinte der Earl verstimmt.

Nell sah ihren Vater entsetzt an.

Der Earl spürte den Blick seiner Tochter und fuhr in barschem Ton fort: „Es ist die Wahrheit, auch wenn du andere Dinge im Kloster gehört haben magst. Die Schicksalsfälle im Leben ergeben keinen Sinn. Keine Religion vermag mir zu erklären, warum ich nach meinem Sohn auch noch meine Tochter verlieren musste. Gott verfährt mit uns, wie es Ihm gefällt, aber auf meine Fragen gibt er mir keine Antworten.“

Nell überlegte, was sie auf die empörenden Worte ihres Vaters erwidern könnte. „Es stimmt, dass niemand Gottes Wege kennt, aber wir müssen darauf vertrauen, dass es einen Plan gibt, auch wenn wir ihn nicht verstehen“, sagte sie, wobei sie bloß die Worte wiedergab, die sie mehr als einmal im Kloster gehört hatte.

„Ich jedenfalls verspüre nicht das Verlangen, einen Plan zu verstehen, der mich meines Sohnes und meiner Tochter beraubt“, antwortete ihr Vater und wandte sich ihr mit grimmiger Miene zu.

Nell nagte am Winkel der Unterlippe. Es ist die Trauer, nahm sie ihn entschuldigend in Schutz. Er meint es nicht so.

Einmal mehr senkte sich düsteres Schweigen auf die kleine Gruppe vor dem Feuer herab. Tränen liefen ihrer Mutter über die Wangen, während der Earl weiterhin verärgert dreinschaute.

Wenn ich ihnen doch bloß Trost zusprechen könnte, dachte Nell bekümmert. Sie fühlte sich im Augenblick gänzlich fehl am Platz.

Ihre Mutter wischte die Tränen fort und schaute Nell an. „Ich weiß nicht, wie wir es mit der Kleidung für dich handhaben sollen. Du bist ein wenig kleiner als Sybilla.“

„Wir können einige Änderungen an Sybillas Gewändern vornehmen“, sprach Tante Alida. „Das dürfte genügen, bis ihre eigene Kleidung angefertigt ist.“

Kleidung? Verdutzt schaute sie von ihrer Tante zu ihrer Mutter. „Wozu benötige ich Kleidung, Mama? Ich habe doch meine Ordenstracht.“

Der Earl und die Countess tauschten wissende Blicke. Schließlich ergriff ihr Vater das Wort. „Du wirst nicht in das Kloster zurückkehren, Nell. Du bist nun mein einziges überlebendes Kind und hast deiner Familie gegenüber Verpflichtungen. Daher wirst du in nächster Zeit hier auf Bardney Castle bleiben.“

Nells dunkelblaue Augen wurden vor Erstaunen ganz groß. „Ich werde nicht ins Kloster zurückkehren? Aber ich sollte in sechs Monaten mein Gelübde ablegen!“

„Du wirst keine Nonne“, betonte er. „Du bist jetzt die Erbin des Earl of Lincoln, und das ist weitaus bedeutender, als eine einfache Nonne zu sein.“

Nell glaubte, einen dumpfen Schlag auf den Kopf erhalten zu haben. Sie würde nicht in die Klostergemeinschaft zurückkehren? Aber der Konvent war ihr Leben!

Schon fuhr der Earl fort: „Ich werde mich schriftlich an die Mutter Oberin wenden und ihr meine Entscheidung mitteilen. Es war ein Fehler, dich vor all den Jahren ins Kloster zu schicken. Zwar stimmt es, dass Gott uns einen Sohn schenkte, doch dann nahm Er ihn uns wieder. Somit ist unser Versprechen hinfällig. Ich schulde dem Allmächtigen keine Tochter. Von nun an wirst du hier bei uns sein.“

Nell saß im Schlafgemach ihrer Schwester, umgeben von Sybillas Habseligkeiten. Die schweren Holztruhen entlang der Wand enthielten Sybillas Kleidung, die Decken auf dem Bett trugen ihr Monogramm, die kunstvoll gearbeiteten Wandbehänge hatte ihre Schwester selbst gefertigt. Nell war zunächst davon ausgegangen, alle anderen Gemächer seien belegt, als die Countess ihre jüngste Tochter in Sybillas Schlafgemach gebracht hatte. Jetzt hingegen ging ihr auf, dass sie hier war, da sie Sybillas Platz einnehmen sollte.

Aber ich bin nicht Sybilla, dachte sie ungehalten. Mir ist ein anderes Leben bestimmt.

Abrupt sprang sie auf und trat ans Fenster. Ihr Blick fiel auf das geschäftige Treiben auf dem äußeren Burghof. Unbehagen kroch in ihr hoch.

Ich gehöre nicht hierher. Dies ist nicht mehr mein Zuhause. Die Mutter Oberin würde mich nicht so einfach gehen lassen.

Dieser Gedanke ließ Nell nicht mehr los. Die letzten neun Jahre hatte sie Gott gewidmet. Es traf sie hart, so plötzlich ihrer heiligen Bestimmung entrissen zu werden und sich im weltlichen Bereich des Lebens wiederzufinden. Sie glaubte, den Boden unter den Füßen verloren zu haben.

Die Mutter Oberin würde Fürsprache bei Nells Vater einlegen und ihn davon überzeugen, dass ihre Schutzbefohlene im Kloster bleiben müsse, wo sie all die Jahre so glücklich und zufrieden gewesen war.

Ich muss einen Weg finden, die Mutter Oberin zu sprechen.

Aber Nell war klarsichtig genug, um zu erkennen, dass ihr Vater sie gar nicht erst zurück ins Kloster lassen würde, denn er ahnte gewiss, dass seine Tochter nur die Absicht verfolgte, die Mutter Oberin zu bitten, sich für ihre Novizin einzusetzen. Daher musste Nell einen anderen Grund ersinnen, der ihr die Rückkehr nach Sankt Cecelia ermöglichen würde.

Ich werde meinem Vater einfach erzählen, dass ich mich nur von meinen Mitschwestern verabschieden will. Gewiss wird er mir diese fromme Bitte nicht abschlagen. Immerhin war die Klostergemeinschaft während der letzten neun Jahre meine Familie.

Kaum hatte sie sich diesen Plan zurechtgelegt, da öffnete sich die Tür und die Countess kam herein.

„Ich möchte nicht, dass du den Nonnenschleier während der Abendmahlzeit trägst“, sagte Lady Alice. „Nimm ihn ab, und lass mich sehen, wie dein Haar aussieht.“

Widerwillig löste Nell Wimpel und Schleier. Ihr braunes Haar war streng zurückgebunden und fiel ihr in einem dicken Zopf über die Schultern.

„Gott sei Dank, dass sie dir das lange Haar nicht abgeschnitten haben“, sagte ihre Mutter erleichtert.

„Es soll abgeschnitten werden, sobald ich das Gelübde ablege“, erwiderte Nell.

„Nun, da du kein Gelübde ablegen wirst, brauchst du dir darüber auch keine Sorgen mehr zu machen.“

Der Gedanke, eines Tages ihr langes Haar abschneiden zu lassen, hatte Nell indes nicht sonderlich angefochten.

Jetzt beschloss sie, ihre Mutter von der Notwendigkeit zu überzeugen, der Äbtissin einen Besuch abzustatten.

„Mama“, begann sie, als Lady Alice Nells Zopf löste, „ich möchte noch einmal zurück zum Konvent, um mich von den Nonnen zu verabschieden. Sie waren stets gut zu mir, und es wäre unhöflich, ohne ein Lebewohl fortzugehen.“

„Du liebe Güte!“, rief ihre Mutter aus. „Wann hast du zum letzten Mal dein Haar gewaschen? Es ist fettig!“

Der Haarpflege war im Kloster nie allzu viel Bedeutung beigemessen worden.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Nell zögerlich.

Ihre Mutter stieß einen unwirschen Laut aus. „Jedenfalls musst du dir die Haare waschen, ehe du sie offen tragen kannst. Ich werde dir wieder den Zopf flechten, du kannst dir die Haare dann morgen waschen.“

„Habt Ihr meine Frage gehört, Mutter?“, sagte Nell ein wenig verzweifelt. „Ich würde gern noch einmal zurück zum Kloster, um den Nonnen Lebewohl zu sagen.“

Unbeirrt flocht Lady Alice ihrer Tochter das Haar. „Das lässt sich gewiss einrichten. Zuvor müssen wir aber mit deinem Vater sprechen.“

Nell senkte den Blick. „Habt Dank, Mutter“, murmelte sie.

„Ist es dir denn wichtig, dich von allen im Kloster zu verabschieden?“

„Ja.“

„Nun gut, ich werde mit deinem Vater reden.“

„Habt Dank“, wiederholte Nell. „Glaubt Ihr, ich kann schon morgen aufbrechen?“

„Das hängt von deinem Vater ab.“

„Aber Ihr werdet ihn bestimmt fragen?“

„Das sagte ich bereits, Kind“, gab ihre Mutter ein wenig ungeduldig zurück. Nun legte sie den Kopf schief und betrachtete ihre Tochter. „Ich fürchte, du wirst die Tracht doch heute Abend tragen müssen. Ich werde meine Zofen morgen damit beauftragen, einige von Sybillas Gewändern zu ändern. Wenn wir den Saum ein wenig anheben, dürften sie dir bereits passen.“

Aber ich will Sybillas Gewänder nicht tragen, dachte Nell störrisch.

„Komm, mein Kind“, sprach ihre Mutter. „Es ist Zeit für die Abendmahlzeit.“

2. KAPITEL

Die Abendmahlzeit wurde für alle Burgsassen in der Großen Halle aufgetragen. Auf Böcken ruhende Tischplatten waren in der Mitte des Saals aufgestellt worden, während eine erhöhte Speisetafel nah bei der gemauerten Feuerstelle stand, wo es im Winter am wärmsten war. An der Tafel auf der Empore saßen der Hausherr samt Gemahlin, Nell, Lady Alida, der Burgkaplan Pater Clement sowie der Verwalter von Bardney Castle, Martin Demas. Zwei Knappen standen hinter dem Tisch, um die hohen Herrschaften während des Mahls zu bedienen.

Nell schaute auf das geröstete Wildbret, das neben dem edlen Weißbrot auf dem Tranchierbrett lag, und spürte, wie sich ihr der Magen drehte. Sie war viel zu aufgewühlt, um in Ruhe essen zu können. Da ihr Mund ganz trocken war, nahm sie einen kleinen Schluck Wein. Beinahe neidisch beäugte sie die Burgbewohner an den unteren Tischen, die mit Ale versorgt wurden.

„Iss etwas, Kind“, forderte Tante Alida sie auf. „Das Essen ist gut in Bardney. Lass es dir schmecken.“

Tatsächlich hatte man den Eindruck, dass Tante Alida dem Essen im Allgemeinen nicht abgeneigt war. Sie war eine kleine, rundliche Frau, die Nell an eine wohlgenährte Taube erinnerte. Alida war eine von vielen Töchtern gewesen, und ihre Eltern hatten nicht gewusst, was sie mit ihr machen sollten, bis die Countess ihrer Schwester angeboten hatte, ihr Leben auf Bardney Castle zu verbringen.

Für eine edle Familie war es nicht immer einfach, eine passende Verbindung für eine Tochter zu finden. Da es bei den Normannen Sitte war, dass der gesamte Familienbesitz an den ältesten Sohn fiel, kam für eine vielversprechende Vermählung auch jeweils nur der älteste Sohn infrage. Mittellose jüngere Söhne blieben für gewöhnlich unverheiratet. Dieser Brauch ließ den Töchtern adliger Herkunft nur eine begrenzte Anzahl möglicher Ehemänner, und folglich war der Konkurrenzkampf groß. In Nells Kloster lebten einige junge Frauen, deren Familien nicht in der Lage gewesen waren, die Töchter mit einer stattlichen Mitgift für die Ehe zu versehen.

Alida durfte sich glücklich schätzen, eine Schwester zu haben, die eine treffliche Partie gemacht hatte und daher in der Lage war, einer unverheirateten Verwandten ein Zuhause anzubieten. Nell vermochte sich nur schwach an ihre Tante zu erinnern, doch Alidas Lächeln war freundlich, und so erwiderte sie das Lächeln.

„Ich verspüre keinen großen Hunger“, sagte sie. „In den letzten Tagen ist viel geschehen. Ich habe das Gefühl, mir dreht sich der Magen.“

Ihre Mutter wandte sich ihr zu. „Willst du gar nichts essen, Nell?“

Nell nahm einen Bissen von dem Wildbret und zwang sich, ihn herunterzuschlucken. „Doch, ich esse, Mutter.“

Lady Alice sprach nun über Nells Kopf hinweg mit Tante Alida. „Glaubst du wirklich, wir können Sybillas Gewänder so ändern lassen, dass sie Nell passen? Sie müssten nicht nur gekürzt, sondern im Ganzen neu angepasst werden.“

„Das lässt sich machen“, erwiderte Alida im Brustton der Überzeugung. „Wir können gleich damit anfangen.“

„Das sollten wir auch“, bekräftigte Lady Alice. „Nell muss etwas anzuziehen haben neben der schwarzen Ordenstracht.“

Tante Alida tätschelte Nells Arm. „Mach dir keine Sorgen, Kind. Du bist ein hübsches Mädchen, und wir werden dich schon bald angemessen kleiden können.“

Hoffentlich nicht, dachte Nell. Sie wandte sich ihrer Mutter zu. „Mama, vergesst bitte nicht, mit meinem Vater über mein Anliegen zu sprechen.“

Lady Alice wirkte entrüstet. „Ich sagte dir bereits, dass ich mit ihm sprechen werde. Alles zu seiner Zeit.“

„Was hat das Kind denn auf dem Herzen?“, fragte Tante Alida ihre Schwester mit der Vertraulichkeit einer engen Gefährtin.

„Nell möchte noch einmal zurück zum Kloster, um allen Lebewohl zu sagen“, erklärte Lady Alice.

Alida nickte zustimmend. „Das sollte sie in der Tat tun. Das gebietet die Sitte.“

Nell war ihrer Tante dankbar und lohnte ihr die Unterstützung mit einem zaghaften Lächeln.

Während der ganzen Mahlzeit wartete Nell voller Ungeduld, dass ihre Mutter endlich mit dem Earl sprechen würde, doch Lord Raoul war in ein Gespräch mit Martin Demas vertieft und schaute seine Gemahlin nicht an. Schließlich, als das Hauptgericht wieder abgetragen und die Süßspeise gereicht wurde, schenkte der Burgherr den drei Frauen an seiner Tafel seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Hat es dir gemundet, Nell?“, erkundigte er sich.

„Ja, Vater“, log sie.

„Gut. Ich vermute, im Kloster hast du nicht in dieser vorzüglichen Weise gespeist.“

Sie gab ihm mit einem Nicken recht.

„Mylord“, hob Lady Alice an, „Nell hat den Wunsch, noch einmal nach Sankt Cecelia zurückzukehren, um den Nonnen Lebewohl zu sagen. Ich denke, die Sitte gebietet es, und schließlich hat sie neun Jahre ihres Lebens dort verbracht.“

Der Earl zog die Stirn in Falten, und Nell hielt den Atem an.

„Ich halte das nicht für notwendig“, sprach er ernst.

„Es ist fürwahr nicht notwendig, jedoch anständig“, erwiderte Lady Alice.

Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich wieder. „Oh, ich verstehe. Nun gut, ich denke, ich kann einige Ritter entbehren, um ihr sicheres Geleit zu geben.“ Er sprach sich kurz mit Martin Demas ab und wandte sich dann wieder Nell zu. „In Ordnung“, sagte er, „du kannst gleich morgen aufbrechen und die Sache hinter dich bringen. Ich werde dir fünf meiner Männer mitgeben.“

„Bestimmt benötige ich nicht fünf Begleiter, Vater“, sagte Nell.

„Doch, die wirst du brauchen“, entgegnete der Earl. „Unser Land befindet sich am Rande eines Bürgerkriegs, und Gesetzlose nutzen die unsichere Lage zu ihrem Vorteil.“ Er bedachte seine Tochter mit einem grimmigen Blick. „Du bist alles, was mir noch geblieben ist, Nell. Ich möchte dich nicht auch noch verlieren.“

Für einen kurzen Moment flackerte Schmerz in den dunkelblauen Augen ihres Vaters auf. Nell bekam ein schlechtes Gewissen, als sie daran dachte, dass sie im Begriff war, ihren Vater zu hintergehen.

Nach der Abendmahlzeit stellten die Bediensteten die langen Tische und Sitzbänke wieder an die Wand der Großen Halle und rückten ein paar Bänke in die Nähe des Feuers. Einige der Ritter nahmen dort Platz. Jemand holte ein Würfelspiel hervor. Der Earl gesellte sich zu seinen Leuten am Feuer, während Lady Alice zu ihrer Schwester sprach: „Gehen wir hinauf in die Kemenate. Mir ist heute nicht nach Gesellschaft zumute.“

Nell folgte ihrer Mutter und der Tante die Treppe hinauf in die Gemächer, die allein von der Familie genutzt wurden. Die ganze Zeit überlegte sie, was sie der Mutter Oberin am nächsten Tag sagen sollte. Gewiss wäre die Äbtissin auf ihrer Seite. Sie hatte Nell immer gemocht. Daher betete sie, die ehrwürdige Dame möge dem Earl verdeutlichen, dass es Gottes Wille sei, dass Nell in der Klostergemeinschaft bliebe.

Es war spät am Nachmittag, als Nell und ihre Begleiter am Torhaus des Klosters Sankt Cecelia ankamen. Die Pförtnerin begrüßte Nell freundlich und schickte sodann nach den Stallknechten, die sich der Pferde annehmen sollten.

Die Mauern des Klosters waren Nell so vertraut und übten einen beruhigenden Einfluss auf ihr Gemüt aus. Dort war die Kirche, wo die Nonnen hinter einem wundervoll geschnitzten Lettner der Messe lauschten; dort stand das Haus der Mutter Oberin; weiter zurück lag das Hauptgebäude, in dem Nell gemeinsam mit den Nonnen und den anderen Novizinnen gelebt hatte; und dort war das Gästehaus, das den Rittern von Bardney Castle Unterkunft für die Nacht bot. Vom Hof aus konnte man indes nicht den Klostergarten sehen, wo Nell so viele frohe Stunden zugebracht und viel von der Heilerin des Klosters, Schwester Helen, gelernt hatte.

Schwester Helen war ihr wie eine Mutter gewesen. Wie sollte sie da den Abschied ertragen?

Nell zeigte den Rittern das Gästehaus und sagte ihnen, sie dürften es sich dort bequem machen. Sodann durchquerte sie den Hof und strebte dem schmalen, hohen Steinhaus der Äbtissin zu. Ungestüm pochte ihr Herz in ihrer Brust.

Auf Nells Klopfen hin erschien eine Laienschwester an der Tür. Nell fragte ein wenig außer Atem: „Wärst du so nett und sagst der Oberin, dass ich sie zu sprechen wünsche?“

„Gewiss“, antwortete die Frau und verschwand über eine Stiege. Augenblicke später kehrte sie zurück und teilte Nell mit, dass die Oberin sie in ihrem Wohnraum erwarte. Mittlerweile hämmerte ihr Herz gegen die Rippen, und sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen, ehe sie die Stufen erklomm.

Das Kloster Sankt Cecelia war eine reiche Stiftung, und somit hätte die Äbtissin sich einen gewissen Grad an Annehmlichkeiten leisten können, aber Mutter Margaret de Ligne beschränkte sich auf einige wenige Habseligkeiten: ein paar mit Schnitzwerk versehene Holzstühle, zwei Truhen und einen Wandbehang, auf dem der heilige Georg auf einem weißen Ross zu erkennen war. Den steinernen Fußboden bedeckten keine Binsen.

Mutter Margaret wirkte beinahe so streng und asketisch wie der Raum, in dem sie saß, doch ihre Züge glätteten sich, sowie sie Nell gewahrte. „So“, sprach sie. „Du kehrst zurück von der Beerdigung deiner Schwester.“

„Ja, ehrwürdige Mutter. Und etwas ist geschehen, was ich mit Euch besprechen muss.“

„Komm und setz dich zu mir“, bot Mutter Margaret ihr an. „Wie geht es deinen Eltern? Wie schrecklich für sie, ihre Tochter so früh zu verlieren. Ich werde sie in meine Gebete mit einschließen.“

„Habt Dank, Mutter“, erwiderte Nell.

„Wie ich sehe, hast du deinen Schleier abgelegt.“

Nell presste die Hände fest in ihrem Schoß zusammen. „Meine Mutter hieß mich Schleier und Wimpel ablegen. Ehrwürdige Mutter, etwas Furchtbares ist geschehen. Mein Vater hat gesagt, ich könne von nun an nicht mehr im Kloster leben. Ich soll zu Hause bleiben und Sybillas Platz einnehmen!“

Nach einer kurzen Pause sagte Mutter Margaret mit weicher Stimme: „Ich habe damit gerechnet.“

Nell starrte die Äbtissin erschrocken an.

„Dein Vater ist ein sehr bedeutender Mann“, fuhr Mutter Margaret fort. „Er besitzt große Ländereien, Burgen und Herrenhäuser. Er hat einen Sohn und eine Tochter verloren, und er braucht einen Erben, um den Familienbesitz und die Blutlinie erhalten zu können. Daher wundert es mich nicht, dass er dich nach Hause holen will.“

Endlich fand Nell die Sprache wieder. „Aber ich habe mein Leben Gott gewidmet, Mutter! Gewiss soll ich Ihm nicht den Rücken kehren!“

Die Äbtissin erwiderte sanft: „Als du dein Leben Gott widmetest, hatte dein Vater noch einen Sohn und eine Tochter. Jetzt hat er nur noch dich.“

Nell war wie benommen. Die Oberin klang gerade so, als hieße sie die Wendung in Nells Leben gut! Angespannt sagte sie: „Ich hatte gehofft, Ihr würdet mit meinem Vater sprechen. Ich hatte gehofft, Ihr würdet ihm sagen, dass Gottes Wege Vorrang vor den Belangen der Menschen haben.“

Mutter Margaret beugte sich ein wenig vor. „Mein liebes Kind“, sprach sie verständnisvoll, „wir werden dich sehr vermissen. Du hast uns viel Freude hier im Kloster gemacht. Aber nun musst du deinem Vater gehorchen, Nell. In den Zehn Geboten heißt es, du sollst Vater und Mutter ehren.“

Nell fühlte sich verraten. Sie war sich so sicher gewesen, dass die Mutter Oberin sich für sie einsetzen würde. „Könntet Ihr nicht wenigstens mit ihm sprechen? Vielleicht ändert er seine Meinung noch“, flehte sie.

Mutter Margaret schüttelte entschieden den Kopf. In ihren hellblauen Augen lag Mitgefühl für Nell, doch ihre Worte waren eindeutig. „Ich werde mich nicht einmischen. Du kannst Gott weiterhin dienen, ganz gleich, wie du dein Leben verbringst, Nell. Du wirst eine hohe Stellung einnehmen, eine Stellung, die es dir ermöglicht, auf viele Menschen einzuwirken – du wirst weitaus mehr Menschen erreichen als in diesem Kloster. Vielleicht hat der Allmächtige dies von vornherein für dich vorgesehen. Hier bei uns hast du gelernt, eine gottesfürchtige Frau zu werden. Jetzt ist die Zeit für dich gekommen, das Gelernte in deinem neuen Leben anzuwenden, das du alsbald als Herrin über viele Menschen führen wirst.“

„Aber ich möchte nicht fort von hier“, rief Nell verzweifelt. „Hier bin ich glücklich gewesen!“

Die Oberin faltete die Hände in ihrem Schoß. „Es freut mich, das zu hören, aber nun liegen deine Pflichten anderswo, Nell. Deine Familie braucht dich nötiger als wir.“

Schweigen senkte sich herab. Nell kauerte mit hängenden Schultern auf dem Stuhl und senkte den Blick. „Ich dachte, Ihr würdet auf meiner Seite stehen“, sagte sie in die Stille hinein.

„Sieh mich an“, hörte sie die Mutter Oberin sagen.

Widerstrebend schaute Nell auf.

„Deine Aufgabe wird es sein, Gutes in der Welt zu tun“, betonte die Äbtissin. „Das ist weitaus schwieriger, als im Schutz der Klostermauern zu beten, aber ich bin mir sicher, dass du der Herausforderung gewachsen bist.“

Nein, das bin ich nicht, dachte Nell. Ich will nicht hinaus in die Welt.

Mutter Margaret fuhr fort: „So könntest du zum Beispiel die Kranken heilen. Schwester Helen sagte mir, du seist in der Heilkunst beinahe so bewandert wie sie. Wir haben Schwester Helen – wir benötigen keine zweite Heilkundige. Aber viele Menschen dort draußen bedürfen der Fertigkeiten, die du besitzt, Nell. Das wird etwas sein, was du für Gott tun kannst.“

Nell starrte in die hellblauen Augen der Äbtissin. Die Oberin war wahrlich der Ansicht, dass ihre Novizin gehen sollte. Aber sie irrt sich, dachte Nell aufsässig. Ich bin mir sicher, dass Gott mich hierbehalten möchte.

„Sei deinen Eltern eine gute Tochter“, sprach Mutter Margaret. „Sie brauchen dich jetzt.“

Nell schwieg und reckte trotzig das Kinn empor. Doch sowie die Oberin sich erhob, tat Nell es ihr gleich. Die Äbtissin überragte ihre Novizin um einen halben Kopf. „Gewiss ist es dein Wunsch, dich von all deinen Freundinnen zu verabschieden. Komm, nimm die Abendmahlzeit mit uns im Refektorium ein. Ich werde das Schweigegebot während des Essens ein wenig lockern, damit du dich mit den anderen unterhalten kannst.“

Es gab nichts mehr, was Nell noch hätte sagen können. Mutter Margaret hatte einen Entschluss gefasst. Tränen brannten Nell in den Augen. Kein Zweifel, sie würde das geliebte Kloster verlassen müssen.

„Gewiss möchtest du auch Schwester Helen von den Neuigkeiten in Kenntnis setzen“, sagte die Oberin weiter. „Zu dieser Stunde dürfte sie im Kräutergarten sein. Geh und sprich mit ihr.“

„Habt Dank, Mutter“, sagte Nell mit bebender Stimme. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt.

Sie ging die Stufen hinunter und öffnete die schwere Eichentür. Wie furchtbar, dachte sie verzweifelt, als sie den Hof überquerte und in den Weg einbog, der zwischen dem Kloster und dem Speicher hindurchführte. Wie soll ich den Abschied je ertragen? Wie soll ich es übers Herz bringen, Schwester Helen Lebewohl zu sagen?

Der Weg fiel sanft zum großen Kräutergarten hin ab. Am anderen Ende des Gartens war eine eingezäunte Parzelle, auf der eine kleine Hütte stand. Aus der kreisrunden Öffnung im Dach stieg Rauch. Nell schritt durch den Kräutergarten, öffnete ein Tor in dem Zaun und betrat die Hütte.

Eine Nonne stand mit dem Rücken zur Tür und rührte in einem Kessel, der über dem Herdfeuer hing. Beim Anblick der vertrauten Gestalt traten Nell Tränen in die Augen.

Schwester Helen war so groß wie Nell und wandte sich nun zur Tür. Nell schaute auf das hübsche, glatte Antlitz des Menschen, den sie am liebsten auf der Welt mochte, und spürte, wie sich ihr der Magen zusammenkrampfte. Die Tränen brachen sich Bahn und liefen ihr heiß über die Wangen.

„O Schwester Helen“, rief sie, „etwas Schreckliches ist geschehen! Mein Vater hat beschlossen, dass ich das Kloster verlassen und von nun an auf Bardney Castle leben muss. Meine Eltern wünschen, dass ich den Platz meiner Schwester einnehme!“

Für einen Moment herrschte Schweigen. Der üppige Duft der Kräutermischungen erfüllte die Hütte.

„O meine Liebe“, sagte Schwester Helen mitfühlend.

Nell brach in Schluchzer aus. „Ich habe Mutter Margaret ersucht, sich bei meinem Vater für mich zu verwenden, aber sie wird es nicht tun! Sie sagt, ich müsse meinen Eltern gehorchen und das Kloster verlassen.“

Schwester Helen nahm Nells Hände in ihre eigenen kleinen Hände, die von der Arbeit gezeichnet waren. Als sie sprach, klang ihre Stimme ernst. „Mutter Margaret hat nicht über deine Zukunft zu befinden, Nell. Du bist die Tochter eines mächtigen Mannes. Wenn der Earl verlangt, dass du nach Hause kommst, dann musst du dich diesem Wunsch fügen.“

„Aber er hat mich doch ins Kloster geschickt!“, rief Nell mit tränenerstickter Stimme. „Er und meine Mutter. Sie wollten mich nicht länger haben, Schwester Helen. Nach wie vor bin nicht ich es, die sie wollen. Sie brauchen lediglich eine Tochter, das ist alles. Es ist ungerecht, dass mein Leben auf den Kopf gestellt wird, nur weil meine Eltern ihre Meinung geändert haben.“

Nell flüchtete sich in Schwester Helens beschützende Arme. Lange sagte keine von beiden ein Wort, und die einzigen Geräusche in der Hütte waren der leise kochende Kessel über dem Feuer und das Schluchzen von Nell. Sodann sagte Schwester Helen leise: „Hör mir zu, Nell. Es mag sehr wohl sein, dass Gott dir eine andere Bestimmung als das Leben im Kloster zumisst. Du wirst an der Welt einflussreicher Menschen teilhaben. Vielleicht wird deine Stellung dir erlauben, viel Gutes zu bewirken. Vielleicht ist das Gottes Wille.“

„Genau das hat mir auch Mutter Margaret gesagt“, flüsterte Nell an der Schulter der heilkundigen Frau. „Ich glaube aber, dass das ein Irrtum ist. Ich bin für das Leben als Nonne bestimmt.“

Schwester Helen tätschelte Nells Rücken. „Ich denke, du solltest auf die Mutter Oberin hören. Sie ist eine sehr weise Frau, Nell.“

„Ich will Euch aber nicht verlieren!“, rief Nell leidenschaftlich aus. „Ihr seid immer meine beste Freundin gewesen. Ihr seid mehr wie eine Mutter zu mir gewesen als meine leibliche Mutter.“

Die Nonne legte die Hände auf Nells Schultern und schob die junge Frau auf Armeslänge von sich. Mitfühlend sah sie Nell in die tränenfeuchten Augen. „Gott weiß, wie sehr ich dich vermissen werde. Aber wir müssen uns Seinem Willen beugen, meine Liebe. Das ist unser Los auf Erden.“

„Es ist der Wille meines Vaters“, entgegnete Nell schluchzend. „Ich bin mir nicht sicher, ob es auch Gottes Wille ist.“

Schwester Helen umfasste Nells Schultern ein wenig fester. „Hör mir zu, Nell. Ich weiß, dass es schwer für dich ist. Dein Leben wird von nun an ganz anders verlaufen als das Leben, das du bislang kanntest. Aber es ist wichtig, dass du dir darüber bewusst wirst, dass du in deinem neuen Leben Gottes Arbeit verrichtest. Es ist einfach, ein gottesfürchtiges und frommes Leben im Kloster zu führen. In der Welt draußen ist es weitaus schwieriger. Aber das ist jetzt deine Bestimmung, die du annehmen musst, mag es auch noch so hart sein. Hörst du mir zu?“

„Ja, ich höre zu“, sagte Nell mit bebenden Lippen.

„Gut. Hab Mitleid mit deinem Vater, anstatt ihm die Schuld zu geben. Er ist ein Mann, der zwei Kinder verloren hat. Deine Mutter leidet in der gleichen Weise. Sei ihnen eine gute Tochter. Sie brauchen dich jetzt.“

Sie haben mich auch bislang nicht gebraucht.

„Hast du mich gehört, Nell?“, fragte Schwester Helen behutsam.

Nell versuchte, ihren Tränen Einhalt zu gebieten. „Ja, Schwester. Aber ich denke nach wie vor, dass es nicht richtig ist.“

„Es ist wichtig, dass du jetzt das Beste aus dem Leben machst, das dir beschieden ist“, sagte die Nonne eindringlich. „Versprich mir, dass du beherzigst, was Mutter Margaret und ich dir geraten haben.“

Nell blieb ihr die Antwort schuldig.

„Nell?“

„Ich verspreche es“, sagte Nell sehr leise.

Schwester Helen drückte Nells Schultern und zog dann die Hände fort. „Ich werde dich vermissen“, bekannte sie kummervoll.

„Oh, ich werde Euch auch so sehr vermissen!“

Abermals nahm Schwester Helen ihre treue Gefährtin in die Arme und drückte sie an sich. Nell konnte den belebenden Duft von Kräutern wahrnehmen, der immer an Schwester Helens Kleidung haftete. „Darf ich Euch einmal besuchen?“, fragte sie zaghaft.

„Du bist stets willkommen.“

Schließlich löste Schwester Helen die Umarmung, und Nell trat einen Schritt zurück. Die Nonne sagte rasch: „Es ist Zeit für das Abendessen. Lass mich nur schnell diesen Kessel vom Feuer nehmen, dann können wir hinauf ins Refektorium gehen.“

Schniefend nickte Nell und wartete, während Schwester Helen das Herdfeuer löschte und den Topf zur Seite stellte. Dann verließen die beiden Frauen die Hütte und stiegen die leichte Anhöhe hinauf, die zu den Klostergebäuden führte.

3. KAPITEL

Es war spät am Nachmittag, als der Earl of Wiltshire und sein Enkel von ihrer Reise zurückkehrten. Sie hatten die Wehranlagen der Burgen und Herrenhäuser der Barone begutachtet, die dem Earl zur Lehnstreue verpflichtet waren. Der Earl of Wiltshire gehörte zu den einflussreichsten Männern im Königreich und gebot über Grundbesitz in Wiltshire, Dorset, Somerset, Hampshire, Surrey, Buckinghamshire, Hertfordshire sowie Oxfordshire. Da das Land sich unmittelbar vor einem Bürgerkrieg befand, in dem sich König Stephen und dessen Cousine, die Kaiserin Mathilda, gegenüberstanden, hatte der Earl es als unerlässlich erachtet, die Barone zu besuchen, die ihm gemäß dem Lehnsrecht zur Treue verpflichtet waren. Unmissverständlich hatte er ihnen in Erinnerung gerufen, dass er als Earl König Stephen den Treueschwur geleistet hatte.

Als der Tross auf dem Weg zur Burg des Earls in Wilton die Ebene von Salisbury durchquerte, schien die Sonne auf polierte Helme, Halsbergen, Brustharnische und Schilde. Es war ein windiger Sommertag, und die Fahne, die der Ritter am Kopf des Zuges trug, flatterte stolz im Wind. Das Klirren der Sporen und Rüstungen schallte weithin ins Land. Den Schluss des Trosses bildeten die Packpferde, die die beweglichen Güter des Earls trugen, die er auf Reisen mitzunehmen pflegte: Ein Reittier war mit dem zerlegbaren Bett, den Laken, Decken und der Matratze des Herrn beladen, ein anderes mit den Kleidungsstücken, wiederum ein weiteres mit dem Wein, den der Earl bevorzugte. Andere Pferde trugen allerhand Gegenstände, die der Behaglichkeit des Herrn auf Reisen dienlich waren.

Der alte Mann wandte sich seinem Enkel zu, der erst zweiundzwanzig Jahre alt war, und meinte: „Wir werden uns freuen, wieder daheim zu sein. Lange waren wir unterwegs.“

„Fürwahr, es war noch Frühling, als wir aufbrachen, und nun haben wir Hochsommer“, antwortete Roger. „Aber unsere Reise war erfolgreich, denke ich.“

„Es ist immer klug, sich ab und an bei den Untertanen blicken zu lassen“, erklärte der Earl mit einem listigen Blick. „Denk daran, mein Junge. Nichts geht über Kontrolle, damit ein Mann ehrlich bleibt.“

„Ja, Sir“, sagte Roger.

„Gleichwohl freue ich mich darauf, wieder in meiner eigenen Halle zu sitzen“, räumte der Earl ein. „Ich bin allmählich zu alt, um so viele Stunden im Sattel zu verbringen.“

Roger lächelte in sich hinein. „Ihr habt mehr Durchhaltevermögen als die Hälfte Eurer Ritter, Sir.“

„Das mag nach außen so ausgesehen haben“, grunzte der Earl. „Sobald wir zu Hause sind, können wir uns Gedanken über deine Vermählung machen.“

Roger legte die Zügel in die andere Hand. „Ah ja, die Hochzeit“, sagte er nachdenklich. „Ich kann immer noch nicht glauben, wie Ihr die Zustimmung des Königs erhalten habt.“

„Die Verlockung war zu groß. Er weiß, dass er mich als treuen Gefolgsmann halten muss. Sollte Wiltshire sich auf die Seite der Kaiserin schlagen, wäre das eine Katastrophe für Stephen. Wir gebieten über zu viel Land, als dass der König auf uns verzichten könnte.“

Roger schüttelte erstaunt den Kopf. „Aber die Grafschaften von Wiltshire und Lincoln zu vereinen! Dann werden die de Roches die einflussreichste Familie im Königreich sein.“

Der Earl bedachte seinen Enkel mit einem gerissenen Lächeln. „Ich weiß. Wir werden ganz Lincoln beherrschen, ebenso Wiltshire. Dadurch sind wir fest im Reich verankert, Roger, und genauso mächtig wie der König. Der Earl of Chester wird außer sich sein vor Wut.“

„Der jetzige Earl of Lincoln ist aber noch quicklebendig, Sir“, gab Roger zu bedenken. „Die Verbindung der beiden Grafentitel wird nicht vor seinem Ableben möglich sein. Erst dann wird seine Tochter erben.“

„Raoul de Bonvile will das, was wir wollen. Er will, dass sein Blut im Land vorherrscht. Deshalb hat er der Vermählung zugestimmt.“

Eine Weile ritten sie schweigend nebeneinanderher. Rogers Gedanken kreisten um die bevorstehende Verbindung mit einer Frau, die er nicht kannte. Schließlich sagte er: „Ich hoffe, Sybilla ist hübsch.“

„Wie sie aussieht, ist nicht von Bedeutung“, beschied ihm der Earl. „Worauf es ankommt, ist, was sie uns einbringt. Im Hochadel heiratet man nicht, weil jemand ein hübsches Gesicht hat, mein Junge, und du wirst in Zukunft Earl sein.“

Wieder herrschte Schweigen. Dann erwiderte Roger: „Ja, Sir, ich weiß. Aber es würde nicht schaden, wenn sie hübsch wäre.“

„Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass sie gut aussieht. Ihre Mutter ist eine sehr schöne Frau.“

Abermals schwiegen die beiden Männer, bis der Earl sichtlich erleichtert sagte: „Da liegt Wilton.“

Roger schrak aus seinen Gedanken auf und schaute zu der Burg, die jetzt in einiger Entfernung auszumachen war. Das Erste, was man sah, wenn man sich Wilton Castle näherte, waren die trutzigen Wehrmauern mit den beiden Tortürmen. Vier weitere Türme beherrschten die Eckpunkte der äußeren Mauern, und auf den scharlachroten Flaggen, die auf den mit Zinnen versehenen Türmen wehten, prangte ein Leopard – das Wappentier der de Roches.

„Sie ist uneinnehmbar“, stellte der Earl mit großer Zufriedenheit fest. Diese Bemerkung pflegte der alte Mann öfter zu machen. „Die Mauern sind fünfzehn Fuß dick. Kein Belagerungsgerät vermag sie zu brechen. Von all den Burgen, die wir in den letzten Monaten gesehen haben, kann es keine mit Wilton Castle aufnehmen.“

Roger nickte und konnte den Stolz seines Großvaters nachvollziehen. Das Haus des Earl of Wiltshire war die größte Burganlage im Land, abgesehen von den königlichen Burgen. Das war einer der Gründe, warum sein Großvater so mächtig war.

Kurze Zeit später überquerte der Tross den Burggraben, ritt durch das große Torhaus, dessen Fallgatter hochgezogen war, und machte halt im äußeren Burghof. In diesem Teil der Burg befanden sich die Stallungen, die Speicher sowie die Gebäude der Arbeiter und Männer, die bei Gefahr die Wehranlagen zu verteidigen hatten. Der Burghof war groß genug, um zusätzliche Truppen unterzubringen, falls diese für die Verteidigung benötigt würden.

Während die Ritter von den Pferden stiegen, hielten Roger und sein Großvater auf die innere Wehrmauer zu, die ebenfalls aus Stein erbaut war. Ein weiteres Tor mit eisernem Fallgatter trennte den großen Burghof von dem kleineren Innenhof. Die inneren Mauern wurden von vier rechteckigen Türmen begrenzt.

„Willkommen daheim, Mylord“, riefen die wachhabenden Ritter, sowie der Earl und sein Enkel das Tor passierten und den Innenhof erreichten. Dieser Hof umgab den Wohnturm, ein rechteckig angelegtes Gebäude aus Stein, das vier Stockwerke hoch war und vier kleinere Türme besaß, die das Hauptgebäude um zwei weitere Stockwerke überragten.

Pferdeknechte eilten herbei und nahmen sich der Reittiere an, während die beiden Männer die steile Steintreppe erklommen, die zum Eingang des Wohnturms führte.

Das erste Stockwerk bestand aus Lagerräumen, das zweite aus Räumen, in denen die Ritter lebten, und im dritten war die Große Halle. Roger und sein Großvater nahmen die schmalen Stufen und betraten den Saal, der den Mittelpunkt des Lebens auf der Burg bildete.

Der Raum war nun leer, und kein Feuer brannte in dem riesigen Kamin, der in die gegenüberliegende Wand eingelassen war. Die drei anderen Wände zierten große Wandbehänge, die die Kälte und Feuchtigkeit im Mauerwerk abhalten sollten. Den Boden bedeckten Binsen und Kräuter. Zwei kunstvoll geschnitzte Lehnstühle standen vor dem Kamin; davor hatte es sich ein Hund bequem gemacht und schlief.

„Gawain!“, rief Roger, worauf der Hund sogleich den Kopf hob. „Ich bin’s, Bursche! Ich bin wieder da.“

Sowie der Hund die vertraute Stimme vernahm, sprang er auf und lief aufgeregt bellend auf seinen Herrn zu. Roger ging in die Hocke und hätte bei der stürmischen Begrüßung des Tieres beinahe das Gleichgewicht verloren. Er lachte und versuchte, den Hund zu streicheln, aber Gawain war viel zu aufgeregt, um still stehen zu bleiben. Unaufhörlich tänzelte er um sein Herrchen herum und bellte freudig.

„Kaum zu glauben, dass er schon elf Jahre alt ist“, merkte der Earl bei dem Lärm nachsichtig an.

Roger lachte. „Er ist wie Ihr, Sir. Er lässt sich sein Alter nicht anmerken.“

Schließlich beruhigte sich das Tier, sodass Roger es streicheln konnte. „Tut mir leid, dass ich dich so lange allein gelassen habe“, sagte er zu dem schwarz-weißen Mischling, der ihn mit seinen braunen Augen ergeben ansah. „Aber du bist zu alt für solche Reisen. Da könntest du nicht mehr mithalten, Bursche.“

„Umso besser, dass er nicht mitkommt“, sagte der Earl. „Ich kann mir schon lebhaft vorstellen, was meine Lehnsmänner denken würden, wenn sie sähen, dass mein Enkel einen Mischling mit eingerissenem Ohr hat.“

„Er ist der beste Hund der Welt“, erwiderte Roger ruhig.

„Er ist ein trefflicher Gefährte“, räumte der Earl ein. „Und dir sicherlich zugetan.“

„Und er weiß, wer zu ihm steht.“ Roger stand auf und nahm den Helm ab, unter dem sein dunkelblondes Haar zum Vorschein kam. „Noch zwei Stunden bis zur Abendmahlzeit. Möchtet Ihr etwas Wein trinken, Großvater?“

„Das hört sich verlockend an. Meine armen alten Knochen sind von den vielen Stunden im Sattel arg in Mitleidenschaft gezogen worden.“

Die beiden Männer begaben sich zu den Lehnstühlen vor dem kalten Kamin. Die Läden an den hohen, schmalen Fenstern waren offen, um die Nachmittagssonne in den Saal zu lassen. Die Tür zur Halle öffnete sich, und zwei Pagen traten ein.

„Kommt her, ihr Burschen, und helft uns beim Ablegen des Harnischs“, rief der Earl, worauf die Jungen sogleich herbeieilten. Beide Männer blieben geduldig stehen, während die Pagen die Befestigungen der Brustharnische lösten und diese den Rittern über den Kopf streiften. Der Brustharnisch bestand aus Leder, auf dem unzählige, ineinandergreifende Metallringe befestigt waren, die den Ritter schützen sollten. Im Augenblick trugen weder der Earl noch Roger die schweren, langärmeligen Kettenhemden und Kettenhosen, die zu einer vollständigen Rüstung gehörten.

Als die Männer von dem Gewicht ihres Harnischs befreit waren und nur noch die Tuniken trugen, machten sie es sich mit einem Kelch Wein in den Lehnstühlen bequem und genossen die Behaglichkeit der heimischen Halle. Als die Tür erneut aufschwang, betrat den Saal ein älterer Mann.

„Sir Simon!“, rief der Earl leutselig. „Kommt her und erzählt uns, was sich während unserer Abwesenheit ereignet hat.“

Sir Simon Everard, einstmals Knappe des Earls und mittlerweile Verwalter auf Wilton Castle, durchquerte die Halle mit einem Lächeln auf den Lippen. „Mylord, wie ich mich freue, Euch wohlbehalten wieder in Wilton begrüßen zu können.“

„Habt Dank. Es ist gut, wieder daheim zu sein.“

Der Verwalter wandte sich Roger zu. „Es freut mich auch, Euch zu sehen, Mylord.“

„Wie geht es Euch, Sir Simon?“, erwiderte Roger. „Wie steht es um Eure Gelenkschmerzen?“

„Ich kann nicht klagen, Mylord. Die Gelenke, nun ja, Gott hat entschieden, mir diese Bürde aufzuerlegen, und damit muss ich leben.“

„Hat sich während meiner Abwesenheit irgendetwas ereignet, das ich wissen sollte?“, erkundigte sich der Earl.

„Euch erreichte ein Schreiben des Earl of Lincoln, Mylord. Es traf vor zwei Tagen ein. Da ich wusste, dass Ihr bald zurückkehren würdet, habe ich Euch die Botschaft nicht nachgeschickt. Soll ich das Schreiben holen?“

„Der Earl of Lincoln“, murmelte der Burgherr und warf einen Blick auf seinen Enkel. „Ich frage mich, worum es gehen mag.“

„Vermutlich um die Vermählung“, sagte Roger.

„Bringt mir den Brief, Sir Simon“, sprach der Earl.

„Ich bewahre ihn sicherheitshalber in meinem Gemach auf.“ Der Verwalter ging steif in Richtung eines der Türme.

„Die Vermählung muss bald stattfinden“, meinte der Earl. „Wir alle wollen das geregelt sehen, ehe die Kaiserin Mathilda und ihr Halbbruder Robert von Gloucester in England landen, um gegen König Stephen zu Felde zu ziehen.“

Roger war mit seinem Großvater ganz einer Meinung. Er gab ihm auch recht, dass die Ehe einen großen Glücksfall für die Familie darstellte, doch er machte sich ein wenig beschämt bewusst, dass ihm allein bei dem Gedanken an die Ehe unwohl wurde. Es behagte ihm mehr, über die politische Lage des Reichs zu sprechen. „Falls die Kaiserin und ihre Truppen überhaupt landen können“, gab er zu bedenken. „Stephen lässt sämtliche großen Häfen überwachen.“

„Englands Küste ist zu lang, um alle Orte im Auge zu behalten, die sich für eine Landung eignen“, erwiderte der Earl scharfsichtig. „Sie werden die Überfahrt von der Normandie machen und an einer Stelle an Land gehen, die Stephen nicht im Blick hat. Sodann werden sie auf Bristol zuhalten, wo sich Roberts Festung befindet. Von dort aus werden sie diejenigen zu sich rufen, von denen sie sich Unterstützung erhoffen.“

„Und wer wird diesem Ruf Folge leisten, Sir?“

„Brian fitz Count wird sich ihnen vermutlich anschließen, aber der Großteil der Earls wird zunächst abwarten. Ein Mann wie Rannulf von Chester etwa wird in Ruhe abwägen wollen, welche Seite ihm die meisten Vorteile verschafft. Jemand wie er besitzt kein Ehrgefühl. Sie alle haben einen Eid geleistet, Stephen zu unterstützen, und jetzt denkt jeder nur an sich selbst.“

Habt Ihr das nicht auch getan? dachte Roger sofort. Immerhin habt Ihr den König genötigt, mir die Erbin von Lincoln zur Frau zu geben, und ihm im Gegenzug Eure Treue zugesichert.

Doch derlei Gedanken hätte Roger niemals in Gegenwart seines Großvaters ausgesprochen.

„Rannulf von Chester“, fuhr der Earl schon fort, „nennt bereits gut ein Viertel des Reichs sein Eigen, und er wird bestrebt sein, den Besitz zu vergrößern. Er wird außer sich sein, sobald er erfährt, dass Stephen uns die Grafschaft Lincoln zuspielt. Denn Rannulf dürfte gehofft haben, dass der Grafentitel von Lincoln an seinen Halbbruder William von Roumare fällt. Immerhin besitzt William eine Anzahl von Burgen in Lincolnshire.“

„Ihr unterstützt Stephen“, sprach Roger, „da Ihr in ihm den geeignetsten König für England seht. Ist es nicht so, Großvater?“

„Gewiss doch“, antwortete der Earl. „Stephen ist ein Mann und ein Krieger und genau wie Mathilda ein direkter Nachfahre von Wilhelm dem Eroberer. Mathilda mag die Tochter des vorherigen Königs sein, Stephen hingegen nur dessen Neffe, aber dennoch halte ich Stephen für den besten Herrscher für England. Die Kaiserin hat nie in unserem Land gelebt. Ihr Vater hat sie als junges Mädchen mit dem Salier Heinrich V. aus deutschen Landen vermählt, und seit dem Tode des Kaisers lebt sie in der Normandie. Ihr zweiter Gemahl, Geoffrey Plantagenet, kämpft um die Vorherrschaft in der Normandie – er bekundet kaum Interesse an England. Es ist Mathilda, die England für ihren Sohn beansprucht.“

In diesem Augenblick betrat Sir Simon über die Wendeltreppe des Eckturms wieder die Halle und eilte zu seinem Herrn, eine Pergamentrolle in Händen haltend. Der Earl bedeutete ihm, das Schreiben Roger zu geben.

„Meinen alten Augen fällt das Lesen schwer“, sagte der Burgherr. „Lies mir vor, mein Junge.“

Roger las laut vor: „Der Earl of Lincoln übersendet dem Earl of Wiltshire seine Grüße. Ich bringe Euch schlechte Nachrichten. Meine Tochter Sybilla ist am dritten Juli dieses Jahres heim zu Gott gegangen.“

Beim Allmächtigen, sie ist tot! Erschrocken schaute Roger von dem Schreiben auf und sah seinen Großvater an.

Die Miene des Earls hatte sich verfinstert. „Hölle und Verdammnis“, zischte er und schlug mit der Faust auf die Stuhllehne. „Das macht all unsere Pläne zunichte.“

Roger schüttelte ungläubig den Kopf und wandte sich dann wieder dem Pergament zu. „Es geht noch weiter“, sprach er und begann wieder zu lesen. „Glücklicherweise wird dieser tragische Umstand uns nicht zwingen, von unseren Plänen Abstand zu nehmen. Meine andere Tochter Eleanor wird Sybillas Platz einnehmen. Die Vermählung zwischen dem Hause Lincoln und dem Hause Wiltshire wird wie geplant vonstattengehen.“

Roger schaute erneut verdutzt auf. „Eine andere Tochter? Ich dachte, der Earl hätte nur eine.“

Sein Großvater hob die buschigen Brauen. „Das dachte ich auch. Ich frage mich, wo diese Eleanor plötzlich herkommt.“

Roger verspürte ein wachsendes Unbehagen. Irgendetwas war hier seltsam. „Denkt Ihr, mit dieser Frau stimmt etwas nicht? Hat man sie womöglich aus einem ganz bestimmten Grund verborgen gehalten?“

„Das vermag ich nicht zu sagen“, meinte der Earl nachdenklich. „Aber ich bin wahrlich erleichtert, dass sie noch eine Tochter haben! Diese Vermählung ist ein Glücksfall für unsere Familie. Es wäre zu schade, wenn die Ehe nicht zustande käme.“

Doch Roger war im Augenblick mit seinen Gedanken woanders. „Ich möchte keine Frau ehelichen, die nicht richtig im Kopf ist! Oder gar körperlich verunstaltet!“

„Es ist mir gleich, was mit diesem Mädchen vielleicht nicht stimmt“, merkte der Earl spitz an. „Du wirst sie heiraten, da du es deiner Familie schuldig bist. Alles, was du zu tun hast, ist, Nachkommen zu zeugen. Du darfst deine anderen Interessen getrost verfolgen – so hätte ich beispielsweise nichts dagegen, wenn du dich weiterhin mit der Witwe des Silberschmieds in der Stadt träfst. Aber du hast die Erbin der Grafschaft Lincoln zur Frau zu nehmen.“

„Woher wisst Ihr von mir und Tordis?“, fragte Roger erstaunt und ein wenig schuldbewusst. „Ich habe Euch nie von ihr erzählt.“

„Ich weiß alles“, erwiderte der Earl selbstzufrieden. „Wissen ist Macht, mein Junge. Auch das solltest du dir hinter die Ohren schreiben. Ich werde Lord Raoul unverzüglich antworten und ihm mitteilen, dass wir bereit sind, seine andere Tochter anzunehmen“, fuhr er fort. „Ich werde ihm zudem vorschlagen, dass die Vermählung so rasch wie möglich geschlossen werden sollte.“ Der Earl erschauerte. „Gott, nach all unseren sorgsam zurechtgelegten Plänen wäre das ganze Unterfangen womöglich gescheitert, weil das Mädchen gestorben ist. Was für ein Glück, dass Lord Raoul noch diese andere Tochter hat.“

Roger fiel es schwer, die Begeisterung seines Großvaters zu teilen. Die Vorstellung, ein Mädchen heiraten zu müssen, mit dem womöglich etwas nicht ganz stimmte, rief Abscheu in ihm hervor. „Ja“, sagte er düster. „Was für ein Glück.“

„Trink einen Schluck, mein Junge, und schau nicht so entmutigt drein“, empfahl ihm sein Großvater. „Genau wie du habe auch ich einst geheiratet, um dem Erhalt der Familie zu dienen, und diese Ehe hat sich als sehr glücklich erwiesen.“

„Wie verhielt es sich bei meinen Eltern?“, erkundigte sich Roger. „Hat auch mein Vater zum Wohl der Familie geheiratet?“

„Dein Vater hat sich, sooft es ihm nur möglich war, gegen mich gestellt. Ich möchte nicht über ihn sprechen. Der Sohn meines Herzens bist du, Roger. Du bist mein Nachkomme, der unseren ehrwürdigen Namen in die Zukunft trägt.“ Der Earl hob seinen Weinkelch. „Gott segne dich, mein Junge.“

Das war die gewohnte abweisende Antwort, die Lord William seinem Enkel gab, sobald Roger es wagte, das Gespräch auf seinen Vater zu lenken. Allmählich wusste Roger, dass es klüger war, das Thema nicht weiter zu vertiefen.

4. KAPITEL

Das Erste, was Lady Alice unternahm, um ihre Tochter wieder ins normale Leben zu führen, war, ihr ein Bad zu ermöglichen und ihr die Haare zu waschen. Nell war in ihrem ganzen Leben noch nie so verlegen gewesen. Im Kloster hatte es Badelaken gegeben, die den Zuber nach allen Seiten wie ein Zelt überspannten; die Badende schaute nur mit dem Kopf aus dem Laken heraus und brauchte sich auf diese Weise ihrer eigenen Blöße nicht zu schämen. Lady Alice hatte für ein solches Badelaken nur Verachtung übrig. Sie hieß die Bediensteten, den großen hölzernen Zuber vor das Fenster zu stellen, durch das die Sonne schien, und machte sich daran, ihre Tochter gründlich zu waschen. Dabei hatte man den Eindruck, als versuche die Countess, ihrer Tochter all die Jahre des Klosterlebens gleichsam vom Körper zu schrubben. Dreimal musste Nell sich die Haare waschen und spülen lassen, ehe Lady Alice zufrieden war.

Autor

Joan Wolf
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