Only You Band 7

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Eingeschneit in der abgelegenen Hütte oder gestrandet auf der einsamen Insel – wenn es bei der unfreiwilligen Zweisamkeit knistert, ist das doppelt gefährlich, denn man kann einander nicht aus dem Weg gehen und seine Gefühle kaum verbergen …

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  • Erscheinungstag 21.12.2024
  • Bandnummer 7
  • ISBN / Artikelnummer 9783751529730
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jessica Lemmon

1. KAPITEL

Mayor Chase Fergusons bester Freund und gleichzeitig Chef seines Sicherheitsteams betrat mit einem Blatt Papier in der Hand sein Büro.

„Beschäftigt?“, fragte Emmett.

„Extrem“, witzelte Chase. Er starrte seit zwanzig Minuten auf dieselbe Stelle an der Wand und überlegte, wie er auf die E-Mail des Gouverneurs antworten sollte.

„Es dauert nicht lange.“

Emmett lächelte nicht, aber Chase sah, dass sein Freund amüsiert war. Emmett kannte ihn besser als irgendjemand – wahrscheinlich sogar besser, als seine eigene Familie ihn kannte.

Emmett ließ das Blatt auf den Schreibtisch fallen und Chase nahm das ausgedruckte Farbfoto auf. Eine zierliche, wütend schreiende Frau war darauf abgebildet, in der Hand hielt sie ein Plakat. Es zeigte einen Vogel mit ölverschmiertem Gefieder, dazu die Worte: ÖL TÖTET. Eine zornige Menge im Hintergrund hielt ähnliche Plakate, doch es war die Frau, die seine Aufmerksamkeit fesselte.

Weiche dunkle Locken wehten über die feinen Wangenknochen und die vollen Lippen. Selbst jetzt, Jahre später, erinnerte er sich noch daran, wie es sich angefühlt hatte, wenn sie ihren geschmeidigen, schlanken Körper an seinen presste. Mimi Andrix war dünn wie ein Modell, hatte kleine Brüste und dezente Rundungen.

„Aus welchem Jahr stammt das Foto?“, fragte Chase.

„Es ist vor drei Jahren in Houston aufgenommen worden.“

„Wie bist du darauf gestoßen?“

„Einer deiner Wahlkampfleute hat es mir gebracht. Es kam zusammen mit der schriftlichen Drohung ins Büro, es an Jamie Holland zu schicken.“

Sein Gegner Jamie Holland war ein unsympathischer Kerl, der fragwürdige Beziehungen zu kriminellen Kreisen in Texas hatte und in unzählige illegale Aktivitäten involviert war.

„Wir versuchen herauszufinden, woher es kommt, hatten aber bisher kein Glück“, sagte Emmett in ruhigem, sachlichem Ton.

Chase seufzte. Wahlkampfzeit. Er befand sich in seiner zweiten Amtszeit und würde gern weitermachen. Er war nicht nur einer der jüngsten Bürgermeister von Dallas, sondern auch einer der wenigen Politiker, die unbestechlich waren. Als Sohn der Fergusons und einer von drei Inhabern von Ferguson Oil hatte er genug Geld. Es ging ihm nicht um Macht oder Prestige. Es ging ihm um Gerechtigkeit. Im Amt zu bleiben bedeutete, potenziell korrupte Politiker zu verdrängen. Jamie Holland, zum Beispiel.

„Ich habe sie sofort erkannt.“ Emmett tippte auf das Foto.

Sein Freund hatte an der dreimonatigen Reise teilgenommen, auf der er, Chase, Mimi kennenlernte. Emmett gehörte zu den wenigen, die wussten, was zwischen ihm und Mimi in jenem Sommer passiert war.

„Sie sollte wissen, dass sie zur Zielscheibe der Medien werden könnte.“ Mimi hasste die Politik. Es würde ihr nicht gefallen, während seines bevorstehenden Wahlkampfs in den Dreck gezogen zu werden, falls ihre frühere Beziehung ans Licht kam.

„Ich habe sie aufgespürt. Sie lebt in Bigfork. Du hast eine Reise nach Montana geplant, oder? Warum sagst du es ihr nicht persönlich?“ Sein Freund grinste vielsagend.

„Irgendwie bezweifle ich, dass sie mich mit offenen Armen willkommen heißen wird.“ Chase hatte Mimi das letzte Mal gesehen, als er sie in ein Flugzeug von Dallas nach Bigfork setzte. Ihr Gesicht war rot vor Wut und Enttäuschung gewesen – und für beides war er verantwortlich. Damals hatte sie ihn gehasst, und er glaubte nicht, dass sich daran etwas geändert hatte.

„Sie arbeitet für eine Naturschutzorganisation. Eine Umweltgruppe. In ihrer Biografie auf der Webseite steht etwas von ‚den Planeten retten‘.“

Chase verzog den Mund zu einem stolzen Lächeln. Mimi hatte ein riesengroßes Herz, in dem nicht nur er Platz gehabt hatte, sondern auch der Umweltschutz, für den sie sich leidenschaftlich einsetzte. Erst als sie mit ihm nach Dallas kam, erkannte sie das Ausmaß seiner Beteiligung an einem der größten Feinde der Umwelt – ihre Worte. Die Ölindustrie war das Geschäft seiner Familie.

Sie beendete die Beziehung jedoch nicht, als sie es herausfand. Er war überrascht, dass sie über die geerbten Milliarden hinwegsah, die aus genau der Industrie kamen, die das zerstörten, wofür sie sich einsetzte, doch sie tat es. Unter Tränen versicherte sie ihm, dass sie es ihm nicht übel nahm und dass sie es schaffen würden und dass ihre Gefühle füreinander das Einzige waren, was zählte.

Er war derjenige gewesen, der Schluss gemacht hatte. Es war ihm schwergefallen. Auch wenn es zwischen ihnen nie funktioniert hätte, mochte er sie und hätte sich eine einvernehmliche Trennung gewünscht.

„Hast du dich jemals gefragt, was geworden wäre, wenn ihr geheiratet hättet?“, fragte Emmett, der sich zur Tür drehte.

„Nein.“ Chase überdachte nie eine einmal getroffene Entscheidung.

„Als ich das Foto sah, habe ich mich gefragt, ob sie sich deinem Willen gebeugt und eine richtige Politikerfrau geworden wäre. Oder ob sie sich durchgesetzt und du gemeinsam mit ihr gegen das Übel Öl protestiert hättest.“

„Ersteres.“ Aus eben diesem Grund hatte er die Beziehung mit Mimi nicht fortgesetzt. Sie war eine wunderbare Frau, zu gut, um in die Politik gezogen zu werden und sich für ihre Vergangenheit entschuldigen zu müssen. Sein Wunsch, sie zu beschützen, hatte seine Entscheidung beherrscht, sie ins Flugzeug zu setzen. Ein sauberer Schlussstrich war das Beste, das hatte er ihr damals gesagt.

Emmett schloss die Tür hinter sich und ließ ihn mit Gedanken zurück, die er nicht wälzen wollte. Er hatte viele kurze Beziehungen in den zehn Jahren gehabt, seit Mimi und er sich getrennt hatten. Er wusste nicht, ob es am Alter lag, in dem sie gewesen waren – er sechsundzwanzig, sie dreiundzwanzig –, oder ob es am Übermut ihres Sommerflirts lag, aber sie war ihm bis heute im Gedächtnis geblieben. Die drei Monate in ihren Armen hatten sich mehr wie drei Jahre angefühlt.

Was auch immer es war, Mimi hatte einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen.

Damals war er nicht so konservativ gewesen wie heute. Er war mehr wie Rider, sein Vater. Mit Ecken und Kanten. Seine Mutter Eleanor hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Jungs anzupassen. Bei ihm hatte es funktioniert. Zach ging zwar mit der Unternehmenspolitik konform, dennoch war die wilde Ader seines Bruders stark ausgeprägt. Seine eigene wilde Ader dagegen war vor langer Zeit ausgemerzt worden. Vielleicht lag sie auf dem Boden des Flathead Lake in Montana.

Als er sich seiner politischen Interessen bewusst wurde, schwenkte er gern von rau auf kultiviert um. Wenn er nicht diesen Weg gegangen wäre, wäre er vermutlich wie Emmett geworden, der eine harte Schale und einen harten Kern hatte. Emmett entschloss sich, in der Security-Branche zu arbeiten – die perfekte Lösung für den bulligen und muskulösen Mann –, und es hatte nicht lange gedauert, bis Chase ihn bat, seine Sicherheitsabteilung zu leiten.

Emmett war immer noch für die Security zuständig, aber seine Aufgaben umfassten nun alles, was mit seiner Position als Bürgermeister zu tun hatte. Loyalität war der einzige Luxus, den man sich in der Welt der Politik nicht kaufen konnte, und so war Chase glücklich, dass sein langjähriger Freund hinter ihm stand.

Er nahm das Foto und versuchte, sich und Mimi heute vorzustellen. Sie hatte ihm damals vorgeworfen, ein Feigling zu sein und nicht sehen zu wollen, was sie so deutlich sah. Dass sie sich liebten und ein Paar waren, das für immer zusammenbleiben könnte.

Wenn du uns die Chance gibst.

Er hatte es nicht getan.

Chase öffnete die Schreibtischschublade und schloss das Foto darin ein. Trotz Mimis leidenschaftlicher Plädoyers für ihre Beziehung konnten sie nach wenigen Monaten nicht wissen, ob ihre Liebe für immer halten würde. Egal, wie gut der Sex gewesen war.

Lächelnd erinnerte er sich an die Wochen und Monate vor ihrem bitteren Ende. Sie waren erfüllt von Mimis Lachen. Er erinnerte sich an ihre Art, ihm das Haar zu zerzausen, und daran, wie sie lustvoll in sein Ohr seufzte, wenn er mit ihr schlief. Und wie sie ihn mehr als einmal an den See schleppte, ihm und sich die Kleidung vom Körper riss und ihn zum Nacktbaden im Mondlicht überredete.

Hoffentlich tauchten als Nächstes nicht Fotos von diesen Nächten auf.

Ja, er hatte viele schöne Erinnerungen an den Sommer. Einmal hatten sie sich zu einem Anwesen mit Blick auf den See geschlichen. Das Haus hatte eine fantastische Lage und verfügte über viele Zimmer.

Acht Schlafzimmer. Sechs Bäder. Tausenddreihundert Quadratmeter Grundstück.

Er wusste es, weil er die Villa über die Jahre im Auge behalten hatte. Vor drei Jahren war sie endlich zum Kauf angeboten worden, und er hatte sie für sechzehn Millionen erworben.

Damit war er auch Eigentümer eines großen Teils des Flathead Lake Ufers geworden. Seit ihm das Anwesen gehörte, war er dreimal – nein viermal – dort gewesen. Er versuchte, sich mindestens einmal im Jahr in der Villa aufzuhalten. Bei diesen Reisen beherrschte nicht Mimi seine Gedanken. Er klammerte sich nicht an Erinnerungen oder an die Vergangenheit. Wozu?

Chase erhob sich und schaute aus dem Fenster auf die Stadt. In achtzehn Monaten wurde gewählt, und die geplante Reise nach Bigfork war vermutlich seine letzte Chance, dem Trubel und der Politik zu entfliehen. Falls Mimi tatsächlich in die politische Schlammschlacht gezogen wurde, dann wäre er besser hier.

Für ganze zwei Sekunde zog er in Erwägung, die Reise abzusagen. Er konnte mit der Presse – gut oder schlecht – umgehen. Es gehörte zu seinem Job. Er scheute vor der Reise nicht wegen Mimi zurück, und er unternahm sie auch nicht ihretwegen.

Vergangenheit war Vergangenheit, und allein die Zukunft zählte.

Damit war die Entscheidung getroffen.

Bigfork, ich komme.

„Stefanie, bitte.“ Eleanor Ferguson saß auf der anderen Seite des Esstisches und schüttelte den Kopf über ihre einzige Tochter.

Stefanie verdrehte die Augen. Ihre Mutter behandelte sie wie ein Kind, wenn sie sich an den Feiertagen trafen oder an einem Pseudofeiertag wie diesem.

Sie warf einen Blick auf ihre Brüder. Chase, in Anzug und Krawatte, direkt aus dem Büro kommend, saß steif auf seinem Stuhl. Er zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Zach saß neben seiner Frau Penelope, war jedoch zu sehr mit seiner zehn Monate alten Tochter beschäftigt, um auf den Zank seiner Mutter und seiner Schwester zu achten.

Am Kopf des Tisches, gegenüber ihrem Vater, saß Emmett Keaton, Chases Sicherheitschef und dessen bester Freund. Schweigend aß er ein paar Gabeln grüne Bohnen und warf ihr einen Blick zu, das Gesicht ausdruckslos wie immer.

Gott, er macht mich verrückt.

Seit diesem unglücklichen Streit mit einem von Chases politischen Feinden beobachtete Emmett sie mit Argusaugen.

„Dies zählt nicht als Thanksgiving.“ Stefanie legte ihre Serviette auf ihren leeren Teller.

Das von einem Koch zubereitete Essen – ihre Mutter kochte nicht – war erstklassig. Goldbraun gebackener Truthahn mit Füllung, grüne Bohnen und dunkle Soße. Es gab nur ein Problem.

„Thanksgiving ist erst in zwei Wochen. Dies ist einfach …“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist falsch.“

Emmett grunzte, es könnte auch ein Lacher sein, und sie warf ihm einen bösen Blick zu.

„Warum ist der hier?“, fragte sie in die Runde.

„Rider. Erinnere deine Tochter an ihre Manieren in diesem Haus.“ Eleanor blickte zu ihrem Mann.

„Stef, Liebes.“ Ihr Dad lächelte. „Wir alle bringen Opfer. Glaubst du, ich möchte an meinem Lieblingsfeiertag auf einem Boot sein?“

„Es ist ein Kreuzfahrtschiff“, korrigierte ihre Mom.

„Em ist hier, weil er ein gutes Essen nicht ausschlagen kann“, sagte Chase im Plauderton.

Emmett grunzte wieder. Stefanie vermutete, dass es seine Art war, seinem Freund zuzustimmen.

Neandertaler.

„Es ist einfach falsch, Thanksgiving unterwegs zu sein.“ Frevlerisch sogar, aber sie wollte nicht melodramatisch werden. Bedeutete Tradition denn niemandem mehr etwas außer ihr? Chase wollte Urlaub an einem See in Montana machen. Allein. Zach und Pen würden mit ihrer Tochter Olivia zu Pens Eltern nach Chicago fahren, was, okay, entschuldbar war. Und ihre Eltern hatten eine Atlantik-Kreuzfahrt gebucht und würden im Badeanzug die Sonne genießen und Mai Tais trinken.

„Ich bin hier“, bot Emmett an.

„Wie schön für mich.“ Stefanie ahmte sein sarkastisches Lächeln nach, und er widmete sich wieder den Bohnen auf seinem Teller. Sie würde eher allein vor einem Gericht aus der Mikrowelle sitzen, als ihn an Thanksgiving zum Essen einladen.

„Stef, meine Eltern würden sich freuen, wenn du mit uns nach Chicago kämst.“ Pen hob ihre Tochter aus dem Kinderstuhl.

„Das ist sehr nett von dir.“ Stefanie lächelte ihre Schwägerin an. „Aber es ist schon okay. Ich werde einfach … früh mit der Weihnachtsdekoration beginnen.“

„Du meinst spät“, sagte Zach. „Im letzten Jahr hast du vor Halloween damit angefangen.“

Stefanie streckte ihrem Bruder die Zunge raus. Zach grinste.

„Ich lade dich nicht nach Montana ein.“ Chase nahm sich eine weitere Portion Kartoffelpüree. „Also frag gar nicht erst.“

„Ich will Thanksgiving sowieso nicht mit dir verbringen.“

„Gut so.“

„Wie verbringst du den Feiertag, Emmett?“, fragte Eleanor.

„Ich habe Bereitschaftsdienst. Die Security schläft nie.“

Stefanie war es gewohnt, von ihrer Familie umgeben zu sein, große Partys zu feiern und immer etwas zu tun zu haben. Sie hatte keine Übung darin, allein zu sein, das bedeutete aber nicht, dass sie es nicht konnte. Sie würde ihrer Familie, vor allem ihrer Mutter, zeigen, dass sie erwachsen war.

2. KAPITEL

Eingekuschelt in ihren knielangen Wintermantel marschierte Miriam Andrix über den asphaltierten Parkplatz. Sie hielt den Kopf gesenkt, um den eisigen Wind abzuwehren. Ihr Ziel? Whole Foods Market, wo sie die Zutaten für den Süßkartoffelkuchen besorgen wollte, wie ihre Mutter es ihr aufgetragen hatte. Es war das erste Jahr, in dem sie mit der Zubereitung des Desserts betraut worden war. Normalerweise kümmerte sie sich um eine Beilage wie Kartoffelgratin oder Cranberrysoße.

Moms Regeln waren alles andere als einfach, wenn sie ihre vier Kinder bat, sich an der Zubereitung des Thanksgiving Dinners zu beteiligen. Keine Zutaten aus der Dose, möglichst alles bio. Sie lieferte auch das Familienrezept für das gewünschte Gericht – von jeder Generation optimiert, eine Extraprise Zimt hier, eine Knoblauchzehe mehr dort.

Da Miriam kein Risiko eingehen wollte, kaufte sie nicht im Supermarkt um die Ecke ein, sondern im großen Biosupermarkt. Sie würde vermutlich ihr ganzes Gehalt hier ausgeben, aber zumindest könnte sie garantieren, dass nur die besten Süßkartoffeln in den Kuchen kamen.

Die Eingangstüren von Whole Foods schwangen automatisch auf, und der Duft von Apfelglühwein wehte ihr entgegen. Sie schloss die Augen, um ihren Lieblingsduft einzuatmen – Herbst –, doch ein konkurrierender Duft vermischte sich mit dem des Apfelweins.

Sandelholz. Kiefer. Ein Hauch von Leder … unheimlich vertraut.

„Mimi?“

Ihr Kopf schnellte hoch, und sie blickte auf einen Mann, der um einiges größer war als sie und unglaublich attraktiv. Die Stirn hatte er in Falten gelegt, sie entdeckte auch ein paar Fältchen um seine graugrünen Augen herum. Auf seinem Kinn machte sich ein leichter Bartschatten bemerkbar, sein Haar war so unordentlich wie vor zehn Jahren – das Einzige an Chase Ferguson, was nicht gezähmt werden konnte.

„Chase. Hallo.“ Sie blinzelte. Es war, als hätte sie ihn mit ihren Gedanken herbeigerufen. Vor einer Woche hatte sie ein Foto von sich zugeschickt bekommen, dessen Erhalt sie unterschreiben musste. Dem Foto hatte ein Brief vom Büro des Bürgermeisters in Dallas beigelegen – Chases Büro – der von einer Frau unterzeichnet war. Miriam hatte die beiden sauber getippten Absätze gelesen und den Brief dann in den Müll geworfen. Es gab keinen Handlungsbedarf, es war nur eine „Sensibilisierung“ dafür, dass sie im bevorstehenden Wahlkampf von Mayor Chase Ferguson erwähnt werden könnte und dass ihre Kooperation „in der Zukunft gefordert sein könnte“.

Der Brief war im Papierkorb gelandet, doch die Erinnerung an Chase blieb. Die ganze Woche schon dachte sie an den Sommer, den sie zusammen verbracht hatten, und ärgerte sich wieder über die Art, wie er die Beziehung beendet hatte. Noch heute machte sie auch seine Mutter dafür verantwortlich.

„Ich habe nicht damit gerechnet, dich während meines Aufenthalts hier zu treffen“, sagte der Mann aus ihrer Vergangenheit.

Es war dieselbe tiefe, seidenweiche Stimme, die sie in Erinnerung hatte, doch sein Texas-Slang war verschwunden, vermutlich dank eines gründlichen Trainings mit einem Sprachtrainer.

„Das sollte ich wohl eher sagen.“ Sie lächelte sparsam und trat zur Seite, um einer Frau mit Kinderwagen den Vortritt zu lassen.

Chase legte eine Hand an ihren Arm und zog sie von der automatischen Tür weg.

„Ja, du hast recht.“ Sein Lächeln verschwand. Er rückte die Papiertüte unter seinem Arm zurecht.

„Was machst du in Montana?“ Sie musste es fragen. Denn, mal ernsthaft … was?

„Meine jährliche Pause vom politischen Trara.“

Jährlich?

Der eisige Wind blies unter ihren Mantel, und sie schlug den Mantelkragen hoch. „Ich habe einen Brief erhalten, in dem besagtes Trara erwähnt wird.“

„Gut. Es ist nur fair, wenn du es weißt. Wir nehmen an, dass jemand aus dem gegnerischen Lager das Foto ausgegraben hat.“

Er klang distanziert und stand dabei keinen Meter von ihr entfernt. Genauso hatte der Brief geklungen – vermutlich, weil er von einer Mitarbeiterin geschrieben worden war und nicht von Chase selbst. Zu viele Jahre waren vergangen, als dass es noch wehtun sollte, und doch hatte es ihr einen Stich versetzt, dass er es nicht für nötig gehalten hatte, persönlich zu schreiben.

„Wo wohnst du?“

„Ich habe ein Haus hier.“

„Wirklich?“ Das war ihr neu.

„Am Flathead Lake.“

Eine weitere Erinnerung schoss ihr durch den Kopf – an Nächte, in denen sie ihn am Ufer eines privaten Anwesens im warmen Juli zum Nacktbaden überredet hatte. Zu beobachten, wie Chase sich auszog und dann vor ihr ins Wasser sprang, war eins der Highlights in dem Sommer gewesen. Er hatte einen großartigen Hintern.

Sie betrachtete seine breiten Schultern und seine hochgewachsene Gestalt. Die Anziehung, die er auf sie ausgeübt hatte, mochte geschrumpft sein, er war es ganz sicher nicht. Wenn überhaupt, dann war er physisch und auch im übertragenen Sinne gewachsen.

Mann, er ist irgendwie so groß wie Texas. Zumindest war er verantwortlich für einen Teil des riesigen Staates und hatte ein Milliardenvermögen in der Tasche.

„Pinecone Drive“, sagte er, als hätte er darauf gewartet, diese Information preiszugeben.

„Du meinst doch nicht … das Haus auf dem Hügel mit den vielen Fenstern?“

„Genau das. Ich habe es vor ein paar Jahren gekauft. Ich habe es immer gemocht. Leider komme ich nicht sehr oft hierher.“

„Und jetzt bist du mit … deiner Familie hier?“ Frau? Kinder? Sie sprach es nicht aus.

„Allein. Meine Eltern machen eine Kreuzfahrt nach Barbados, mein Bruder Zach verbringt mit Frau und Kind den Feiertag in Chicago.“

„Zach ist also verheiratet.“ Sie lächelte bei dem Gedanken, dass Chases jüngerer Bruder verheiratet und Vater war. Sie hatte ihn nur einmal getroffen, hatte aber schöne Erinnerungen an den lächelnden, blonden Mann mit den grünen Augen. Chases jüngere Schwester war damals gerade frisch von der Highschool gekommen, auch sie hatte sie kennengelernt. „Und Stefanie?“

„Es geht ihr gut. Sie ist Single.“

„So wie ich“, rutschte es ihr heraus.

„Ich bin es auch.“

Ihre Blicke trafen sich. In diesem sich hinziehenden Moment spürte Miriam ein Flüstern aus der Vergangenheit. Die Stimme sprach davon, was sein könnte, wenn sie zusammengeblieben wären … Was sein könnte, wenn … So viele Wenns.

Miriam wandte den Blick ab und schaute durch die Glastür auf die Fülle von Produkten, die auf sie warteten. Da drinnen wäre sie sicher. Sicher vor der Erinnerung an die Vergangenheit, die sie zu ersticken drohte. Neben Chase zu stehen weckte bei ihr den Wunsch, näher zu treten und gleichzeitig zurückzuweichen.

Ohne Zweifel ein Verteidigungsmechanismus.

„Ich muss weiter. Ich muss die Zutaten für einen Süßkartoffelkuchen kaufen. Für das Thanksgiving-Essen mit meiner Familie.“

„Mein Lieblingsdessert.“

„Tatsächlich?“

„Ich konnte es aber nicht in der Tiefkühltruhe finden, deshalb …“ Chase griff in seine Einkaufstasche und zog einen gefrorenen Kirschkuchen heraus, dann eine Tiefkühlpizza.

„Das ist nicht dein Ernst. Pizza an Thanksgiving?“

„Ich habe Wein im Haus. Es kann ganz schick werden.“

Er war der Inbegriff von „schick“. Angefangen bei den glänzenden Schuhen bis hin zum teuren Anzug, der sich unter einem langen dunklen Mantel verbarg. Dazu eine Krawatte. Chase roch geradezu nach Reichtum. Es war schwerer, sich vorzustellen, dass er eine Mahlzeit aus der Schachtel aß, als dass er Wein aus einer Flasche trank, die tausend Dollar gekostet hatte.

„Falls Tiefkühlpizza sich als zu arbeitsintensiv entpuppen sollte, habe ich auch noch Ofenkäse und Brot.“

Sie beobachtete, wie seine Stirn glatt wurde und der Hauch eines Lächelns seine Lippen umspielte. In diesem Moment sah Chase um Jahre jünger aus. Zehn Jahre jünger, um genau zu sein. Er erinnerte sie an den Jungen, in den sie sich verliebt hatte.

„Nun, genieße dein Brot und deinen Käse, in welcher Form auch immer.“ Sie nickte kurz und wandte sich ab, ohne das Gespräch höflich zu beenden.

„Mimi, warte.“ Er reichte ihr seine Visitenkarte. „Meine private Handynummer, falls du irgendwelche Probleme bekommst. Egal welche.“

Sie schluckte, bevor sie die Karte nahm. Dann nickte sie und eilte ohne einen Blick zurück in den Laden. Sie gab der Versuchung nicht nach, einen Apfelglühwein zu trinken, aus Furcht, Chase könnte ihr folgen und die gestelzte Unterhaltung fortsetzen.

Eine Unterhaltung, für die es in diesem Jahr keinen Platz gab. Eine Unterhaltung, die nur in einem Streit enden konnte, da sie und Chase bei so vielen Themen unterschiedlicher Meinung waren.

Sie blieb vor dem Stand mit den Süßkartoffeln stehen. In der Kiste lagen nur noch zwei knorrige Kartoffeln. Was für ein Tag. Keine Kartoffeln mehr da, dafür ein Ex-Freund, der viel zu gut aussah.

Die schlichte Visitenkarte wog schwer in ihrer Hand, doch sie konnte sich nicht einfach so davon trennen. Sie steckte sie in die Tasche und dachte stattdessen über ihren nächsten Schritt nach. Entweder die Frau neben ihr bestechen, damit sie ihr ein paar ihrer Süßkartoffeln abgab, oder die verdammten Dinger in Dosen kaufen und darauf hoffen, dass ihre Mutter es nicht merkte.

3. KAPITEL

„Hier kommt Kristine Andrix. Retterin des Tages!“, verkündete ihre jüngste Schwester, als sie am nächsten Abend mit einer Tüte Süßkartoffeln Miriams Apartment betrat.

Kristine, die von allen Kris genannt wurde, legte die Papiertüte auf die Küchentheke, und Miriam schaute hinein.

„Die sehen klasse aus.“

„Aus einem Bioladen. Ich habe sie gekauft, als ich letzte Woche angefangen habe, Süßkartoffeln zum Frühstück zu essen.“

„Frühstück?“ Seit jeher Gesundheitsfanatikerin, war Kris immer an irgendwelchen kulinarischen Experimenten interessiert. Im vergangenen Jahr war sie Veganerin gewesen und hatte ihren eigenen Tofu-Truthahn zum Thanksgiving-Dinner mitgebracht. Jetzt war sie Vegetarierin, aß aber nur Lebensmittel aus dem Whole Foods Market.

„Ja. Die Kartoffeln werden am Tag zuvor gebacken, morgens holt man sie dann aus dem Kühlschrank, wärmt sie auf und gibt Erdnussbutter und Zimt darauf.“

„Das klingt … lecker.“ Miriam trat ans Spülbecken, um die Kartoffeln zu schrubben. „Wann fährst du morgen zu Mom?“

„Ich fahre schon heute Abend.“

„Heute Abend?“ So viel zu dem Wein, den sie mitgebracht hatte. Miriam hatte gehofft, ihre Schwester bei einem Glas mit der Geschichte vom milliardenschweren Bürgermeister in Bigfork zu erfreuen.

„Brendan und ich sind eingeladen, dort zu schlafen.“ Kris zog die Augenbrauen hoch.

„In einem Zimmer?“

„Verrückt, nicht wahr. Dad hätte das nie erlaubt.“ Kris verzog den Mund zu einem traurigen Lächeln. Sie alle vermissten ihn so sehr. Die Feiertage waren am schlimmsten.

„Schade. Ich hatte gehofft, wir könnten eine Flasche Wein trinken, so wie …“ Miriam entschied, nicht die Worte „vor Brendan“ hinzuzufügen, denn sie gönnte Kris ihr Glück. Sie gab die gewaschenen Kartoffeln in einen Topf, und ihre Schwester stach sie mit einer Gabel an.

„Warum kommst du nicht mit?“

Kris lebte in Bigfork, nicht weit entfernt von ihr.

„Ich muss arbeiten. An einem Bericht, der schon Anfang der Woche hätte geschrieben werden sollen.“

„Irgendwie unfair, dass du an dem Abend, an dem der meiste Alkohol im ganzen Jahr konsumiert wird, arbeiten musst.“ Kris schürzte die Lippen.

„Nun, ich bleibe die Nacht von Thanksgiving auf Freitag bei Mom, damit wir am größten Shoppingtag des Jahres schon bei Morgengrauen die Geschäfte plündern können.“

„Schade, dass du nicht mehr mit Gerard zusammen bist. Brendan hätte dann jemanden zum Reden gehabt.“

„Gerard war kein großer Redner.“ Das war der Grund, weshalb sie sich getrennt hatten. Er erzählte kaum etwas von seinem Leben. Nicht, wie sein Arbeitstag gewesen war, nicht, welche Pläne er fürs Wochenende hatte oder dass er, während er mit ihr zusammen war, noch mit einer anderen Frau ausging. In der Hinsicht war er absolut schweigsam gewesen. „Wir schaffen es einfach nicht, gleichzeitig einen Freund zu haben.“

„Stimmt.“

Kris und sie waren nur zehn Monate auseinander. Beide hatte sie welliges dunkles Haar und den gleichen Schmollmund. Ihre älteren Geschwister Ross und Wendy waren sechs und vier Jahre älter.

„Da wir gerade von Freunden sprechen …“ Miriam verpackte die Kartoffeln in Folie und schob sie in den Backofen. Sie stellte die Uhr und lehnte sich dann gegen die Theke, während Kris sich ein Glas Wasser einschenkte. „Ich bin Chase Ferguson bei Whole Foods begegnet.“

„Wie bitte?“

„Ich wollte gerade reingehen, als er rauskam. Er macht hier Urlaub. Ich glaube, er hat das Anwesen am Pinecone Drive gekauft.“

„Das mit dem Hallenbad und dem Weinkeller und den tausend Schlafzimmern?“

„Ja. Und mit Blick auf den Flathead Lake.“

„Wow. Du scheinst das ganz gelassen zu nehmen.“

„Ich hatte ein paar Stunden Zeit, damit klarzukommen.“

„Du warst so verliebt in ihn.“ Kris schüttelte mitleidig den Kopf. „Und dann war er einfach weg.“

„Ja. Danke, dass du mich daran erinnerst.“

„Wie sieht er aus?“

„Oh, du weißt schon. Groß, dunkel und attraktiv.“

„Autsch.“ Ihre Schwester zuckte zusammen. „Mit wem ist er hier?“

„Mit niemandem. Er ist allein.“

„Weil seine Frau und seine Kinder Urlaub in einer Villa in der Toskana machen, während er hier seine Memoiren schreibt?“

„Es gibt keine Frau. Und auch keine Kinder. Ich glaube zumindest, dass er keine Kinder hat. Er hat nur erwähnt, dass er Single ist.“

„Das klingt ja nach einem interessanten Gespräch.“ Ihre Schwester zog eine Augenbraue hoch.

„Hauptsächlich haben wir vor Kälte zitternd dagestanden und versucht, die Balance zwischen höflich und kurz und knapp zu finden. Seine Eltern und Geschwister sind über Thanksgiving verreist, deshalb ist er hergekommen, um seine selten genutzte Villa zu genießen und Tiefkühlpizza zu essen.“ Miriam fummelte an der Rezeptkarte herum, die ihre Mutter ihr gegeben hatte. „Er hat gesagt, dass Süßkartoffelkuchen sein Lieblingsdessert ist. Das habe ich nicht gewusst. Warum eigentlich nicht?“

„Vielleicht, weil ihr beide die kurzen Sommermonate damit verbracht habt, im See zu knutschen, statt über Lieblingsgerichte zu sprechen?“

„Das ergibt Sinn.“ Miriam lächelte. „Ich wollte gerade sagen, dass es daran liegt, dass wir uns vor der Süßkartoffelsaison getrennt haben. Es ist Jahre her, dass ich an ihn gedacht habe … ich meine, wirklich an ihn gedacht habe. Es war eine dumme Sommeraffäre, und ich war hingerissen von ihm.“ Ihr Magen grummelte warnend bei der Lüge. Miriam ignorierte das Grummeln. Sie würde eher so tun, als hätte sie ihn nie geliebt, als zuzugeben, dass sie sich ein Glücklich-bis-ans-Lebensende vorgestellt hatte, bevor er so herzlos einen Schlussstrich zog. Scherzhaft fügte sie hinzu: „Ich könnte ihn zum Dinner bei Mom einladen.“

„Ja, tu das.“

Sie sah ihre Schwester aus großen Augen an. „Was? Warum? Das war ein Scherz.“

„Chase soll ruhig sehen, was ihm entgangen ist.“

„Danke, Kris.“ Miriam war gerührt, aber nicht sicher, dass sie dem zustimmte. „Es gibt nichts, womit ich angeben könnte. Abgesehen von einem Job, den ich liebe, habe ich keinen Mann, keine Kinder und auch keinen Nobelpreis.“

„Nichts davon ist wichtig.“ Kris holte Miriams Handy vom Esszimmertisch und reichte es ihr. „Lade ihn ein. Hast du überhaupt seine Nummer?“

„Ja, habe ich. Er hat mir seine Karte gegeben.“

„Dann los, ruf ihn an.“

Miriam nahm ihr das Handy aus der Hand und steckte es in die Gesäßtasche ihrer Jeans. „Erinnerst du dich an die Demonstration vor ein paar Jahren mit einer Naturschutzgruppe in Houston?“

„Gegen Ölkonzerne, richtig?“

Miriam nickte und erzählte von dem Brief, der in der vergangenen Woche gekommen war. „Er hatte nicht geplant, mich während seines Aufenthalts hier zu treffen, deshalb weiß ich nicht, wieso er mir seine Karte gegeben hat. Vergiss es einfach.“

„Spielverderberin.“

Damit war das Thema erledigt, und sie unterhielten sich über Gott und die Welt, nur nicht über sexy Bürgermeister und Sommeraffären.

Zwei Stunden später war der Kuchen fertig und kühlte ab. Miriam schenkte sich ein Glas Rotwein ein, nachdem Kristine gegangen war, und setzte sich mit ihrem Laptop aufs Sofa. Die Webseite, die sie öffnete, hatte jedoch nichts mit ihrer Arbeit zu tun. Es war die Seite der Stadt Dallas, die mit einem Porträt von Chase.

Sie nahm seine Visitenkarte und rieb mit dem Daumen über die Telefonnummer.

Ein Glas Wein reichte schon, dass ihre Entschlossenheit bröckelte. Das und der Duft nach Süßkartoffelkuchen.

„Verdammt sei er.“

Sie wischte über das Display, wählte die ersten acht Ziffern seiner Nummer und hielt dann inne.

Wieso kümmerte es sie, wenn ihr Ex-Freund an Thanksgiving allein aß? Sollte ihr die Vorstellung nicht gefallen, dass der Mistkerl, der ihr das Herz gebrochen hatte, den Feiertag allein in seiner Riesenvilla verbrachte? Nur war es nicht ihre Art, lange Groll zu hegen, und selbst die verschwommene Erinnerung an ihr gebrochenes Herz konnte sie nicht davon abhalten, die restlichen Ziffern zu wählen und geduldig zu warten, während das Telefon klingelte, einmal, zweimal und dann ein drittes Mal. Als sie gerade auflegen wollte, hörte sie eine vertraute Stimme.

„Chase Ferguson.“

„Chase, hi, hier ist Miriam.“

„Miriam?“

„Andrix“, sagte sie durch zusammengebissene Zähne. Hatte er in den letzten zehn Jahren so viele Frauen gehabt, dass er den Überblick verloren hatte? Oder hatte er ihr Zusammentreffen gestern bereits vergessen.

„Ich weiß. Für mich bist du Mimi.“

Seine heisere Stimme war wie eine Umarmung. Er hatte sie immer Mimi genannt, und bis heute war er der Einzige, der das getan hatte, abgesehen von ihrer besten Freundin in der dritten Klasse. Ihre Familie nannte sie entweder Miriam oder Meems.

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja, alles bestens.“ Sie räusperte sich und trank sich mit einem Schluck Wein Mut an. „Meine Mutter lebt etwa zwanzig Minuten nördlich von Bigfork. An Thanksgiving haben wir genug zu essen für zehn weitere Personen. Du bist eingeladen, mit uns zu essen.“

Sie presste die Lippen zusammen, damit sie nicht runterratterte, was es geben würde, und dass sie zwei von seinen Lieblingskuchen gebacken hatte. Sie flehte ihn nicht an zu kommen, sondern sprach die Einladung wie eine alte Bekannte aus.

Schweigen am anderen Ende der Leitung.

„Chase?“

„Nein. Danke.“

Sie wartete auf eine Erklärung. Es kam keine. Nicht einmal eine lahme Ausrede, dass er arbeiten musste. Sie warf einen finsteren Blick auf ihren Laptop und Chases attraktive Visage und schloss den Deckel.

„Gibt es sonst noch etwas?“

„Nein“, blaffte sie ihn an. „Das ist alles.“

„Gut.“

Sie wartete auf einen Abschiedsgruß, doch es kam keiner, also legte sie auf.

„Mistkerl.“ Sie warf das Handy auf den Couchtisch und stand auf, um ihr Glas nachzufüllen. Sie hatte aus reiner Freundlichkeit angerufen, und er hatte ihr das Gefühl gegeben, dumm und verzweifelt zu sein.

Genau wie vor zehn Jahren.

„So ist er nun mal, Miriam“, sagte sie sich und schenkte sich noch mehr Wein ein. „Ein Mann, dem eine sechzehn Millionen teure Villa gehört, die er selten besucht. Ein Mann, der nur daran interessiert ist, seinen Kontostand zu erhöhen und wunderschöne Grundstücke zu kaufen.“

Sie trank einen großen Schluck und dachte, dass Eleanor Ferguson, sosehr sie Chases Mutter damals auch verachtete, recht gehabt hatte.

Sie und Chase waren getrennt besser dran.

4. KAPITEL

Miriam war gerade fünf Minuten in der Küche ihrer Mutter, da beklagte sie sich schon über Chase und das Telefonat am vergangenen Abend.

„Er ist der Bürgermeister von wo?“, fragte ihr Bruder Ross und nahm sich noch eins von den Brötchen, die Kris in den Brötchenkorb legte.

„Dallas“, erwiderte Kris. „Und lass meine Brötchen liegen. Ich habe drei Dutzend gebacken, und du hast schon drei verschlungen.“

„Vier.“ Er grinste.

Kris opferte ein weiteres und warf es nach ihm, doch Ross, der am College Footballspieler gewesen war, fing es auf, winkte und flüchtete ins Esszimmer.

„Er verhält sich nicht wie ein Neununddreißigjähriger“, sagte Kris. „Egal. Chase ist ein Idiot, und es tut mir leid, dass du damit fertig werden musst.“

„Ja, nun. Mir tut leid, dass mir erst, nachdem ich aufgelegt hatte, eingefallen ist, was ich hätte sagen sollen.“

„Zum Beispiel?“

„Ich hätte sagen sollen, dass ich nicht zu seinen Untergebenen gehöre und etwas Besseres verdient habe als ein Nein danke. Ich hätte ihn darauf hinweisen sollen, dass ich auch ohne seine Milliarden erfolgreich geworden bin, und das auf einem Gebiet, auf dem ich keine globale Erwärmung verursache. Meine Art von Arbeit ist bewundernswert.“

„Ist sie, Süße.“

„Danke.“

Miriam hatte ihr Studium in Agrarwissenschaften abgeschlossen und dann einige Jahre am Schreibtisch gearbeitet, bis sie merkte, wie unbefriedigend es war, Papiere von einer Seite des Tisches auf die andere zu schieben. Vor fünf Jahren war sie über die Montana Conservation Society gestolpert, eine Gesellschaft zur Bewahrung der Schöpfung, und hatte dort ihre Berufung gefunden. Sie fing als Programmmanagerin an und war inzwischen zur Leiterin für Studentenangelegenheiten befördert worden. Sie arbeitete hauptsächlich mit Teenagern. Sie lehrte sie, die Umwelt zu achten und Sorge zu tragen für die Welt, in der sie alle lebten.

Dennoch hatte Chase sie abgefertigt, als würde sie als Aushilfskraft auf seiner Gehaltsliste stehen.

„Ich hätte zu seinem Angeber-Haus gehen und ihm sagen sollen, was ich von seinen verschwenderischen Gewohnheiten und seinem selbstherrlichen Verhalten halte.“

„Wer, Liebes?“ Ihre Mutter betrat die Küche und deutete auf den Brötchenkorb. „Kristine, stell ihn bitte auf den Tisch. Wir fangen gleich an.“

„Niemand“, antwortete Miriam. „Nur … niemand.“

Kris schlurfte ins Esszimmer, und ihre Mutter sah ihr nach.

Seit ihr Vater vor fünf Jahren nach Komplikationen bei einer Herzoperation gestorben war, hatte ihre Mom die Rolle beider Elternteile übernommen. Der Verlust des Vaters war für niemanden einfach gewesen, doch für ihre Mutter am schlimmsten. Neununddreißig Jahre Ehe waren wie ein ganzes Leben.

„Miriam, würdest du bitte die Weinflaschen nehmen und sie zum Tisch bringen?“

„Natürlich.“ Erleichtert, dass das Gespräch zu Ende war, tat sie, worum sie gebeten wurde.

Beim Dinner jedoch rührte sie den Wein nicht an und aß auch kaum etwas.

„Meems, was ist los mit dir?“, fragte Wendys Freundin Rosalie.

Miriam blinzelte und merkte, dass sie auf ihren Kartoffelbrei gestarrt hatte, Chase im Kopf. „Arbeit. Das ist los.“

„Wie war das Sommercamp? Ich wollte dich schon fragen, war aber so beschäftigt.“

Beschäftigt als Chirurgin.

Miriam erzählte von dem Camp für Achtklässler. „Du kennst das Leben erst, wenn du mal für dreißig pubertierende Jugendliche in Zelten verantwortlich warst.“

Wendy stieß Rosalie mit der Schulter an. „Das ist es, wovor ich sie jedes Mal warne, wenn sie von Kindern anfängt.“

„Kinder sind etwas Wunderbares“, sagte Ross’ Frau Cecilia genau in dem Moment, als ihre fünfjährige Tochter Raven ein mit Butter bestrichenes Brötchen auf den Boden warf.

„Raven!“

Während Ross seiner Tochter erklärte, dass Lebensmittel auf den Teller gehörten und nicht auf den Teppich, beantworteten Wendy und Rosalie die Fragen nach Kindern. Samenspender, darüber waren sie sich einig, sie hatten aber auch nichts gegen eine Adoption.

Mom warf ein, dass es ihr egal war, wie sie es anstellten, solange sie ein weiteres Enkelkind bekam.

„Oder zwei“, fügte sie mit einem vielsagenden Blick auf Kris und Brendan hinzu. „Meems, gibt es jemanden bei dir?“

Das war der Moment, in dem Miriam der Geduldsfaden riss.

„Entschuldigt.“ Sie sprang auf, und im Raum herrschte plötzlich Stille. Selbst Raven schien die Wichtigkeit des Augenblicks zu spüren und hörte auf zu nörgeln. Alle sahen zu ihr. „Ich muss noch etwas erledigen.“

„Was? Jetzt?“, fragte ihre Mutter mit erhobener Stimme.

„Ich bin in einer Stunde wieder hier, spätestens. Viel Zeit also fürs Dessert. Und fangt ruhig an zu spielen.“ Sie könnte es leicht nach Bigfork und zurück schaffen, bevor der traditionelle Brettspielkampf begann. Und sie hatte auch kein Problem damit, sich aus einer Unterhaltung über Familie und Kinder zu verabschieden, wenn es einen Mann ganz in der Nähe gab, der seinen Abend so verbrachte, als gäbe es sie nicht. Alles schon mal erlebt. Und sie hatte kein Interesse an einer Wiederholung dessen, was vor zehn Jahren gewesen war.

Miriam lief in die Küche und suchte in den Schränken nach einem Plastikbehälter. Dann schnitt sie einen der Kuchen an und gab drei große Stücke in den Behälter. Sie würde Chase zeigen, was ihm entging.

Sie zog gerade ihren Mantel an, als ihre Mutter in der Tür erschien und auf den Behälter mit dem Kuchen blickte.

„Wohin um alles in der Welt willst du mitten beim Thanksgiving-Dinner?“

Ihre Mutter war eine schmale, dünne Frau, die auch mit Anfang sechzig noch das Aussehen eines Supermodels hatte.

„Ich erwarte nicht, dass du es verstehst.“ Miriam drückte ihr den Arm. „Aber es gibt jemanden, mit dem ich reden muss, sonst kann ich keine einzige Sekunde meines Urlaubs genießen. Ich … es ist einfach etwas, was ich tun muss.“

„Und ein Anruf reicht nicht?“ Judy bedachte ihre Drittgeborene mit einem wissenden Lächeln.

„Nein.“ Sie würde eine Wiederholung des gestrigen Abends nicht riskieren.

„Es hat wieder angefangen zu schneien.“

„Mein Wagen hat Allradantrieb.“

„Ich vermute, du gehst auf jeden Fall. Egal, was ich sage.“ Ihre Mutter verschränkte die Arme. Sie kannte ihre Tochter gut.

„Eine Stunde. Höchstens“, wiederholte Miriam und legte eine Hand an den Türknauf.

„Nimm dem Bürgermeister wenigstens einen Teller Essen mit“, rief ihre Mutter, bevor Miriam verschwinden konnte. „Du kannst nicht nur mit Kuchen auftauchen.“

„Woher …“ Miriam beugte sich um ihre Mutter herum und sah ins Esszimmer, wo Kris auf dem Platz ihres Vaters saß.

Ihre Schwester warf ihr einen Luftkuss zu.

Der erst ein Jahr alte Ford F-150 war für Fahrten durch den Schnee ausgerüstet. Doch als sie fast in Bigfork war, wurde die Sicht immer schlechter, und die normalerweise zwanzigminütige Fahrt dauerte eine Stunde. Zu allem Überfluss näherte sich die Tanknadel gefährlich der Reserveanzeige. Bei einer Höchstgeschwindigkeit von zwölf Meilen pro Stunde kam sie kaum voran. Weil sie das Wetter unterschätzt und ihren F-150 überschätzt hatte, würde sie es auf keinen Fall zurück zum Haus ihrer Mutter schaffen.

Trotzdem wollte sie zu Chase. Sie würde nicht nur wenige Meilen von seinem Haus entfernt aufgeben. Auf keinen Fall.

An einer roten Ampel schrieb sie eine kurze Nachricht an Kris:

Ich werde heute Abend allein zu Hause feiern. Bigfork versinkt im Schnee. :-(

Noch bevor die Ampel auf Grün sprang, klingelte ihr Handy.

„Du musst zurückkommen!“, sagte Kris.

„Es ist eine Katastrophe hier draußen.“ Die Scheibenwischer fegten die Schneeflocken weg, und Miriam bog rechts ab in Richtung Pinecone Drive zum Haus des Bürgermeisters von Dallas.

„Ich dachte, der Schneesturm zieht an uns vorbei.“

„Bigfork hat es erwischt. Ich bin in einem Winterwunderland.“

„Du bist noch auf der Straße?“, fragte ihre Schwester.

„Ja, aber ich bin fast zu Hause. Sag den anderen, dass es mir leidtut. Ich melde mich nachher.“ Sie rang sich ein Lächeln ab, als sie sich in Gedanken in den Hintern trat, weil sie das Haus ihrer Mutter verlassen hatte. „He, vielleicht können wir später einen Videoanruf starten.“

„Ist das Miriam? Ist mit ihr alles in Ordnung?“, rief ihre Mutter dazwischen.

„Alles gut“, rief Kris zurück. Dann an sie gewandt: „Ich sage ihr, dass du sicher zu Hause bist … Dahin fährst du doch, oder? Nach Hause?“

„Natürlich.“

„Meems.“

„Ich muss weiter.“ Miriam beendete das Telefonat mit Kris, der sie offensichtlich keine sensiblen Informationen anvertrauen konnte, und setzte die Fahrt zu Chases Villa fort.

Sobald sie ihm in die Augen geblickt und dafür gesorgt hatte, dass er verstand, wer sie geworden war, würde sie nach Hause fahren. Wer war sie? Eine Frau, die sich nicht alles gefallen ließ. Eine Frau, die sich und ihren Weg in den zehn Jahren nach der Trennung gefunden hatte. Ihre größte Sorge war, dass er noch das Bild von damals im Kopf hatte. Sie neben dem Privatjet stehend, bitterlich weinend und ihn anflehend, nicht zu gehen.

Oder schlimmer, die, die gemailt und angerufen hatte, nachdem sie zurück in Montana war. Sie war zu der Zeit so schwach gewesen, doch Chase war stark geblieben.

Sauberer Schlussstrich, hatte er gesagt und es so gemeint.

Wohingegen sie ihm weiter ihre Liebe erklärte und ihre Behauptung wiederholte, dass sie füreinander bestimmt waren. Nie zuvor und auch nie wieder danach hatte sie sich so sehr geirrt.

Chases Mutter Eleanor hatte in ihr nicht die Frau fürs Leben ihres Sohns gesehen, sondern eine Ablenkung, die er sich nicht leisten konnte. Miriam wusste es, weil Eleanor es war, die den einzigen Anruf, der auf Chases Handy entgegengenommen wurde, annahm.

An Thanksgiving.

Miriam blinzelte geschockt. Das hatte sie ganz vergessen.

Ja, es war Thanksgiving gewesen. Sie erinnerte sich, dass sie sich bei ihren Eltern und Geschwistern entschuldigt hatte, als die ein neues Brettspiel auspackten. Sie hatte sich in Kristines Zimmer eingeschlossen und Chase angerufen.

Nun bog sie in das Seeviertel ein, wo die wohlhabendsten Bürger von Bigfork lebten, fuhr an den schneebedeckten, teuren Neubauten vorbei zum älteren Teil des Viertels. Die Häuser, die näher am See lagen, standen auf Hügeln, hatten große Grundstücke und kosteten ungleich mehr.

Zehn Minuten lang navigierte sie den Wagen durch dunkle, verschneite Straßen in Richtung Pinecone Drive.

Dies ist eine schlechte Idee.

Nicht die Fahrt durch den Schneesturm – sie vertraute auf ihre Fahrkünste und auf ihren Wagen – aber Chase zu konfrontieren. Das Telefonat von vor zehn Jahren ging ihr durch den Kopf.

Dies ist der Apparat von Chase Ferguson. Mit wem spreche ich?

Sie hatte Eleanors Stimme sofort erkannt, doch sie wollte sich von der Frau nicht einschüchtern lassen. Ihre Beziehung mit Chase betraf nur sie beide – das zumindest hatte sie geglaubt.

Hören Sie zu, Darling. Ich verstehe, dass Sie meinen Sohn mögen, ich kann jedoch nicht zulassen, dass es so weitergeht. Er strebt ein hohes politisches Amt an. Er hat eine Zukunft bei Ferguson Oil. Wollen Sie ernsthaft behaupten, dass Sie diesen Zielen nicht im Weg stehen? Wenn Sie ihn wirklich lieben, dann unterstützen Sie ihn, indem Sie ihn sein Leben in Dallas leben lassen. Ohne Sie.

Miriam hatte nicht herausgefunden, ob Chase seine Mutter gebeten hatte, die Schmutzarbeit für ihn zu erledigen, oder ob Eleanor den Anruf entgegengenommen und ihren Sohn darüber im Dunkeln gelassen hatte. Am Ende spielte es aber auch keine Rolle.

Sie hatte sich gemeldet. Er war unsichtbar geblieben.

Dumm. Dumm von ihr, heute Abend hierherzukommen.

An der Zufahrt zu dem riesigen Anwesen blieb sie stehen, um die Situation einzuschätzen. Das Grundstück war umgeben von Bäumen, die Lichtung blockiert von einem Tor mit einem Tastenfeld, zu dem sie würde hinauffahren müssen. Ihr Wagen würde es schaffen, dessen war sie sich sicher. Sie hoffte nur, dass Chase einen Kanister mit Benzin hatte, damit sie später nach Hause fahren konnte, sonst …

Nein. Daran würde sie nicht einmal denken.

Sie fuhr den steilen, verschneiten Hügel hinauf. Glücklicherweise wurde der Weg zum Tor hin eben, sodass sie nicht im Schnee zurückrutschte. Sie drückte eine Taste, um hereingelassen zu werden. Eine an der Klingelanlage angebrachte Kamera war auf sie gerichtet. Miriam nahm den Behälter mit dem Süßkartoffelkuchen vom Beifahrersitz.

Sie wartete. Vielleicht ist er gar nicht da, dachte sie unglücklich. Oder vielleicht war er beim Einkaufen vom Schneesturm überrascht worden und war irgendwo im Hotel geblieben …

„Mimi.“ Chases tiefe Stimme kam durch den Lautsprecher, erstaunt und vorwurfsvoll zugleich.

„Hi.“ Sie wedelte mit dem Behälter. „Kuchenlieferung. Ich bleibe nicht lange.“ Es entstand eine Pause. Keine Antwort. Sie hätte geschworen, seinen lasergleichen Blick durch die Kamera zu spüren. Ein Summen ertönte, das Tor glitt auf.

Der Weg zum Haus wirkte unberührt. Weder Fußabdrücke noch Reifenspuren waren im Schnee zu sehen. Sie fuhr vors Haus und überlegte, ob sie den Motor laufen lassen sollte, stellte ihn dann aber ab, um Benzin zu sparen, und stieg aus.

Sie erschauerte, als der eisige Wind durch ihr Haar fegte. Das Licht auf der Veranda wurde eingeschaltet, und Chase erschien draußen in Pullover und Jeans und Turnschuhen, die nicht wetterfest aussahen.

„Turnschuhe bei diesem Wetter. Bist du verrückt?“ Sie nahm die Behälter mit dem Essen und dem Dessert vom Beifahrersitz und schloss die Tür.

„Du nennst mich verrückt? Was zum Teufel machst du hier?“

„Ich habe doch gesagt, dass ich nicht lange bleibe.“ Sie drückte ihm den Behälter mit dem Kuchen in die Hand. Dies war der Moment, auf den sie gewartet hatte – sie würde Chase Ferguson ihre Meinung sagen.

„Komm rein“, befahl er, sein Atem war in der Kälte sichtbar.

Aus Gewohnheit schloss sie ihren Wagen ab. Er piepste kurz. Mit finsterem Gesicht blickte Chase bei dem Geräusch über ihre Schulter. Lass dich nicht nervös machen, sagte sie sich. Sie würde ihm sagen, was sie zu sagen hatte, danach den Koloss von Auto umdrehen und direkt nach Hause fahren.

Gehe nicht über Los. Ziehe nicht 200 $ ein.

Sie würde den Spieleabend mit ihrer Familie wirklich vermissen. Ein Gefühl des Bedauerns überkam sie. Und dann noch etwas anderes, als Chase die Hand an ihren Ellenbogen legte.

„Sei vorsichtig“, sagte er mürrisch und deutete auf die fast nicht mehr zu sehenden Stufen. „Du hast hoffentlich einen guten Grund, hier zu sein. Abgesehen vom Kuchen.“

Keine Sorge, Mayor, den habe ich.

5. KAPITEL

Chase wusste, dass Miriam eigensinnig war, aber durch den Schneesturm zu fahren, um ihm etwas zu essen zu bringen, war mehr als eigensinnig. Es war gefährlich. Und dass Miriam sich in Gefahr begab, war inakzeptabel – vor allem, wenn er der Grund dafür war.

Er schloss die Tür hinter sich, während sie sich schon im Haus umsah. Im Kamin war Holz aufgeschichtet, die Streichhölzer lagen neben einer Zeitung, die er gerade zum Anzünden des Feuers zerknüllen wollte, als sie am Tor klingelte. Am Morgen waren Lebensmittel für eine Woche geliefert worden, danach noch eine Fuhre Brennholz. Die Wetternachrichten hatten vorausgesagt, dass der Schneesturm an Bigfork vorbeiziehen würde, aber er hatte kein Risiko eingehen wollen.

„Würdest du mir bitte die Küche zeigen?“, bat Mimi.

„Was machst du hier?“

„Du hast gesagt, wenn ich etwas brauche …“

Sie reckte ihr Kinn, um zu ihm aufzusehen, da er bereits die drei Stufen hinaufging, die zur Küche führten. Miriam war noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Ihr Gesicht war schmaler geworden, die Wangenknochen wirkten dadurch akzentuierter und die vollen Lippen noch sinnlicher – sie luden mehr zum Küssen ein, als sie es sollten.

Er nahm ihr die Behälter ab und zeigte auf den Schrank in der Diele. „Häng deinen Mantel auf.“

„Ich bleibe nicht so lange. Der Schneesturm wird schlimmer und …“

„Und du wirst ihn hier abwarten.“ Auf keinen Fall würde er sie bei diesem Wetter fahren lassen.

„Nein, das werde ich nicht.“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Aber ich könnte ein paar Liter Benzin für die kurze Fahrt nach Hause gebrauchen. Ich möchte nicht …“

„Mantel, Mimi.“ Er ging die Treppe hinunter, seine Nasenflügel bebten. „Und dann gehst du am Wohnzimmer vorbei nach rechts, und du siehst die Küche.“

„Ich folge dir“, blaffte sie ihn an, doch sie zog den Mantel aus und legte ihn über ihren Arm.

In der Küche stellte er die Behälter ab – den einen mit dem Süßkartoffelkuchen, den sie am Tor gezeigt hatte, und die anderen beiden übervoll mit dem Thanksgiving-Dinner.

Hinter ihm stieß sie einen anerkennenden Pfiff aus.

„Wow.“

Fast ehrfürchtig ließ sie den Blick über die große Insel in der Mitte gleiten, deckenhohe Schränke, den Sechs-Flammen-Gasherd und den glänzenden zweitürigen Kühlschrank. Sie warf ihren Mantel über einen der Hocker an der Kücheninsel. Die enge Jeans betonte ihre ellenlangen Beine, und der rote Pullover mit Rundhalsausschnitt entblößte zarte, helle Haut. Kein aufregendes Dekolleté – eine Tatsache, die sie oft beklagt hatte, als sie vor zehn Jahren zusammen waren. Es war ihm egal gewesen. Ihr Anblick in einem String-Bikini und die Art, wie sich ihre Brustwarzen wegen des kalten Wassers im See unter dem hellblauen Oberteil abzeichneten, waren mehr als ausreichend gewesen, um sein Interesse zu wecken.

„Ja, also Truthahn, Füllung, grüne Bohnen. Alles, was man braucht.“ Sie legte die Finger aneinander, als sie sprach. „Der Süßkartoffelkuchen ist zum Dessert.“

„Warum bist du hier, Mimi?“, wiederholte er.

Bei seinem fordernden Tonfall kniff sie die Augen zusammen, die so braun waren wie der Waldboden. Dunkel und anklagend.

„Ich bin hergekommen, um dir zu zeigen, dass ich nicht mehr die verliebte Dreiundzwanzigjährige bin, die du auf einem Flugplatz in Dallas zurückgelassen hast. Du magst ein milliardenschwerer Ölmagnat und ein Politiker mit einer riesigen Villa sein, aber ich bin auch jemand geworden.“

„Ist das so?“ Er kam hinter der Kücheninsel hervor, und Mimi trat einen Schritt zurück. Er würde nicht zulassen, dass sie ihn zu einem reichen Dreckskerl machte, ohne dem etwas entgegenzusetzen. „Du bist also die zweite Mutter Teresa.“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich Mutter Teresa bin.“

„Nein, aber du hast angedeutet, dass ich der Teufel in Person bin, deshalb habe ich angenommen …“

„Du hast keine Ahnung, was ich angedeutet habe. Du kennst mich nicht. Du siehst mich noch so, wie ich früher war.“

„Dito.“ Er musterte sie, angefangen bei den haselnussbraunen Haaren bis zu den Füßen in den kniehohen Stiefeln. Sie kleidete sich anders als damals, und das nicht nur, weil es eine andere Jahreszeit war. Sie hatte etwas Förmliches an sich. Weniger verspielt, als er es in Erinnerung hatte. „Du bist erwachsen geworden. Ich bin erwachsen geworden. Das passiert.“

„Im Gegensatz zu dir sitze ich nicht herum und zähle die Millionen auf meinem Bankkonto. Ich helfe Menschen.“

„Das tue ich auch. Jetzt hör mit dem Mist auf und sag mir, warum du hier bist.“ Er würde nicht noch einmal fragen.

„DAS habe ich gerade getan! Am Telefon hast du mir nicht zugehört, deshalb musste ich persönlich kommen, um …“

„Quatsch. Du bist fast eine halbe Stunde gefahren …“

„Über eine Stunde.“

„… und das bei diesem Wetter, um mir ein kaltes Thanksgiving Essen und meinen Lieblingskuchen zu bringen. Jetzt sag nicht, du hast den Weg auf dich genommen, um mir deine Meinung zu geigen.“

Sie leckte sich die rot geschminkten Lippen. Rot wie Cranberrys. Passend zu ihrem Pullover. Er wusste, dass sie im Gegensatz zu den Früchten süß wie Honig schmeckte.

„Ich dachte, du freust dich über das Essen.“

„Das tue ich. Es erklärt aber nicht, warum du hier bist.“

Sie zog die Augenbrauen hoch und presste die vollen Lippen aufeinander. Lippen, die er unzählige Male geküsst hatte. Er hatte in jenem Sommer jede Gelegenheit wahrgenommen, ihre von der Sonne verwöhnte Haut zu küssen und seine Nase in ihr duftendes Haar zu schmiegen. Damals hätte er am liebsten für immer seine Nase in ihr nach Kokosnuss duftendes Haar gesteckt.

Bis die Realität sie einholte.

„Ich habe versucht, dich zum Essen zu uns nach Hause einzuladen, damit du nicht allein essen musst.“ Sie schnaubte.

„Also bin ich das Äquivalent zu einem streunenden Hund, der einen Knochen braucht.“ Er breitete die Arme aus, um auf den großen Raum hinzuweisen, in dem er stand. „Sehe ich so aus, als könnte ich nicht für mich selbst sorgen?“

„Du hast Nein gesagt!“ Sie schrie praktisch.

„Das ist mein gutes Recht.“

Was wollte sie? Er hatte mit ruhiger, neutraler Stimme gesprochen. Er war im Laufe seiner Karriere von vielen Menschen angeschrien worden, und es war seine zweite Natur, alle Emotionen zu unterdrücken, die nicht zu einer effektiven Lösung führten.

Die Linie ihres Mundes wurde weicher. Ihre Augenbrauen senkten sich wieder. Er sah nackte Verletzlichkeit in ihrem Gesichtsausdruck und begriff.

Ich bin ein Idiot.

„Ich habe deine Gefühle verletzt“, sagte er. Wie hatte er so begriffsstutzig sein können? „Deshalb bist du hier.“

Sie machte pfff, doch er hatte recht. Er sah es daran, wie sie das Gewicht auf einen Fuß auf den anderen verlagerte – sich vor Verlegenheit wand. Einige Dinge an Mimi hatten sich in den letzten zehn Jahren geändert, einige aber nicht. Sie war dieselbe sture, wunderschöne, hoffnungsvolle Frau, mit der er damals geschlafen hatte, jedoch mit noch stärkerem Rückgrat und noch eigenwilligerem Kopf. Sie hatte ihm heute Abend das Essen nicht gebracht, weil er Almosen brauchte, sondern weil …

„Die Vorstellung, dass ich allein esse, hat dich gestört.“

Autor

Lucy Ryder
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