Palast der sinnlichen Träume

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Heißes Begehren erwacht in Scheich Rafik, als er Gabby im Palast begegnet. Doch dieses Gefühl sollte er besser ignorieren! Da er angeblich nicht mehr lange zu leben hat, und die junge Lehrerin seinen Bruder heiraten soll, darf er sich nicht nach ihrer Liebe sehnen - oder?


  • Erscheinungstag 21.09.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733727598
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Er zog sein Leinenhemd wieder an und setzte sich rittlings auf den Stuhl. Dort, wo der helle Stoff auseinanderklaffte, wurde Rafiks gebräunter, muskulöser Oberkörper sichtbar. Dadurch, dass er fast sieben Kilo an Gewicht verloren hatte, traten die Muskeln noch deutlicher hervor.

Sein Gesicht verriet nichts von dem Sturm, der in ihm tobte. Gegen den Drang ankämpfend, den grauhaarigen Franzosen von seinem Stuhl zu zerren und zu schütteln, ballte er die Fäuste.

Der Mann log. Er musste einfach lügen!

Aber das stimmte nicht. Nicht nur, dass der Arzt gute zwanzig Jahre älter war als er. Rafik merkte es sofort, wenn ihn jemand anschwindelte. Und dieser Mann war ehrlich. Er sagte die Wahrheit. Eine bittere Wahrheit zwar, die niemand gern hörte, aber die Wahrheit.

Rafik würde seinen fünfzigsten Geburtstag nicht mehr erleben. Oder, genauer gesagt, nicht einmal seinen dreiunddreißigsten.

Nachdem das Rauschen in seinen Ohren ein wenig abgeklungen war, ermahnte er sich immer wieder: „Du musst die Dinge nehmen, wie sie kommen.“

Das war so leicht gesagt.

Jahrelang in Selbstdisziplin geübt, gelang es ihm, Ruhe zu bewahren. Eine eisige Ruhe. „Wie viel Zeit bleibt mir noch?“

Pierre Henri strich seinen Anzug glatt und stand langsam auf. Bei seinem Ansehen hatte er keinen weißen Kittel nötig, um sich Respekt zu verschaffen. Er durchquerte den Raum, nahm die Röntgenbilder vom Leuchtschirm und ließ sie in den Umschlag gleiten. Dabei suchte er nach den passenden Worten.

Einem Patienten niederschmetternde Diagnosen beizubringen war eine der Tätigkeiten in seinem Beruf, die er am wenigsten schätzte. Aber so etwas gehörte auch dazu, und Pierre Henri stand in dem Ruf, hierin sehr einfühlsam zu sein. Normalerweise hatte er in solchen Situationen keine Probleme, die richtigen Worte zu finden.

Er wusste, wie wichtig die Körpersprache war – es kam nicht nur darauf an, was man sagte, sondern auch, wie man es tat. Natürlich hatte er auch gelernt, dass man behutsam vorgehen und unbedingt das Positive betonen musste, auch wenn es in einer solchen Lage kaum etwas Positives zu sagen gab. Aber für den Kranken machte so eine Ermutigung einen riesigen Unterschied.

So unterschiedlich seine Patienten auch waren, aufgrund jahrelanger Erfahrung wusste Pierre Henri, wie er mit jedem Einzelnen zu sprechen hatte.

Selbstverständlich gab es auch Ausnahmen. Und dieser Mann ist eine davon, dachte er, als er sich wieder auf seinen Stuhl sinken ließ.

Der finstere Blick seines Gegenübers hielt seinen fest, und Pierre merkte, wie er nervös wurde. Er war ein angesehener Arzt und ließ sich normalerweise nicht verunsichern. Doch nun, als ihn der Kronprinz von Zantara mit unergründlichem Blick aus silbergesprenkelten Augen ansah, schien es, als hätten Arzt und Patient die Rollen vertauscht.

Obwohl Rafik Al Kamil gerade eben die schlimmste Diagnose überhaupt erfahren hatte, war er derjenige, der das Heft in der Hand hatte.

Pierre wusste, dass es sinnlos war, zu versuchen, sich in seinen Patienten hineinzuversetzen. Dieser Mann war undurchschaubar – und zudem ein Einzelgänger. Keine dieser Eigenschaften war in seiner Macht und seinem Reichtum begründet. Obwohl die königliche Familie von Zantara in dieser Hinsicht Pierres oftmals begüterte und einflussreiche Patienten bei Weitem übertraf.

Pierre war ratlos. Erschütterung, Nicht-wahrhaben-Wollen und Wut – die Reaktionen waren so unterschiedlich wie die Patienten. Alles das hatte er immer wieder erlebt. Aber in seiner ganzen beruflichen Laufbahn war ihm noch nie jemand untergekommen, der überhaupt nicht reagierte.

Wie war es möglich, jemandem zu helfen, der den Eindruck machte, als benötige er keine Unterstützung?

Oft wirkte es Wunder, jemanden zur rechten Zeit freundschaftlich an der Schulter zu tätscheln, aber in diesem Fall wäre diese Geste unangemessen gewesen. Sie konnte als Respektlosigkeit verstanden werden und wäre möglicherweise sogar Hochverrat.

„Ich muss Sie also drängen, Herr Doktor.“

Pierre zuckte zusammen und wurde rot.

Zum ersten Mal zeigte der Prinz eine Regung, und zwar Ungeduld. Diese Reaktion war einschüchternd. Das hier war keine Gleichgültigkeit, sondern …

Pierre schüttelte den Kopf, ihm fiel kein passendes Wort dafür ein. Er als Nichtbetroffener verspürte mehr Wut und Verbitterung, als dieser junge Mann zu empfinden schien. Nie hatte Pierre seinen Patienten solche niederschmetternden Diagnosen mitteilen können, ohne sich dabei schlecht zu fühlen. Noch schwerer traf es ihn, wenn die betroffene Person noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt hätte, wenn der Patient in der Blüte seiner Jahre stand. Dann erschien es ihm weitaus tragischer und sinnloser.

Plötzlich kam dem Arzt in den Sinn, dass die Haltung des Prinzen vielleicht daher rührte, dass ihm nicht klar war, wie schlecht es um ihn stand. Er rückte seine Brille zurecht und sah den Anwärter auf den Thron von Zantara freundlich an. „Vielleicht habe ich mich undeutlich ausgedrückt, Prinz Rafik?“

„Ich muss zugeben, dass mir manche der medizinischen Fachausdrücke nicht geläufig sind.“

Das bezweifle ich, dachte der Franzose. Er ließ sich von der Äußerung nicht irreführen. Der intelligente Blick des jungen Prinzen war ihm von Anfang an aufgefallen. Und spätestens anhand der Fragen, die dieser ihm gestellt hatte, hatte er erkannt, dass sein Patient mit einem messerscharfen Verstand ausgestattet war.

„Bitte unterbrechen Sie mich, wenn ich mich irre“, begann Rafik und dachte dabei: Bitte unterbrechen Sie mich unbedingt. Lassen Sie das alles nur ein großes Missverständnis sein. „Ich habe eine seltene Erkrankung des Blutes, und zwar in einem so weit fortgeschrittenen Stadium, dass keine Hoffnung mehr auf Heilung besteht.“ Fragend hob er seine dunklen Brauen. „Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?“

Pierre Henri räusperte sich. „Sie fragen sich sicherlich, warum es ausgerechnet Sie getroffen hat?“

Rafik stand auf, um seinen Hemdsaum in den Hosenbund zu stecken, und zuckte mit den Schultern. Er zögerte, bevor er antwortete.

Mit seinen zwei Metern erschien er dem sitzenden Pierre wie ein Riese. Breitschultrig, langbeinig und muskulös, wie er war, stach Rafik hervor, auch ohne sein makelloses Gesicht von klassischer männlicher Schönheit.

„Warum nicht ich?“ Warum sollte ausgerechnet er von den grausamen Launen des Schicksals ausgenommen sein? Es gab genügend Unschuldige, die ein wesentlich schlimmeres Los getroffen hatte, und er war nicht unschuldig. Aber er hatte noch eine Mission zu erledigen.

Wahrscheinlich dachte jeder in dieser Situation, dass er mehr Zeit brauchte. Aber bei Rafik war es wirklich so – er hatte keine Zeit zu verlieren.

„Da haben Sie natürlich recht. Eine sehr … gesunde Ansicht. Eine fabelhafte Haltung.“

„Also, wie viel Zeit bleibt mir noch?“

Der Arzt senkte den Kopf und blickte zu Boden. „Nun ja … das lässt sich nicht so genau sagen.“

Das bedeutete nichts Gutes. Rafik stellte sich auf das Schlimmste ein. „Und was würden Sie als Fachmann schätzen?“

„Wenn Sie wollen, können Sie eine zweite Meinung einholen.“

Viele Patienten, die mit einer so schrecklichen Diagnose konfrontiert wurden, taten das. Vor allem solche, deren finanzielle Mittel es zuließen, im Privatjet Ärzte aus Paris einfliegen zu lassen.

„Sind Sie nicht der Beste in Ihrem Fachgebiet?“

Rafik wusste, dass er eigentlich etwas hätte empfinden sollen … doch was? Hilflosigkeit, Wut, Resignation, nahm er an. Aber nach dem ersten Schreck in dem Moment, in dem er begriffen hatte, wie es um ihn stand, hatte er kaum etwas anderes empfunden als Eile. „Wie viel Zeit bleibt mir noch?“

„Das ist schwer einzuschätzen, aber ich würde sagen, sechs …“

Rafik bemerkte, wie unwohl dem Arzt zumute war, aber er hatte kein Mitleid mit ihm. Stattdessen steigerte sich seine Ungeduld. „Sechs – was? Tage? Wochen? Monate?“ In keinem dieser Fälle würde er genug Zeit haben, um seinen jüngeren Bruder auf die Rolle des Thronfolgers vorzubereiten.

„Sechs Monate.“

Nichts an der Haltung des jungen Mannes verriet, dass man ihm gerade eben sein Todesurteil verkündet hatte.

„Selbstverständlich verläuft die Krankheit nicht immer gleich. Und wenn Sie die Schmerztherapie, über die wir gesprochen haben …“

„Wird diese Therapie mich beeinträchtigen? Hat sie Einfluss auf mein Denkvermögen?“

Der Arzt bestätigte die Frage mit einem Kopfnicken. „Aber Sie könnten damit ein halbes Jahr an Zeit gewinnen.“

Rafik machte eine wegwerfende Handbewegung. „Kommt nicht infrage.“

„Ich kann Ihren Zustand wöchentlich überprüfen.“

„Wie Sie wünschen, Herr Doktor.“

„Es tut mir sehr leid, Hoheit.“

Auf diese Mitleidsbekundung reagierte der junge Mann mit einem kalten, verächtlichen Blick. „Das ist nett von Ihnen“, sagte er aufgesetzt lächelnd, bevor er sich entschuldigte und den Raum verließ.

Auf dem Gang konnte Rafik Al Kamil die Maske fallen lassen. All seine Gefühle drängten explosionsartig an die Oberfläche. Er stieß einen Fluch aus und schlug mit der Faust gegen die Wand.

Durch die halb geschlossenen Lider sah er noch immer das Mitleid im Gesicht des Franzosen. Mitleid! So etwas konnte und wollte er überhaupt nicht ertragen. Er schauderte bei dem Gedanken, den gleichen mitleidigen Gesichtsausdruck in den Gesichtern all derjenigen Menschen zu sehen, die ihm gegenübertraten.

Er biss die Zähne zusammen, und eiserne Entschlossenheit und Stolz kehrten in sein aristokratisch geschnittenes Gesicht zurück. Das würde nicht passieren. Geräuschvoll stieß er den Atem aus. Auf keinen Fall würde er Angstgefühle zulassen oder in Selbstmitleid verfallen. Er würde sterben, wie er gelebt hätte: nach seinen eigenen Regeln. Aber zunächst hatte er noch unglaublich viel zu erledigen.

Entschlossen ging er hinaus ins Freie.

Eine halbe Stunde später fand Rafik sich in den Stallungen wieder, ohne eine Ahnung zu haben, wie er dorthin gekommen war.

Hassan, der Stallbursche, der Rafik als Kind auf sein erstes Pferd gesetzt hatte, näherte sich ihm.

„Prinz Rafik“, begrüßte ihn der ältere Mann und neigte den Kopf. Er verhielt sich respektvoll, ohne unterwürfig zu sein.

„Hassan.“ Rafik lächelte freudlos.

„Wünschen Sie, dass ich Ihnen ein Pferd sattle?“

Rafik streckte eine Hand aus und berührte das ihm am nächsten stehende Pferd an der Flanke. „Warum nicht?“, antwortete er gleichgültig.

Durch die Wüste zu reiten war für ihn jedes Mal eine äußerst lebensbejahende Erfahrung gewesen. Und noch war er am Leben. In anstrengenden Zeiten fand er in der Wüste immer wieder zu sich selbst. Der Anblick und der Klang dieser alterslosen Landschaft machten seinen Kopf frei und halfen ihm, sich zu sammeln.

„Seine Laune ist nicht die beste“, warnte Hassan und sah dabei den Prinzen an. „Er ist unruhig und braucht Bewegung.“

Diese Information war überflüssig – der schwarze Hengst, der Rafik gebracht wurde, rollte mit den Augen und bäumte sich auf.

„Aber das gilt vielleicht auch für Sie …?“ Der ältere Mann brach ab, denn er hielt es für klüger, sich seine Sorge um den Prinzen nicht allzu direkt anmerken zu lassen.

Er hatte den Prinzen aufwachsen sehen. Aus dem lebhaften, munteren Jungen war ein starker, entschlossener und energischer Mann geworden.

Trotzdem war Prinz Rafik fähig, für jeden Menschen Mitgefühl aufzubringen, außer für sich selbst. Kurz gesagt – er war ein Mann, der all das verkörperte, was man von einem Staatsoberhaupt erwartete.

Manchmal, wenn der Prinz sich unbeobachtet glaubte, meinte Hassan, den kleinen Jungen von damals vor sich zu sehen, der früher die Ställe unsicher gemacht hatte. Den Jungen, dessen Verschwinden er bedauerte.

Jeder Mann braucht einen Platz, an dem er ganz er selbst sein kann, dachte Hassan. Es bekümmerte ihn, dass die Stallungen für den Prinzen das waren, was einer solchen Zufluchtsstätte am nächsten kam.

Lächelnd trat Rafik einen Schritt vor. „Da magst du recht haben.“ Er bedachte den Stallknecht mit einem freundlichen Blick. „Danke, Hassan. Ich werde mich nur schnell umziehen.“

„Es ist mir stets eine Freude, Ihnen zu Diensten zu sein, Prinz Rafik.“

Gabby hatte sich höflich ausgewiesen, aber ihr wäre auch kaum etwas anderes übrig geblieben. Zwei bärtige Männer in schwarzen, fließenden Gewändern hatten sich ihr in den Weg gestellt. Und zu großen, schwarz gekleideten Männern war Gabby grundsätzlich höflich – vor allem, wenn ihre Hände die juwelenbesetzten Griffe von Krummsäbeln umschlossen. Doch wahrscheinlich dienten diese barbarisch aussehenden Waffen nur zur Zierde – das hoffte sie zumindest.

Sie hatte ein großes Risiko und erhebliche Strapazen auf sich genommen, um hierher zu gelangen. Aber das war ihre letzte Hoffnung. Gabby gehörte zu den Menschen, bei denen das Glas halb voll war – und nicht halb leer. Allerdings war der ihr angeborene Optimismus in den letzten zwei Tagen auf eine harte Probe gestellt worden.

An der versteinerten Miene des größeren der beiden Männer ließ sich nicht ablesen, ob er auch nur ein Wort von dem verstand, was sie sagte. Darum erklärte sie es noch einmal langsam und untermalte ihre Worte mit beschreibenden Gesten. „Ich habe eine Verabredung“, log sie. „Ich habe mich verirrt. Der König erwartet mich.“

Wortlos musterte sie der Mann – sicher entging ihm nicht, wie abgerissen sie aussah. Gabby war überzeugt, dass ihr Schuld und Verzweiflung ins Gesicht geschrieben standen. Noch nie war sie gut darin gewesen, ihre Gefühle zu verbergen.

Sie hätte sich anders anziehen sollen. Dann wäre ihre Geschichte vielleicht glaubwürdig gewesen. Wahrscheinlich kam es eher selten vor, dass irgendwelche Leute in dreckigen Jeans und zerrissenen T-Shirts vom König zum Tee empfangen wurden.

„Auf dem Weg hierher hatte ich einen kleinen Unfall“, erzählte sie dem schweigenden Mann und fuhr sich durch das zerzauste Haar. Es war ohnehin schwer zu bändigen, aber ausgerechnet jetzt verlieh es ihr sicherlich das Aussehen einer typischen Wahnsinnigen in einem Film.

Als der Mann endlich wieder etwas sagte, wandte er sich nicht an Gabby, die er misstrauisch musterte, sondern an seinen gleich gekleideten Kollegen. Sie wechselten ein paar Worte auf Arabisch, dann nickte der zweite Mann dem ersten Mann nach einem ernsten Blick auf Gabby untertänig zu. Anschließend verschwand er durch eine Tür zu seiner Linken, die Gabby vorher nicht bemerkt hatte.

Sie lächelte. Es kam selten vor, dass ihr Lächeln nicht erwidert wurde, doch der Mann im schwarzen Gewand war anscheinend immun dagegen.

„Kinder und Tiere mögen mich.“

Der Mann reagierte nicht auf ihren schwachen Versuch.

Sie fand, dass er schlecht mit Menschen umgehen konnte. Vielleicht gehörte die Einsamkeit dazu, wenn man die königliche Familie von Zantara vor dem Kontakt mit dem gewöhnlichen Volk schützte. Ob sie wohl je von ihrem Elfenbeinturm herabstiegen?

Andererseits bestand durchaus die Möglichkeit, dass der Mann wusste, wer sie war. Und dass dies seine Art war, mit den Angehörigen von fast verurteilten Verbrechern umzugehen. Wobei das „fast“ laut dem Mann in der Botschaft nicht mehr als eine Formalität war.

„Ihr Bruder hat Drogen mit sich geführt, Miss Barton“, hatte er Gabby erinnert, als sie über das Rechtssystem in diesem verstaubten Land geschimpft hatte. „Außerdem ist Zantara nicht so verstaubt, wie Sie behaupten. Natürlich gibt es hier Wüstengebiete, aber die Bergkette im Osten …“ Er hatte Gabby angesehen und die Geografiestunde beendet, indem er rechtfertigend geschlossen hatte: „Fairerweise muss man allerdings auch sagen, dass es jedem Besucher des Landes bekannt ist, dass selbst der Besitz von kleinsten Mengen Drogen in diesem Land nicht geduldet wird. In den Reiserichtlinien, die die Regierung herausgibt …“

Gabby, die jetzt nichts über Fairness hören wollte, hatte ihn unterbrochen und ihm erklärt, dass sie nicht hergekommen war, um Reiserichtlinien zu lesen, sondern um ihren Bruder aus dem Gefängnis und zurück nach Hause zu holen. Dort würde sie ihn dann selbst zurechtstutzen.

„Mein Bruder ist kein Drogenschmuggler, sondern ein naiver Dummkopf“, sagte sie grimmig. Nur ein Volltrottel brachte ein Stofftier für ein fremdes Mädchen durch den Zoll, weil es ihn so unschuldig und hilflos angelächelt hatte.

Es war kaum verwunderlich, dass sie ihm seine Geschichte nicht abnahmen – sie kannten Paul nicht. Sein ganzes junges Erwachsenenleben lang hatte er sich von hübschen Mädchen zum Narren halten lassen. Trotzdem hatte er sich den kindlichen Glauben an das Gute im Menschen bewahrt – und vor allem an das Gute in hübschen Mädchen. Das Misstrauen überließ er seiner Schwester.

Natürlich war das hübsche Mädchen spurlos verschwunden, und Gabbys Bruder saß im Gefängnis. Und dort würde er ziemlich lange bleiben müssen, wenn Gabby nicht irgendein Wunder zustande brachte. Dass ihr dies gelingen würde, war ebenso unwahrscheinlich wie ein Lächeln von diesem Wachtposten.

Sie fühlte Verzweiflung in sich aufsteigen und atmete tief durch, bevor sie umso strahlender lächelte. Nur nicht den Mut verlieren, redete sie sich ein. Wenn sie Paul helfen wollte, durfte sie jetzt nicht aufgeben. Vor allem, nachdem sie schon so viel weitergekommen war, als die düsteren Voraussagen des Mannes von der Botschaft hätten hoffen lassen.

Der Diplomat hatte gelacht, als sie ihm ihren unausgereiften Plan erläutert hatte. Schlimmer noch, er hatte ihr herablassend den Kopf getätschelt und gesagt, sie müsse realistisch sein. Es sei ausgeschlossen, dass sie Zutritt zum königlichen Palast bekäme. Was eine Audienz beim König beträfe, sagte er, dass ihm selbst diese Ehre bislang nicht zuteilgeworden wäre, obwohl er bereits seit einem Jahr hier sei.

Gabby hatte ihn gefragt, ob ihm denn etwas Besseres einfiele.

Als er dann daraufhin begann, von Takt und Diplomatie zu sprechen, hörte sie ihm schon gar nicht mehr zu. Sie hatte beschlossen, den Palast aufzusuchen, und wenn sie dabei umkommen würde.

Es hatte sie nicht das Leben gekostet – wenngleich sie auch einige blaue Flecken davongetragen hatte. Sie hatte es geschafft. Mit den von Gold und Lapislazuli glänzenden Minaretten vor dem strahlend blauen Himmel sah der Palast aus wie eine Abbildung in einem Märchenbuch. Unter anderen Umständen hätte der Anblick Gabby verzaubert, aber jetzt hatte sie keine Zeit, sich verzaubern zu lassen. Sie hatte etwas zu erledigen.

Der erste Teil des Unmöglichen war geschafft. Der nächste Schritt wäre, zum König zu gelangen. Denn wenn man etwas erreichen wollte, durfte man sich nicht mit den kleinen Leuten herumschlagen, sondern musste gleich direkt zur Chefetage gehen, wie Gabbys Vater immer zu sagen pflegte.

Und wer sollte in einem ölreichen Wüstenstaat über dem König stehen? An ihn würde sie sich mit dem Fall ihres Bruders wenden.

Dass sie den zwei Wachmännern in die Arme laufen musste, war Pech, aber kein allzu großer Rückschlag.

Mit Rücksicht auf ihre schmerzenden Gesichtsmuskeln hörte sie auf zu lächeln. Gerade fragte sie sich, ob es vielleicht besser wäre, sich dumm zu stellen, als ein weiterer schwarz gekleideter Mann mit versteinerter Miene erschien – erfreulicherweise ohne einen Krummsäbel.

Der Mann betrachtete Gabby von oben bis unten. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er sie für harmlos hielt. In perfektem Englisch verkündete er, dass er sie nach draußen begleiten würde.

„Ich habe eine Verabredung mit dem König!“ Je öfter ich es wiederhole, desto weniger überzeugend klingt es, dachte Gabby.

„Das ist mir bereits gesagt worden. Aber anscheinend liegt hier ein Irrtum vor – ich werde das umgehend überprüfen. Für heute hat der König keine Termine. Bitte entschuldigen Sie vielmals die Unannehmlichkeiten, Miss …?“

„… Barton.“

„Miss Barton. Ich muss Sie leider bitten, zu gehen und einen neuen Termin auszumachen.“

Er war zwar äußerst höflich, aber ohne Zweifel war trotz seines tadellosen Benehmens nicht mit ihm zu spaßen. Ein gewinnendes Lächeln würde bei ihm nichts bewirken.

„Das ist ein guter Vorschlag. So werde ich es machen.“

„Eine weise Entscheidung.“

Gabby, nicht gerade für ihre Fähigkeit berühmt, ein Nein zu akzeptieren, gab sich kleinlaut. Sie plapperte dummes Zeug daher, auf das er nach wenigen Minuten nicht mehr antwortete, und wartete auf ihre Chance. Und dann hoffte sie, dass sie diese Chance nutzen könnte, sofern sie sich ihr bieten würde.

Die Chance kam tatsächlich.

Gerade hatten sie einen breiten Flur mit Mosaikfußboden betraten – sie hatten bereits mehrere solcher Flure durchquert –, als ihr Begleiter stehen blieb. Er wechselte ein paar Worte mit einem untersetzten Mann, der, anders als die meisten Menschen, denen Gabby hier begegnet war, nicht bis an die Zähne bewaffnet war. Als ihr Begleiter sich von Gabby entfernte, um auf den kleineren Mann zuzugehen, kam es ihm überhaupt nicht in den Sinn, dass sie seine höfliche Anweisung ignorieren könnte, hier bitte auf ihn zu warten.

Gabby setzte ein harmloses Lächeln auf und beobachtete ihn, bis er neben dem anderen Mann stand. Dann rannte sie los und lief, die Rufe und Geräusche, die ihr folgten, nicht beachtend, den Flur entlang, bis sie in einen schmaleren Gang abbog. Kaum, dass sie dies getan hatte, befand sie sich in einem Gewirr von engen Gängen. Das Klappern ihrer Schuhabsätze hallte in den leeren Fluren laut nach.

Sie rannte Gänge entlang und Treppen hinauf, bis sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Erschöpft hielt sie inne und ließ, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, ihren Oberkörper vornüberfallen, sodass ihr langes, honigblondes Haar den Boden berührte. Keuchend rang sie nach Luft.

Sie versuchte, nicht an die vielen bewaffneten Männer zu denken, die sie hier gesehen hatte. Hastig zog sie ihre Schuhe aus, steckte sie in die hinteren Taschen ihrer Jeans und lief weiter, jetzt etwas langsamer und vorsichtiger.

Die Korridore bildeten ein regelrechtes Labyrinth, das sich meilenweit zu erstrecken schien. Nur zweimal hatte sie in der letzten halben Stunde Schritte und laute Stimmen vernommen – vermutlich von dem Suchtrupp, den man sicher auf sie angesetzt hatte.

Als sie die Schritte und Stimmen zum dritten Mal hörte, klangen sie viel näher. Mit klopfendem Herzen drückte sie sich gegen eine Wand. Als ob man davon unsichtbar werden würde, dachte sie.

Ihr Vater, der immer sehr nachsichtig mit ihr gewesen war, hätte gesagt, dass sie unüberlegt gehandelt hatte. Eher leichtfertig und verantwortungslos, hätte ihre Mutter erwidert, und in diesem Fall hätte Gabby ihrer Mutter recht geben müssen.

Was hatte sie denn bisher erreicht – abgesehen davon, dass am Abend möglicherweise zwei Bartons hinter Schloss und Riegel saßen?

Gabby war wütend auf sich selbst. Ihr war klar gewesen, dass sie vorher mehr Informationen hätte sammeln müssen. Aber als sich ihr diese einmalige Gelegenheit geboten hatte – ein abgelenkter Fahrer und ein geöffneter Lieferwagen –, hatte sie nicht lange nachgedacht. Hätte sie mehr Zeit zum Planen gehabt, dann hätte sie jetzt womöglich eine ungefähre Vorstellung vom Grundriss des Palastes.

Als sie wieder Schritte hörte, schreckte sie auf. Instinktiv ging sie zu einer kleinen Wendeltreppe rechts von sich und erklomm sie hastig.

Oben stand Gabby in einer kleinen Halle. Vor ihr befand sich eine altertümliche Tür mit Metallbeschlägen. Als sie die Schritte näher kommen hörte, holte Gabby tief Atem und stemmte sich gegen die Tür. Erleichtert, dass sie nach innen aufging, trat sie in den Raum und schloss die Tür hinter sich. Dann drehte sie den großen Schlüssel im Schloss herum und schob mehrere schwere Riegel vor, bevor sie sich mit heftig klopfendem Herzen gegen die massive Holztür lehnte.

Nachdem sich ihr Herzschlag einigermaßen beruhigt hatte, sah sie sich in dem Raum um. Im Gegensatz zu den anderen Räumen, auf die sie im Vorbeilaufen einen Blick erhascht hatte, war dieses Zimmer recht zwanglos mit einer Mischung aus antiken und modernen Stücken eingerichtet.

Eine Wand war voller Bücher, von denen einige aufgeschlagen auf einem großen Intarsientisch lagen, und eine andere Wand war durch schwere, zugezogene Vorhänge verdeckt. Das Licht, welches an den Rändern hindurchfiel, ließ vermuten, dass sich hinter den Vorhängen ein Fenster verbarg.

Plötzlich versiegte der Adrenalinstoß, der sie bis hierher gebracht hatte. Den Rücken gegen das Holz gepresst, glitt Gabby langsam die Tür hinunter und ließ den Kopf auf die angewinkelten Knie sinken.

2. KAPITEL

Rafik stand auf dem Balkon und blickte über die leuchtenden, vergoldeten Türme und die darunterliegende Stadt. Über die palmengesäumten Alleen, die weißen, geometrischen Gebäude, die Ackerflächen, die man der Wüste abgerungen hatte. Und weiter bis zu der undeutlich in der Ferne erkennbaren Bergkette, die die östliche Grenze Zantaras bildete.

Unzählige Male schon hatte er diesen Ausblick genossen, doch nie zuvor hatte er dabei eine solche Bitterkeit empfunden.

Zantara hatte sich in den letzten Jahren so stark entwickelt, dass es kaum wiederzuerkennen war. Trotzdem gab es noch viel zu tun – und Rafik war immer ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass er derjenige sein würde, der tatkräftig handelte. Dass er das Land in das einundzwanzigste Jahrhundert führte, indem er auf dem schmalen Pfad zwischen Tradition und Fortschritt wandelte. Enttäuschung und ein Gefühl schmerzvollen Verlustes griffen wie eine kalte, eiserne Klaue nach seinem Herz.

Er schloss die Augen, und die Gefühle, die er die ganze Zeit zu unterdrücken versuchte, seitdem er die niederschmetternde Diagnose erhalten hatte, drängten mit Macht an die Oberfläche.

Dann straffte er sich, biss die Zähne zusammen und fuhr sich durch das dunkle Haar. Er konnte sich nicht erlauben, emotional zu reagieren. Jetzt musste er sich konzentrieren. Er hatte viel zu tun, und dafür blieb ihm wenig Zeit.

Seine Funktion und sein Titel würden auf seinen Bruder übergehen. Und sosehr er den jüngeren Bruder liebte, wusste er doch, dass Hakim für diese Position völlig ungeeignet war.

Zantara war sehr reich an natürlichen Ressourcen. Das Land verfügte nicht nur über große Erdölreserven, sondern auch über weitere unerschlossene Bodenschätze. Vernünftig verwaltet, garantierten diese Ressourcen der Bevölkerung Zantaras jahrzehntelangen Wohlstand. Doch die Zustimmung der Funktionäre zu den langfristigen Zielen, die Rafik und sein Vater verfolgten, war allzu häufig nichts weiter als ein bloßes Lippenbekenntnis.

Reformen wurden begrüßt und beklatscht, aber im Zweifelsfall war vielen der Menschen in entscheidenden Positionen der persönliche Gewinn wichtiger als Ideale und Moral.

Als Thronfolger wurde Rafik seit Jahren von einflussreichen Familien umgarnt, die sich nichts sehnlicher wünschten als die Heirat des Prinzen mit einer ihrer Angehörigen. So würden sie – das hofften sie zumindest – uneingeschränkten Zugriff auf den Thron haben.

Zantara wurde von den Nachbarländern um seine politische Stabilität beneidet, doch Rafik wusste, wie schnell sich die Dinge ändern konnten, und wie wenig es bedurfte, um die zerbrechliche Harmonie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Bereits die Mutmaßung, dass eine der mächtigen Familien des Landes bevorzugt wurde, konnte alles ins Wanken bringen.

Rafik, der nicht vorhatte, eine solche Situation entstehen zu lassen, fühlte sich durch derartige politische Manöver nicht bedroht, sie belustigten ihn eher.

Aber Hakim wollte allen gefallen, und er war leicht zu beeinflussen. Gerade das machte ihn einerseits sehr sympathisch, aber andererseits auch zu einer leichten Beute für jene berechnenden Menschen, die auf ihre Chance bei Hof lauerten.

Wenn Hakim Thronfolger wäre, würde er das Ziel ihrer Belagerung sein. Wann es dann zur Katastrophe kommen würde, wäre nur eine Frage der Zeit.

Hakim braucht jemanden, der ihn führt, einen Menschen mit Rückgrat, dachte Rafik. Jemanden, der ihm die Kraft für schwere Entscheidungen gibt und die Schmeichler und Betrüger durchschaut.

Plötzlich fiel ihm die Lösung ein. Sie war einfach und naheliegend. Sein Bruder brauchte eine Frau – eine, die gut für ihn war, natürlich –, die auf diese machtvolle Position vorbereitet wäre.

Rafik ging in Gedanken die Liste der möglichen Kandidatinnen durch, doch keine von ihnen kam infrage.

Missmutig runzelte er die Stirn. Diese Aufgabe erforderte eine ganz besondere Frau. Er rieb sich den Nacken, an dem noch Sand von seinem Ritt durch die Wüste hing.

Rafik hatte seine gesamte Reitkunst aufbringen müssen, um sich im Sattel zu halten. Der Araberhengst, der Stolz der Stallungen, hatte sich wohl von seiner Laune anstecken lassen und war durch die Wüste gejagt, als sei der Teufel hinter ihm her. Den wilden Galopp hatte er nur unterbrochen, um zu versuchen, seinen Reiter abzuwerfen.

Die einzige Kandidatin, die auch nur ansatzweise seine Anforderungen erfüllte, war …

Rafik konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, da er in diesem Moment eine Stimme vernahm. Er hörte sie sehr deutlich und sie klang sehr weiblich.

„Und nun, Gabby? Was passiert jetzt?“

Entweder waren akustische Halluzinationen ein Symptom seiner Krankheit, das der Arzt zu erwähnen vergessen hatte, oder jemand hatte die Dreistigkeit besessen, in sein Privatgemach einzudringen. Das Turmzimmer war der Ort, wohin Rafik sich zurückzog, wenn die Bürde seiner Pflichten allzu schwer auf ihm lastete. Das spärlich möblierte Zimmer lag im hintersten Winkel des Palastes versteckt – hier konnte er wirklich für sich sein.

Verblüfft, dass jemand tatsächlich die Unverschämtheit besessen hatte, hier aufzutauchen, und neugierig auf die Besitzerin der sehr englisch klingenden Stimme schob Rafik den schweren Vorhang beiseite, der den Balkon von dem dahinterliegenden Raum trennte.

Als der große schwere Vorhang zur Seite geschoben wurde, hob Gabby den Kopf. Sonnenlicht durchflutete den Raum, und ein Balkon mit kunstvoll gearbeiteter Brüstung wurde sichtbar.

Gabby blickte weiter nach oben. Der Mann mit dem goldbraunen Teint war ziemlich groß. Und unglaublich attraktiv.

Er trug ein knielanges Gewand aus dünnem, weißem Stoff – dünn genug, um die dunkle Behaarung seines muskulösen Oberkörpers hindurchschimmern zu lassen, als eine Windbö den Stoff an seinen Körper drückte. Unter dem Gewand trug er Reiterhosen, die in staubbedeckten Stiefeln steckten.

Er hatte keine Kopfbedeckung, und das Sonnenlicht umkränzte heiligenscheinartig sein dunkles Haar, was irgendwie angemessen schien, denn dieser Mann hatte etwas von einem gefallenen Engel.

Die ausgeprägten Wangenknochen, das glatt rasierte, energische Kinn, die Adlernase, der beunruhigend sinnliche Mund sowie die großen, dunklen, silbergesprenkelten und von langen, geschwungenen Wimpern umgebenen Augen ließen Gabby ganz vergessen, wie und warum sie hergekommen war.

Kein Mann hatte das Recht, so gut auszusehen.

Autor

Kim Lawrence
Kim Lawrence, deren Vorfahren aus England und Irland stammen, ist in Nordwales groß geworden. Nach der Hochzeit kehrten sie und ihr Mann in ihre Heimat zurück, wo sie auch ihre beiden Söhne zur Welt brachte. Auf der kleinen Insel Anlesey, lebt Kim nun mit ihren Lieben auf einer kleinen Farm,...
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