NOX Band 4

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DER LIEBE GEWEIHT von BEVERLY BARTON

Was will Judah hier? Ungläubig steht Mercy Raintree dem mächtigen Mann aus dem Ansara-Clan nach Jahren unerwartet gegenüber. Nie wieder darf sie ihrem Verlangen nach ihm wie in jener Nacht nachgeben! Schließlich ist er ihr Erzfeind – und hat mit ihr eine kleine Tochter, von der er nichts weiß. Doch die Magie der Liebe folgt ihren eigenen Gesetzen …

SAG MIR DIE WAHRHEIT, JOHN von VICTORIA PADE

Seit der Rancher John Jarvis ihr neuer Nachbar ist, passieren seltsame Dinge auf Paiges Farm. Ihre Scheune brennt, ihre Tiere erkranken – im Dorf gerät John unter Verdacht. Daran kann Paige nicht glauben, schließlich fühlt sich jede seiner sanften Berührungen so gut, so geheimnisvoll heilend an. Doch wer steckt sonst hinter den Anschlägen, wenn nicht er?


  • Erscheinungstag 31.08.2024
  • ISBN / Artikelnummer 9783751529082
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Beverly Barton, Victoria Pade

NOX BAND 4

PROLOG

Am Sonntag wartete Cael Ansara darauf, dass der Hohe Rat sich versammelte. Es war eine Woche bis zur Sommersonnenwende. Cael allein wusste, wie bedeutend dieser Tag für die Ansara und die Zukunft seines Volkes wurde. Vor zweihundert Jahren hatten sie die Schlacht mit ihrem erbitterten Feind verloren. Dabei waren sie so gut wie ausgelöscht worden. Die wenigen Überlebenden des Clans hatten auf der Insel Terrebonne in der Karibik Zuflucht gefunden. Hier vermehrten sie mit jeder Generation sowohl ihre Anzahl als auch ihre Macht. Sie waren jetzt stärker als je zuvor.

Ein Mitglied des Hohen Rates nach dem anderen fand sich ein. Sie unterhielten sich über die verschiedenen, breit gefächerten Geschäfte der Familie, während sie darauf warteten, dass der Dranir eintraf. Judah Ansara, der allmächtige Herrscher, der respektiert und gefürchtet wurde, hatte diesen Titel von seinem Vater geerbt. Von ihrem Vater.

Was würde der Rat sagen, wenn sie erfuhren, dass der Dranir der Ansara tot war? Cael wusste: Sobald die Nachricht von Judahs Ermordung sie erreichte, musste er schnell handeln. Natürlich würde er so tun, als wäre er genau so geschockt über den brutalen Mord an seinem jüngeren Halbbruder.

Ich werde sogar in Judahs Namen Rache schwören. Ich werde versprechen, seinen Mörder zu jagen und hinzurichten.

Nachdem er sein Leben lang der Bastard, der uneheliche Sohn, gewesen war, würde Cael endlich seinen Platz als Dranir einnehmen. War er nicht der älteste Sohn? War es nicht sein Schicksal, jeden einzelnen Raintree zu vernichten?

Judah behauptete, dass die Zeit nicht reif war für einen Angriff. Aber Cael hatte seine Intrige bereits geschmiedet. Erst würde der grausamste seiner Krieger – Stein – Judah umbringen. Dann würde Greynell einen tödlichen Schlag mitten im Herzen der Raintree ausführen, in ihrer Heimstätte, seit Generationen das Heiligtum der Familie. Sanctuary. Danach würde Tabby die Seherin der Raintree auslöschen, um zu verhindern, dass Echo sah, was dem Clan bevorstand.

Unglücklicherweise war nur ein Mitglied des Rates auf Caels Seite. Alexandria, die schönste und mächtigste Frau in der königlichen Familie und dritte in der Thronfolge, war seine Cousine ersten Grades. Sie war Judah treu ergeben gewesen, aber sie hatte die Seiten gewechselt, als Cael ihr einen Platz an seiner Seite versprochen hatte. Was machte es schon, dass er nicht die Absicht hatte, mit irgendjemandem zu teilen? Wenn er erst einmal über die Ansara herrschte, würde es niemand wagen, sich ihm entgegenzustellen.

„Es sieht Judah nicht ähnlich, zu spät zu kommen“, sagte Alexandria gerade.

„Ich bin mir sicher, dass es einen guten Grund gibt.“ Claude Ansara war seit Kindertagen Judahs engster Vertrauter. Er war Zweiter in der Thronfolge, direkt nach Cael.

Gemurmel erhob sich unter den Wartenden. Der Dranir war noch nie zu spät zu einer Ratsversammlung gekommen.

Warum hat uns noch niemand von Judahs Tod in Kenntnis gesetzt?

Plötzlich sprangen die Türen auf, als ob ein mächtiger Wind sie aus den goldenen Angeln gerissen hätte. Eine dunkle, zähnefletschende Kreatur mit blutbeflecktem Hemd stürmte in ihre Mitte und durchsuchte mit eiskalten grauen Augen den Raum. Judah Ansara knurrte wie ein wildes Tier. Die verglaste Wand, die aufs Wasser hinauszeigte, klirrte unter seiner Wut.

Cael spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Sein Herzschlag setzte einen schreckerfüllten Moment lang aus. Judah hatte überlebt. Und das bedeutete, dass seine Macht sehr viel größer war, als Cael angenommen hatte. Stein musste tot sein. Hatte er lange genug gelebt, um ihn zu verraten?

„Lord Judah.“ Alexandria eilte an seine Seite. „Was ist geschehen?“

Judah sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Jemand aus den Reihen meines eigenen Clans wünscht mir den Tod.“ Seine Stimme bebte vor Wut. „Der Krieger Stein hat versucht, mich im Schlaf zu ermorden. Er kam durch einen Geheimgang, und nur Ihr, der Hohe Rat, kennt diesen Gang.“

Cael wurde klar, dass er entrüstet reagieren musste. „Willst du andeuten, dass jemand aus dem Rat …?“

„Ich deute nichts an.“ Judah fixierte Cael mit einem tödlichen Blick. „Aber sei dir sicher, Bruder, dass ich die Identität der Person aufdecken werde, die Stein vorgeschickt hat. Und wenn es an der Zeit ist, werde ich mich rächen.“ Als Judah sich die Schulter rieb, erschien ein frischer Fleck auf seinem Hemd.

„Mein Gott, du blutest immer noch.“ Claude ging zu ihm.

„Einige Stichwunden. Mehr nicht“, sagte Judah. „Nur eine Handvoll Ansara-Krieger sind in der Schlacht ebenso gut wie ich. Steins Fähigkeiten kamen meinen nahe.“

„Niemand hat Fähigkeiten, die deinen gleichen.“ Ratsherr Bartholomew und die anderen Mitglieder des Rates scharten sich um Judah. „Du bist auf jede Art überlegen.“

„Wenn dein Kampf im Morgengrauen stattgefunden hat, warum bist du dann immer noch blutverschmiert?“, fragte Alexandria. „Hättest du dich vor dem Ratstreffen nicht waschen können?“

Judah lachte, heiser und freudlos. „Ein Anruf aus den Vereinigten Staaten – aus North Carolina – hat meine Pläne unterbrochen. Ich musste danach unverzüglich mit Varian sprechen. Er führt die Einheit, die das Heiligtum der Raintree observiert.“

Die Mitglieder des Rates murmelten laut. „Sagt uns, Mylord, hatte der Anruf mit den Raintree zu tun?“

Judah richtete seinen Blick direkt auf Cael. „Dein Protegé Greynell ist in North Carolina.“

„Ich schwöre dir …“

„Schwöre nicht auf eine Lüge!“

Cael hasste sich dafür, dass er unter der Wut seines Bruders zusammenzuckte. Er sah Judah direkt in die Augen. Er war der ältere Sohn. Er hatte es verdient, über die Ansara zu herrschen. Egal, was Judah sagte oder tat: Er konnte das Unvermeidliche nicht aufhalten. Jetzt nicht mehr.

„Wusstest du, dass Greynell nach North Carolina gegangen ist?“

„Ich wusste es. Aber ich habe ihn nicht dorthin geschickt. Er hat aus eigenem Entschluss gehandelt.“

„Und du weißt auch, was seine Mission ist?“

Cael sehnte sich danach, seinen Bruder hier und jetzt vernichten zu können. Aber wenn Judah starb, durfte sein Blut nicht an seinen Händen kleben. „Ja, Mylord, ich weiß, dass einige der jungen Krieger nicht länger warten wollen, den Raintree den Krieg zu erklären. Sie handeln bereits, statt darauf zu warten, dass du die Zeit für reif befindest.“

Judah fluchte. Die Fenster zitterten und sprangen. Der marmorne Boden unter ihren Füßen bebte.

Claude legte eine Hand auf Judahs Schulter und redete ihm leise zu. Die zerbrochenen Fensterscheiben klirrten laut, als sie aus dem Rahmen fielen und auf dem Boden zerbarsten. „Greynells Mission ist es, in das Heiligtum der Raintree einzudringen. Sanctuary. Wer ist sein Ziel?“, verlangte Judah zu wissen.

Sollte er jetzt lügen? Cael konnte fühlen, wie Judah in seine Gedanken eindrang und wie er versuchte, den Schutzwall zu durchbrechen, den Cael nur mit viel Kraft aufrechterhalten konnte. „Mercy Raintree.“ Cael sprach den Namen mit Ehrfurcht aus. Sie war der derzeit mächtigste Empath der Welt. Niemand konnte sich wie sie in die Gefühle und Gedanken anderer hineinversetzen.

„Mercy Raintree“, sagte Judah mit eiskalter Zurückhaltung, „gehört mir. Mir allein gebührt es, sie zu töten.“

1. KAPITEL

Das Haupthaus lag inmitten eines Waldes aus uralten Bäumen. Das erste Haus war vor zweihundert Jahren erbaut worden, und der ursprünglichen Struktur waren seitdem Flügel hinzugefügt worden. Zwei Dutzend kleinere Cottages standen wie hingetupft in der Landschaft. Einige wurden von Verwandten bewohnt. Viele standen die meiste Zeit leer.

Wie jeden Morgen machte Sidonia in der großen Küche des Haupthauses frische Brötchen. Als Michael Raintree und seine geliebte Frau Catherine vor siebzehn Jahren brutal ermordet worden waren, war es ihr zugefallen, sich um die drei königlichen Nachkommen zu kümmern: Dante, Gideon und Mercy.

Dante lebte in Reno, Nevada. Er führte dort sein Spielkasino und war immer noch ledig, obwohl er genau wusste, dass man von ihm einen Erben erwartete. Als Dranir herrschte er über den Clan der Raintree und kümmerte sich um ihre Finanzen. Sein jüngerer Bruder Gideon lebte in Wilmington und arbeitete dort als Detective bei der Polizei. Auch Gideon war noch ledig, und er hatte klargemacht, dass er nicht vorhatte, je zu heiraten und ein Kind in die Welt zu setzen. Mercy blieb als Hüterin auf Sanctuary. Sie war als mächtige Empathin geboren worden, sie beschützte die Familie und alles, was mit den Raintree zu tun hatte.

Vor langer Zeit hatte eine Triade königlicher Raintree einen Zauber wie einen schützenden Mantel über das Land gelegt. Mercy und ihre Brüder erneuerten diesen uralten Schutz jedes Jahr am Tag des Frühlingsanfangs. Nur jemand, der den königlichen Raintree ebenbürtig oder überlegen war, konnte diese unsichtbare Barriere durchbrechen, die das Heiligtum vor Fremden schützte.

Sidonia tat so, als würde sie das kleine Kind nicht bemerken, das auf Zehenspitzen in die Küche geschlichen kam. Prinzessin Eve Raintree hatte Sidonia bereits das Herz gestohlen, als sie sie das erste Mal angesehen hatte. Sie hatte das goldene Haar und die feinen Gesichtszüge ihrer Mutter – und die bezaubernden grünen Raintree-Augen.

Sidonia sprach nie über das andere kleine, aber unendlich wichtige Merkmal, das das Kind seit seiner Geburt besaß. Ein Mal, das nur sie und Mercy kannten. Es machte Eve auf eine Art besonders, die sogar vor Dante und Gideon geheim gehalten werden musste.

Plötzlich fiel Sidonia das Nudelholz aus der Hand, tanzte durch die Luft und landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Küchenboden. Sidonia gluckste, drehte sich um und presste sich die Hand aufs Herz. „Du hast mich halb zu Tode erschreckt, kleine Prinzessin.“

Eve kicherte. „Das habe ich gerade erst gelernt. Mom sagt, es heißt Le-vi-ta-tion. Ich werde bestimmt ziemlich gut darin, meinst du nicht?“

Sidonia tippte Eve auf die Nase. „Ich glaube, du wirst ziemlich gut in vielen Dingen sein. Aber du musst lernen, deine Gaben zu kontrollieren, und sie immer nur mit Weisheit einsetzen.“

„Das sagt Mom auch.“

„Deine Mutter ist eine sehr kluge Frau.“ Ja, Mercy war klug. Sie konnte die Schmerzen eines anderen spüren, sie ihm nehmen und heilen. Aber der Preis, den sie dafür zahlte, waren ihre Schmerzen, die sie oft für Stunden, manchmal Tage schwächten.

„Wo ist Mom? Frühstückt sie heute Morgen nicht mit mir?“

„Sie ist zum Amadahy Pointe gegangen, um zu meditieren.“

„Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“, fragte Eve mit einer Weisheit, für die sie noch viel zu jung war.

Sidonia zögerte, doch da sie wusste, dass Eve auch die Fähigkeit hatte, Gedanken zu lesen, antwortete sie. „Soweit ich weiß, ist alles in Ordnung. Mercy hatte nur das Gefühl, dass ihr eine Meditation guttäte.“

„Darf ich ein Glas Apfelsaft haben?“ Eve sah zur Kühlschranktür.

„Natürlich.“

Die Kühlschranktür öffnete sich plötzlich, und der Glaskrug mit Saft schwebte durch die Küche. Sidonia griff nach dem Krug und stellte ihn auf den Tresen. „Du bist eine kleine Angeberin.“

„Mom hat gesagt, Übung macht den Meister und wenn ich meine Gaben nicht trainiere, werde ich sie nie beherrschen.“ Eve seufzte. Das Kind hatte einen Hang zum Melodram. „Ich glaube, sie macht sich Sorgen um mich. Sie glaubt, ich habe unwahrscheinlich viel Macht.“

„Wir machen uns beide Sorgen. Deshalb hat deine Mom dir gesagt, dass du üben musst. Ihr und ihren Brüdern ging es nicht anders. Sie mussten lernen, mit ihren Gaben umzugehen.“

„Aber ich bin anders. Ich bin nicht wie Mom, Onkel Dante und Onkel Gideon.“

Sidonia atmete ein. War es möglich, dass das Kind das Geheimnis seiner Empfängnis kannte? Sie schüttelte den Kopf. Eve war vielleicht viel talentierter als jedes andere Raintree-Kind, aber sie war immer noch ein kleines Mädchen. Sie konnte vielleicht Gedanken lesen, aber sie verstand nicht immer alles, was sie hörte. „Natürlich bist du anders. Du bist ein Mitglied der königlichen Familie! Dein Onkel ist unser Dranir, und deine Mutter die mächtigste Empathin der Welt.“

Eve schüttelte den Kopf. „Ich bin mehr als nur eine Raintree.“

Ein Schauer aus Angst durchfuhr Sidonia. Das Kind spürte die Wahrheit, auch wenn es noch nicht wusste, was die Wahrheit war. Sidonia nahm ein Glas aus dem Schrank und schenkte Apfelsaft ein. „Du bist etwas ganz Besonderes, mein Schatz.“ Und du wirst nie erfahren, wie besonders du bist, wenn es deiner Mutter und mir gelingt, dein Geheimnis zu bewahren.

Mercy Raintree saß im Gras. Immer wenn sie etwas beschäftigte, meditierte sie auf dem Amadahy Pointe. Mit geschlossenen Augen und offener Seele, empfangsbereit für die positive Energie, die sie aus diesem heiligen Ort ziehen konnte, konzentrierte sie sich auf das, was ihr am wichtigsten war: ihre Familie.

Sie spürte die drohende Gefahr. Aber von wem oder was sie ausging, wusste sie nicht. Dante und Gideon waren in Schwierigkeiten. Vielleicht hatten sie einfach nur Ärger in ihrem jeweiligen Beruf? Oder persönliche Probleme?

Sie wusste aus Erfahrung, dass ihre Brüder nach Hause kamen, wenn sie es brauchten. Keine lebende Kreatur konnte die Grenzen der Heimstatt der Raintrees und ihres Schutzzaubers überschreiten, ohne dass der Hüter davon Kenntnis hatte. Und sie spürte eine anhaltende Unruhe, die nichts mit ihren Brüdern oder irgendeinem anderen Mitglied der Raintree zu tun hatte. Eine Sehnsucht, die sie im Zaum halten musste, weil sie war, wer sie war, wegen ihrer Pflicht der Familie gegenüber. Immer wenn diese seltsamen Gefühle sie aus dem Tritt brachten, stieg sie auf den Berg und meditierte. Aber heute blieb die Unsicherheit.

War das eine Warnung?

Vor sieben Jahren hatte sie zugelassen, dass dieser Hunger sie in Gefahr brachte. Was folgte, war eine Begegnung, die ihr Leben verändert hatte. Sie wollte – konnte – sich der Angst nicht ergeben. Und bis auf die kurzen Besuche bei Gideon oder Dante würde sie den Schutz von Sanctuary nicht mehr verlassen. Nie wieder.

Der Privatjet der Ansara war vor einer halben Stunde in North Carolina gelandet. Ein Mietwagen stand bereits für Judah bereit. Er hatte gewusst, dass sein leichtsinniger Cousin Greynell ein Sicherheitsrisiko war, aber er war sich nicht im Klaren darüber gewesen, wie viel Macht Cael über den Jungen hatte.

Judah hatte Cael bisher nur aus einem einzigen Grund zu keinem Duell auf Leben und Tod herausgefordert: weil sie Brüder waren. Aber wenn er sich erst um Greynell kümmerte, müsste Judah seinen Bruder besiegen. Für Judah gab es wenig Zweifel daran, wer den Mordanschlag an diesem Morgen zu verantworten hatte.

Er fuhr Richtung Südwesten, auf die östlichen Ausläufer der Great Smoky Mountains zu. Richtung Sanctuary.

Von Kindesbeinen an hatte Judah den mächtigen Feind studiert. Er wusste, dass es sein Schicksal war, eines Tages Rache zu nehmen und jedes einzelne Mitglied der Raintree auszulöschen. Aber die Zeit war noch nicht gekommen. Wenn sie sich zu früh gegen die Raintree auflehnten, waren sie zum Versagen verdammt.

Es war bedauernswert, dass Mercy Raintree gemeinsam mit ihren Brüdern und allen anderen Mitgliedern ihres Clans sterben musste. Aber trotz aller Vorteile, die ihm daraus erwachsen könnten, sie zu seiner Sklavin zu machen – er konnte nicht zulassen, dass auch nur eine Raintree überlebte. Nicht einmal Mercy.

Jedes Mitglied der Ansara wusste, dass Mercy Judah gehörte. Er hatte ein Anrecht auf sie, genau wie auf Dante Raintree. Es war Judahs Vorrecht, ihre Gaben in sich aufzunehmen, wenn sie starben. Und der andere Bruder, Gideon, gehörte Claude. Cael war rasend vor Wut gewesen, als Judah Claude das Recht eingeräumt hatte, den dritten königlichen Raintree umzubringen.

Cael war gefährlich geworden. Nicht nur für Judah, sondern für die Ansara. Er konnte es nicht länger vor sich herschieben.

Der Anruf kam um neunzehn Uhr zweiundvierzig am Sonntagabend. Mercy, Eve und Sidonia saßen auf der Terrasse hinter dem Haus. Sidonia wiegte sich in ihrem Schaukelstuhl, und Eve saß bei Mercy. Am westlichen Horizont schien nur noch eine dünne Linie orangefarbenen Abendlichts. Grillen zirpten, während sich die Nacht über Sanctuary senkte.

Mercy war den ganzen Tag unruhig gewesen. Und jetzt, nach dem Anruf, wusste sie, warum sie sich Sorgen gemacht hatte. Sie verließ Sanctuary nur selten für längere Zeit. Während der Jahre hatte ihre empathische Gabe sich verstärkt. Einfach nur die Straße in Waynesville entlangzugehen erwies sich oft schon als Herausforderung. Die Gedanken und Gefühle anderer Menschen bombardierten sie bereits, wenn sie ihnen nur in die Augen sah. Und Gott bewahre, dass jemand sie aus Versehen berührte. Jeder Schutzzauber, den sie verwandte, hatte seine Grenzen.

Mit achtzehn Jahren hatte sie die Berge verlassen, um aufs College zu gehen. Die Universität von Tennessee war aufregend gewesen, aber auch beängstigend. Mithilfe ihrer Familie – Dante hatte dafür gesorgt, dass mehrere Angehörige ihres Clans das gleiche College besuchten – hatte Mercy den Abschluss geschafft. Aber außerhalb der Grenzen des Heiligtums zu leben hatte ihr gezeigt, wie sehr sie auf den Schutz von Sanctuary angewiesen war. Ihre empathische Gabe war ebenso sehr ein Fluch wie ein Segen.

Dr. Huxley war ein Freund der Familie und wusste von Mercys Gaben. Er kannte aber auch den Preis, den Mercy zahlte, und rief nur in Notfällen an. Heute Nacht war so ein Fall. Es hatte einen Unfall gegeben – kaum eine Meile entfernt von der Grenze.

„Bist du sicher, dass ich Brenna nicht bitten soll, bei Eve zu bleiben, und mit dir kommen soll?“ Sidonia stand neben Mercys weißem Escalade, Eve auf dem Arm.

„Du machst dir zu viele Sorgen. Dr. Huxley ist mit der Polizei auf dem Weg. Ich werde nicht lange allein sein.“

„Übertreib es nicht. Du weißt, wie schwach …“

„Falls etwas passiert, wird Dr. Huxley mich nach Hause bringen.“ Mercy setzte sich hinter das Steuer ihres Geländewagens. Sie konzentrierte sich auf die Straße und drückte aufs Gaspedal. Wahrscheinlich lag das Leben der Unfallopfer jetzt in ihren Händen.

Weniger als fünf Minuten nachdem sie die Grenzen von Sanctuary verlassen hatte, fand sie die zwei Fahrzeuge, die frontal zusammengeprallt waren. Wie konnte so etwas passieren, bei klarer Sicht, noch dazu auf einem geraden Abschnitt des Highways? Hatte einer der Fahrer etwas getrunken? Mercy eilte auf das nächstgelegene Fahrzeug zu, ein roter Sportwagen, der fast zur Unkenntlichkeit zusammengedrückt worden war. Ohne den blutüberströmten Körper des Fahrers auch nur zu berühren, wusste sie, dass er tot war.

Aber sie konnte Leben im anderen Fahrzeug spüren. Als sie auf den rauchenden Ford zuging, hörte sie ein Stöhnen. Sie musste schnell arbeiten, um das Paar zu befreien. Der Fahrer, ein Mann mittleren Alters, war hinter dem Steuer gefangen. Die Frau neben ihm war es, die die Geräusche von sich gab. Ihr blasses Gesicht war mit Blut beschmiert.

Mercy fasste mit beiden Händen durch die zerbrochene Scheibe auf der Beifahrerseite und berührte die Frau. Die schrie verängstigt auf, wurde jedoch still, als Mercy begann, den Schmerz aus ihrem Körper zu ziehen. „Ich heiße Mercy. Ich bin hier, um dir zu helfen.“

Endlich gelang es der Frau zu sprechen. „Ich bin Darlene und – mein Gott, mein Mann. Keary …“

Mercy streckte eine Hand aus und strich über Kearys rechte Schulter. Sie spürte kein Leben. Der Mann war tot.

Sie wandte sich wieder Darlene zu. Sie musste verhindern, dass sie verblutete. Mercy konzentrierte sich darauf, das Leben der Frau zu erhalten. Sie zog den Schmerz und das Leiden in ihren Körper. Mercy zitterte unter den Qualen. Sie musste bei Bewusstsein bleiben. Sie benutzte ihre innere Kraft und die mächtigen Gaben der Raintree und begann, ihre Magie wirken zu lassen.

Judah hatte Greynells Fährte aufgenommen. Nachdem er seinen Mietwagen in einiger Entfernung abgestellt hatte, schlich Judah sich in den Wald.

Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, durchfuhr Judah ein heftiger Schlag. Versuchte Cael telepathisch, seine Aufmerksamkeit zu erregen? Nein, die Verbindung führte nicht zu Cael, sondern zu einer Frau. Sie befand sich irgendwo in der Nähe. Und sie war keine Ansara. Nein, diese unglaublich mächtige Magie kam von seiner Erzfeindin. Mercy Raintree.

Er spürte sie tief in sich, als wäre sie ein Teil von ihm. Sie war ihm nah, so nah wie Greynell. Und sie befand sich mitten in einem Heilungszauber. Warum sie sich für einen einfachen Sterblichen die Mühe machte, war ihm ein Rätsel. Sie verausgabte sich. Damit machte sie sich verwundbar für Greynell, ohne es zu ahnen. Deshalb hatte er den Unfall verursacht, der Mercy aus den sicheren Grenzen von Sanctuary gelockt hatte.

Er konnte die unglaublich starke Energie, die von Mercy ausging, nicht abschütteln. Kurze Blitze ihrer Sanftheit, ihrer Gutmütigkeit und ihrer liebevollen Berührungen bombardierten ihn. Sie war jetzt noch viel mächtiger als vor sieben Jahren. Mit dreiundzwanzig war sie kein Gegner für ihn gewesen. Heute war sie wahrscheinlich die einzige Frau auf Erden, die ihm nahezu ebenbürtig war.

Er verbarg sich in einem Unsichtbarkeitszauber, während er sich seinem Ziel näherte. Er sah, wie Pax Greynell ein dunkles Seil um Mercys schlanken Hals schlang. Sie war zu tief in ihrer Trance gewesen, um die Anwesenheit ihres Angreifers zu bemerken. Sie griff nach dem Seil und versuchte verzweifelt, es zu lockern.

Judah zog seinen Dolch aus der juwelenbesetzten Scheide in seiner Jacke. Er rannte los, um eine Frau zu retten, die ihm auf eine Art gehörte wie keine andere. Sie war sein. Nur er, Dranir Judah Ansara, hatte das Recht, sie zu töten.

Greynell wurde von seinem Angreifer genauso überrascht wie Mercy von ihm. Judah rammte ihm den Dolch tief in den Rücken. Mercy rang nach Luft, als das Seil sich endlich lockerte.

Judah verwandelte Greynells Leiche mithilfe eines Blitzes in einen Haufen Staub. Er hatte seine Mission erfüllt. Aber er zögerte – nur den Bruchteil einer Sekunde und lange genug, um zu spüren, dass Mercy in Schwierigkeiten war. Die Heilung, die sie an dem Unfallopfer vollzogen hatte, hatte sie ausgezehrt. Durch den Kampf mit Greynell war sie kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.

Judah handelte nur aus Instinkt. Er packte Mercy, ehe sie in Ohnmacht fallen konnte. Das laute Geheul mehrerer Sirenen erinnerte ihn daran, dass er fliehen musste, aber er konnte Mercy nicht zurücklassen. Wenn er es täte, könnte sie sterben.

Sidonia beschloss, Dante anzurufen, wenn Mercy nicht bis Mitternacht zurückkam. Dr. Huxley hatte sich vor zwei Stunden gemeldet und gefragt, ob Mercy gut nach Hause gekommen war.

„Machst du dir Sorgen um meine Mom?“

Sidonia drehte sich erschrocken zu der Sechsjährigen um. „Ich dachte, ich hätte dich vor Stunden zu Bett gebracht?“

„Ich habe gar nicht geschlafen.“

„Es ist nach elf. Zeit für alle braven kleinen Mädchen, tief und fest zu schlafen.“

„Ich bin kein braves Mädchen. Ich bin eine Raintree.“ Eve kniff ihre ausdrucksvollen grünen Augen zusammen. „Ich bin mehr als eine Raintree.“

Ein kalter Schauer lief Sidonia den Rücken hinunter. „Das sagtest du schon, und ich habe dir zugestimmt.“ Sie griff nach Eves Hand. „Komm mit. Deine Mutter wird mit uns beiden böse, wenn sie nach Hause kommt und du nicht im Bett bist.“

„Sie wird nach Hause kommen. Bald schon.“

„Und das weißt du, weil …?“

„Weil ich sie sehen kann. Sie schläft. Aber bald wacht sie auf.“

War Mercy so schwach, dass sie das Bewusstsein verloren hatte? „Kannst du mir sagen, wo ich sie finden kann?“

„Sie ist in ihrem Auto“, sagte Eve. „Es ist irgendwo geparkt, wo es dunkel ist. Aber es geht ihr gut. Er kümmert sich um sie. Er gibt ihr etwas von seiner Stärke.“

„Wer?“ Sidonias Stimme zitterte. „Wer ist bei deiner Mom?“

Eve lächelte. „Na ja, mein Daddy natürlich.“

Mercy Raintree war schöner als mit Anfang zwanzig. Und gefährlicher. Judah spürte ihre unglaubliche Macht. Sie war ihm jetzt ebenbürtig. Merkwürdig, dass er sie vor einem Mitglied seines Clans gerettet hatte; dass er ihr half, wieder zu Kräften zu kommen. Aber er würde sie umbringen – wenn die Zeit gekommen war. Aber er würde seiner schönen Mercy gegenüber Gnade zeigen und ihr Leben schnell und schmerzlos beenden.

Ihre Augenlider zuckten. Aber Judah wusste, dass sie erst in vielen Stunden wirklich aufwachen würde. Ihr Körper und ihr Geist konnten sich nicht so schnell erholen, nicht einmal mit der Stärke, die er ihr geschenkt hatte. Sie lag vollkommen hilflos in seinen Armen.

Wenn es Greynell gelungen wäre, sie umzubringen, wäre die Hölle los gewesen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Eine ganze Heerschar ihrer Stammesmitglieder wäre nach Hause gestürmt, allen voran Dante und Gideon. Das Risiko, dass der Tod der Raintree-Prinzessin ihren Stamm davon in Kenntnis setzte, dass die Ansara wiederauferstanden waren, war einfach zu hoch.

Judah sah zu Mercy hinab. Sie saß auf seinem Schoß und lehnte friedlich gegen ihn. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, ihre schlanken Arme hingen entspannt hinunter, ihre vollen, runden Brüste hoben und senkten sich mit jedem ihrer Atemzüge.

Er strich ihr mit dem Handrücken über die Wange und erinnerte sich an eine andere Zeit, an einen anderen Ort, als er diese Frau in den Armen gehalten hatte. Als er sie berührt hatte.

Er hatte gewusst, wer sie war, schon als sie sich das erste Mal begegnet waren. Dass sie eine Raintree-Prinzessin war, hatte seinen Appetit nur noch angeregt. Sie hatte keine Ahnung gehabt; und dass sie seinem Charme so einfach erlegen war, hatte ihn amüsiert. Sie hatten weniger als vierundzwanzig Stunden miteinander verbracht, und die Zeit war wie im Fieber vergangen. Egal, wie oft er sie genommen hatte – er hatte sie nur noch mehr gewollt.

„Du warst eine bezaubernde kleine Jungfrau“, erzählte Judah der schlafenden Mercy. „Süß. Sinnlich.“ Er strich über ihren schlanken Hals und erlaubte seinen Fingerspitzen, auf ihrem Puls zu verweilen.

Judah … Judah …

Er erstarrte, als er hörte, wie Mercy in Gedanken seinen Namen flüsterte. Er schloss seine Hand fester um ihren Hals, bemerkte plötzlich, was er tat, und lockerte den Griff. Irgendwie spürte sie seine Anwesenheit. Das war nicht gut. Wie sollte er ihr erklären, warum er hier war?

Er musste sie nach Hause und in Sicherheit bringen, ehe sie aufwachte. Wenn sie sich dort an irgendetwas erinnerte, glaubte sie vielleicht, von ihm geträumt zu haben. Träumte sie wohl manchmal von ihm?

Was kümmert mich das? Diese Frau bedeutet mir nichts.

Es war ein Zeitvertreib gewesen, der ihn viel zu lange verfolgt hatte. Er hatte nicht vergessen können, wie er aus tiefem Schlaf erwacht war und sie nicht mehr finden konnte. Er war wütend geworden, weil sie weggerannt war, und gleichzeitig neugierig, warum sie das getan hatte. Aber sein gesunder Menschenverstand hatte ihn davon abgehalten, ihr zu folgen. Viele Monate danach hatte er sich noch gefragt, ob sie gemerkt hatte, wer er war. Ihr Todfeind. Ob sie geflohen war, um ihre Brüder vor der Existenz eines mächtigen neuen Dranir der Ansara zu warnen? Aber weder Dante noch Gideon hatten ihn aufgespürt und Rache dafür genommen, dass er ihrer Schwester die Unschuld geraubt hatte.

Judah setzte Mercy vorsichtig auf den Beifahrersitz. Er stellte ihre Sitzlehne zurück, bis sie halb lag, und schloss den Sicherheitsgurt. Sie seufzte. Die Muskeln in seinem Bauch zogen sich schmerzhaft zusammen. Er hasste es, dass er sich nach sieben Jahren immer noch daran erinnerte, wie süß sie gestöhnt hatte, als er sie das erste Mal genommen hatte. Und das zweite. Und das dritte …

Judah wendete und fuhr die Landstraße zurück. Er würde Mercy nach Hause bringen und zurück zum Flughafen fahren. Sobald der Jet auf Terrebonne gelandet war, musste er eine außerplanmäßige Ratssitzung einberufen. Cael und seine Anhänger mussten aufgehalten werden, ehe ihre leichtsinnigen Taten die Ansara gefährdeten.

Schon bald sah er die hohen Eisentore, die die Einfahrt zu Sanctuary schützten. Judah drosselte die Geschwindigkeit und drückte den Knopf im Wagen, der die massiven Tore öffnete. Ehe er weiterfuhr, sprach er einige uralte Worte, mit denen er Magie heraufbeschwor. Mit der schlafenden Mercy an seiner Seite fuhr er die private Straße bis zum Anwesen der königlichen Familie hinauf.

Die Lichter auf der Veranda erinnerten Judah daran, dass im Haus jemand auf Mercy wartete. Ein Ehemann?

Wer auch immer jetzt an ihrem Leben teilhatte – Liebhaber oder Ehemann oder sogar Kinder –, sie würden alle an einem schicksalsträchtigen Tag in naher Zukunft von den Ansara umgebracht. Judah parkte und nahm Mercy in die Arme. Sie schmiegte sich an ihn, als ob sie sich bei ihm sicher fühlte.

Judah riss sich zusammen. Er würde nicht zulassen, dass diese verlockende Kreatur ihn in Versuchung führte. Er hatte mit ihr geschlafen, wie er mit unzähligen Frauen geschlafen hatte. Sie war nicht besser gewesen. Kein Unterschied.

Sidonia hörte, wie das Auto die Auffahrt hinaufkam. Sie hatte Eve in ihr Zimmer gebracht. Auch wenn sie das Kind diesmal ermahnt hatte, liegen zu bleiben, bezweifelte sie, dass sie schlief.

Sidonia sah durch ein Fenster. Sie schnappte nach Luft, als sie den großen, dunklen Mann sah, der die bewusstlose Mercy auf die Veranda trug. Wer war dieser Fremde?

Sidonia schloss die Augen und bat ihre Helfer aus dem Reich der Tiere, aufzuwachen und zu ihr zu kommen. Gerade als der Fremde einen ersten Schritt auf die Veranda setzte, erschienen Magnus und Rufus, ihre treu ergebenen Rottweiler, im Vorgarten.

Die alte Frau öffnete die Eingangstür und stellte sich dem Fremden. Er begegnete ihrem Blick. Er war kein Raintree. Seine Augen waren stahlgrau, hart und kalt, ohne jegliches Gefühl.

„Ich habe deine Herrin heimgebracht, alte Frau“, sagte er mit tiefer, befehlsgewohnter Stimme. Ein Schauer durchfuhr Sidonia. „Du vermutest richtig. Ich bin ein Ansara.“

Magnus und Rufus knurrten, als sie Sidonias Angst witterten.

Der Mann starrte erst Rufus an, dann Magnus. Sie hörten sofort auf, zu knurren. Die beiden Tiere standen starr wie Marmorstatuen da.

„Was hast du mit …“

„Es geht ihnen gut. In einer Stunde sind sie wieder wie immer.“

„Was machst du mit Mercy? Hast du ihr wehgetan? Der Zorn der Raintree wird …“

„Sei still, alte Frau, und zeig mir, wohin ich deine Herrin bringen kann, damit sie sich erholt. Sie hat heute Nacht eine sterbende Frau geheilt.“

Dass dieser Ansara sich um Mercy sorgte, verwirrte Sidonia. Sie zögerte, doch dann ließ sie ihn herein. Er sah teuflisch gut aus. Breite Schultern, mindestens eins neunzig groß, langes schwarzes Haar. Seine gemeißelten Gesichtszüge ließen ihn wie eine Statue aussehen. „Ihr Zimmer ist oben, aber ich glaube, es ist am besten, wenn du …“ Er ignorierte Sidonia und ging zur Treppe. „Warte!“

Sidonia folgte ihm, so schnell sie ihre alten Beine trugen. Als sie im ersten Stock angekommen war, hatte er Mercy bereits in ihr Schlafzimmer gebracht. Sein Instinkt schien ihn zu leiten. Vom Türrahmen aus beobachtete sie, wie er Mercy eine ganze Minute lang anstarrte, sich dann umdrehte und auf die Tür zuging.

„Wer bist du? Wie heißt du?“ Er konnte nicht der Ansara sein, oder?

„Ich bin Judah Ansara.“ Er lächelte spöttisch. „Ich hatte mich schon gefragt, ob Mercy je vermutet hat, dass ich ein Ansara bin, und ob das der Grund war, dass sie an diesem Morgen so schnell vor mir geflohen ist.“

„Hör auf, meine Gedanken zu lesen!“ Gott, steh mir bei! Er durfte es nicht erfahren! Sie sprach einen alten Zauber, der ihre Gedanken schützen sollte.

„Spar dir die Mühe, Sidonia. Ich lasse deine Gedanken in Ruhe. Aber wenn ich gehe, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als meinen Besuch aus euren Erinnerungen zu löschen.“

„Wage es nicht, dich noch einmal an meinen Gedanken zu vergreifen.“

Judah lachte.

„Warum bist du bei Mercy? Was tust du auf dem heiligen Grund der Raintree? Wie ist es dir gelungen …“

„Warum ich hier bin, spielt keine Rolle. Ich habe Mercy bewusstlos gefunden und sie nach Hause gebracht. Du solltest mir dankbar sein.“

„Dankbar! Ansara-Abschaum wie dir? Niemals!“

„Denkt Mercy genauso über mich? Hasst sie mich?“

„Natürlich hasst sie dich. Sie ist eine Raintree. Du bist ein Ansara.“

Er warf einen Blick auf Mercy. Die Versuchung, die Gedanken der alten Frau nach Antworten zu durchkämmen, war groß. Judah schnaubte, von sich selbst angewidert, weil er sich für Mercys Gefühle interessierte.

„Du kannst nicht bleiben. Du musst wieder gehen. Sofort.“

Judah konzentrierte sich auf einen Zauber, der Sidonias Erinnerung an seinen Besuch auslöschte. Da fiel sein Blick auf einen kleinen Schatten hinter der alten Frau. Er vermutete, dass das Kindermädchen der Raintree einen todbringenden kleinen Geist beschworen hatte. Aber plötzlich betrat der Schatten das Schlafzimmer.

Judah starrte das Mädchen an und sah, dass ihre Augen Raintree-grün waren und dass ihr helles blondes Haar in langen, glänzenden Locken bis auf ihre Taille hinabhing. Also hatte Mercy geheiratet und Kinder bekommen, oder wenigstens eins. Dieses hübsche kleine Mädchen sah ihrer Mutter so ähnlich, und doch … Was hatte dieses Kind an sich, das ihn so verwirrte? Sie war ein Raintree-Kind, daran bestand kein Zweifel. Aber sie war anders.

Sidonia versuchte, die kleine Schönheit hinter sich zu zerren, aber das Kind befreite sich und ging auf Judah zu. „Nein, Kind, nicht! Bleib von ihm weg. Er ist böse.“

Das Kind sah zu Judah hoch. „Ich habe keine Angst vor ihm. Er wird mir nicht wehtun.“

Judah lächelte. Er war beeindruckt von ihrem Mut. Erfahrene Krieger waren schon beim bloßen Anblick von Judah Ansara erzittert.

Als Sidonia vortrat, streckte das Mädchen der alten Frau eine Hand entgegen. Sie blieb auf der Stelle stehen, gelähmt von Magie.

„Du hast sehr große Macht, Kleine.“ Judah hatte noch nie einen Raintree oder Ansara getroffen, der schon so jung so viel Magie in sich trug. „Ich kenne sonst keine Fünfjährige, die …“

„Ich bin sechs“, sagte sie ihm mit gehobenem Kopf. Eine wahre Prinzessin.

„Hmm … Aber auch für sechs Jahre bist du den anderen Raintree-Kindern weit voraus, oder nicht?“

„Ja. Weil ich mehr bin als nur eine Raintree.“

„Bist du das?“ Er bemerkte den erschrockenen Ausdruck auf Sidonias Gesicht. Aber das Mädchen hatte die alte Frau auch verstummen lassen.

„Du weißt nicht, wer ich bin, nicht wahr?“ Als das kleine Mädchen ihn anlächelte, zog sich Judahs Magen zusammen. In ihrem Lächeln lag etwas, was ihm unglaublich vertraut war.

„Du bist Mercy Raintrees Tochter?“

Sie nickte.

„Weißt du, wer ich bin?“ Er war neugierig geworden. Er spürte eine unnatürliche Stärke in ihr … und eine Verbundenheit, die unmöglich schien.

Ihr Lächeln wurde breiter. „Ja, das weiß ich.“

Das war unmöglich. Er hielt seine wahre Identität vor allen verborgen, die nicht Ansara waren. „Wie lautet dann mein Name?“

„Ich kenne deinen Namen nicht.“

Judah war erleichtert, weil er die Fähigkeiten des Kindes überschätzt hatte. Er fühlte sich von ihr merkwürdig angezogen, kniete vor ihr nieder, sodass sie sich direkt in die Augen sahen, und sagte: „Mein Name ist Judah.“

Sie streckte ihre kleine Hand aus.

Er sah auf die angebotene Hand hinunter. Der Gedanke daran, dass er das Kind umbringen musste, machte ihn traurig. Er würde sicherstellen, dass ihr Tod ebenso kurz und schmerzlos vonstattenging wie Mercys.

Judah nahm ihre Hand. Im gleichen Moment durchfuhr ihn ein elektrischer Schlag, anders als alles, was er je erlebt hatte.

„Hallo, Daddy. Ich bin deine Tochter. Eve.“

Ein ohrenbetäubender Schrei erschütterte das Schlafzimmer. Mercy Raintree war erwacht.

2. KAPITEL

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Mercy, dass sie träumte. Ihren schlimmsten Albtraum. Doch als ihr Schrei um sie herum widerhallte, sah sie, dass ihr Albtraum Wirklichkeit geworden war.

„Mommy!“ Eves besorgter Ruf setzte Mercy in Bewegung. Sie stieg schnell aus dem Bett und zog ihre Tochter an sich.

„Was ist los?“, fragte Eve. „Du musst keine Angst haben.“

Der Moment, von dem Mercy gebetet hatte, er würde nie eintreten, war gekommen. Judah Ansara stand wie ein Teufel über ihr und Eve.

„Sidonia?“, fragte Mercy aus Angst, Judah habe sich ihrer geliebten Kinderfrau entledigt.

„Oh!“ Eve löste sich aus Mercys Armen und machte eine Handbewegung.

Mercy sah, wie Sidonias Körper wieder zum Leben erwachte. „Eve, hast du …?“

„Es tut mir leid, Mom, aber Sidonia wollte nicht, dass ich meinen Daddy treffe.“

Mercys Blick traf erneut auf Judahs. Seine kalten Augen brannten mit heißer Wut. Sie ist von mir! Judahs unausgesprochene Worte füllten den Raum, ließen Wände und Fenster erbeben.

„Hör auf!“ Mercy schob Eve hinter sich. „Deine Wut bringt doch nichts.“

Judah packte Mercy an den Schultern. Als sie vor Schmerz wimmerte, legte Eve eine Hand auf Judahs Arm. „Du musst behutsam mit meiner Mom umgehen. Ich weiß, dass du ihr nicht wehtun willst.“

Judahs Griff lockerte sich, als er zwischen Eve und Mercy hin und her sah. „Ich werde deiner Mutter nicht wehtun. Geh mit deinem Kindermädchen, Kleine. Ich muss mit deiner Mutter allein sprechen.“

„Aber ich will nicht …“

Tu, was ich dir sage. Mercy hörte die stumme Nachricht, die Judah Eve übermittelte.

Eve sah zu ihrer Mutter. Mercy nickte und gab ihr einen Kuss. „Lass dich von Sidonia ins Bett bringen. Du und ich werden uns morgen früh unterhalten.“

„Gute Nacht, Mom.“ Dann zog sie an Judahs Arm, damit er sich vorbeugte. Sie küsste auch ihn auf die Wange. „Gute Nacht, Daddy.“

Sobald sie allein waren, drehte Judah sich zu Mercy um. „Das Kind ist von mir?“

„Eve ist meine Tochter. Sie ist eine Raintree.“

„Ja, sie ist eine Raintree, aber sie ist mehr. Sie hat es mir selbst gesagt.“

„Eve hat mächtige Gaben und ist noch viel zu jung, um sie zu begreifen. Sich einzureden, dass sie mehr als eine Raintree ist, hilft ihr, sich diese Dinge zu erklären.“

„Willst du leugnen, dass sie von mir ist?“

Mercy schwieg. Gab es einen Weg, diesen Mann zu überzeugen? Fast sieben Jahre lang hatte sie dieses Wissen geheim gehalten, sogar vor ihren Brüdern. „Was hast du auf dem heiligen Land der Raintree zu suchen?“

Er musterte sie abschätzig. „Erinnerst du dich nicht?“

Sie war sich nicht sicher, was er meinte. Sie arbeitete sich durch ihre letzten zusammenhängenden Gedanken, bevor sie ohnmächtig geworden war. Das war nicht ungewöhnlich, aber diesmal war ihr heilender Schlaf viel tiefer gewesen als sonst. Plötzlich spürte sie die Erinnerung an ein festes Seil um ihren Hals, das sie würgte. Mercy keuchte. Ihr Blick richtete sich direkt auf Judah.

„Bist du gekommen, um mich zu retten? Aber ich verstehe nicht …“ Wie konnte Judah wissen, dass ihr Leben in Gefahr war? Und warum sollte er sich die Mühe machen, bis in die Berge von North Carolina zu kommen?

„Warum sollte ich die Mutter meines Kindes nicht retten?“

„Du wusstest nicht, dass es Eve überhaupt gibt.“

„Alles, was wichtig ist, ist, dass du mir ein Kind geboren hast und es sechs Jahre lang vor mir verheimlicht hast. Wie konntest du so etwas tun?“

„Eve ist mein Kind. Es ist egal, wer ihr Vater ist.“ O Gott, wenn das nur stimmen würde. Wenn nur … Selbst jetzt, da sie wusste, wer er war, fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Er hatte Macht über sie. Aber sie konnte – und würde – widerstehen.

Judah betrachtete Mercy von Kopf bis Fuß mit einem wohlwollenden, sinnlichen Blick. „Der Schutzzauber, den du über Eve gesprochen hast, muss sehr mächtig sein. Es muss einen großen Teil deiner Stärke aufzehren, ihn aufrechtzuerhalten.“

Mercy zitterte. „Es gibt nichts, was ich nicht für Eve tun würde. Sie ist …“

„… eine Ansara.“

„Eve ist eine Prinzessin der Raintree, die Enkelin von Dranir Michael, die Tochter von Prinzessin Mercy.“

„Ein seltenes und überaus einzigartiges Kind. Seit Tausenden von Jahren wurden die Stammbäume nicht mehr vermischt. Alle halbblütigen Nachkömmlinge wurden vor oder kurz nach der Geburt beseitigt.“

„Wenn du auch nur einen Funken Anstand im Leib hast, wirst du sie nicht für dich beanspruchen. Wenn sie gezwungen wird, sich zwischen zwei Linien zu entscheiden, wird sie das zerreißen. Und du weißt genauso gut wie ich, dass dein Volk sie niemals akzeptieren würde. Sie würden versuchen, sie umzubringen.“

Judahs Lächeln ließ Mercy kalte Wellen der Angst über den Rücken laufen. „Dann gibst du also zu, dass sie von mir ist.“

„Ich gebe überhaupt nichts zu.“

Judah packte ihren Nacken. Sie könnte sich hier und jetzt mit ihm duellieren, körperlich und magisch. Aber sie hatte schon in jungen Jahren gelernt, ihre Schlachten weise zu wählen und ihre Stärke für den Moment aufzubewahren, in dem sie sie am meisten brauchte. Mercy sah ihrem Todfeind in die Augen.

„Wann hast du gemerkt, dass sie Ansara ist?“

„Als ich sie empfangen habe.“

Sein Griff wurde fester, als er sie näher zu sich zog. Er senkte seinen Kopf, bis seine Lippen nur noch eine Haaresbreite von ihren entfernt waren. „Das muss gewesen sein, als wir das letzte Mal miteinander geschlafen haben.“

Ich habe dich nicht einmal verlassen, als ich wusste, dass ich einem Ansara Leben schenken würde. Ich bin bei dir geblieben, bis du mithilfe eines alten Zaubers eingeschlafen warst. Und als ich wusste, dass du für Stunden nicht aufwachen würdest, habe ich das Mal der Ansara in deinem Nacken gefunden.

Judah berührte ihre Lippen. Sie rang nach Atem. „Ich wusste vom ersten Moment, in dem ich dich gesehen habe, dass du eine Raintree bist. Aber ich konnte dir nicht widerstehen. Du warst das Schönste, was ich je gesehen habe.“

Und ich konnte dir nicht widerstehen. Ich wollte dich, wie ich nie zuvor einen Mann gewollt hatte. Du warst ein Fremder, und doch gab ich mich dir völlig hin. Ich habe dich geliebt.

Der Gedanke allein, dass sie sich in einen Ansara verliebt hatte, war unerträglich. War Betrug an ihrem Volk. Ein unverzeihlicher Verrat. Und wenn Dante und Gideon je herausfanden, dass ihre geliebte Nichte zur Hälfte eine Ansara war …

„Du warst ein amüsanter Zeitvertreib“, sagte Judah, sein heißer Atem auf ihren Lippen. „Du hast mir damals nichts bedeutet, und du tust es auch jetzt nicht. Aber Eve …“

„Du müsstest mich schon umbringen, um Eve zu bekommen.“

„Ich könnte dich so einfach umbringen, wie ich ein Insekt unter meinem Fuß zerquetsche.“ Seine Worte klangen gleichgültig, aber er senkte wieder den Kopf. Judah presste besitzergreifend den Mund auf ihre Lippen. Es war ein erobernder Kuss, der sie erschreckte und denselben Hunger in ihr weckte, den bisher nur dieser eine Mann in ihr entfacht hatte. Sie versuchte, ihm zu widerstehen, aber sie war machtlos. Nicht gegen seine Kraft, sondern gegen ihr Verlangen. Wie konnte sie ihn wollen, wo sie doch wusste, was er war?

Als sie beide außer Atem und erregt waren, beendete Judah den Kuss. „Du gehörst mir also immer noch?“ Er verzog spöttisch den Mund. „Ich könnte dich hier und jetzt nehmen, und du würdest nichts dagegen tun.“

Mercy wandte sich beschämt von ihm ab. „Ich bin eine Raintree. Eve ist eine Raintree. Du kannst keine von uns für dich beanspruchen.“

Judah fuhr mit dem Zeigefinger über Mercys Lippen, über ihr Kinn und den Hals. Zwischen ihren Brüsten hielt er inne. „Du bist nicht wichtig. Du warst nicht mehr als ein Gefäß, in dem mein Kind gedeihen konnte. Aber Eve … Sie ist eine Ansara, und wenn die Zeit gekommen ist, werde ich sie für mich beanspruchen.“

Mercy spürte eine erschreckende Wahrheit, als sie einen kurzen Blick in Judahs Gedanken erhaschte. Er verhüllte sie sofort wieder. Aber nicht, ehe sie ihren Tod erblickt hatte. Durch die Hand des Vaters ihres Kindes. „Wenn du mich umbringst, werden Dante und Gideon …“

„Dante und Gideon sind im Moment die letzten meiner Sorgen.“

Sie starrte ihn verwirrt an. „Wenn du mir irgendeinen Schaden zufügst, wenn du versuchst, mir Eve zu nehmen, werden meine Brüder dich bis auf den Tod bekämpfen.“

„Die Zeit ist noch nicht reif. Ich habe einen Feind, der Eve umbringen würde, wenn er wüsste, dass sie mein Kind ist. Und viele andere würden ihr das Leben nehmen, nur weil sie gemischtes Blut hat.“

Sie spürte, wie er sie mit Gedanken und Körper wahrnahm, ohne dass er es verhindern konnte. „Der schützende Umhang, den ich um Eve gehüllt habe, ist zerrissen“, sagte Mercy. „Das ist deine Schuld. Wenn du wirklich willst, dass sie in Sicherheit ist, musst du mir helfen, eine noch stärkere Barriere aufzubauen.“

„Vertraust du wirklich darauf, dass ich sie schütze?“ Judah glitt mit den Händen über Mercys Arme und ließ sie dann los. „Immerhin ist sie zur Hälfte eine Raintree, und die Ansara haben einen Eid geschworen.“

„Sie ist auch zur Hälfte eine Ansara, trotzdem würde ich sie mit meinem Leben beschützen.“

„Warum glaubst du, dass ich das Gleiche tun würde?“

Mercy sah durch die stählerne Schale hindurch und mitten in Judahs Seele. Keine Seele, die sich leicht von den Schmerzen und Leiden anderer rühren ließ, aber stark, treu, besitzergreifend und instinktiv dazu geneigt, zu beschützen. Diesen Teil von sich hatte er vor sieben Jahren nicht vor ihr verbergen können, und er konnte es auch jetzt nicht. „Ich weiß es.“

„Warum hast du sie dann all die Jahre vor mir versteckt?“

Mercy spürte, wie Judah versuchte, wieder in ihre Gedanken einzudringen. „Ich hatte Angst, du würdest sie mir wegnehmen. Wenn du das versucht hättest – wenn du es jetzt versuchst, werden sich Dante und Gideon mit mir verbünden, und wir werden dich davon abhalten.“

„Dante und Gideon wissen nicht, dass Eve eine Ansara ist? Du hattest Angst davor, wie sie reagieren. Vielleicht hattest du Angst, dass sie sie umbringen.“

„Nein! Meine Brüder würde Eve nie wehtun. Die Raintree ermorden keine unschuldigen Kinder.“

„Wen hast du dann geschützt, indem du ihnen die Wahrheit verwehrt hast?“

„Eve, ich wollte sie vor der Wahrheit beschützen“, sagte Mercy. „Dann sind wir uns einig – wir beschützen Eve.“

„Wir werden uns nie einig sein. Aber zunächst einmal werde ich dir helfen, dein Geheimnis zu bewahren. Es wird schwierig werden, jetzt, da Eve weiß, dass ich ihr Vater bin. Weil sie so jung ist, hat sie noch keine ausreichende Kontrolle über ihre Gaben, und das allein bringt sie schon in Gefahr.“

„Du kannst gern versuchen, ihre Macht zu kontrollieren. Ich habe es von Zeit zu Zeit geschafft, ihre Gaben zu dämpfen, aber …“ Sie zögerte, diesem Mann die Wahrheit zu gestehen. Er könnte versuchen, die unvergleichlichen Kräfte ihrer Tochter gegen die Raintree zu nutzen.

„Ist ihre Macht so groß?“

Mercy schwieg.

„Sie hat deine Gaben und auch meine geerbt, richtig? Mein Gott, ist dir klar … Unser Kind hat mehr Macht als irgendwer sonst.“

„Mehr als du oder ich.“ Mercy senkte den Kopf und sprach schweigend einen Zauber.

Judah packte sie. „Du kannst deine Magie nicht gegen mich benutzen. Du wirst doch wohl wissen, dass ich nicht zulassen werde, dass du …“

Mercy versetzte ihm kraft ihrer Gedanken einen heftigen Schlag in den Magen. Er stöhnte, als die Schockwelle ihn traf. Dann schlug er zurück. Sie schrie auf, ehe sie den brennenden Schmerz in ihrem Geist bezwingen konnte.

„Glaubst du wirklich, dass du mich besiegen kannst?“, fragte er.

„Ja.“

Judah betrachtete sie eingehend. „Du hast dich verändert. Nicht nur, dass du zu der ausgezeichneten Empathin herangewachsen bist. Das war immer dein Schicksal.“

Sie hielt den Atem an. Er war kurz davor, eine Wahrheit zu verstehen, die sie selbst nie ganz hatte akzeptieren wollen.

„Mein Kind zu bekommen hat dich verändert. Du bist ebenfalls mehr als eine Raintree.“

„Nein, ich bin nicht …“

„Sei still!“, fuhr Judah sie an.

„Warum? Wovor hast du so viel Angst? Ist dieser Feind, von dem du gesprochen hast, stark genug, um dein Leben zu bedrohen?“

Judah herrschte über die Ansara. Seine Macht war größer als die jedes anderen, auch die seines Halbbruders. Aber er konnte nicht mit Mercy Raintree und Cael Ansara zur gleichen Zeit fertig werden.

Judah konnte Caels Gedanken spüren. Sein Bruder war entschlossen, den bevorstehenden Krieg so bald wie möglich zu beginnen. Er hatte bereits eine Kettenreaktion von Ereignissen ausgelöst, die nicht mehr aufzuhalten war. In Judahs Kopf hämmerte das Wissen, dass sein Bruder ihn betrogen hatte – nicht nur ihn, sondern den ganzen Stamm. Wenn Cael sie zwang, jetzt zu kämpfen, wurden sie besiegt. Und dieses Mal konnten sie sich nicht auf die Milde der Raintree verlassen.

„Judah?“

„Still!“

Erteile mir keine Befehle, sagte Mercy ihm telepathisch.

Wenn du willst, dass dein Kind in Sicherheit bleibt, dann achte nicht nur auf deine gesprochenen Worte, sondern auch auf deine Gedanken, warnte Judah sie.

Sie starrte ihn an. Selbst wenn Mercy nichts von Cael wüsste, verstand sie jetzt, dass irgendjemand eine Bedrohung für Eve darstellte. Jemand anderes als Judah.

„Diese Bestie bleibt nicht über Nacht hier bei uns in Sanctuary.“

„Er bleibt“, entgegnete Mercy, „bis wir beschlossen haben, wie Eve am besten zu schützen ist.“

Sidonia schloss ihre Hand um Mercys Arm. „Er ist es, vor dem du sie beschützen musst. Er ist ein Ansara. Das reine Böse.“

„Sprich leiser. Ich will nicht, dass Eve dich hört. Sie weiß, dass Judah ihr Vater ist. Er wird nicht einfach wieder gehen, und ich kann ihn nicht zwingen. Nicht solange Eve möchte, dass er bleibt. Verstehst du, was ich sage?“

„Ich verstehe nur zu gut. Die gemeinsame Macht von Vater und Tochter ist größer als deine allein.“

Mercy nickte. „Judah macht sich Sorgen um einen Mann, der sein Feind ist. Einen Mann, der Eve umbringen würde, wenn er von ihrer Existenz wüsste.“

Autor

Beverly Barton
Beverly Barton hat eine Schwäche, für Bad Boys, Männer mit kleinen Fehlern. In ihrer Kindheit schwärmte sie für „Die Schöne und das Biest“ – genauer gesagt, für das Biest. „Alle meine Lieblingsmänner sind stark, dominant und sehr maskulin. Aber am allerwichtigsten ist, dass sie ein Herz aus Gold haben“, erläutert...
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Victoria Pade
Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...
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