Nur einen Kuss, Kate!

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Dass die hinreißende Kate sich sträubt, mit der alten Lady Cahill zu deren Enkel Jack zu fahren, um dort als Haushälterin zu arbeiten, nützt ihr gar nichts: Kurz entschlossen entführt Lady Cahill die entkräftete junge Dame, die Schlimmes erlebt hat. Kaum bei Jack Carstairs angekommen, fällt Kate prompt in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich kommt, blickt sie direkt in Jacks blaue Augen. So viel steht in ihnen geschrieben: Er weiß, wie es ist, wenn man ganz allein auf der Welt dasteht und mutlos in die Zukunft schaut. Doch plötzlich geht der Stern der Liebe strahlend auf. Denn von diesem ersten Augenblick an sind Jack und Kate voneinander fasziniert. Noch ist es eine Frage des Stolzes, wer es dem anderen zuerst eingesteht…


  • Erscheinungstag 01.04.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733764722
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

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PROLOG

Kent, England, Spätsommer 1812

“Nein, Papa. Das kannst du nicht von mir verlangen!”

“Bitte, mein Liebes. Es dauert doch nicht lange, und ich befürchte, dass er mir sowieso nicht glauben wird.”

Der hochgewachsene dunkelhaarige Mann, der allein im Empfangssalon wartete, reagierte mit einer derart unvermittelten Drehung seines Körpers auf die nebenan hörbar gewordenen Stimmen, dass sein Gesicht sich vor Schmerz verzerrte und er eine leise Verwünschung ausstieß. Auf den Stock gestützt, bewegte er sich nun mit größerer Vorsicht.

Er warf einen Blick in die Richtung, aus der die Unterhaltung kam, und zupfte nervös an seiner Krawatte. Die Kleidung, die er trug, war von feinster Qualität, wenn auch ein wenig aus der Mode, und schien für einen viel stattlicheren Mann gefertigt, da die Jacke ihm zu groß war und nur um die Schultern gut saß. Der Gentleman selbst bot einen auffallenden Anblick, wie er so dastand und aus dem Fenster starrte, groß, breitschultrig und gut aussehend, wenn auch so schmal, dass es an Hagerkeit grenzte.

Jack Carstairs war mit seiner Geduld am Ende, da er nach stundenlanger Fahrt nun bereits eine halbe Ewigkeit im Salon zu warten schien, zu lange jedenfalls für einen Mann, der als Offizier in Wellingtons Armee in Spanien die letzten drei Jahre meist unter freiem Himmel verbracht hatte. Er öffnete die Tür zur Terrasse und trat hinaus. Hier war die melodiöse Stimme seiner Verlobten deutlicher zu hören.

Ungeduldig ging Jack weiter. In wenigen Minuten würde er sie wieder in den Armen halten. Eilig hinkte er zur offenen Flügeltür, aus der die Unterhaltung zu ihm herüberdrang.

“Nein, Papa, du musst es ihm sagen. Ich will ihn nicht sehen.” Julias Stimme klang trotzig und abwehrend. So hatte Jack sie nie erlebt.

“Schon gut, Liebes, ich werde mit ihm sprechen, aber du musst dabei sein, sonst glaubt er es nicht.”

Jack erstarrte. Erst vor einem Monat, kurz vor seiner Verwundung, hatte er einen zärtlichen Brief von Julia erhalten, zugleich mit dem Schreiben, das ihn vom Tod seines Vaters in Kenntnis setzte.

Die geliebte Stimme wurde kindlich flehend. “Ich möchte ihn nicht sehen. Er ist so anders geworden.”

Ihr Vater, immer schon Wachs in den Händen seiner schönen Tochter, ließ sich diesmal nicht beirren. “Meine Liebe, das war zu erwarten. Der Krieg verändert einen Mann.”

“Er ist hässlich, Papa. Sein Gesicht ist verunstaltet.”

Unwillkürlich befingerte Jack die hervortretende, noch immer rote Narbe, die von seiner Schläfe bis zum Mund reichte.

“Und er kann kaum noch gehen.” Ihr Ton wurde noch flehender. “Bitte, Papa, verlange nicht, dass ich mit ihm spreche. Schon sein Anblick ist mir unerträglich. Es wäre besser, er wäre umgekommen. Ja, ich weiß, es klingt hart”, fuhr Julia fort, “aber wenn ich an meinen stattlichen Jack denke und ihn jetzt sehe, könnte ich weinen. Nein, Papa, es geht nicht.”

“Bist du sicher?”

“Natürlich. Du sagtest ja selbst, dass sein Vater ihm nichts hinterließ. Ich kann doch keinen Habenichts heiraten.” Sie stampfte mit dem Fuß auf. “Ich darf gar nicht daran denken, dass ich all die Zeit mit Warten vertan habe! Er kann ja kaum einen Schritt gehen und wird nie wieder in der Lage sein, mit mir zu tanzen.”

Sie hielt inne, in Gedanken bei den zauberhaften Momenten auf dem Tanzparkett, als sie die Blicke aller auf sich gezogen hatte und jede Frau im Ballsaal sie beneidete.

“Nein, Papa, ausgeschlossen! Ich bin nur froh, dass du unsere Verlobung nicht offiziell bekannt geben wolltest, obwohl es mir damals hartherzig erschien.”

Jack war bleich geworden. Mit grimmigem Gesicht zog er die Fensterdraperien zurück, die ihn verborgen hatten, und betrat den Raum. Er hatte genug gehört.

“Ich denke, damit ist alles gesagt”, bemerkte er leise und endgültig.

Verlegenes Schweigen trat ein, da die Belauschten nicht wissen konnten, wie viel er gehört hatte. Jack ging schleppenden Schrittes zur Tür und öffnete sie für Julias Vater.

“Würden Sie uns wohl allein lassen, Sir Phillip?”, sagte er.

“Carstairs”, brauste Sir Phillip Davenport auf. “In meinem Haus lasse ich mir nichts befehlen. Ich kann verstehen, dass es ein schrecklicher Schock für Sie sein muss, doch da Sie nicht mehr in der Lage sind, für meine Tochter zu …”

“Danke, Sir!”, unterbrach Jack ihn. “Ich weiß, was Sie sagen wollen, aber ich glaube, dass mir ein paar Augenblicke allein mit meiner Verlobten zustehen.”

Sein Befehlston, in jahrelangem Armeedienst erworben, tat seine Wirkung. Julias Vater tat verlegen ein paar Schritte auf die Tür zu.

“Aber …”, setzte Julia an.

“Was mich betrifft, so ist die Verlobung noch nicht gelöst. Es ist mein gutes Recht, persönlich davon in Kenntnis gesetzt zu werden.” Wieder bedeutete Jack Julias Vater zu gehen. Als er das Zögern und die Besorgnis Sir Phillips sah, verzog er spöttisch die Lippen und sagte: “Seien Sie versichert, Davenport, dass ich trotz aller Veränderungen noch immer ein Gentleman bin. Ihre Tochter ist bei mir sicher.”

Sir Phillip ging und ließ seine verlegene, wütende Tochter zurück. Schweigen trat ein, in dem das Rascheln ihrer Röcke das einzige Geräusch bildete, als Julia den Raum mit raschen und anmutigen Schritten zu durchqueren begann. Dabei brachten ihre geschmeidigen Bewegungen ihren vollkommenen Körper raffiniert zur Geltung, Kleid und Frisur waren modisch und elegant und der Schmuck an ihrem zarten Hals und an den feingliedrigen Handgelenken edel und kostbar. Schließlich setzte sie zum Sprechen an.

“Es tut mir leid, wenn du etwas hörtest, das dir missfiel, Jack, aber du kennst ja das Sprichwort vom Lauscher an der Wand.” Es folgte ein lässiges Achselzucken, als sie zum Fenster glitt und dort stehen blieb, scheinbar völlig in den Anblick des Parks versunken.

Jacks Gesicht verriet Ingrimm. Die Narbe, die sich gezackt über seine Wange zog, hob sich frisch und rot von seiner Blässe ab.

“Verdammt, Julia, du hättest es mir zumindest ins Gesicht – oder was davon übrig ist – sagen können”, entgegnete er verbittert. “Schließlich bin ich nicht zuletzt deinetwegen in diese Situation geraten.”

Sie drehte sich verwundert um. “Aber, Jack, willst du mir etwa die Schuld geben?”

Um seine Lippen zuckte es ironisch. “Vielleicht nicht direkt. Aber als mein Vater mir befahl, unsere Verlobung zu beenden, hast du mich angefleht, standhaft zu bleiben.”

“Aber woher hätte ich wissen sollen, dass dieser schreckliche alte Mann dich tatsächlich enterben würde?”

Sein Ton war kühl, sein Blick eisig. “Der schreckliche alte Mann war mein Vater, und ich sagte es dir voraus.”

“Aber er hat dich so geliebt! Ich war sicher, es sei nur ein Bluff, damit du nach seiner Pfeife tanzt.”

Sein Ton war hart. “Wie du weißt, ging ich aus diesem Grund zur Armee.”

Sie betrachtete ihn von oben bis unten, wobei sie die narbige Wange und das steife Bein geflissentlich übersah.

“Ja, und das war dein Unglück!” Sie wich seinem Blick aus.

Eingedenk dessen, was sie zu ihrem Vater gesagt hatte, schwieg er. “Vermutlich werde ich nie wieder tanzen oder reiten können.”

“Richtig”, sagte sie. “Und ob die grässliche Narbe verblassen wird, bezweifle ich sehr.”

Sie merkte, wie gefühllos ihre Antwort war. “Ach, verzeih, Jack, aber du warst der attraktivste Mann von ganz London, ehe das da passierte.” Sie deutete auf die Narbe.

Mit jedem Wort zeigte sie mehr von ihrem wahren Wesen. Jack fühlte Schmerz und Wut in sich aufsteigen. Diesem schönen, leeren Geschöpf zuliebe hatte er sich seinem Vater entfremdet. Wie Julia hatte er nie geglaubt, sein Vater würde ihn wirklich enterben, doch war dieser unversöhnt gestorben. Und das war es, was Jack tiefer schmerzte als der Verlust seines Vermögens.

Unter seiner unbarmherzigen Musterung begann Julia sich unbehaglich zu fühlen. Sie ging ein paar Schritte ziellos durch den Raum, nahm geistesabwesend dies und das zur Hand, stellte es hin und nahm ihren rastlosen Rundgang wieder auf.

Jack beobachtete sie. Er dachte daran, wie die Erinnerung an ihre Anmut und Schönheit ihn in den schlimmsten Augenblicken seines Lebens aufrecht gehalten hatte. In der staubigen Hitze Spaniens, inmitten der Schlachtfelder, war ihm dieses reizvolle Geschöpf wie ein Traum erschienen. Und etwas anderes war es auch nicht, sagte er sich jetzt spöttisch. Die Wirklichkeit war dieses eitle und hohle Frauenzimmer.

“Sei doch ehrlich, Jack.” Sie drehte sich um und blieb vor ihm stehen. “Du bist nicht mehr der Mann, den ich heiraten wollte. Kannst du mir das Leben bieten, das wir planten? Nein.”

Sie zog die Schultern hoch. “Es tut mir leid, Jack. So schmerzlich es für uns beide ist, aber du musst einsehen, dass es nicht geht.”

“Was geht nicht?”, gab er sarkastisch zurück. “Der Verlust meines Vermögens? Mein entstelltes Gesicht? Oder die Vorstellung, sich an der Seite eines hässlichen Krüppels dem allgemeinen Gespött auszusetzen? Ist es das?”

Sein beißender Ton ließ sie zusammenzucken.

“Nein, das geht wirklich nicht”, höhnte er. “Und ich danke Gott dafür.”

Sie starrte ihn an, als ihr die Bedeutung seiner letzten Bemerkung aufging.

“Willst du damit sagen, dass du mich nicht heiraten willst?” Vor Erstaunen und Entrüstung kippte ihre Stimme fast über.

Er verbeugte sich ironisch. “Nicht nur das, ich bin meinem Unglück dankbar, dass es mir die Augen öffnete.”

Sie funkelte ihn wütend an. “Mr. Carstairs, Sie sind kein Gentleman.”

Sein Lächeln war eine harte, hässliche Grimasse. “Und Sie, Miss Davenport, sind keine Dame. Sie sind ein oberflächliches, habgieriges kaltes Biest, und ich danke meinem gütigen Schicksal, dass ich Sie rechtzeitig durchschauen durfte.”

Sie stampfte wütend auf. “Wie kannst du es wagen? Verlass auf der Stelle das Haus! Verwundet oder nicht, ich lasse dich hinauswerfen!”

Als er hinkend zwei Schritte auf sie zuging, wich sie erschrocken zurück.

“Gibt mir nur meinen Ring zurück”, sagte er matt, “dann wird eurem Butler die Peinlichkeit erspart bleiben, Hand an einen Krüppel zu legen.”

Sie drückte die Linke an ihre Brust und bedeckte den großen Diamantring mit der anderen Hand.

“Aber dieses Schmuckstück ist mir sehr teuer”, sagte sie mit Kleinmädchenstimme. “Ich habe dich doch geliebt! Soll mir denn gar keine Erinnerung an dich bleiben?”

Ihr Anblick verursachte ihm Übelkeit. Abrupt drehte er sich um und ging schleppenden Schrittes aus dem Haus.

1. KAPITEL

London, Spätherbst 1812

“Allmächtiger! Willst du damit sagen, dass Jack dich nach der langen Fahrt nicht empfing?” Lady Cahill sah ihre Enkelin bestürzt an. “Schluss mit den Tränen, Amelia”, fuhr sie energisch fort. “Berichte mir lieber die ganze Geschichte von Anfang an!”

Amelia unterdrückte einen Schluchzer. “Das Haus ist völlig desolat, obwohl …”

“Das Haus kümmert mich nicht! Was ist mit meinem Enkel?”, unterbrach Lady Cahill sie resolut.

“Sein Diener sagt, dass Jack niemanden empfängt.”

“Was heißt niemanden?”

“Absolut niemanden, Großmama. Jack behauptet, er sei indisponiert. Er ließ mir ausrichten, dass er mir für meine Besorgnis danke und bedauere, mich nicht empfangen zu können. Mich, seine Schwester!”

Amelia kramte in ihrem Ridikül nach einem frischen Taschentuch. “Natürlich bestand ich darauf, hinaufzugehen und nach ihm zu sehen, aber sein Diener – ein Ausländer – ließ mich erst gar nicht die Treppe hinauf. Von ihm erfuhr ich, dass Jack nicht krank, sondern betrunken war. Seit seiner Rückkehr aus Kent ist das angeblich immer öfter der Fall.”

Nun trat eine längere Pause ein, während die alte Dame die Neuigkeiten verarbeitete. “Aus Kent? Ich wünschte, er wäre dieser kleinen Davenport nie begegnet.” Sie blickte zu ihrer Enkelin auf. “Ich nehme an, die Verlobung ist endgültig gelöst?”

“Leider ja.”

“Sehr gut!”, sagte Lady Cahill mit Nachdruck. “Ein Glück, dass er das kleine Biest los ist.”

“Aber, Großmama, es hat ihm das Herz gebrochen!”

“Unsinn! Er hat ein starkes Herz. Immerhin fließt mein Blut durch seine Adern. Und Herzen heilen. Ebenso wie Körper.”

Wieder trat Stille ein.

“Das ist der springende Punkt, Großmama”, wagte Amelia schließlich einzuwenden. “Körper heilen nicht immer. Jacks Bein bereitet ihm große Schmerzen, und es verheilt nicht, auch wenn er gehen kann.”

Lady Cahill dachte daran, wie ihr Lieblingsenkel ausgesehen hatte, als er aus dem spanischen Krieg heimgekehrt war. Als er fortging, war er ein so schmucker, sportlicher Junge gewesen. Und jetzt …

Sie sah ihre Enkelin unwillig an. “Verschone mich mit diesem Unsinn, und merke dir eines: Jacks Kampfgeist ist ungebrochen.”

“Davon habe ich nichts gemerkt, Großmama.”

“Soll das heißen, dass mein Enkel seine Lebenslust verloren hat und sich vor der Welt versteckt, nur weil die Verlobung mit dieser herzlosen Schlange in die Brüche ging? Das glaube ich nie und nimmer.”

“Nein”, sagte Amelia langsam. “Aber es war der entscheidende in einer Reihe harter Schicksalsschläge – er wird nie wieder reiten können, hat viele seiner Freunde im Krieg verloren und wurde enterbt.”

“Gott mag wissen, was in deinen Vater gefahren war”, gab Lady Cahill ihr recht. “Schlimm genug, dass er den Jungen enterbte, ihm aber zu hinterlassen, 'was sich am Tag meines Todes in meinen Taschen findet'! Nicht zu fassen! Es war purer Zufall, dass er nach einer Nacht am Kartentisch bei White's starb. Wäre ihm beim Spiel nicht das Eigentumsrecht an Sevenoakes zugefallen, hätte der arme Junge nicht einmal ein Dach über dem Kopf!”

Lady Cahill ließ ein entrüstetes Schnauben hören. Gewiss, Jack hatte ein paar harte Schläge hinnehmen müssen, doch durfte man nicht zulassen, dass er düster über seinem Los brütete. Er brauchte etwas, das ihn aus dieser Grübelei herausriss.

Ein leises Klopfen ertönte. “Was ist, Fitcher?”, rief die alte Dame ungeduldig.

“Verzeihung, Mylady.” Der Butler verbeugte sich. “Eben wurde dieser Brief abgegeben.” Er überreichte ihr auf einem Silbertablett einen Umschlag.

Lady Cahill griff danach. Die unleserliche Handschrift ließ sie verächtlich die Nase rümpfen. “Hm, nicht mal frankiert.”

Sie erbrach das Siegel und fing zu lesen an, wobei sie ungehalten vor sich hin murmelte. Schließlich warf sie das Schreiben ungeduldig fort.

“Was ist denn, Großmama?”

“Ich kann nichts entziffern. Die Handschrift ist unleserlich, die Rechtschreibung erbärmlich. Wirf den Brief ins Feuer, Mädchen!”

Amelia bückte sich nach dem Schreiben und strich es glatt. “Soll ich es versuchen?” Das Schweigen ihrer Großmutter als Zustimmung deutend, las sie den Text langsam und immer wieder stockend vor:

“Mylady, entschuldigen Sie, dass ich an Sie schreibe, aber ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll …”

“Ein Bettelbrief!”, stieß die Dowager Countess aufgebracht hervor.

“Ich glaube nicht, Großmama”, sagte Amelia, die weitergelesen hatte. “Lass mich fortfahren: … denn mein armes Mädchen steht nun mutterseelenallein ohne Anverwandte da, und es ist eine wahre Schande, dass die Tochter vornehmer Leute nun Dienstmädchen spielen soll, um sich über Wasser zu halten …”

Lady Cahills Augen blitzten zornig. “Da versucht jemand, uns einen außerehelichen Sprössling deines Vaters aufzuhalsen!”

“Großmama!” Amelia errötete verlegen.

“Ach, tu doch nicht so. Sicher weißt du, dass dein Vater nach dem Ableben deiner lieben Mutter etliche Affären hatte. Wirf diese Unverschämtheit sofort ins Feuer!”

Doch ihre Enkelin las eifrig weiter.

“Als frühere Kinderfrau der Tochter des Pfarrherrn fällt es nun mir zu, Ihnen mitzuteilen, was aus meinem Mädchen wurde, da Sie die Taufpatin von Miss Maria, ihrer armen Mutter, waren …”

Lady Cahill richtete sich gespannt auf.

“… deren einziges überlebendes Kind sich nun in fremden Diensten durchschlagen muss. Deshalb bitte ich Mylady, Miss Kate zu helfen, da Sie die Einzige sind, die es kann. Immer Ihre Martha Betts.”

“Kennst du diese Leute, Großmama?”, fragte Amelia neugierig.

“Ich glaube schon”, sagte ihre Großmutter bedächtig und griff nach dem Schreiben, um es zu überfliegen. “Das Mädchen muss das Kind meiner Patentochter Maria Delacombe sein. Maria ehelichte den Geistlichen Farleigh und starb bei der Geburt einer Tochter. Das liegt nun zwanzig Jahre zurück. Nach ihrem Tod riss die Verbindung zu der Familie ab.”

Sie warf einen Blick auf die Adresse. “Bedfordshire? Hm … keine Angehörigen? Was mag aus dem Vater und den Brüdern des Mädchens geworden sein?” Lady Cahill runzelte die Stirn.

“Was gedenkst du zu tun, Großmama?”

Lady Cahill betätigte den Klingelzug und ließ sich Sherry und Backwerk bringen.

Als Amelias Gemahl erschien, ging man zu Tisch, und Lady Cahill verkündete bei der Suppe ihren Entschluss.

“Großmama, bist du sicher?” Amelia schien besorgt. “Die Fahrt dauert sehr lange. Was ist, wenn Jack auch dich nicht empfängt?”

Lady Cahill bedachte ihre Enkelin mit einem verächtlichen Blick. “Mach dich nicht lächerlich, Amelia! Noch nie im Leben wurde mir irgendwo der Zutritt verwehrt. Ich bin eine geborene Montford, und niemand, auch nicht mein Lieblingsenkel, macht mir Vorschriften.”

Sie führte eine Damastserviette an den Mund und goss ihren Sherry in die Suppe. “Fades Zeug!”

Als sie einen Gang später in ihren cailles à la Turque herumstocherte, sagte sie: “Auf dem Weg zu Jack werde ich Maria Farleighs Tochter aufsuchen. Ich kann sie nicht verhungern lassen, ebenso wenig wie ich zulassen kann, dass sie sich als Dienstbote verdingt! Marias Mutter würde sich im Grab umdrehen. Sie war unvernünftig, als sie zuließ, dass ihre Tochter einen mittellosen Geistlichen heiratete. Die Farleighs galten zwar als vornehme alte Familie”, setzte sie grollend hinzu, “doch war er der letzte Spross und arm wie eine Kirchenmaus.”

Nach einem tiefen Seufzer straffte sie ihre schmalen alten Schultern, schob den Teller von sich und verlangte Sherry.

“Und den Jungen werde ich auf Trab bringen. Man kann nicht zulassen, dass er in der Einöde von Leicestershire zum Sonderling wird”, schloss sie mit entrüstetem Kopfschütteln.

Der Türklopfer wurde so energisch betätigt, dass es in dem leeren kleinen Cottage hallte. Das war also der Moment, den sie erwartet und zugleich gefürchtet hatte. Sie war nun nicht mehr Kate Farleigh, die Tochter Vikar Farleighs, sondern nur Farleigh, Hausmädchen und Unperson.

Kate wusste, dass es kein Zurück mehr gab. Ihr Herz pochte so heftig, als gälte es, im nächsten Moment von einer Klippe zu springen. Ein lächerlicher Vergleich, ermahnte sie sich streng. Sie musste nicht springen, da sie schon vor langer Zeit hinuntergestoßen worden war und keine andere Wahl hatte.

Kate richtete sich kerzengerade auf, atmete tief durch und öffnete die Tür. Vor ihr stand eine gebieterisch wirkende kleine alte Dame, in üppige Pelze gehüllt, und starrte sie aus auffallend blauen Augen an. Im Hintergrund wartete eine elegante Reisekutsche.

“Womit kann ich dienen?”, sagte Kate, höflich ihr Erstaunen verbergend. Aus Mrs. Midgelys Antwortschreiben war nicht hervorgegangen, dass ihre neue Arbeitgeberin so reich und vornehm sein würde, auch nicht, dass sie Kate persönlich abholen würde.

Die alte Dame gab keine Antwort. Alle Gebote der Höflichkeit außer Acht lassend, begutachtete sie Kate eingehend.

Das Mädchen ist viel zu dünn, um auch nur annähernd als schön zu gelten, entschied Lady Cahill. Dennoch hatte es etwas an sich, das an ihre schöne Mutter gemahnte. Die feinen Züge vielleicht und den fast durchscheinenden Teint. Mit Sicherheit hatte sie die Augen ihrer Mutter mitbekommen. Aber alles andere … Lady Cahill runzelte kritisch die Stirn. Das Haar war mittelbraun ohne einen Hauch von Gold, Bronze oder Rot, der es über den Durchschnitt hinausgehoben hätte. Im Moment war es zu einem schlichten Knoten zusammengefasst, ohne modische Korkenzieherlocken oder Bänder. Tatsächlich deutete nichts darauf hin, dass das Mädchen auf sein Äußeres achtete. Seine schwarzen Sachen, die lose an seinem zerbrechlichen Körper hingen, waren langweilig und trist, wenn auch makellos sauber.

Kate, die unter dem durchdringenden Blick der blauen Augen errötete, schob stolz ihr Kinn vor. “Womit kann ich dienen?”, wiederholte sie lauter und mit ein wenig Gereiztheit in der dunklen, ein wenig heiseren Stimme.

“Dienen? Papperlapapp!”

Erstaunt ob dieser absonderlichen Begrüßung starrte Kate ihre Besucherin an.

“Los, Mädchen, ich möchte hier nicht warten und vom Landvolk begafft werden. Lass mich endlich ein. Unerhört! Manieren sind das!”

Lady Cahill fegte an Kate vorüber in den vorderen Raum. Dort blickte sie sich um, sah die gähnende Leere, die helleren Flecken an den Wänden, wo einst Bilder gehangen hatten, die allgemeine Dürftigkeit. Im Kamin brannte trotz der Kälte kein Feuer.

Kate schluckte. Es würde schwer sein, angesichts dieser Unhöflichkeit Demut zu üben. Doch sie konnte es sich nicht leisten, ihre zukünftige Herrin gegen sich aufzubringen, die Einzige übrigens, die Interesse gezeigt hatte.

“Ich nehme an, dass ich die Ehre mit Mrs. Midgely habe?”

Die alte Dame ließ ein Schnauben hören.

Kate nahm das Geräusch als Bestätigung. “Da Sie persönlich kamen, Madam, gehe ich davon aus, dass ich für die Stelle infrage komme.”

“Pa! Welche Erfahrung hast du für diese Arbeit?”

“Ein wenig, Madam. Ich kann frisieren und recht gut nähen.”

“Wo warst du zuletzt?”

“Bis vor Kurzem führte ich den Haushalt für meinen Vater und meine Brüder. Wie Sie sehen …”, sie deutete auf ihr schwarzes Kleid, “… hatte ich kürzlich einen Trauerfall.”

“Und was ist mit den anderen Angehörigen?”

Die Arroganz und Überheblichkeit der alten Frau ließen darauf schließen, dass sie sehr hohe Ansprüche stellte. Kate gestand sich zähneknirschend ein, dass ihr nichts übrig blieb, als sich ausfragen zu lassen.

“Ich habe keine mehr.”

“Hm, du scheinst ein wohlerzogenes Mädchen aus guter Familie zu sein. Warum hast du dich nicht um eine Stelle als Gesellschafterin oder Gouvernante bemüht?”

“Meine Bildung reicht für die Position einer Gouvernante nicht aus.”

Wieder schnaubte die alte Dame. “Die meisten Gouvernanten dürfen sich nicht gebildet nennen. Es genügt ein bisschen Französisch oder Italienisch, feine Handarbeiten, ein gewisses Geschick im Aquarellieren und die Fähigkeit, auf dem Piano oder der Harfe eine Melodie zu klimpern. Und jetzt sage nur nicht, dass du das nicht könntest. Immerhin war dein Vater ein gelehrter Mann!”

Ja, aber ich war nur ein Mädchen und in seinen Augen der Bildung nicht wert. Kate musste sich so sehr beherrschen, um unter diesem Kreuzverhör nicht ihre Fassung zu verlieren, dass sie zu fragen vergaß, woher die alte Frau Kenntnis von der Gelehrsamkeit ihres Vaters hatte.

“Von meinen Brüdern habe ich etwas Griechisch und Latein gelernt, weiter sind mir die Grundbegriffe der Mathematik vertraut.” Plötzlich fiel Kate ein, dass Mrs. Midgely womöglich für ihre Enkel eine Erzieherin suchte. Eilig bekannte Kate sich zur Wahrheit, da Lügen kurze Beine hatten.

“Ich kann mir nicht denken, dass Sie jemandem wie mir eine Stelle als Erzieherin bieten. Ich kann nicht malen und spiele kein Instrument …” Nein, die ungeliebte Tochter des Vikars war ungezügelt aufgewachsen und hatte damenhafte Manieren nie gelernt. “Aber ich spreche ein wenig Französisch, Spanisch und Portugiesisch.”

“Warum hast du dich dann nicht als Gesellschafterin beworben?”

Kate hatte es versucht und auf unzählige Annoncen geantwortet. Doch sie hatte keine Bürgen und keine Referenzen. Jemand aus Lissabon hatte an eine ihrer Nachbarinnen geschrieben, und plötzlich war sie persona non grata für Menschen, die sie ihr Leben lang gekannt hatten. Dass das Mädchen, das sie in Erinnerung hatten, ein Wildfang gewesen war, tat das Seinige dazu. Viele hatten seinerzeit prophezeit, mit der Tochter des Vikars werde es ein böses Ende nehmen. Und sie hatten recht behalten.

“Ich kenne niemanden, der eine Gesellschafterin oder Gouvernante ohne Empfehlung einstellen würde.”

“Aber sicher hatte dein Vater Freunde, die dich empfehlen könnten?”

“Schon möglich, Madam. Aber mein Vater und ich lebten die letzten drei Jahre im Ausland, und ich wüsste nicht, wie ich mit seinen Bekannten Verbindung aufnehmen könnte, da alle seine Papiere verloren gingen, als er starb.”

“Im Ausland!”, rief die alte Dame entsetzt aus. “Obwohl dieser Bonaparte noch nicht bezwungen ist! Wie konnte dein Vater dieses Risiko eingehen?”

In Kates Augen blitzte es auf. Dieser alte Drachen! Sie ließ die Frage unbeantwortet und griff wieder das eigentliche Thema auf. “Also, habe ich die Stelle, Madam?”

“Als meine Zofe? Nein, sicher nicht. Einfach lächerlich.”

Kate war ratlos.

“Ich brauche keine Zofe”, fuhr die alte Dame fort. “Deswegen bin ich nicht gekommen.”

“Dann sind Sie gar nicht Mrs. Midgely?” Kates feine Züge röteten sich, aus ihren Augen blitzte Empörung.

“Nein, ganz gewiss nicht”, äußerte die alte Dame von oben herab.

“Darf ich dann fragen, wer Sie sind und mit welchem Recht Sie hier eindringen und mich auf diese höchst ungewöhnliche Weise ins Gebet nehmen?” Kate machte aus ihrem Zorn kein Hehl.

Lady Cahill lächelte. “Mit dem Recht einer Patentante, meine Liebe.”

Kate erwiderte das Lächeln nicht. “Meine Patentante starb, als ich noch klein war.”

“Ich bin Lady Cahill, und deine Mutter war mein Patenkind.” Sie fasste dem Mädchen unters Kinn. “Du siehst ihr bemerkenswert ähnlich. Auch bei ihr waren die Augen das Schönste. Aber bei dir wollen mir die dunklen Schatten nicht gefallen. Außerdem bist du zu dünn.”

Lady Cahill gab Kates Kinn frei und blickte um sich. “Nun, wirst du mir Platz anbieten oder nicht?”

Die alte Dame hatte ihre Mutter gekannt? Das konnte Kate von sich nicht behaupten.

“Verzeihen Sie, Lady Cahill, ich bin zu überrascht. Bitte, nehmen Sie Platz.” Kate deutete auf ein durchgesessenes Sofa. “Leider kann ich Ihnen keine Erfrischung anbieten.”

“Keine Sorge, deswegen bin ich nicht gekommen”, lautete die Antwort. “Ich vertrage auf Reisen kein Essen.”

“Warum sind Sie gekommen, Madam?”, fragte Kate. “Sie hatten lange Zeit keinen Kontakt zu meiner Familie. Sicher ist es kein Zufall, dass Sie ausgerechnet jetzt kommen.”

Kluge blaue Augen sahen sie abschätzend an. “Hm, du kommst gleich zur Sache, wie? Aber ich bin selbst gern geradeheraus und sage dir deswegen offen, dass du meine Hilfe brauchst.”

Kates graugrüne Augen blitzten, doch sie sagte ruhig: “Wieso glauben Sie das?”

“Sei nicht töricht, Mädchen. Mir ist klar, dass du keinen Penny mehr besitzt. Du trägst ein Kleid, das ich meinem Hausmädchen nicht einmal als Staubtuch zumuten würde. Das Haus lässt allen Komfort vermissen, du kannst mir keine Erfrischung anbieten – nein, setz dich, Mädchen!”

Kate war mit flammenden Augen aufgesprungen. “Ich danke für Ihren Besuch, Lady Cahill, und möchte nichts mehr hören. Sie haben kein Recht auf mich, auch kein Recht, in mein Haus einzudringen und so beleidigend mit mir zu reden. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie gingen!”

“Setz dich, sage ich!” Die alte Dame sagte es befehlsgewohnt und mit zornig funkelnden Augen. Sekundenlang starrten die beiden einander an. Dann setzte Kate sich langsam. Sie bebte vor Wut.

“Der Anstand gebietet es, dass ich mir anhöre, was Sie zu sagen haben, Lady Cahill, und da Sie nicht gehen wollen, muss ich Ihre Anwesenheit ertragen, zumal es sich für ein Mädchen meines Alters nicht ziemt, eine um so viel ältere Person hinauszuwerfen.”

Ihre Besucherin erwiderte den zornigen Blick, dann aber brach sie zu Kates Verwunderung in Gelächter aus und lachte, bis ihr die Tränen über das faltige, sorgfältig geschminkte Gesicht liefen.

“Ach, meine Liebe, du hast nicht nur die Augen deiner Mutter, sondern auch ihr Temperament geerbt.” Lady Cahill suchte in ihrem Ridikül und fand ein zartes spitzenbesetztes Tüchlein, mit dem sie, noch immer lachend, ihre Tränen trocknete.

Ihre Wut ließ nach, doch Kate sah die Besucherin noch immer mit steinerner Miene an. Kate hasste ihre Augen, da sie denen ihrer Mutter glichen und ihr Vater durch sie ständig daran erinnert worden war, dass seine geliebte Frau bei der Geburt der Tochter den Tod gefunden hatte.

“Nun, mein Kind, sei nicht so stur und dumm”, setzte Lady Cahill an. “Ich weiß, wie es um dich steht.”

“Woher?”

“Ich erhielt ein Schreiben von Martha Betts, in dem sie mir mitteilte, dass du verwaist und mittellos bist.”

Kate ballte die Hände zu Fäusten und reckte stolz ihr Kinn. “Madam, man hat Sie falsch informiert. Martha meint es gut, aber sie weiß nicht Bescheid.”

Lady Cahill beäugte sie gewitzt. “Dann bist du nicht verwaist, mittellos und ohne Perspektive?”

“Ich bin Waise, da mein Vater vor einigen Monaten starb. Meine zwei Brüder kamen etwa um dieselbe Zeit ums Leben.” Kate wandte den Blick ab und zwinkerte heftig gegen ihre Tränen an.

“Mein Beileid, Kind.” Lady Cahill beugte sich vor und tätschelte sanft Kates Knie.

Kate nickte. “Aber ich bin nicht ohne Perspektive.”

“Das glaube ich nicht”, antwortete Lady Cahill leise. “Ich möchte gern mehr über deine Lebensumstände wissen.”

Kate blickte auf. “Mit welchem Recht mischen Sie sich in meine Privatangelegenheiten?”

“Mit dem Recht eines Versprechens, das ich deiner Mutter gab.”

Kate hielt inne. Ihre Mutter, der sie das Leben geraubt hatte. Die Mutter, die das Herz ihres Mannes mit ins Grab genommen hatte. Einen Augenblick lang sah es aus, als wolle Kate sich auf eine Debatte einlassen, dann neigte sie den Kopf in widerstrebender Zustimmung. “Dann muss ich es wohl hinnehmen.”

“Sehr liebenswürdig von dir”, bemerkte Lady Cahill trocken.

“Lady Cahill, es ist wirklich nicht Ihre Angelegenheit. Ich komme sehr gut allein zurecht.”

“Pah!”

“Jawohl, ich …”

“Beruhige dich, Kind!”, sagte Lady Cahill. “Ich bin eine alte Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt, und in meinem Alter hat man sich daran gewöhnt, seinen Willen durchzusetzen. Kind, benutze deinen Verstand. Sich bei einer Mrs. Midgely als Dienstmädchen zu verdingen ist für die Tochter Maria Farleighs unpassend! Es bleibt dir nichts übrig, als mit mir zu kommen und bei mir zu leben.”

Sie sollte bei einer vornehmen alten Dame leben und auf Bälle, Maskenfeste und in die Oper ausgeführt werden? Es war ein Leben, von dem Kate lange geträumt hatte … die Kate von früher.

Für die neue Kate war es ein Albtraum.

Das Angebot kam zu spät, eine schmerzliche Ironie des Schicksals, das ihr schon zu viel Ironie und Schmerz beschert hatte.

“Ich danke Ihnen für das liebenswürdige Angebot, Lady Cahill, aber es würde mir im Traum nicht einfallen, Sie derart zu behelligen.”

“Dummes Ding! Ein solches Angebot schlägt man nicht so ohne Weiteres aus. Bedenke doch, was es für dich bedeutet. Du könntest leben, wie es deiner Herkunft entspricht, und die dir gebührende gesellschaftliche Stellung einnehmen.”

“Das ist mir klar”, sagte Kate leise. Ihre gesellschaftliche Stellung hatte sie in Spanien längst verwirkt. “Ich danke Ihnen für Ihre Fürsorge. Ich kann Ihr hochherziges Angebot jedoch nicht annehmen.”

“Ist dir denn nicht klar, was ich dir biete?”

“Mildtätigkeit”, erwiderte Kate unverblümt.

“Unsinn!” Die alte Dame vollführte eine zornige Handbewegung. “Das ist eine sehr dumme Bezeichnung.”

“Wie man es nennt, spielt keine Rolle”, sagte das Mädchen mit ruhiger Würde. “Ich will niemandem verpflichtet sein. Ich ziehe es vor, für meinen Unterhalt zu arbeiten, aber ich danke Ihnen für Ihr Angebot.”

Lady Cahill schüttelte entrüstet den Kopf. “Mädchen aus guter Familie arbeiten nicht! Zu meiner Zeit tat man, was die Eltern wollten, und muckte nicht auf!”

“Aber Ihnen, Lady Cahill, brauche ich nicht zu gehorchen.”

“Nein, das nicht.” Lady Cahill kniff nachdenklich die Augen zusammen. “Nun, dann hilf mir beim Aufstehen, mein Kind. Meine Knochen sind steif, weil sie auf diesen grässlichen Straßen durchgeschüttelt wurden.”

Erstaunt ob der plötzlichen Kapitulation der alten Dame, sprang Kate auf, um Lady Cahill zu helfen und sie fürsorglich zur Tür zu geleiten.

“Danke, meine Liebe.” Lady Cahill trat ins Freie. “Wohin geht es in diese Richtung?”, fragte sie, auf einen ausgetretenen Pfad deutend.

“In den Wald und an den Bach.”

“Sehr hübsch, sehr ländlich, wenn man das mag”, urteilte die überzeugte Städterin.

“Ja, ich mag es”, sagte Kate. “Ich liebe es, durch den Wald zu laufen, besonders frühmorgens, wenn der Tau noch an Blättern und Gräsern hängt und in der Sonne glitzert.”

Lady Cahill starrte sie an. “Erstaunlich”, murmelte sie. “Nun, genug davon. Hier draußen ist es eiskalt, fast so kalt wie in deinem zugigen Haus. Wir wollen die Unterhaltung in meiner Kutsche fortsetzen. Dort kann ich meine Füße wenigstens an heißen Ziegeln wärmen.”

Kate ließ erstaunt ihren Arm los. “Aber ich dachte …”

Die blauen Augen blinzelten sie an. “Du dachtest, du hättest dich klar ausgedrückt?”

Kate nickte.

“Nun, das ist der Fall. Ich habe jedes einzelne Wort vernommen. Und jetzt Schluss mit den Debatten, Kind! Das Gespräch ist beendet, wenn ich es sage. Folge mir!”

Mit einer gebieterischen Geste ging sie zur Kutsche voran und ließ sich vom wartenden Diener beim Einsteigen helfen. Nachdem Kate ihr gefolgt war, wurde sie in einen weichen Fellsack gehüllt und konnte ihre Füße auf einen heißen Ziegel stellen. Ihr kam es lächerlich vor, so in einer Kutsche zu sitzen und einen Vorschlag zu diskutieren, den anzunehmen sie nicht die Absicht hatte, doch war es im Wagen unleugbar wärmer als im Haus.

“Nun, hast du es behaglich?”

“Ja, danke”, erwiderte Kate höflich. “Lady Cah…”

Die alte Dame stieß mit ihrem Stock gegen das Wagenverdeck, worauf das Gefährt mit einem plötzlichen Ruck anfuhr.

“Was um alles …?” Kate blickte bestürzt um sich, als das Haus vorüberglitt. Für den Bruchteil einer Sekunde erwog sie, aus dem Wagen zu springen, verwarf die Idee aber schnell, da die Kutsche schon mit hoher Geschwindigkeit fuhr.

“Was geht hier vor? Wohin bringen Sie mich? Wer sind Sie?”

Die alte Frau lachte. “Ich bin wirklich Lady Cahill. Du bist nicht in Gefahr, meine Liebe.”

“Aber was geht hier vor?”

“Ist das nicht offensichtlich?” Lady Cahill strahlte. “Ich entführe dich!”

2. KAPITEL

“Ungeheuerlich!”, stieß Kate hervor. “Wie können Sie nur?”

Die alte Dame zuckte mit den Achseln. “Meine Kleine, du bist so eigensinnig wie deine liebe Mutter, und ehrlich gesagt habe ich nicht die Zeit, dich lange zu überreden, da ich noch heute bei meinem Enkel in Leicestershire ankommen möchte. Also, sei brav, und lass mich schlafen. Für mich ist Reisen eine Plage, auch wenn kein törichtes Mädchen mich erzürnt.” Sie zog ihre Pelze enger um sich und schloss die Augen, als wäre alles gesagt.

“Aber mein Haus … meine Sachen … Martha …”, setzte Kate an.

“Martha kennt meine Pläne. Sie war sehr erleichtert, als sie hörte, dass du bei mir leben wirst, bis sich ein passender Ehemann für dich findet. Ich lasse dein Haus abschließen und die Schlüssel Martha übergeben.”

Kate wollte etwas sagen, doch die blauen Augen blieben geschlossen. Da saß sie nun, wütend und gedemütigt. Sie seufzte. Streiten war sinnlos. Sie würde mitgehen müssen, wo immer man sie hinbrachte. Dann erst würde sie weitersehen. Lady Cahill meinte es gut. Sie konnte ja nicht wissen, wie unangebracht ihre Güte war.

… bis sich ein passender Ehemann für dich findet. Nein, kein anständiger Mann würde sie nehmen. Nicht einmal der Mann, der behauptet hatte, er liebe sie über alles, wollte sie. Sie starrte hinaus, ohne etwas von der Gegend wahrzunehmen. Sie sah immer nur Harry vor sich, aus dessen Blick Abscheu und Verachtung sprachen.

Harry, den sie geliebt hatte, seit sie zurückdenken konnte. Mit neun Jahren war sie ihm zum ersten Mal begegnet, einem hoch aufgeschossenen, selbstbewussten Sechzehnjährigen, dem besten Freund ihres Bruders Jeremy. Als Kate siebzehn gewesen war, hatte er sie um ihre Hand gebeten, ehe er in den Krieg zog, und hatte sie mit warmen weichen Lippen geküsst.

Doch vor wenigen Monaten hatte ein völlig veränderter Harry sie mit den kalten Augen eines Fremden angestarrt und ihr wie alle anderen den Rücken gekehrt.

Kate biss sich auf die Lippen und versuchte die Aufwallung von Bitterkeit zu unterdrücken. Nein, nie wieder würde sie sich in diese Lage begeben. Es war zu schmerzlich, einen Mann zu lieben, wenn seine Liebe praktisch über Nacht kalter Verachtung weichen konnte.

Als die Kutsche in ein tiefes Schlagloch rumpelte, wurden die Insassen gründlich durchgerüttelt und fassten nach den Haltegriffen. Kate warf Lady Cahill einen Blick zu, doch die alte Dame schwieg und hielt die Augen geschlossen, sie war totenblass unter ihrer Schminke. Kate hing wieder ihren Gedanken nach.

Sie würde also nie heiraten. Na und? Es gab viele Frauen, die nie heirateten und ein glückliches Leben führten. Sie würde eine von ihnen sein. Sie brauchte dazu nur die Gelegenheit, und die wollte sie sich verschaffen. Vielleicht würde Lady Cahill ihr die Möglichkeit eines Anfangs bieten.

Heller Mondschein fiel auf den Weg, als die Reisekutsche in eine lange Zufahrt einbog. Sie führte zu einem großen, düsteren Haus, das die Ankommenden ohne einladende Lichter empfing.

An einem dunklen Fenster im Obergeschoss stand eine schattenhafte Gestalt. Jack Carstairs führte ein Glas an die Lippen. Er war übelster Laune, da er genau wusste, dass seine Großmutter erschöpft sein würde und er sie nicht fortschicken konnte. Und das wusste wiederum sie genau, diese listige alte Despotin, und hatte deshalb ihre Zofe vorausgeschickt, damit diese bis zu ihrer Ankunft alles vorbereitete. Im Gegenzug hatte Jack das Gefolge seiner Großmutter auf ebendiese Zofe reduziert und alle Übrigen im Dorfgasthaus einquartiert, um den Besuch seiner Großmutter, der ihre Bequemlichkeit über alles ging, abzukürzen.

Autor

Anne Gracie
<p>Schon als junges Mädchen begeisterte sich Anne Gracie für die Romane von Georgette Heyer – für sie die perfekte Mischung aus Geschichte, Romantik und Humor. Geschichte generell, aber auch die Geschichte ihrer eigenen Familie ist Inspirationsquelle für Anne, deren erster Roman für den RITA Award in der Kategorie beste Erstveröffentlichung...
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