Nur für diese eine Nacht ...

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Eine romantische Fahrt im Riesenrad, ein intimes Luxusdinner: Ohne an morgen zu denken, genießt Grace die Nacht mit dem Fremden. Schließlich glaubt sie, ihn nie wiederzusehen. Doch schon am nächsten Tag stockt ihr Herz, als sie ihren neuen Kollegen in der Klinik trifft...


  • Erscheinungstag 29.01.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729578
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Grace Turner sah sich in der perfekt eingerichteten Gästewohnung um – cremefarbene Wände, eine beige Couch mit passendem Klubsessel, auf der ein halbes Dutzend bunte Kissen thronten, ein roter Sessel direkt gegenüber und weiße Lilien in einer Glasvase auf dem Kaffeetischchen. Es gab sogar einen kleinen Sekretär aus Kirschholz mit einem Internetanschluss. Ihr Laptop passte perfekt auf die Schreibfläche.

Es fehlte an nichts, und sie war der Hunter Clinic sehr dankbar für den Komfort dieser zweiten Heimat. Außerdem waren es von hier nur zehn Minuten zu Fuß bis zur Harley Street Nummer 200, ihrer neuen Arbeitsstätte.

Sie betrachtete das geräumige Schlafzimmer mit dem extragroßen Bett. Hier wird demnächst nicht viel passieren. Ein Einzelbett hätte auch gereicht. Obwohl das Apartment ebenso luxuriös wie geschmackvoll war, wurde es Grace plötzlich zu eng. Sie musste hier raus. Und zwar sofort.

Um die Ecke gab es eine kleine, verkehrsberuhigte Straße mit hübschen Boutiquen und Restaurants. Aber irgendwie hatte sie die Nase voll vom Alleinsein. Und warum sollte sie neue Kleider kaufen, wenn es niemanden gab, für den sie sie tragen konnte?

Sie ging im Wohnzimmer auf und ab, bis ihr Blick auf die Einladung auf dem Kaminsims fiel. Grace war erst gestern aus den Staaten eingetroffen, und dies war ein Duplikat des Briefs, den sie schon vor ein paar Monaten bekommen hatte. Um ehrlich zu sein, hatte sie völlig vergessen, dass heute Abend ein Charity Event im London Eye, einer der größten Sehenswürdigkeiten der Stadt, stattfinden sollte. Leo Hunter, der Mann, der sie persönlich für seine Klinik engagiert hatte, würde auch da sein. Prima – sie würde ihren Boss einen Tag vor Arbeitsbeginn kennenlernen und außerdem bestimmt einen vergnügten Abend erleben. Das perfekte Gegenmittel zu ihrem Anflug von Lagerkoller.

Grace ging in die chromblitzende Küche und setzte Wasser für Tee auf. Obwohl sie müde war, war sie viel zu unruhig zum Schlafen. Sie brauchte jetzt etwas, um die aufkommende Müdigkeit nach dem langen Flug zu bekämpfen. Danach ging sie ins Schlafzimmer, um nach dem passenden Outfit für den Abend zu suchen.

Es war schwierig für sie, modische Kleidung zu finden, die ihre Narben verhüllte. Grace durchwühlte ihre beiden Koffer nach Tops, Kleidern oder Hosen, die für den Event in Frage kommen würden. Demnächst würde sie alles sauber und ordentlich in die Schubladen packen. Doch endlich fand sie, wonach sie gesucht hatte, nämlich ihren schwarzen Spitzenbody, der einen kleinen Rollkragen und lange Ärmel hatte, die ihre Handgelenke bedeckten. Er würde perfekt unter ihr ärmelloses kleines Schwarzes passen, das ihre Knie knapp bedeckte und die Blicke auf ihren größten Trumpf lenken würde – ihre Beine.

Es war zwar schon Mai, aber in London würde sich niemand wundern, wenn sie sich warm einpackte. Denn der Abend war zwar klar, aber auch kühl. Der Body war die perfekte Lösung für ihr Problem, zumal er sehr sexy war. Es gab kaum etwas Besseres, um die Narben zu verhüllen, als schwarze Spitze.

Eine Stunde später verließ sie – sorgfältig geschminkt, mit einer funkelnden Spange im Haar und der Einladung in der Hand – das Apartment.

Plötzlich fühlte Grace sich wieder wie ein Kind. Sie stieg nahe der Westminster Bridge aus dem Taxi, und ihr Blick fiel auf das London Eye, das hell erleuchtete berühmte Riesenrad. Der Taxifahrer zeigte ihr den Weg zum Eingang, und sie betrat voller Vorfreude den Eingangsbereich. Der große Raum war bereits voll festlich gekleideter Menschen aller Altersstufen, die sich angeregt unterhielten, tranken und kleine Köstlichkeiten von den silbernen Tabletts aßen, die ihnen von Kellnern im Smoking gereicht wurden.

Obwohl sie in Scottsdale, Arizona, zum Establishment gehörte, ließen sich die dortigen Feierlichkeiten nicht mit einem so opulenten Event vergleichen. Sie aß ein Lachsbrötchen, nippte an einem Glas Champagner und sah sich nach einem vertrauten Gesicht um. Aber der Einzige, den sie hätte kennen können, und das auch nur aus einem Fernsehinterview über weltberühmte Kliniken für plastische Chirurgie, war Leo Hunter.

Nachdem sie eine halbe Stunde lang in der Menge verbracht hatte, ohne ihn gesehen zu haben, fiel ihr ein besonders modisch gekleidetes Paar auf, das eine der Gondeln bestieg.

Vielleicht würde sie ihren Boss heute ja gar nicht treffen, doch sie konnte wenigstens die Gelegenheit nutzen, um die Sehenswürdigkeiten Londons von oben zu betrachten. Auf einer kleinen Tafel waren alle Fakten über das spektakuläre Riesenrad aufgelistet, und sie las, dass sie mehr als sechshundert Meter über dem Boden schweben würde.

Obwohl sie keine Höhenangst hatte, kannte sie doch die Furcht vor dem Absturz. Skeptisch betrachtete sie die Gondeln aus Stahl und Glas, die allerdings einen ziemlich stabilen Eindruck machten. Wenn sie nicht direkt am Fenster saß, würde es bestimmt gehen. Daher gab sie sich einen Ruck und betrat mit einer Gruppe Gäste die Rampe vor der nächsten Gondel.

Ein Mann stand bereits darin und stieg auch nicht aus, als sich die Gondeltüren öffneten.

Ihm gegenüber unterhielten sich zwei ältere Ehepaare leise miteinander. Grace nickte ihnen lächelnd zu. Doch obwohl sie ihren Gruß freundlich erwiderten, blieben sie auf Distanz. Einen Moment lang überlegte Grace, ob sie aus Sicherheitsgründen auf der Holzbank in der Mitte der Gondel Platz nehmen sollte, entschloss sich aber dann dagegen.

Der Mann auf der anderen Seite, der die Fahrt offensichtlich zum zweiten Mal machen wollte, blickte aus dem Fenster nach draußen und hatte ihr den Rücken zugewandt. Er trug ebenfalls ein Smokingjackett, hatte breite Schultern und dunkles Haar, das sich im Nacken lockte. Grace schätzte, dass er im selben Alter war wie sie. Er schien in Gedanken verloren zu sein. Obwohl sie ihn nicht stören wollte, machte sie einen zögernden Schritt auf ihn zu. Jetzt konnte sie sein Profil sehen.

Es war beeindruckend – mit hoher Stirn, ausgeprägten Augenbrauen und einer Nase, die bis auf die leichte Krümmung auf dem Nasenrücken fast perfekt war. Aus Sicht einer Schönheitschirurgin hatte er geradezu Modelmaße, bis hin zu den wohlgeformten Ohren.

Grace gehörte nicht zu der Sorte von Frauen, die beim Anblick eines attraktiven Mannes ohnmächtig wurden. Aber bei diesem Prachtexemplar bekam sie plötzlich eine Gänsehaut. Sie spürte ein leichtes Prickeln auf der Haut, und tief in ihr erwachte etwas zum Leben, das sie schon lange vergessen hatte.

Sie holte tief Atem und versuchte, sich zu beruhigen. Inzwischen war die Gondel bereits recht hoch gestiegen, und sie merkte, dass ihre Knie weich wurden. Sie warf dem Mann einen zweiten verstohlenen Seitenblick zu und griff nach dem Geländer, um sich daran festzuhalten.

Irgendetwas fesselte sie an ihm, über sein gutes Aussehen hinaus. Vielleicht hing es damit zusammen, dass er in Gedanken weit weg zu sein schien. Worüber mochte er wohl brüten? Gegen ihren Willen konnte sie nicht aufhören, ihn anzustarren.

Eins stand fest – er wirkte alles andere als glücklich. Vielleicht war es ja das, was sie an ihm so berührte und ihn zu einem Menschen machte, dem sie sich nahe fühlte.

„Hallo“, sagte sie und war selbst überrascht, einen völlig Fremden angesprochen zu haben. Aber zum Teufel – wenn sie in der nächsten halben Stunde schon hoch über der Themse schweben würde, warum sollte sie dann nicht wenigstens mit dem attraktivsten Mann sprechen, den sie seit Jahren gesehen hatte? Und wer könnte schon mit Sicherheit sagen, dass diese Gondelfahrt glimpflich verlaufen würde? Auch wenn Millionen von Besuchern die Fahrt bereits heil überstanden hatten, konnten dies sehr wohl die letzten dreißig Minuten ihres Lebens sein.

Wäre es nicht wunderbar, dann in diese Augen zu sehen?

Bei diesem Gedanken musste sie selbst lächeln. Eigentlich war sie von Hause aus keine Drama Queen. Anscheinend hatte die brütende Nachdenklichkeit, die der Fremde ausstrahlte, auf sie abgefärbt.

Eigentlich war dies der letzte Ort, an dem Mitch Cooper heute sein wollte. Aber Leo hatte ihn gebeten, ihn an diesem Abend zu vertreten, weil Lizzie und er mit einem Reiseveranstalter über ihre bevorstehenden Flitterwochen in Paris sprechen mussten. Offensichtlich war der Mann so ausgebucht, dass dafür nur ein Termin am Sonntagabend in Frage gekommen war.

Das Galadinner im London Eye war längst geplant gewesen, als Leo sich endlich ein Herz gefasst und Lizzie, die Pflegedienstleiterin der Hunter Clinic, einen Antrag gemacht hatte. Obwohl ihre Flitterwochen erst im Sommer sein würden, hatte Mitch gut verstanden, dass sein Boss hin und wieder einen freien Abend brauchte.

Viel lieber wäre er allerdings zu Hause geblieben, um Mia, seiner kleinen Tochter, etwas vorzulesen. Zwar passte Roberta auf sie auf, aber kein Kindermädchen konnte die Liebe eines Vaters ersetzen – oder die einer Mutter.

Außerdem fürchtete Mitch, dass dies nicht der letzte Abend dieser Art sein würde. Leo hatte nämlich all seine Mitarbeiter gebeten, hin und wieder bei den Charity Events zugegen zu sein, die die Hunter Clinic veranstaltete. Als verheirateter Mann musste er natürlich auch Zeit zu Hause mit seiner Frau verbringen, und da Mitch ein guter Teamplayer war, hatte er sich erboten, für ihn einzuspringen.

Denn schließlich lebten sie alle von der Klinik mit ihren reichen Spendern, die viel Geld für Notleidende ausgaben, und von den Patienten mit ihrem nicht enden wollenden Bedarf an Schönheitsoperationen. Wenn er sich in London ein neues Leben aufbauen und seiner Tochter alle Möglichkeiten offenhalten wollte, war das ein geringer Preis dafür.

Heute Abend hatte er so viele Gäste begrüßt, wie er nur konnte. Er hatte überall die Runde gemacht und seine Pflicht mehr als erfüllt. Deshalb wollte er sich auch noch eine Runde mit dem Riesenrad gönnen, bevor er nach Hause fuhr. Irgendwann würde er Mia hierher mitbringen. Das würde ihr ganz bestimmt gefallen.

Mitch liebte London, besonders am Abend. Das hing auch mit Hollywood und den düsteren Erinnerungen zusammen, die er an die Stadt hatte.

Dann sprach ihn plötzlich jemand an – eine Frau. Er wurde aus seinen negativen Gedanken gerissen, die in so ruhigen Momenten wie diesem immer unwillkürlich zu seiner Exfrau und seinem besten Freund zurückdrifteten.

„Hallo“, antwortete er mechanisch und sah weiterhin starr geradeaus. „Amüsieren Sie sich gut?“ Doch dann fiel ihm wieder ein, warum er überhaupt hier war. Er hatte schließlich ein Pflichtprogramm zu erfüllen. Deshalb wandte er sich zu der Person neben ihm um.

Die Zeit schien stillzustehen, als er eine unglaublich schöne Frau erblickte. Sie hatte große, helle Augen, die durch den schwarzen Eyeliner noch intensiver wirkten. Das Gesicht war umrahmt von dunklen Locken. Sie blickte ihn erwartungsvoll an. Da er sie nie zuvor gesehen hatte – denn daran hätte er sich bestimmt erinnert –, nahm er an, dass sie zu den reichen Spendern der Klinik gehörte.

Sie sah nicht so aus, als ob sie schon operiert worden wäre oder Botox nehmen würde. Beim Lächeln erschienen kleine Fältchen um ihre Augen und den Mund, was sie sehr natürlich wirken ließ. Sie hatte hohe Wangenknochen und perfekt geformte Lippen, die durch den pinkfarbenen Lippenstift noch einladender wirkten. Bei ihrem Anblick verschwanden seine düsteren Gedanken sofort, und er fühlte sich plötzlich sehr angeregt.

Wie war es nur möglich, dass er sich von einer schönen Frau derart angesprochen fühlte? War er so oberflächlich? Wahrscheinlich, denn sonst hätte er bestimmt nicht seine Exfrau geheiratet. Hatte er seine Lektion denn immer noch nicht gelernt?

„Sind Sie zum ersten Mal auf dem London Eye?“

Sie nickte. „Ich bin neu in der Stadt.“

Wahrscheinlich war sie gekommen, um sich in der Klinik operieren zu lassen. Eine andere Erklärung gab es nicht, denn heute waren nur geladene Gäste anwesend. All die schönen Frauen, mit denen Mitch je zusammen gewesen war, hatten die kosmetischen Korrekturen als ihr kleines Geheimnis bewahrt. Er hoffte nur, dass sie nicht vorhatte, ihre Lippen verändern zu lassen. Sie waren geradezu klassisch, mit dem Amorbogen der Oberlippe und der vollen Unterlippe. Größer war nicht immer gleich besser, und seiner Meinung nach wirkten Lippenkorrekturen selten natürlich. Nicht einmal unter seinen erfahrenen Händen.

„Wenn Sie hier ganz neu sind, sollte ich Ihnen wohl ein paar Sehenswürdigkeiten zeigen, oder?“

Ihr Lächeln vertiefte sich. „Auf jeden Fall. Übrigens – Sie sind auch Amerikaner, oder?“

Er nickte. „Ja, ich komme ursprünglich aus Kalifornien. Und Sie?“

„Aus Arizona.“

Gab es in Scottsdale nicht eine Schönheitsklinik, die weit über die Landesgrenzen bekannt war? Andererseits war es eine Kleinstadt, und vielleicht wollte sie nicht, dass bekannt wurde, dass sie sich einer Operation unterziehen wollte. Möglicherweise hatte sie ihren Freunden und Bekannten erzählt, dass sie Urlaub machen wollte. Wenn sie dann zurückkam, würde niemand sich wundern, wie frisch und erholt sie aussah. War das denkbar? Aber letztlich war es ja auch egal. Vielleicht sollte er aufhören, von Frauen immer nur das Schlechteste anzunehmen.

Stattdessen sollte er diesen Moment genießen und die Gegenwart von … ja, wie hieß sie denn eigentlich?

„Ich bin übrigens Mitchell, und Sie?“

„Grace. Freut mich, Sie kennenzulernen.“

Natürlich hieß sie Grace. Ein anderer Name kam für sie gar nicht in Frage.

„Also, Grace, dort hinten, die Themse hinunter, sehen Sie Big Ben. Und dieses Haus mit der gothischen Fassade ist das berühmte Parlamentsgebäude, die Houses of Parliament.“

Sie folgte seinem Finger, lächelte und nickte. Es gefiel ihm, dass sie ein bisschen näher getreten war. Jetzt stieg ihm ihr frischer, blumiger Duft in die Nase. Sie trug ein ziemlich sexy Kleid mit einem U-Boot-Ausschnitt. Doch anstatt aller Welt ihre körperlichen Vorzüge zu präsentieren, waren ihre Arme mit schwarzer Spitze bedeckt, was Mitch viel anziehender fand. Es ließ sich nicht leugnen, sie besaß Klasse. Diese vornehme Zurückhaltung machte ihn noch neugieriger darauf, was unter der Oberfläche verborgen lag. Kein Zweifel, er musste seinen Hut vor der schönen Grace aus Arizona ziehen.

Er räusperte sich. „Ach, und dort drüben ist die Westminster Abbey. Schauen Sie mal. Noch ein bisschen tiefer. Ja, da.“

Sie beugte sich vorsichtig nach vorn und zog ein Gesicht, als sie nach unten blickte.

„Haben Sie Höhenangst?“

„Nein. Nur Angst zu fallen.“

„Ich verspreche Ihnen, ich werde die Gondel nicht schaukeln. Bei mir sind Sie sicher. Aber warten Sie, ich kann Ihnen noch sehr viel mehr zeigen.“

Grace war beeindruckt von seiner Ortskenntnis. Ob er den Beruf wechseln sollte? Aber möglicherweise war sie auch nur leicht zufriedenzustellen.

„Im Dunkeln sieht alles so viel schöner aus, finden Sie nicht auch?“, fragte sie mit ihrer leicht rauen Stimme, die Mitch durch und durch ging.

Die Lichter der Stadt spiegelten sich in den Fenstern der Gondel und ließen ihr Gesicht von innen erstrahlen. Er nickte, denn er war durchaus ihrer Meinung. Ja, im Dunkeln sah alles noch viel schöner aus – und das galt auch für sie.

Den Rest der Fahrt verbrachten sie mit Small Talk. Sie waren einfach nur zwei Amerikaner, die sich in London amüsierten. Das war viel besser als alles, woran Mitch gedacht hatte, bevor Grace ihn angesprochen hatte.

Wenn er seinen Charme spielen ließ, lachte sie bereitwillig, und das gefiel ihm. Es erweckte in ihm den Wunsch, die Unterhaltung fortzuführen. Außerdem mochte er, dass sie in ihren modischen High Heels fast so groß war wie er. Denn das gab ihm die Möglichkeit, in ihre funkelnden blauen Augen zu schauen.

Als sie sich dann wieder dem Boden näherten, merkte Mitch, wie lebendig er sich plötzlich fühlte. Und er hatte eine verrückte Idee. Eigentlich wollte er sich noch nicht von dieser faszinierenden Frau verabschieden. Warum lud er sie nicht irgendwohin zum Essen ein?

Doch was Frauen anging, war er total aus der Übung. Er hatte keine Ahnung, was ihr gefallen würde. Was würde Mia denn jetzt gern tun? „Sind Sie auch ein Swinger?“

Grace sah ihn schockiert an, und Mitch erkannte sofort seinen Fehler. Er hatte natürlich nicht auf den freien Sex anspielen wollen, der mit dem Wort verbunden war.

„Entschuldigen Sie, das habe ich nicht gemeint. Ich wollte Sie fragen, ob Sie gern schaukeln.“

Sie lachte erleichtert. „Oh, verstehe. Naja, um ehrlich zu sein, habe ich seit einer Ewigkeit nicht mehr geschaukelt.“

In diesem Moment öffneten sich die Türen der Gondel. Die beiden älteren Ehepaare traten hinaus. Mitch nahm Graces Arm. „Ich kenne einen Spielplatz ganz in der Nähe – natürlich nur, wenn Sie möchten. Zu Fuß ist es nicht weit. Und vielleicht könnten wir danach noch etwas trinken?“ Hastig ließ er ihren Arm los, denn er wollte sie nicht bedrängen. Erwartungsvoll sah er in ihre blauen Augen. „Was sagen Sie dazu?“

Eigentlich rechnete er mit einem Nein. Aber das war ihm egal. Er wusste genau, dass er noch mehr Zeit mit dieser Frau verbringen wollte.

Doch was mochte sie von ihm denken? Schließlich kannte sie ihn ja gar nicht. Vielleicht hielt sie ihn ja für einen Serienkiller. Er hingegen hatte von Anfang an gewusst, dass sie eine Spenderin der Hunter Clinic war.

„Um ehrlich zu sein, leide ich noch ein bisschen unter Jetlag. Jedenfalls bin ich noch nicht müde. Also gut. Warum nicht?“

Mitch war mehr als glücklich über ihren Entschluss, ihm zu vertrauen.

Der Mann namens Mitchell holte ihnen noch zwei Gläser Champagner und führte Grace dann aus dem Eingangsbereich. Eigentlich war sie ganz froh darüber, dass sie seinen Nachnamen nicht kannte. Denn wenn sie ihren neuen Job antrat, würde sie sowieso keine Zeit mehr haben, irgendwelche Fremden kennenzulernen.

Sie ließen das Riesenrad hinter sich und wandten sich nach links. Auf dem Weg kamen sie an ein paar Straßenkünstlern vorbei. Grace sah auf ihre Uhr – es war kurz vor zehn.

Die Künstler stellten lebende Bilder dar. Einer war von Kopf bis Fuß silbern angestrichen und stand stockstill auf einer kleinen Kiste. Er hatte eine Glatze, trug einen Anzug und las ein Buch. Neben ihm stand ein Mann in Bronze, mit einem weichen Filzhut und einem Trenchcoat. Er wirkte wie jemand aus den vierziger oder fünfziger Jahren.

„Was machen die beiden eigentlich, wenn ihre Nase juckt?“, fragte Grace. Sie nippte an ihrem Glas und bewunderte die lebenden Kunstwerke.

Mitch lachte. „Mal sehen.“ Er trat nach vorn und legte einen Schein in die Büchse mit dem Kleingeld. „Was machen Sie, wenn Ihre Nase juckt?“, fragte er den bronzefarbenen Mann.

Der Straßenkünstler fing an, sich ganz langsam zu rühren. Zuerst bewegten sich seine Augen, dann rümpfte er die Nase. Er streckte wie ein Roboter den Arm aus und rieb sich damit den linken Nasenflügel. Danach zog er den Arm mechanisch wieder zurück und erstarrte in seiner ursprünglichen Pose.

Grace applaudierte begeistert. „Fantastisch!“

Mitch war ihr einen merkwürdigen Blick zu, nahm wieder ihren Arm und führte sie weiter, bis sie zu einem großen Spielplatz kamen, der von einem hohen Zaun umgeben war.

„Dies ist mein Lieblingsspielplatz“, erklärte er ihr.

Komisch war das schon – warum hatte er einen Lieblingsspielplatz? War er verheiratet und hatte Kinder? Sie verlangsamte ihren Schritt, und er bemerkte ihr Zögern sofort.

„Wahrscheinlich bin ich nie richtig erwachsen geworden“, meinte er.

Interessant. Ja, bestimmt hatte er ein Kind. Ob er ein alleinerziehender Vater war? Hoffentlich.

Aber heute Abend ging es ja gar nicht darum, irgendjemanden neu kennenzulernen und alles über ihn zu erfahren. Heute Abend wollte Grace ein Abenteuer mit einem völlig Fremden erleben, der zudem noch sehr attraktiv war. Je weniger sie über ihn wusste, desto besser. Dennoch beschloss sie, für alle Fälle auf der Hut zu sein, und merkte sich den Weg genau, den sie bisher genommen hatten.

Mitch ging mit ihr zum Eingang des Jubilee Playgrounds. Dort hing ein großes grünes Schild am Zaun.

„Spielplatz für junge Abenteurer“, las er laut vor und zwinkerte ihr zu. „Das sind natürlich wir.“

Grace betrachtete zweifelnd den Zaun und das geschlossene Gatter. Sie fragte sich, wie sie wohl hineinkommen sollten. Doch im nächsten Moment wurde sie schon von zwei starken Händen bei der Taille gepackt und hochgehoben. „Sie zuerst? Oder ich?“

Sie holte tief Luft. „Lassen Sie mich erst einmal meine Schuhe ausziehen.“

Er ließ sie herunter und führte sie ein paar Schritte weiter zu einer Böschung, wo der Zaun viel niedriger war. Dann kletterte er auf den Zementvorsprung und reichte ihr die Hand. Grace ließ ihre Schuhe ins Gras fallen und ließ sich von ihm hochziehen. Zur Hölle mit dem engen Kleid! Und wie gut, dass sie den Body trug!

Seine Augen funkelten, er sah sie herausfordernd an, als er über den Zaun kletterte und auf die andere Seite sprang. Aber wie, zum Teufel, sollte sie da wieder herunterkommen? Mitch erkannte offensichtlich seinen Fehler, denn er kam zurück. Dann machte er für sie eine Räuberleiter. Mit seiner Hilfe gelang es Grace, ebenfalls den Zaun zu überwinden.

Es war ein richtiger Abenteuerspielplatz, mit vielen Klettergeräten aus massivem Holz. Mitch schien nicht zum ersten Mal hier zu sein, denn er marschierte schnurstracks zu einer der Schaukeln. Er half ihr darauf und gab ihr einen kräftigen Schubs.

Bestimmt war er Vater. Aber auch Ehemann? Hoffentlich nicht, dachte Grace.

Sie ließ sich von der Schaukel in den Nachthimmel tragen und fühlte sich wieder wie ein Kind. Mitch ließ sich auf der anderen Schaukel nieder und tat es ihr nach.

„Das ist fantastisch“, japste sie schließlich und rang nach Luft. „Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das zuletzt gemacht habe.“

„Dann wurde es wohl höchste Zeit! Also, ich muss schon sagen – für jemand, der Angst hat zu fallen, schaukeln Sie ganz schön hoch.“

„Nur deshalb, weil ich alles unter Kontrolle habe.“

„Verstehe. Sie sind also eine Frau, die alles unter Kontrolle haben möchte. Wie erfrischend!“

Grace verstand genau, was er damit über dominierende Frauen sagen wollte. Sie lachte. „Vorsicht, Freundchen!“ Damit sprang sie mitten im Schwung von der Schaukel. Es war ziemlich riskant. Sie kam sich mehr wie ein Mädchen vor, das einem älteren Jungen imponieren wollte, als wie eine zweiunddreißigjährige Schönheitschirurgin.

Er applaudierte und stoppte seine Schaukel auf die altmodische Art mit den Füßen. „Wie wär’s jetzt mit der Rutsche?“

Sie lachte abrupt. „In diesem Kleid?“

„Immerhin sind Sie darin schon über den Zaun geklettert und aus der Schaukel gesprungen, oder?“

„Stimmt“, erwiderte Grace und wischte sich den Staub von den Händen. „Aber ich will mein Kleid wirklich nicht auf einer Wippe ruinieren.“ Sie ignorierte seinen Blick. „Wahrscheinlich haben Sie Ihren Smoking nur gemietet. Deshalb ist es Ihnen auch egal, was damit passiert.“

„Gut, wie sieht’s dann mit dem Klettergerüst aus?“

„Wer ist da?“, erklang plötzlich eine barsche Männerstimme von jenseits des Zauns. Im nächsten Moment wurden sie vom Strahl einer starken Taschenlampe erfasst. Am liebsten hätte Grace sich hinter einem Pfahl versteckt. „Das Betreten des Spielplatzes ist verboten.“

„Wir wollten eigentlich auch gerade gehen“, erklärte Mitch. Er streckte die Hand nach Grace aus, die sie ergriff. Ihr Herz klopfte bis zum Halse – nach dem Schaukeln und auch, weil man sie erwischt hatte.

„Das habe ich jetzt davon“, sagte sie zu Mitch in dem Versuch, die Situation zu entschärfen. „Ich lasse mich von einem Fremden zu einem Abenteuer verleiten. Wahrscheinlich lande ich als Nächstes im Gefängnis. Und dabei bin ich noch nicht einmal einen Tag in London!“

Dem Sicherheitsbeamten fiel auf, dass sie ein Abendkleid und Mitch einen Smoking trug. Verblüfft sah er sie an. „Sie sind ja nicht unbedingt passend angezogen für einen Spielplatz, oder?“

„Nein, mein Herr“, erwiderte Mitch mit gespieltem Ernst. „Um die Wahrheit zu sagen, wir sind Flüchtlinge aus der Gala, die die Hunter Clinic heute Abend im London Eye veranstaltet.“

Der finstere Gesichtsausdruck des Mannes hellte sich auf. „Meine Nichte ist dort behandelt worden, nachdem sie sich das Gesicht an einem Lagerfeuer verbrannt hatte. Ein großartiger Ort, diese Klinik in der Harley Street. Na gut, wenn Sie jetzt gehen, belasse ich es bei einer strengen Verwarnung.“

„Danke“, sagte Grace und marschierte direkt zum Eingang.

Der Mann sah ihnen verblüfft zu, als beide wieder über den Zaun kletterten. Mitch schüttelte ihm die Hand, und er wünschte ihnen eine gute Nacht. Dann gingen sie in verschiedene Richtungen davon.

„Ich bin am Verhungern“, erklärte Mitch und grinste Grace an. Er sah aus wie ein Junge, dem gerade ein Streich geglückt war.

Außer dem Lachsbrötchen hatte sie heute noch nichts zu sich genommen. „Um ehrlich zu sein, ich auch.“

„Ich kenne ein tolles Restaurant ganz in der Nähe. Können Sie in diesen Schuhen denn überhaupt laufen?“ Er wies auf die High Heels, die sie jetzt in der Hand trug.

„Na, ich habe es doch immerhin bis hierher geschafft, oder?“ Sie wischte sich den Staub vom Rock und dachte kurz daran, wie derangiert ihre Frisur wahrscheinlich war.

Er lächelte sie an, und seine weißen Zähne funkelten im Dunkeln. Irgendwie war es unfair, dass er so unverschämt gut aussah. „Bravo! Ich habe nichts anderes von Ihnen erwartet.“

Fünfzehn Minuten später saßen sie im dritten Stock der Royal Festival Hall in einem exklusiven Restaurant mit einem großartigen Blick auf die South Bank. Es war im Stil der fünfziger Jahre eingerichtet. Grace bestellte sich ein Glas Weißwein und Gnocchi, Mitch entschied sich für einen Cocktail und ein Steak.

Autor

Lynne Marshall
<p>Die USA-Today-Bestsellerautorin Lynne Marshall war beim Schreiben eine Spätzünderin: Lange dachte sie, sie hätte ein ernsthaftes Problem, weil sie so oft Tagträumen nachhing. Doch dann fand sie heraus, dass sie diese einfach niederschreiben konnte und daraus tolle Geschichten entstanden! Diese Erkenntnis traf sie erst, als ihre Kinder schon fast erwachsen...
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