Playboy-Docs - Leidenschaft auf Rezept (5in1)

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  • Erscheinungstag 24.03.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751514026
  • Seitenanzahl 800
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Anne Fraser, Margaret Mcdonagh, Amy Andrews, Janice Lynn, Carol Marinelli

Playboy-Docs - Leidenschaft ist das Rezept (5in1)

IMPRESSUM

Heiß geküsst vom Playboy-Doc erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2010 by Anne Fraser
Originaltitel: „Prince Charming of Harley Street“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN
Band 43 - 2011 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Susanne Albrecht

Umschlagsmotive: GettyImages_Kiuikson, d1sk, Miloje / shutterstock

Veröffentlicht im ePub Format in 03/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733715939

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Rose stieß einen leisen Pfiff aus, als sie sich in dem Empfangsbereich der Praxis umsah. So etwas hatte sie bisher noch nicht erlebt. Anstatt der üblichen Hartplastikstühle, zerlesenen Zeitschriften und verstaubten Pflanzen gab es hier tiefe Ledersessel, jede Menge Hochglanz-Magazine sowie geradezu bombastische Blumenarrangements. Rose musste niesen, da ihr die Pollen der Lilien mit ihrem schweren Duft in die Nase stiegen. Die mussten auf jeden Fall weg. Sonst würde sie die ganze Zeit mit einer Triefnase hinter dem eleganten Tresen aus gemasertem Eichenholz sitzen.

Sie zog ein Taschentuch aus der Schachtel auf dem Tisch, schnaubte sich vernehmlich und nahm die Liste zur Hand, die Mrs Smythe-Jones für sie dagelassen hatte. Es handelte sich um Dr. Cavendishs Terminkalender, der nicht allzu anstrengend aussah. An drei Vormittagen die Woche hatte er Sprechstunde, und zwei Nachmittage waren für Hausbesuche eingeplant. Das war’s. Offenbar stand Dr. Cavendish kurz davor, die Praxis zu schließen und in den Ruhestand zu gehen. Das Bild eines älteren Mannes mit silbergrauem Haar, einer aristokratischen Nase und einem Zwicker schoss Rose durch den Kopf.

Abgesehen von dem Terminkalender hatte Mrs Smythe-Jones ihr freundlicherweise auch eine Liste von Dr. Cavendishs Vorlieben und Abneigungen aufgeschrieben. Dazu gehörte eine Tasse Kaffee aus dem Kaffeebereiter, schwarz, ohne Zucker, serviert in einer Porzellantasse, zu finden in dem Küchenschrank über der Spüle. Und ein Vollkornkeks aus dem Fach links neben dem Geschirrschrank. Den Patienten sollte auf einem Tablett Tee – ausschließlich loser Tee in einer Teekanne –, Kaffee oder auch stilles oder kohlensäurehaltiges Mineralwasser aus dem Kühlschrank angeboten werden.

Der erste Patient, ein L.S. Hilton, wurde erst um neun Uhr dreißig erwartet. Rose hatte also reichlich Zeit, sich vorher ausgiebig umzuschauen. Die Putzfrau, die sie vorhin hereingelassen hatte, war verschwunden. Doch von weiter hinten hörte man das Geräusch eines Staubsaugers.

Es gab zwei Sprechzimmer, die beide größer waren als die meisten Wohnzimmer, die Rose kannte. Sie waren ausgestattet mit der üblichen Untersuchungsliege und einem Wandschirm, einem Waschbecken, Schreibtisch, zwei Sesseln sowie einem Zweisitzer-Sofa in der Fensternische. An den Wänden hingen Landschaftsgemälde. In dem einen Zimmer eher traditioneller Art, in dem anderen modern und bunt, was mit den antiken Möbeln nicht so ganz harmonierte.

Rose trat näher heran, um die Bilder genauer zu betrachten. Der Maler besaß jedenfalls ein sicheres Auge und liebte Farben. Im Gegensatz zu den beschaulichen Landschaftsszenen nebenan waren diese Bilder mit kühnem Pinselstrich gemalt worden und zeigten wilde, stürmische Motive, die von Leidenschaft und Trauer zeugten. Wer diese Gemälde ausgesucht hatte, war ein Mensch mit einem ungewöhnlichen Geschmack.

Ein höfliches Hüsteln ertönte hinter ihr, und Rose fuhr herum. An der Tür stand ein Mann Ende zwanzig, der einen sehr formellen Anzug mit Krawatte und schwarze, auf Hochglanz polierte Schuhe trug. Das hellbraune, etwas zu lange Haar fiel ihm in die Stirn. Er hatte ein schmales Gesicht mit einer geraden Nase, und über den auffallend grünen Augen wölbten sich dunkle Brauen. Der breite Mund mit den nach oben gerichteten Mundwinkeln wirkte, als würde dieser Mann oft und gerne lachen.

„Verzeihung“, entschuldigte Rose sich. „Sie wollen sicher zum Doktor. Ich habe Sie nicht hereinkommen hören.“ Dummerweise konnte sie sich nicht mehr an den Namen des ersten Patienten erinnern.

„Und Sie sind?“ Er sprach leise mit einem leichten Unterton von Verwunderung.

„Ich bin Rose Taylor, die Vertretung für die Sprechstundenhilfe.“ Sie ging auf die Tür zu, aber der Mann rührte sich nicht vom Fleck.

„Wo ist Tiggy? Ich meine Mrs Smythe-Jones.“

„Sie ist nicht da. Wenn Sie jetzt bitte im Wartezimmer Platz nehmen würden? Dann suche ich sofort Ihre Patientenakte heraus.“

„Meine Patientenakte?“ Sein Lächeln vertiefte sich. „Verstehe. Ich könnte nicht zufällig eine Tasse Kaffee bekommen, solange ich warte?“

„Selbstverständlich“, antwortete Rose sofort. „Ich stelle gleich den Wasserkocher an.“

Als sie mit einem Tablett aus der Küche zurückkam, saß der Unbekannte auf ihrem Stuhl, die Arme hinter dem Nacken verschränkt, die langen Beine auf dem Schreibtisch.

„Entschuldigen Sie, Sir.“ Es kostete Rose Mühe, höflich zu bleiben. „Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass Sie im Wartezimmer Platz nehmen.“

Allmählich ärgerte der Kerl sie. Er tat ja gerade so, als würde ihm der Laden gehören. Aber an ihrem ersten Tag wollte sie keinen großen Wirbel veranstalten. Sie brauchte diesen Job. Er war ausgesprochen gut bezahlt, und die Arbeitszeit so flexibel, dass Rose genügend Zeit blieb, sich um ihren Vater zu kümmern. Vielleicht benahmen sich hier alle Patienten so? Immerhin war die Harley Street berühmt für ihre Privatpraxen. Trotzdem fand sie es unverschämt von dem Kerl, sie in eine solch unangenehme Lage zu bringen. Was wäre, wenn ihr Chef hereinkam und feststellte, dass sie einem Patienten gestattet hatte, ihren Platz einzunehmen? Das würde Dr. Cavendish wohl kaum gefallen.

Der Mann sprang auf, nahm ihr das Tablett ab und stellte es auf den Schreibtisch. Er sah die einzelne Tasse und hob fragend die Augenbrauen. „Was ist mit Ihnen? Wollen Sie nicht auch einen Kaffee?“

Rose zwang sich zu einem Lächeln. „Nein, danke.“ Rasch setzte sie sich auf ihren Stuhl, ehe er ihn wieder besetzen konnte. „Also, wie sagten Sie noch, war Ihr Name?“

„Jonathan.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. „Jonathan Cavendish.“

„Sie sind mit Dr. Cavendish verwandt?“

Sein Lächeln wurde noch breiter. „Ich bin Dr. Cavendish.“

Rose schrak zusammen. „Aber Sie sind so jung“, stammelte sie. Sofort spürte sie, wie ihre Wangen heiß wurden. Was für eine blöde Bemerkung.

Er wirkte erstaunt. „Siebenundzwanzig, wenn Sie es genau wissen wollen. Und wie alt sind Sie?“ Dr. Cavendish musterte sie von oben bis unten. „Nein, sagen Sie nichts. Fünfundzwanzig?“

„Sechsundzwanzig“, gestand sie widerstrebend. Er amüsierte sich über sie, und das machte sie verlegen. „Mein Name ist Rose Taylor. Die Agentur hat mich geschickt, um so lange auszuhelfen, bis Ihre Sprechstundenhilfe wieder da ist.“

„Was sagten Sie, wo ist Mrs Smythe-Jones? Mir hat sie jedenfalls nichts davon erzählt, dass sie in Urlaub geht.“

„Ich glaube nicht, dass sie im Urlaub ist.“ Wusste der Mann denn gar nichts über seine Angestellten? „Anscheinend gab es einen Notfall mit ihrer Schwester. Sie hat am Freitag bei der Zeitarbeitsagentur angerufen und eine Vertretung angefordert.“

Jonathan machte eine besorgte Miene. „Ich weiß, dass es ihrer Schwester nicht gut ging. Am Wochenende war ich Ski fahren und hatte dort keinen Handy-Empfang.“ Er nahm sein Mobiltelefon aus der Tasche. „Immer noch keine Nachricht. Ich rufe sie gleich nach der Sprechstunde an.“ Er klappte das Handy zu. „Okay, nachdem wir das geklärt haben: Wer ist der erste Patient?“

Rose konnte noch immer kaum fassen, dass er ihr Chef war.

Als hätte er ihre Gedanken erraten, erklärte Jonathan: „Es gibt noch einen anderen Dr. Cavendish, meinen Onkel. Er hat sich letztes Jahr zur Ruhe gesetzt, und ich habe die Praxis übernommen.“

Sie schaute auf den Terminkalender. „Sie haben heute Morgen drei Patienten.“ Nur drei! Und für jeden war eine halbe Stunde eingeplant. In der Praxis, in der sie sonst arbeitete, konnten sich die Patienten glücklich schätzen, wenn sie zehn Minuten bei den völlig gestressten und überarbeiteten Ärzten bekamen. Also war Dr. Cavendish entweder nicht besonders gut und niemand wollte sich von ihm behandeln lassen, oder er zog es vor, nicht allzu hart zu arbeiten. Doch das ging sie nichts an. „Heute Nachmittag sind noch zwei Hausbesuche vorgesehen. Mehr hat Mrs Smythe-Jones nicht eingetragen. Es sei denn, es gibt noch eine andere Patientenliste.“

Suchend blickte Rose sich um. Nein, außer diesem eleganten, ledergebundenen Terminkalender konnte sie nichts entdecken. Da fiel ihr Blick auf den Computer. Rasch schaltete sie ihn an. „Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich. „Da drin verbirgt sich wohl die andere Liste. Sobald ich den PC hochgefahren habe, kann ich Ihnen genau sagen, wer für heute eingeplant ist.“

Wieder lächelte Dr. Cavendish. „Da werden Sie nichts finden. Ich fürchte, Mrs Smythe-Jones hält nicht viel von Computern. Sie benutzt den PC ausschließlich zum Briefeschreiben. Mehr als den Terminkalender da vor Ihnen gibt es nicht.“ Er stand auf und rückte sich die ohnehin tadellos sitzende Krawatte zurecht. „Drei Patienten klingt korrekt. Wenn der erste kommt, drücken Sie einfach auf diesen Summer.“ Er lehnte sich über den Schreibtisch, wobei Rose den Duft eines sehr exklusiven Aftershaves wahrnahm.

Jonathan richtete sich auf und zeigte auf einige Aktenschränke aus Eichenholz. „Die Unterlagen sind dort verwahrt. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden? Vicki, unsere Krankenschwester, kommt sicher gleich. Sie wird Ihnen alles Weitere erklären.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er in seinem Sprechzimmer und schloss die Tür hinter sich.

Die Putzfrau kam herein und nahm das Tablett vom Schreibtisch. „Seine Lordschaft ist also da? Ich bin übrigens Gladys“, sagte sie.

Seine Lordschaft? Das ist aber keine sehr respektvolle Art, von seinem Chef zu sprechen, dachte Rose.

Gladys lachte. „Sie haben keine Ahnung, wovon ich rede, Schätzchen, oder? Seine Lordschaft? Jonathan? Der Ehrenwerte Jonathan Cavendish?“

Wow, sie arbeitete also für einen Adligen. Fragend wies Rose mit dem Kopf auf die Tür des Sprechzimmers.

„Sie haben’s erfasst. Gut, das wär’s dann für heute, meine Liebe.“ Gladys schlüpfte in ihren Mantel. „Ich mach mich auf den Heimweg. Die Schwester kommt gleich. Bis morgen.“

Wie betäubt saß Rose an ihrem Schreibtisch. Als eine gestresste Mitarbeiterin der Agentur am Freitagnachmittag bei ihr angerufen hatte, war Rose heilfroh gewesen, für die folgenden Wochen einen Job in Aussicht zu haben. So hatte sie sich nicht näher nach der Praxis erkundigt.

„Es ist für mindestens vier, wahrscheinlich sogar fünf Wochen“, hatte die Frau ihr mitgeteilt. „Bitte sagen Sie Ja. Das sind neue Klienten von uns, und wir möchten sie wirklich gerne behalten. Es handelt sich um die übliche medizinische Sekretariatsarbeit, inklusive Anmeldung und vermutlich auch ein bisschen Betreuung. Für jemanden mit Ihrer Erfahrung ist das ein Kinderspiel.“

Rose kam das Angebot wie gerufen. Nachdem ihr Vater einen Schlaganfall erlitten hatte, hatte sie sich entschlossen, sich von ihrem Job in Edinburgh beurlauben zu lassen, um ihrer Mutter beizustehen. Ihre Eltern hatten nicht gewollt, dass sie nach London zurückkehrte. Aber für Rose war dies eine Selbstverständlichkeit gewesen. Zum Glück hatte sich die Praxis ohne Weiteres bereit erklärt, sie für fünf Wochen freizustellen. Wenn nötig, auch noch länger. In dieser Zeit hatte sie Gelegenheit, die Situation zu Hause zu beurteilen und konnte danach entscheiden, ob sie endgültig nach London zurückgehen sollte.

Harley Street war ziemlich weit von ihrem Elternhaus entfernt, was für Rose morgens und abends jeweils eine Stunde Fahrzeit mit der U-Bahn bedeutete. Aber es war ein Job, und sie hatte die Gelegenheit sofort ergriffen. Im Augenblick war sie allerdings nicht mehr ganz so sicher, ob es wirklich das Richtige war.

Seufzend nahm sie sich eine Praline aus der Schale auf dem Tresen. Die Trüffel zergingen auf der Zunge. Einfach köstlich. Rasch vernaschte sie auch noch die restlichen.

Da ging die Tür auf, und eine ältere Dame mit sorgfältig frisiertem Haar und einem kleinen Hund unterm Arm rauschte herein. Rose warf einen Blick auf ihre Liste. War das etwa L.S. Hilton?

„So ein ungezogener Junge.“ Missbilligend schnalzte Mrs Hilton mit der Zunge. „Dem armen Mann nach dem Bein zu schnappen. Wenn du das noch mal machst, wird Mummy sehr böse mit dir.“ Ehe Rose sich versah, drückte ihr die alte Dame den Hund in die Arme. Er trug ein kleines Mäntelchen und ein purpurrotes Schleifchen auf dem Kopf. „Können Sie ihm etwas Schokolade geben? Wenn sein Blutzucker abfällt, wird er immer recht ungnädig.“

Sie musterte Rose über den Rand ihrer Brille hinweg. „Oh, ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet, meine Liebe. Wo ist Tiggy?“

„Sie musste für eine Weile fort“, erklärte Rose.

Der Hund schaute zu ihr hoch, wirkte allerdings ziemlich unbeeindruckt. Rose, die fürchtete, dass er womöglich nach ihr schnappen würde, sah ihm direkt in die Augen. Sie war den Umgang mit Hunden gewohnt. Ihre Eltern hatten früher immer einen gehabt. Man musste den Tieren von Anfang an zeigen, wer der Boss war. Der kleine Hund winselte leise und entspannte sich dann auf ihrem Arm.

„Mr Chips mag Sie“, meinte Mrs Hilton erfreut. „Normalerweise ist er auf Fremde nicht gut zu sprechen, schon gar nicht, wenn er schlecht gelaunt ist.“

„Wenn Sie bitte einen Moment Platz nehmen? Ich werde dem Doktor sagen, dass Sie hier sind. Danach schaue ich mal, ob ich ein Leckerchen für Mr Chips finde. Kann ich Ihnen irgendetwas anbieten? Kaffee oder Tee?“

Mrs Hilton setzte sich in einen Sessel und nahm sich eine Zeitschrift. „Nein, danke. Zu viel Koffein tut meiner Arthritis nicht gut, außerdem …“ Scharf sah sie Rose an. „Wissen Sie denn nicht, dass es ganz schlecht für den Teint ist? Genau wie Schokolade.“ Ihr Blick ging zu der leeren Konfektschale, und Rose spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. „Obwohl Ihre Haut gut zu sein scheint. Braves Mädchen. Die meisten Frauen denken nicht an ihren Teint, bis sie in mein Alter kommen. Und dann ist es viel zu spät, um noch etwas zu retten.“ Verschwörerisch zwinkerte sie Rose zu. „Jedenfalls ohne die Hilfe eines guten Schönheitschirurgen.“

Rose wusste nicht recht, ob sie sich über Mrs Hiltons Bemerkungen ärgern oder sich geschmeichelt fühlen sollte. Doch an den funkelnden Augen der alten Dame erkannte sie, dass diese es nicht böse meinte.

Wie angewiesen, betätigte Rose den Summer, um Jonathan Bescheid zu sagen, dass seine erste Patientin wartete, eine Mrs Hilton.

„Es heißt Lady Hilton“, verbesserte er milde. „Ich komme.“

Noch ehe Rose den Hörer aufgelegt hatte, öffnete sich bereits die Tür. Jonathan blieb belustigt stehen, als er sah, wie Rose mit Mr Chips auf dem Arm nach Lady Hiltons Akte suchte.

„Sophia.“ Mit langen Schritten ging er auf die alte Dame zu. „Wie schön, dich zu sehen.“

Lady Hilton hob ihm das Gesicht entgegen, und Jonathan küsste sie auf beide Wangen.

„Du weißt doch, dass ich dich auch zu Hause aufgesucht hätte, nicht wahr?“, meinte er. „Das hätte dir die Fahrt in die Stadt erspart.“

„Ich musste sowieso herkommen, um einige Einkäufe zu machen. Und ich wollte mit dir über Giles sprechen. Aber nicht zu Hause. Er weiß nicht, dass es mir nicht so gut geht.“ Streng sah sie ihn an. „Und er soll es auch nicht erfahren.“

„Sophia, alles, was du mir sagst, unterliegt der Schweigepflicht“, erwiderte Jonathan bestimmt. Er legte ihr die Hand unter den Ellbogen und half ihr beim Aufstehen. Trotz Lady Hiltons entschlossener Miene merkte Rose, dass ihr die Bewegung Schmerzen bereitete.

An Rose gewandt, fragte die alte Dame: „Würde es Ihnen sehr viel ausmachen, auf Mr Chips aufzupassen, solange ich beim Doktor bin? Der Hund wird immer so unruhig, wenn ich ihm nicht meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenke.“

Mr Chips Hund schien auf ihrem Arm eingeschlafen zu sein, und Rose lächelte. „Keine Sorge. Ich kümmere mich um ihn. Und wenn er aufwacht und Sie sucht, bringe ich ihn rein.“

Während sie auf den nächsten Patienten wartete, überlegte sie, was sie tun könnte. Sie nahm ihre Strickjacke von der Stuhllehne, machte daraus ein kleines Nest unter dem Schreibtisch und bettete den Hund darauf. Mr Chips öffnete ein Auge, seufzte zufrieden und schlief wieder ein. So, was jetzt? Irgendwie musste Rose sich beschäftigen, sonst würde sie hier vor Langeweile eingehen.

Ihr Blick fiel auf den Stapel Zeitschriften, den Lady Hilton in der kurzen Zeit im Wartezimmer durchgesehen hatte, Modemagazine und Gesellschaftsillustrierte. Neugierig blätterte Rose eine der Zeitschriften durch. Darin stieß sie auf Fotos einiger Lokalgrößen. Plötzlich hielt sie inne. Den Arm um eine Frau mit langem rot gelocktem Haar, einer fantastischen Figur und einem Kleid, das vermutlich ein ganzes Jahresgehalt von Rose gekostet hatte, erblickte sie Jonathan. Bekleidet mit einem Dinnerjackett und einem weißen Hemd, wirkte er locker und entspannt. Rose betrachtete das Foto genauer. Trotz seines Lächelns lag ein Ausdruck in seinen Augen, der darauf hindeutete, dass es ihm nicht sonderlich gefiel, fotografiert zu werden. Die Bildunterschrift lautete: Der Ehrenwerte Jonathan Cavendish und seine Freundin, die Schauspielerin Jessamine Goldsmith bei der Premiere ihres Films „Eine Nacht im Himmel“.

Rose konnte es immer noch nicht fassen. Er war adlig, der Sohn eines Lords, seine Freundin war ein Filmstar. Und er war ihr Chef, ein Allgemeinmediziner. Geringschätzig verzog sie den Mund. Von solchen Ärzten hielt sie nicht viel. Sie fand, man sollte Mediziner werden, um anderen zu helfen, nicht um den eigenen Playboy-Lebensstil zu finanzieren. Aber schließlich ging es sie ja wirklich nichts an. Sie war hier, um ihren Job zu erledigen. Und solange ihr neuer Boss seine Patienten nicht aus lauter Unfähigkeit umbrachte, konnte es ihr egal sein.

In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und Rose ließ erschrocken die Zeitschrift fallen.

Eine Frau mit einem kurz geschnittenen Lockenkopf stürzte panisch herein. Wortlos rannte sie an Rose vorbei und direkt zur Mitarbeiter-Toilette. Einmal mehr war Rose leicht verwirrt. Allmählich fühlte sie sich, als wäre sie in einem Irrenhaus gelandet. Ob das vielleicht die erwartete Krankenschwester war?

Ein paar Minuten später tauchte die Frau wieder auf. Obwohl sie noch sehr blass aussah, war wenigstens ein bisschen Farbe in ihre Wangen zurückgekehrt.

„Es tut mir so leid.“ Sie ließ sich in einen der Sessel fallen. „Sie müssen die Aushilfe sein, die für Tiggy einspringt. Sie hat mich am Samstag angerufen, um mir Bescheid zu sagen.“ Die junge Frau holte tief Luft. „Wahrscheinlich halten Sie mich für unglaublich unhöflich, dass ich ohne Gruß einfach so hereingestürmt bin.“

Rose eilte an ihre Seite. „Geht es Ihnen wieder gut?“

„Eher nicht.“ Sie verzog das Gesicht, ehe sie Rose die Hand entgegenstreckte. „Ich bin Vicki. Mir war gerade fürchterlich übel. Zum Glück habe ich es gerade noch rechtzeitig bis hierher geschafft. Es wäre mir doch zu peinlich gewesen, mich in aller Öffentlichkeit zu übergeben.“

„Sollten Sie nicht lieber zu Hause sein?“, meinte Rose.

„Ich wäre auch zu Hause geblieben, wenn Tiggy nicht auch fehlen würde. Oder wenn ich gewusst hätte, dass es so schlimm wird. Bis ich aus der U-Bahn ausgestiegen bin, ging es mir noch einigermaßen gut. Aber dann wurde es immer schlimmer.“

„Dr. Cavendish hat gerade eine Patientin bei sich. Soll ich ihn rufen?“

Vicki sah furchtbar aus. So konnte sie auf keinen Fall arbeiten. Besorgt bemerkte Rose, wie ihre Kollegin erneut kalkweiß wurde.

„Oh nein, Verzeihung.“ Sie presste sich die Hand vor den Mund und raste zur Toilette.

Während sie darauf wartete, dass die Krankenschwester wieder auftauchte, stellte Rose den Wasserkocher an, um Pfefferminztee zu machen, der Vickis Magen hoffentlich beruhigen würde. In diesem Zustand konnte sie unmöglich nach Hause fahren.

„Sie wundern sich bestimmt, wo Sie hier hingeraten sind“, sagte Vicki da hinter ihr. „Die Krankenschwester ist kränker als die Patienten. Und wie ich sehe, hat Lady Hilton Mr Chips mitgebracht. Hoffentlich erleichtert er sich nicht wieder in den Palmentopf. Oh, ist das Tee? Kann ich vielleicht was davon haben?“

„Ich denke, Sie sollten probieren, ihn in kleinen Schlucken zu trinken“, antwortete Rose. „Setzen Sie sich doch. Sie sehen aus, als würden Sie jeden Moment kollabieren.“

Vicki setzte sich auf einen der Stühle am Küchentisch. „Jonathan wird nicht besonders erfreut sein“, vertraute sie Rose an. „Beim letzten Mal war ich volle acht Monate außer Gefecht. Er musste eine Aushilfe für mich einstellen, und die war nicht so toll.“

„Sie sind schwanger?“, fragte Rose.

Vicki nickte. „Oh, das sollte ich lieber lassen“, stöhnte sie sogleich. „Bewegung macht’s nur schlimmer.“

„Sie haben bei Ihrer letzten Schwangerschaft also auch unter Schwangerschaftserbrechen gelitten?“

„Hey, Sie kennen sich aus. Haben Sie das auch schon erlebt?“

„Nein, aber ich bin examinierte Krankenschwester“, erwiderte Rose. „Sie Ärmste. Wie heftig war es denn beim letzten Mal?“

„So, dass ich ins Krankenhaus musste und den größten Teil der Schwangerschaft nicht arbeiten konnte.“ Vorsichtig trank sie einen Schluck Tee. „Mir graut schon davor, es Jonathan sagen zu müssen.“

„Er weiß nicht, dass Sie schwanger sind?“

„Ich wollte es ihm noch nicht sagen, weil ich erst in der neunten Woche bin. Und ich hatte gehofft, dass es mir diesmal besser geht.“

„Er hat bestimmt Verständnis“, meinte Rose beschwichtigend.

„Jonathan ist ein echter Softie. Natürlich hat er Verständnis. Ich finde es nur schrecklich, ihn im Stich zu lassen. Die Patienten wollen, dass ich sie betreue. Sie sind an mich gewöhnt. Und die meisten älteren Leute mögen keine Veränderungen“, erklärte Vicki. „Meine Gynäkologin hat gesagt, nach der zwölften Woche könnte es besser werden. Aber darauf würde ich nicht wetten.“

Rose hörte, wie die Tür des Sprechzimmers geöffnet wurde. „Bin gleich wieder da“, versicherte sie Vicki. „Bleiben Sie einfach sitzen.“

Sie hob Mr Chips von seinem Strickjacken-Bettchen hoch und brachte ihn zu Lady Hilton. Dabei wachte er auf und versuchte, Rose über das Gesicht zu lecken. Sie konnte dem feuchten Hundekuss noch gerade eben ausweichen, indem sie Mr Chips an sein Frauchen übergab.

„Ist er denn brav gewesen?“ Lady Hilton drückte ihren Hund an sich, als wären sie Tage und nicht nur zwanzig Minuten voneinander getrennt gewesen. Mit Tränen in den Augen drückte sie das Gesicht an das Fell des Hündchens.

„Ich komme im Lauf der Woche noch mal bei euch zu Hause vorbei“, versprach Jonathan. „In der Zwischenzeit probieren wir das neue Medikament aus und schauen, ob es besser wirkt.“ Er tätschelte ihr die Hand. „Die nächsten Wochen werden hart. Aber ihr könnt mich jederzeit rufen, das weißt du.“

Er blickte sich um. „Rose, haben Sie Vicki gesehen? Sie müsste inzwischen hier sein.“

„Sie ist in der Küche und trinkt einen Tee. Sie fühlt sich wohl nicht besonders gut.“

Ein besorgter Ausdruck flog über Jonathans Miene. „Ich geh gleich zu ihr. Bis bald, Sophia. Pass auf dich auf.“ Er gab ihr zum Abschied einen Wangenkuss, und Rose begleitete sie bis zur Tür.

Kurz darauf erschien Jonathan, den Arm um Vicki gelegt. „Ich fahre Vicki nach Hause“, sagte er. „Können Sie hier solange die Stellung halten? In ungefähr einer Stunde bin ich wieder zurück.“

„Ihr nächster Patient kommt in zehn Minuten“, wandte Rose ein. „Lord Bletchley.“

„Ich schaff das schon, Jonathan“, meinte Vicki mit schwacher Stimme. „Ich nehme mir ein Taxi. Bleib da und kümmere dich um deinen Patienten. Du kennst Lord Bletchley. Wenn man ihn warten lässt, geht er an die Decke.“

„Und wenn schon“, entgegnete Jonathan. „Ich will nicht, dass du mit dem Taxi fährst, wenn du dich vielleicht wieder übergeben musst. Du weißt ja, wie manche Taxifahrer so sind. Die werfen dich womöglich noch raus.“

„Vielleicht könnte ich Ihren Wagen nehmen und Vicki nach Hause bringen“, schlug Rose vor. „Dann ist zwar keiner am Empfang, aber da Lord Bletchley in der nächsten Stunde der einzige Patient ist, sollte das kein großes Problem sein.“

Jonathan lächelte, und Rose spürte, dass ihr Herzschlag einen Moment lang aussetzte. Kein Mann dürfte ein solches Lächeln haben, dachte sie. Das ist uns Frauen gegenüber einfach nicht fair.

Er nahm den Autoschlüssel aus seiner Jackentasche. „Wenn Ihnen das wirklich nichts ausmacht? Mein Wagen steht vor der Tür. Es hat ein Navigationssystem, sodass Sie den Weg ohne Weiteres finden werden.“

Rose holte eine Spuckschüssel aus dem Behandlungszimmer und führte Vicki dann hinaus. „Okay, welches Auto?“

Vicki deutete auf einen eleganten Sportwagen. Rose wurde blass. Dieser Wagen musste ein Vermögen gekostet haben. Sekundenlang war sie in Versuchung, zurückzugehen und Jonathan zu sagen, dass sie es sich anders überlegt hätte. Aber ein Blick auf Vicki genügte, und Rose erkannte, dass diese so schnell wie möglich nach Hause und ins Bett musste. Wenn das Auto einen Kratzer abbekam, dann blieb dem Herrn Lord eben nichts anderes übrig, als damit zu leben.

Dank des Navigationssystems steuerte Rose problemlos durch den dichten Londoner Verkehr.

„Sie brauchen das Lenkrad nicht so fest zu umklammern, als ob es ein wildes Tier wäre, das Sie gleich anfallen könnte“, meinte Vicki amüsiert.

Sie hatte recht. Sogar ein Kind auf einem Dreirad würde schneller fahren, dachte Rose und versuchte, sich zu entspannen.

Vicki hatte sich auf ihrem Sitz zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Den Anweisungen der Computerstimme folgend, gelang es Rose mühelos, ohne Umweg ihr Ziel zu erreichen.

Als sie vor dem kleinen viktorianischen Reihenhaus anhielt, fragte sie: „Ist jemand da, der sich um Sie kümmern kann, Vicki?“

„Mein Mann. Er ist Polizist und hat grade Nachtschicht. Bestimmt schläft er wie ein Stein. Wenn nötig, kann ich ihn ruhig wecken. Unsere Tochter ist im Kindergarten.“

„Ich bringe Sie auf jeden Fall noch rein“, erklärte Rose.

Sie stieg aus und kam zur Beifahrerseite, um Vicki aus dem Wagen zu helfen.

„Sind Sie immer so tüchtig?“, meinte diese lächelnd.

Rose erwiderte das Lächeln. „Ich kann nichts dafür. Ich war schon immer diejenige, die alles hingekriegt hat. Gesellschaftliche Anlässe dagegen liegen mir eher weniger. Handeln ist leichter als reden. Obwohl ich da allmählich auch besser werde. Notgedrungen. In meinem normalen Leben bin ich Krankenschwester.“

„Warum helfen Sie dann als Sprechstundenhilfe für Tiggy aus?“, meinte Vicki erstaunt. „Ups, ich meine natürlich persönliche Assistentin. Auf diese Bezeichnung legt sie großen Wert. Tiggy ist herzensgut, aber Titel sind für sie sehr wichtig.“

„Ich habe die Stelle als Sprechstundenhilfe angeboten bekommen. Vor meiner Krankenpflege-Ausbildung habe ich als medizinische Sekretärin gearbeitet. Mir war beides recht, da ich nur was Kurzfristiges haben wollte.“

Vicki nahm ihren Schlüsselbund aus der Handtasche und schloss die Haustür auf. „Jetzt komme ich alleine klar. Tut mir leid, die ganze Aufregung an Ihrem ersten Tag. Hoffentlich haben wir Sie nicht vergrault. Johnny braucht Ihre Hilfe. Wären Sie so lieb und rufen die Pflegeagentur an, um eine Vertretung für mich zu organisieren?“

„Ja, natürlich, ich kümmere mich darum. Sie legen sich jetzt hin, und wir sehen uns dann, sobald Sie wieder fit sind.“

„Wer weiß, wann das sein wird“, meinte Vicki zweifelnd. „Ich musste Jonathan versprechen, erst zurückzukommen, wenn die Übelkeit aufgehört hat. Aber wenn es genauso läuft wie beim letzten Mal, könnte das Monate dauern.“

„Sobald ich wieder in der Praxis bin, spreche ich mit ihm über eine Aushilfe.“ Rose schlug einen strengen Ton an. „Und jetzt rein mit Ihnen und ab ins Bett!“

2. KAPITEL

Als Rose in die Praxis zurückkehrte, zutiefst dankbar für das Navigationssystem, das sie auch diesmal zuverlässig an ihr Ziel geführt hatte, war Lord Bletchley offenbar schon da gewesen. Jonathan saß wieder hinter dem Empfangstresen, die Füße auf dem Schreibtisch, und blätterte in der Zeitschrift, die Rose sich vorhin angesehen hatte.

„Verdammte Paparazzi“, brummte er verärgert. „Die verdrehen ständig die Fakten!“ Er warf die Zeitschrift hin und stand auf. „Wie geht es Vicki?“

„Sie wollte sich gleich hinlegen. Ihr Mann hat Nachtdienst und gibt auf sie acht.“

Jonathan fuhr sich mit den Fingern durch das dichte Haar. „Sie wird mindestens einen Monat ausfallen, wenn nicht länger. Könnten Sie sich um eine Ersatzkraft kümmern? Die Nummer unserer Agentur finden Sie im Terminkalender.“

Rose kam eine Idee, doch sie musste erst noch gründlich darüber nachdenken.

Jonathan blickte auf seine Uhr. „Falls Sie mich brauchen, ich bin in meinem Zimmer, um einige Telefonate zu erledigen.“

Sollte sie? Rose überlegte. Es wäre die perfekte Lösung. Schließlich war sie ausgebildete Krankenschwester, und allzu viel war hier am Empfang wirklich nicht los.

Ein Klingeln an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Sie drückte den Summer, woraufhin eine ärgerlich wirkende Frau durch die Tür marschierte und einen widerstrebenden Teenager hinter sich herzog.

„Komm schon, Richard“, herrschte sie den Jungen an. „Jetzt, wo wir da sind, können wir auch zum Doktor reingehen.“

Der Junge sah Rose durch seine langen Haare hindurch an, die ihm tief ins Gesicht fielen. Ein Anflug von Mitleid durchzuckte sie. Er hatte die schlimmste Akne, die sie je gesehen hatte. Sein ganzes Gesicht war mit entzündeten Pusteln übersät, und er wirkte schrecklich unglücklich. Ohne die schlimme Haut und die mürrische Miene hätte er ein gut aussehender Junge sein können. Rose fühlte sich an ihre eigene Jugend erinnert, als sie sich wegen ihrer Körpergröße ebenso unwohl gefühlt hatte wie Richard mit seiner Haut.

Sie bedachte ihn mit einem aufmunternden Lächeln. „Du bist wohl Richard Pearson. Wenn du einen Moment mit deiner Mutter Platz nimmst, sage ich dem Doktor Bescheid, dass du da bist.“

Als Antwort kam nur ein unverständliches Brummen. Doch er setzte sich gehorsam.

Seine Mutter schaute ihn mit einem liebevollen und zugleich ungehaltenen Blick an. „Ich möchte mich für das ungezogene Benehmen meines Sohnes entschuldigen. Er wollte gar nicht herkommen.“ Den Rücken zu ihm gewandt, lehnte sie sich über den Tresen und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: „Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Er weigert sich, zur Schule zu gehen, sitzt nur noch in seinem Zimmer am Computer. Wir haben schon jede Menge Ärzte konsultiert. Dr. Cavendish ist meine letzte Hoffnung. Ich habe von einer Freundin gehört, dass er ihrer Tochter geholfen hat.“ Sie warf einen Blick über die Schulter. Richard war mit seinem Handy beschäftigt.

„Dr. Cavendish wird sicher alles tun, was in seiner Macht steht. Ich melde Sie bei ihm an.“ Rose hoffte sehr, dass er etwas für den Jungen tun konnte.

Bisher war sie von Jonathans medizinischen Fähigkeiten noch nicht recht überzeugt. Kein Zweifel, er war ausgesprochen charmant, aber mit Charme alleine würde er diesem armen Jungen nicht helfen. Sie betätigte die Sprechanlage. „Richard Pearson ist da.“

„Ich komme.“ Der Mann hatte in der Tat eine wunderbare Stimme. Tief, mit einem leichten schottischen Akzent.

Er kam sofort aus seinem Zimmer, ging zu dem Jungen und gab ihm die Hand. „Ich bin Dr. Cavendish, aber du kannst Jonathan zu mir sagen, wenn du willst. Komm mit ins Sprechzimmer, dann unterhalten wir uns mal.“

Zögernd stand Richard auf und sah seine Mutter finster an.

Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck zog Jonathans Aufmerksamkeit auf sich. „Wie wäre es, wenn Sie hierbleiben und einen Tee trinken, solange ich mit Ihrem Sohn spreche, Mrs Pearson?“, meinte er liebenswürdig. „Falls Sie dann noch Fragen haben, werde ich sie Ihnen gerne beantworten.“

„Ich möchte aber bei meinem Sohn sein“, widersprach sie.

Der Junge starrte zu Boden und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen.

„Richard, was ist dir lieber? An deiner Karte sehe ich, dass du siebzehn bist. Ich kann also gerne mit dir allein sprechen. Aber wenn du deine Mutter dabeihaben möchtest, ist das auch okay.“

„Allein“, murmelte der Junge mit einem entschuldigenden Blick zu seiner Mutter. „Ich komm schon klar, Mum. Ich bin ja schon fast achtzehn.“

Mrs Pearson wirkte nicht überzeugt. Rose legte ihr leicht die Hand auf den Arm. „Ich hole uns beiden mal einen Tee, ja?“

„Ich möchte keinen Tee“, sagte Mrs Pearson bedrückt, während sie sich von Rose zu einem Sessel führen ließ. „Ich will nur, dass meinem Sohn geholfen wird. Letztes Jahr um diese Zeit war er bei allen beliebt und immer unterwegs. Es ging ihm richtig gut. Aber seitdem er dieses Hautproblem hat, hat er sich zurückgezogen und ist todunglücklich. Ich sage ihm ständig, dass es mit der Zeit besser wird, aber das ist ihm egal. Für ihn zählt nur das Jetzt.“ Sie seufzte tief. „Ich habe solche Angst, dass er irgendeine Dummheit begeht.“

Rose setzte sich neben die verzweifelte Mutter. „Es gibt Medikamente, die in solchen Fällen hilfreich sind. Meistens geht es nur darum, das richtige Mittel zu finden. Sobald er weiß, dass wir ihm helfen können, hebt sich seine Laune bestimmt. Es ist hart, aber auch ganz normal, dass er es ausgerechnet zu einer Zeit bekommen hat, in der seine Hormone verrückt spielen.“

„Hoffentlich haben Sie recht.“ Mrs Pearson schniefte verhalten und sah Rose dann verwundert an. „Na ja, ich nehme an, in einer Arztpraxis schnappt man alle möglichen Informationen auf.“

„Ja, das stimmt.“ Rose lächelte nur. Sie wusste noch zu gut, wie es war, sich als Außenseiter zu fühlen. In dem Alter glaubte man einfach nicht, dass es anderen genauso ging und die es nur besser verstecken konnten. Obwohl Dr. Cavendish eine solche Phase wohl sicher nie durchgemacht hatte. Er hatte vermutlich sein ganzes Leben lang niemals irgendwelche Zweifel bezüglich seines Aussehens gehabt.

Rose unterhielt sich mit Mrs Pearson, bis Richard und Jonathan nach einer halben Stunde wieder aus dem Sprechzimmer kamen. Der Junge wirkte wesentlich fröhlicher als zuvor und brachte für seine Mutter sogar beinahe ein Lächeln zustande.

„Also, nimm die Tabletten eine Woche lang, dann kommst du noch mal her. Falls es durch das Medikament nicht wesentlich besser geworden ist, überlegen wir uns was Neues. Wir kriegen die Sache auf jeden Fall in den Griff.“

Richards Mutter blickte ein wenig unbehaglich drein. Wahrscheinlich machte sie sich Sorgen über die Kosten der Behandlung.

„Ach ja, und die Folgetermine sind im Preis für die heutige Beratung mit enthalten“, fuhr Jonathan fort. „Ich habe Richard einen Brief an seinen Hausarzt mitgegeben. Er wird ihm ein Krankenkassenrezept ausstellen.“

Mrs Pearson wirkte sichtlich erleichtert, und Rose begann sich für ihren Chef zu erwärmen. Er hatte das Problem so elegant gelöst, dass weder Mrs Pearson noch Richard merkten, dass Jonathan wegen der Kosten der Konsultationen geschwindelt hatte.

Nachdem die beiden gegangen waren, erkundigte sich Rose: „Was haben Sie ihm verschrieben?“

Jonathan war verblüfft. „Amoxicillin. Wieso?“

„Ich bin examinierte Krankenschwester“, gestand sie verlegen. „Vor nicht allzu langer Zeit habe ich einen Kurs in Dermatologie absolviert. Deshalb habe ich mich gefragt, was Sie dem Jungen empfehlen würden. Ich weiß, dass Retinoide helfen können, wenn Antibiotika nicht wirken.“

„Sie sind Krankenschwester? Warum arbeiten Sie dann als …?“ Verlegen brach er ab.

„Ich habe mich aus persönlichen Gründen für ein paar Wochen von meiner Arbeit freistellen lassen. Bis vor fünf Jahren habe ich als medizinische Sekretärin gearbeitet und bin also auch für diesen Job qualifiziert. Während ich die Arztberichte abtippte, merkte ich, dass mich Medizin wirklich interessierte, und ich wollte mehr darüber wissen.“ Oh, was war das denn? Der Ausdruck in seinen grünen Augen brachte Rose dazu, mehr auszuplaudern, als sie eigentlich wollte. Normalerweise war sie eher zurückhaltend.

„Jedenfalls hat mein Chef mich dazu ermutigt, in meiner Freizeit die Hochschulreife nachzuholen und mich um einen Studienplatz im Bereich Gesundheits- und Pflegemanagement zu bewerben“, fuhr sie fort. Sie war die Erste in ihrer Familie mit einer Universitätsausbildung, und ihre Eltern waren fast geplatzt vor Stolz.

„Und warum sind Sie dann hier?“, fragte Jonathan erstaunt. „Wieso haben Sie keinen Job als Krankenschwester angenommen? In London gibt es einen großen Mangel an qualifizierten Pflegekräften.“ Er musterte sie von Kopf bis Fuß, aber sicher nicht, weil er sie attraktiv fand.

Plötzlich bedauerte Rose, dass sie ihr bereits in die Jahre gekommenes Kostüm mit der hochgeschlossenen Bluse angezogen hatte.

„Rose?“, hakte er nach. „Kommen Sie, ich würde es wirklich gerne wissen.“ Die Arme verschränkt, stand er gegen den Aktenschrank gelehnt da und sah sie aufmerksam an.

„Sagen wir einfach, aufgrund familiärer Verpflichtungen, und belassen es dabei, einverstanden?“ Offen erwiderte sie seinen Blick. Es ging ihn ja tatsächlich nichts an. Er war zwar ihr Chef, aber das gab ihm noch lange nicht das Recht, sie auszufragen.

Jonathan betrachtete sie nachdenklich. „Haben Sie etwas bei der Agentur erreicht?“

„Ich habe noch nicht angerufen“, sagte Rose. „Ich dachte …“ Sie unterbrach sich. Was wäre, wenn er ihren Vorschlag ablehnte, weil sie nicht den richtigen High-Society-Akzent hatte?

„Da Sie Krankenschwester sind, dass Sie für Vicki einspringen könnten?“, ergänzte er. „Genau das Gleiche habe ich auch gedacht. Aber was ist mit dem Empfang? Ich glaube nicht, dass Sie beides bewältigen können.“

Rose unterdrückte ein Lächeln. Rein vom Arbeitsaufwand her hätte sie ohne Weiteres beide Jobs übernehmen können. Aber Jonathan hatte recht. Falls sie einen Patienten behandelte, musste der Empfang trotzdem besetzt sein.

„Ich wüsste genau die Richtige dafür“, antwortete sie. „Sie ist jung, aber sehr interessiert. Im Moment ist sie gerade auf Jobsuche und würde sicher gerne stundenweise hier arbeiten.“

„Großartig. Würden Sie das bitte organisieren? Normalerweise kümmert sich Tiggy immer um solche Sachen. Abgesehen von der medizinischen Seite bin ich nicht zu viel zu gebrauchen, fürchte ich.“ Jonathan schaute auf die Uhr. „Mittagspause! Wo möchten Sie gerne essen?“

Sprachlos sah Rose ihn an. Auf gar keinen Fall wollte sie mit ihm zu Mittag essen. Außerdem konnte sie sich einen Restaurantbesuch eigentlich auch nicht leisten. „Ich habe mir was mitgebracht“, erklärte sie daher. „Ich werde meinen Lunch hier essen.“

Es zuckte belustigt um seine Mundwinkel, doch er versuchte nicht, Rose umzustimmen. Wahrscheinlich war er sogar froh, dass sie abgelehnt hatte. Sicher hatte er sie nur aus Höflichkeit gefragt und wäre peinlich berührt gewesen, hätte sie sein Angebot angenommen. Als Aushilfe mit dem Chef essen zu gehen, war in diesem Teil Londons wohl eher nicht üblich.

Gut gelaunt lief Jonathan die Treppe hinunter und trat hinaus in die kühle Frühlingsluft. Lächelnd dachte er an seine Aushilfskraft. Sie sah zumindest wesentlich besser aus als Tiggy, das stand schon mal fest. Obwohl er eine Schwäche für seine ältliche Empfangsdame hatte, die er schon sein ganzes Leben lang kannte, freute er sich auf die kommenden Wochen. Rose Taylor faszinierte ihn. Selbst die ausgeleierte Strickjacke, die sie trug, konnte ihre Figur nicht ganz verhüllen. Eine Figur, bei deren Anblick die meisten Frauen in seinem Bekanntenkreis vor Neid erblassen würden.

Jonathan war ein Frauenkenner, wie er sich nicht ohne Stolz bescheinigte. Andere hätten vermutlich nicht auf den ersten Blick erkannt, dass Rose geradezu Modelmaße besaß. Außerdem gefiel ihm ihr Umgang mit seinen Patienten. Hilfsbereit, aber nicht aufdringlich. Sogar Lady Hilton, die im Allgemeinen ebenso bissig war wie ihr Hündchen, das sie überall mit hinschleppte, war wie Wachs in Roses Händen gewesen. Rose Taylor war die hinreißendste Frau, die er seit Langem getroffen hatte.

Eine ungewöhnliche Mischung aus einer stacheligen Persönlichkeit, die ihn an eine seiner früheren Lehrerinnen erinnerte, und unterschwelliger Sinnlichkeit. Wie konnte eine Frau sexy und unsexy zugleich sein? Fröhlich pfeifend spazierte er zu seinem Stammlokal. Es würde mit Sicherheit interessant werden, mit Rose zusammenzuarbeiten.

Rose wartete, bis sich die Tür hinter Jonathan geschlossen hatte, ehe sie den Atem ausstieß und sich auf ihren Stuhl fallen ließ. Der Mann war umwerfend – und dieses Lächeln! Hatte er überhaupt eine Vorstellung davon, was es bei Frauen anrichtete? Oh ja, natürlich. Ihre Erfahrungen mit Männern waren zwar begrenzt, aber selbst Rose merkte, wann ein Mann es gewohnt war, bewundert zu werden. Jemandem wie ihm war sie noch nie begegnet. Wie denn auch? Schließlich bewegte sie sich nicht in solchen Kreisen.

Doch so attraktiv er auch sein mochte, war Rose nicht sicher, ob er ihr wirklich gefiel. Eigentlich bevorzugte sie zielstrebige Männer mit Ehrgeiz. Die Familienpraxis zu übernehmen, um ein lockeres Leben zu führen, hatte mit Ehrgeiz nichts zu tun. Nicht, dass sie bisher viele Freunde gehabt hätte. Drei, um genau zu sein, und keiner von ihnen war besonders aufregend gewesen. Aber zumindest verlässlich und solide. Was man von Jonathan Cavendish vermutlich nicht behaupten konnte.

Umso besser, dass mir bodenständige Männer lieber sind, dachte sie. Die Chancen, dass Jonathan sich für sie interessierte, standen gleich null. Sie brauchte sich ja nur diese rothaarige Sexbombe auf dem Foto anzuschauen. Die Frau war so perfekt. Garantiert würde sie sich niemals dabei ertappen lassen, gedankenverloren eine ganze Schale Pralinen zu verspeisen.

Rose blickte sich um. Was jetzt? Jonathan hatte ihr das Diktafon mit seinen Anmerkungen zu den Patienten vom Vormittag dagelassen. Sie könnte diese also abtippen und ihm bei seiner Rückkehr zur Unterschrift vorlegen. Und den Rest des Nachmittags? Im Terminkalender waren zwei Hausbesuche eingetragen. Wie könnte sie sich nützlich machen, solange Jonathan weg war? Sie seufzte. Das würde ein langer Tag werden.

Wie erwartet, brauchte sie nur eine halbe Stunde, um die Arztbriefe in den PC zu tippen und auszudrucken. Das Briefpapier war genauso exklusiv wie der Rest der Praxis.

Gerade als Rose ihr Sandwich essen wollte, klopfte es laut an der Tür, und Rose öffnete. Eine junge Frau mit einem etwa zweijährigen Mädchen auf dem Arm stand auf der Treppe.

„Bitte“, stieß die Frau hervor. „Ist der Arzt da? Meine Tochter hat Atemprobleme. Vorhin ging es ihr noch gut, und von einer Sekunde zur anderen fing sie plötzlich an zu keuchen. Mein Handy-Akku ist leer, sonst hätte ich einen Krankenwagen gerufen. Da habe ich dann den Namen des Doktors auf dem Schild gesehen. Bitte helfen Sie mir!“

Die junge Mutter war völlig aufgelöst, und das kleine Mädchen hielt einen Teddybären an sich gepresst, als hinge ihr Leben davon ab.

Rose legte der Frau die Hände auf die Schultern. „Ich weiß, es ist schwer, aber Sie müssen sich beruhigen. Ihre Kleine wird sich noch mehr aufregen, wenn sie sieht, dass Sie in Panik geraten. Wie heißt sie denn?“

„Sally.“ Die Frau atmete tief durch. „Ich bin Margaret.“

„Könnte sie etwas verschluckt haben? Einen Knopf? Eine Erdnuss? Irgendwas.“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Sally, ich schau jetzt kurz in deinen Mund, okay?“, meinte Rose ruhig. Das kleine Mädchen sah sie ängstlich an. Behutsam untersuchte Rose den Mundraum, doch die Luftröhre schien frei zu sein.

„Gut, Margaret, dann kommen Sie mal mit.“ Rose nahm ihr die Kleine ab und ging rasch zum Behandlungszimmer.

„Ich war in dem Café um die Ecke, und da war alles in Ordnung.“ Margaret hatte sich zwar ein wenig beruhigt, doch die Angst stand noch in ihren Augen.

„Ist so was schon mal passiert?“, erkundigte sich Rose. „Hat Sally Asthma oder irgendwelche Allergien?“ Entweder benötigte sie einen Hub Asthmaspray oder Adrenalin, aber was war das Richtige? „Kannst du deinen Mund bitte so weit aufmachen, wie es geht, Sally? Ich werde dir jetzt mit der Taschenlampe in deinen Hals leuchten. Es tut gar nicht weh, das verspreche ich dir.“

Das kleine Mädchen gehorchte, und beim Hineinleuchten stellte Rose fest, dass der Rachen nicht geschwollen war. „Hat sie vielleicht Nüsse gegessen oder irgendetwas, was nicht zu ihrem normalen Speiseplan gehört?“, wiederholte sie.

Margaret schüttelte den Kopf. „Sie saß in einem Hochstuhl und hat nur den Saft getrunken, den ich ihr gegeben habe.“

Im Hintergrund hörte Rose eine Tür schlagen, und jemand rief ihren Namen. Jonathan war wieder da, ein Glück.

„Im Behandlungszimmer“, rief sie. „Könnten Sie bitte kommen?“

Er erschien an der Tür und erfasste die Situation mit einem Blick. Sofort hockte er sich neben den Stuhl, wo Sally auf dem Schoß ihrer Mutter saß. Liebevoll berührte er das Mädchen an der Wange. „Hallo“, meinte er sanft. „Was ist los? Du kriegst schlecht Luft?“

Während er mit der Kleinen sprach, hatte Rose bereits einen Vernebler und das entsprechende bronchienerweiternde Medikament gefunden. Jonathan horchte Sallys Brustkorb ab. Als Rose ihm die Ampulle zeigte, nickte er bestätigend.

„Margaret, wissen Sie, wie viel Sally wiegt?“, fragte sie. „Dann können wir die Medikamentendosis berechnen.“

„Ich bin nicht sicher, vielleicht zwölf Kilo. Ich habe sie in letzter Zeit nicht gewogen.“ Nun, da sie wusste, dass ihrer Tochter geholfen wurde, war Margaret wesentlich ruhiger geworden.

„Kein Problem, wir können es auch schätzen.“

Rose holte das Sauerstoffmessgerät. „Ich klemme das an deinen großen Zeh“, erklärte sie Sally. „Das tut nicht weh.“ Zu Margaret gewandt, fuhr sie fort: „Damit überwachen wir den Sauerstoffgehalt in ihrem Blut.“

„Ich denke, Ihre Tochter hat einen Asthmaanfall.“ Jonathan nahm den Vernebler von Rose entgegen. „Ich setze die Maske auf deinen Mund, Sally. Und ich möchte, dass du tief und langsam atmest.“

Das kleine Mädchen schüttelte heftig den Kopf. Rasch überlegte Rose, dann kam ihr eine Idee. Sie nahm Sally den Teddybären ab und drückte ihm einen anderen Vernebler auf die Schnauze. Danach hockte sie sich vor die Kleine und umschloss ihr Gesichtchen mit beiden Händen, damit Sally sie ansah.

„Pass auf, Sally. Wir machen jetzt ein Spiel. Jedes Mal, wenn ich Luft hole, holt der Teddy auch Luft. Und du machst es uns nach, ja?“

Es klappte. Die Augen auf Rose und den Bären geheftet, ahmte Sally jeden Atemzug nach, den Rose ihr vormachte. Jonathan beobachtete sie aufmerksam, ohne sich einzumischen. Nach und nach normalisierte sich Sallys Atmung, bis Jonathan den Vernebler schließlich entfernte.

„Jetzt kriegst du wieder genug Luft, Sally.“ Er wandte sich an die Mutter. „Ist das vorher noch nie passiert?“

Margaret schüttelte den Kopf.

„Sally ist wahrscheinlich in Panik geraten, als sie merkte, dass sie Schwierigkeiten mit dem Atmen hat. Dennoch wurden ihre Lungen mit ausreichend Luft versorgt, denn der Sauerstoffgehalt lag bei achtundneunzig Prozent. Trotzdem war es für Sie beide ein erschreckendes Erlebnis“, erklärte Jonathan.

Die Kleine kuschelte sich eng an ihre Mutter.

„Wir waren mit einer Freundin im Park, um Enten zu füttern. Sally war ein bisschen schläfrig und ist bei meiner Freundin auf dem Arm eingeschlafen. Als sie aufwachte, musste sie auf die Toilette, deshalb sind wir ins Café gegangen“, erzählte Margaret. „Im Park hat sie schon ein bisschen gehustet, aber ich habe mir nichts weiter dabei gedacht. Erst im Café konnte sie auf einmal nicht mehr richtig atmen. Ich dachte, an der frischen Luft würde es besser, aber stattdessen wurde es immer schlimmer. Zum Glück entdeckte ich Ihre Praxis hier.“ Mit vor Rührung rauer Stimme fügte sie hinzu: „Vielen herzlichen Dank an Sie beide. Ich weiß nicht, was ich ohne Ihre Hilfe getan hätte.“

„Ich denke, Rose hat den meisten Dank verdient.“ Jonathan richtete sich auf. „Sie sollten so bald wie möglich Ihren Hausarzt aufsuchen. Ich fürchte, Sally wird eine Weile regelmäßig Medikamente einnehmen müssen.“

Rose dachte nach. „Haben Sie Haustiere, Margaret?“

„Nein. Sallys Vater ist allergisch gegen Tierhaare.“

„Und Ihre Freundin, mit der sie im Park waren?“

„Linda? Oh ja, sie hat mindestens fünf Katzen. Sie liebt Katzen und rettet ständig welche.“

Rose fing Jonathans Blick auf. Er dachte dasselbe wie sie.

„Ich vermute, dann haben wir die Ursache gefunden“, meinte er. „Es wäre möglich, dass ihre Tochter eine Katzenhaarallergie hat. Vielleicht hatte ihre Freundin ein paar Haare an der Kleidung. Und als Sally bei ihr eingeschlafen ist, hat sie einige der Allergene eingeatmet. Das ist zwar nur eine Möglichkeit, aber Sie sollten es Ihrem Arzt gegenüber erwähnen.“

3. KAPITEL

Nachdem die beiden gegangen waren, sagte Rose zu Jonathan: „Ich hoffe, es war in Ordnung, dass ich die zwei reingeholt habe. Mir ist klar, dass Sie keine Notfallpraxis haben. Und wenn ich etwas falsch gemacht hätte, wären Sie dafür zur Rechenschaft gezogen worden.“

Mit ernster Miene sah er sie an. „Und wenn ich Ihnen sagen würde, dass es unverzeihlich war und Sie nie wieder einem Passanten helfen dürfen, was würden Sie dann tun?“

„Ich würde erwidern, dass Sie sich eine andere Aushilfe suchen müssen“, entgegnete Rose aufgebracht. Erst dann bemerkte sie das Lächeln um seine Mundwinkel. „Sie scherzen, oder?“

„Natürlich scherze ich. Ich würde nie jemanden einstellen, der erst an die Regeln denkt, bevor er handelt. Das wäre nicht richtig und außerdem furchtbar langweilig.“ Sein Lächeln vertiefte sich und ließ ihre Haut auf höchst eigenartige Weise prickeln.

„Ich denke, Sie hatten für heute genug Aufregung. Also tippen Sie doch einfach die Briefe ab, und dann können Sie nach Hause gehen.“

„Die Briefe sind schon fertig und müssen nur noch unterschrieben werden“, gab Rose zurück. Was glaubte Jonathan denn, was sie getan hatte, während er beim Essen gewesen war? „Es ist erst zwei Uhr. So früh kann ich doch unmöglich gehen.“

Er überlegte. „Hätten Sie vielleicht Lust, mich auf einem Hausbesuch zu begleiten? So wie Sie mit Margaret und Sally umgegangen sind, wären Sie der perfekte Ersatz für Vicki. Was sagen Sie dazu? Das würde natürlich auch ein höheres Gehalt bedeuten.“

Das Prickeln verstärkte sich, nicht zuletzt durch den Ausdruck in Jonathans Augen – sexy, frech, neckend. Noch nie hatte Rose sich so befangen gefühlt, doch das wollte sie sich unter gar keinen Umständen anmerken lassen. Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Einverstanden. Ich schreibe Ihnen einen Namen und eine Telefonnummer auf, damit Sie meine Referenzen überprüfen können.“

Jonathan hob die Brauen, ehe er einschlug. „Ich vermute, sie werden erstklassig sein.“

Rose versuchte, das angenehm warme Gefühl zu ignorieren, das sie durchströmte. „Kommt es oft vor, dass Sie Ihre Mitarbeiter zu einem Hausbesuch mitnehmen?“

„Eigentlich nicht. Aber der Besuch heute Nachmittag wird nicht ganz einfach“, erwiderte er. „Ich muss zu Jessamine Goldsmith. Sie wissen schon, die Schauspielerin. Sagen wir, es wäre mir sehr viel angenehmer, wenn Sie dabei wären.“

„Ist sie nicht Ihre Freundin?“ Es verstieß absolut gegen alle Regeln, wenn ein Arzt eine Beziehung mit einer Patientin hatte.

„Wie kommen Sie denn darauf?“

Unwillkürlich schaute Rose auf das Hochglanz-Magazin.

Er folgte ihrem Blick, und seine Miene verfinsterte sich. „Lassen Sie uns eines klarstellen. Glauben Sie nie das, was in diesen Illustrierten steht. Jessamine Goldsmith ist nicht meine Freundin und ist es auch nie gewesen. Sie ist eine meiner Patientinnen und bewegt sich zufällig in denselben Kreisen wie ich.“

Rose unterdrückte ein Lächeln. „Also, worauf warten wir dann noch?“

Kaum waren sie losgefahren, schaltete Jonathan den CD-Player seines Autoradios ein, woraufhin die herrlichen Klänge von Debussy den Wagen erfüllten. Rose liebte diesen Komponisten. Sie lehnte sich auf ihrem Sitz zurück, wobei sie den frischen Duft von Jonathans teurem Aftershave wahrnahm, der sich mit dem Ledergeruch des Autos vermischte. Es war viel schöner, als Beifahrerin in diesem Wagen zu sitzen. Jetzt konnte sie sich endlich entspannen.

„Weshalb statten wir Miss Goldsmith einen Hausbesuch ab? Fühlt sie sich so schlecht?“

Jonathan warf ihr ein rasches Lächeln zu. „Jessamine geht es mit ziemlicher Sicherheit gut. Sie zieht es lediglich vor, mich bei sich zu Hause zu empfangen. Das ist bei den meisten meiner Patienten so. Es ist stressfreier für sie.“ Schmunzelnd fuhr er fort: „Falls sie für bestimmte Untersuchungen die Praxis aufsuchen müssen, dann tun sie das natürlich. Oder auch, wenn sie gerade zum Shoppen in der Nähe sind. Aber vielen ist es lieber, wenn ich zu ihnen komme. Jessamine beispielsweise wird auf Schritt und Tritt von der Presse verfolgt, so wie viele andere meiner prominenten Patienten auch. Jeder Arztbesuch löst zahlreiche Spekulationen aus. Wie Sie sich vorstellen können, möchten die meisten Leute kein negatives Image in der Öffentlichkeit präsentieren.“

„Aber wird die Presse beim Hausbesuch eines Arztes nicht genauso neugierig?“, wandte Rose ein.

Inzwischen hatten sie den dichtesten Verkehr hinter sich gelassen und fuhren durch die exklusiveren Gegenden der Stadt. Jonathan hielt vor einem Haus, das so groß war wie ein Hotel. Eine so herrschaftliche viktorianische Fassade hatte Rose noch nie gesehen. Der portalartige Eingang wurde von zwei hohen Säulen eingefasst.

Jonathan stellte den Motor ab. „Da können die Reporter nie sicher sein, ob ich als Arzt oder als Freund komme. Die meisten meiner Patienten gehören denselben gesellschaftlichen Kreisen an wie ich. Sie ahnen gar nicht, wie viele ärztliche Beratungen ich nebenbei auf einer Party oder in Ascot durchführe.“

Rose zog missbilligend die Brauen zusammen. „Das kann nicht gut sein. Es muss doch einen gewissen Unterschied zwischen Arzt und Patient geben, oder?“

Er stieg aus. „Nein. So funktioniert es ganz hervorragend, glauben Sie mir.“

Ehe sie überhaupt die Chance hatten zu klopfen, wurde die Haustür von einem Butler geöffnet.

„Guten Tag, Miss, Sir“, sagte er. „Miss Goldsmith erwartet Sie im Salon. Ich soll Sie gleich hereinbitten.“

Jonathan trat zur Seite, um Rose vorgehen zu lassen. Sie kam in eine Eingangshalle, in die ihr Elternhaus vermutlich zweimal hineingepasst hätte. Der Fußboden war aus Marmor, an den Wänden hingen Gemälde, und überall standen Skulpturen und üppige Blumenarrangements verteilt.

„Ich kenne den Weg. Danke, Robert“, meinte Jonathan. Er führte Rose durch die Halle und dann eine breite, geschwungene Treppe hinauf. Wo man hinschaute, waren kunstvolle Statuen und vergoldete Ornamente zu sehen. Obwohl diese Innenausstattung ein Vermögen gekostet haben musste, entsprach sie nicht Roses Geschmack. Sie bevorzugte einen schlichten, minimalistischen Stil.

In einem ähnlich eindrucksvollen Raum, etwas verloren wirkend auf einem tiefen Sofa, saß eine Frau mit feinen Gesichtszügen und einer roten Haarmähne. Sobald sie Jonathan erblickte, sprang sie auf und kam mit ausgestreckten Armen auf ihn zu.

„Ich warte schon den ganzen Tag auf dich.“ Schmollend hielt sie ihm die Wange hin.

„Ich habe auch noch andere Patienten.“ Jonathan beugte sich zu ihr und begrüßte sie mit einem Wangenkuss. „Ich habe jemanden mitgebracht, Rose Taylor, meine Praxis-Krankenschwester für die kommenden Wochen.“

Lächelnd reichte Rose ihr die Hand. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Goldsmith.“

Jessamine unterzog sie einer raschen Musterung, wobei ihr zweifellos das einfache Kostüm auffiel, das Rose trug. Dann lächelte sie. Es war das berühmte Lächeln, das man von ihren Filmen her kannte. Es erhellte ihr Gesicht und verwandelte sie in eine bemerkenswert schöne Frau.

Sie ignorierte Roses ausgestreckte Hand und gab ihr stattdessen zwei affektierte Luftküsse. „Möchtet ihr was zu trinken? Champagner? Tee?“

„Tee wäre schön“, erwiderte Jonathan. „So, Jessamine, was kann ich für dich tun?“

„Ich habe wahnsinnige Magenschmerzen“, sagte sie.

„Dann leg dich mal hin, und ich schau mir die Sache an“, schlug er vor.

„Vielleicht könnte Rose nach unten gehen und uns den Tee organisieren, während du mich untersuchst?“ Der strahlende Ausdruck in Jessamines Augen war nicht zu übersehen.

„Tut mir leid, Jess, ich brauche sie hier.“ Jonathan warf Rose einen Blick zu, der ihr bedeutete, ihn jetzt bloß nicht alleine zu lassen. „Falls ich dir Blut abnehmen muss. Dann wollen wir mal sehen. Hast du vernünftig gegessen? Darüber haben wir doch schon gesprochen. Dein Bauch tut weh, weil du Hunger hast. Du musst mehr als bloß fünfhundert Kalorien am Tag zu dir nehmen.“

„Du hast leicht reden.“ Jessamine schmollte wieder. „Du weißt genau, dass man durch die Kamera immer dicker aussieht, und morgen muss ich zu einem Vorsprechen.“

Sie legte sich aufs Sofa und zog ihr T-Shirt hoch. Wie erwartet, hatte sie einen absolut flachen Bauch. Aber Jonathan hatte recht, sie war zu dünn. Rose konnte beinahe jede Rippe zählen. Als er Jessamine aufforderte, sich aufzusetzen, damit er sie abhorchen konnte, stach jeder einzelne Wirbel an ihrem Rücken hervor.

„Herz und Lunge sind in Ordnung. Rose, würden Sie bitte Jessamines Blutdruck messen?“

Rasch legte Rose der Schauspielerin die Manschette an. Ihr Blutdruck war etwas niedrig, gab aber keinen Anlass zur Besorgnis. Trotz ihrer Magerkeit besaß Jessamine offenbar eine gute Kondition.

„Ich hoffe, du hast die Party auf der Wakeley-Jacht nächste Woche nicht vergessen, Johnny“, meinte sie. „Alle gehen dahin. Ich weiß, dass du nicht mehr mit Felicity zusammen bist, aber du solltest nicht zu Hause rumsitzen und Trübsal blasen. Sie müssen auch kommen, Rose“, fügte sie hinzu.

Die Einladung war ganz offensichtlich nur als höfliche Geste gemeint.

„Ich bin sicher, dass Rose gerne kommen würde“, antwortete Jonathan, ehe sie ablehnen konnte. „Ich werde sie mitbringen.“

Mit dieser Reaktion hatte Jessamine wohl nicht gerechnet. Misstrauisch betrachtete sie Rose. Das anschließende geringschätzige Achselzucken machte deutlich, dass sie diese nicht als ernst zu nehmende Konkurrenz betrachtete.

Zwar hatte Rose nicht die Absicht, auf die Party zu gehen, wollte Jonathan jedoch nicht direkt widersprechen.

Nachdem er Jessamine Blut abgenommen und sie noch einmal ermahnt hatte, vernünftig zu essen, verabschiedete er sich von ihr. „Dann sehen wir uns am Sonntag, Jess. Vielleicht schaue ich vorher noch mal vorbei. Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen zu machen brauchst, aber wir sollten auf Nummer sicher gehen. Und du musst unbedingt regelmäßige Mahlzeiten zu dir nehmen. Sonst wirst du weiterhin unter Verdauungsstörungen leiden. Du schadest deinem Körper, indem du hungerst. Ist es das wirklich wert, dass du deine Gesundheit so aufs Spiel setzt?“

„Schimpf nicht mit mir, Johnny. Ich verspreche, ich werde brav sein. Ich muss nur für diesen neuen Film vorsprechen. Danach werde ich wieder ein paar Pfund zulegen.“ Sie hielt zwei Finger hoch. „Pfadfinder-Ehrenwort.“ Dann warf sie Rose einen Blick zu, der spöttisch und herausfordernd zugleich war.

Draußen hielt Jonathan die Beifahrertür für Rose auf. „Kann ich Sie nach Hause fahren?“

„Nein, danke. Ich glaube, hier ist eine U-Bahn-Station in der Nähe, und ich muss unterwegs noch ein paar Einkäufe erledigen.“

„Gut, dann bringe ich Sie zur U-Bahn. Steigen Sie ein. Unterwegs können wir uns noch ein bisschen über Jessamine unterhalten.“

Sobald Rose im Wagen saß, meinte sie: „Sie sind anscheinend ziemlich sicher, dass es sich bei ihr um Verdauungsprobleme handelt.“

„Ja, bei ihrem Lebensstil ist das sehr wahrscheinlich. Aber ich schließe andere Möglichkeiten nicht aus. Um ganz sicherzugehen, will ich ein großes Blutbild machen lassen.“

Rose war erleichtert festzustellen, dass er trotz seiner lockeren Art und dem vertraulichen Umgang mit seinen Patienten ein Mindestmaß an Verantwortung in seinem Beruf besaß.

Plötzlich lächelte er, und ihr Herz machte einen freudigen Satz. „Also, wie war Ihr erster Tag?“

„Ganz anders als das, was ich gewohnt bin“, gab Rose zu. „Aber interessant.“

Und das Faszinierendste von allem war der Mann neben ihr. Sie betrachtete ihn von der Seite. Jemanden wie ihn hatte sie noch nie getroffen. Sie war in einer völlig anderen Welt aufgewachsen. Ihre Eltern hatten hart gearbeitet, um über die Runden zu kommen. Vergnügungen hatte es nur selten gegeben. Doch auch wenn materieller Besitz knapp gewesen war, hatte Rose sich immer geschätzt und geliebt gefühlt.

Sie war fleißig, aber nicht ehrgeizig gewesen. Nach der Schule hatte sie einen Sekretärinnenkurs gemacht und eine Stelle als medizinische Sekretärin in einer Vorort-Praxis angenommen. Dort hatte sie dann erkannt, dass sie mehr aus ihrem Leben machen wollte. Sie hatte ihren Hochschulabschluss in der Abendschule nachgeholt und war danach nach Edinburgh gegangen, um Krankenschwester zu werden und Gesundheitsmanagement zu studieren.

Durch das Studium war sie an Dinge herangeführt worden, mit denen sie zuvor nie in Berührung gekommen war, und sie hatte alles begierig aufgenommen. Nach ihrem Examen hatte sie schnell eine Arbeit gefunden, die sie liebte, sogar in der Nähe ihrer Wohnung. Es war ein schönes, angenehmes, wenn vielleicht auch nicht gerade aufregendes Leben. Aber es hatte ihr gefallen. Warum also fragte sie sich jetzt, ob dabei nicht doch irgendwas fehlte?

„Ich bin wieder da!“, rief Rose und stellte mit einem Seufzer der Erleichterung ihre Einkaufstaschen an der Haustür ab.

Die U-Bahn war wie immer brechend voll gewesen. Der Weg von der Haltestelle nach Hause dauerte zwar nur zehn Minuten, mit den schweren Taschen kam ihr der Weg allerdings sehr viel weiter vor. Außerdem waren ihre Absätze, die die meisten Frauen für sehr vernünftig gehalten hätten, für Rose immer noch etwas zu hoch, sodass ihr die Füße bei jedem Schritt wehgetan hatten.

Ihre Mutter kam in den Flur, um sie zu begrüßen. „Wie war es, Schatz?“ Sie nahm eine der Einkaufstüten. „Geh doch schon mal rein zu deinem Dad. Ich räume solange die Sachen weg. Dann kannst du uns bei einem Tee alles ganz genau erzählen.“

„Wie geht es ihm, Mum?“

„Ganz gut. Er hat gefrühstückt und zu Mittag gegessen, und dann haben wir die Übungen gemacht, die der Physiotherapeut uns gezeigt hat. Jetzt ist er ein bisschen müde. Nach dem Abendessen bringe ich ihn ins Bett.“

Rose fand ihren Vater auf seinem üblichen Platz vor dem Fenster. Das Herz krampfte sich ihr zusammen, als sie den gelähmten Arm und den schiefen Mund sah. Durch den Schlaganfall war ihr Vater einseitig fast gelähmt, und sein Sprachvermögen stark beeinträchtigt. Früher war er ein sportlicher Mann gewesen, der gerne ins Fußballstadion gegangen war und selbst Golf und Kricket gespielt hatte. Jetzt musste er sich damit begnügen, am Fenster zu sitzen und das Leben an sich vorbeiziehen zu lassen. Er hasste es, auf Hilfe angewiesen zu sein. Seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte sein Zustand sich zum Glück ein wenig gebessert. Und Rose hoffte inständig, dass er mit der geeigneten Therapie auch weiterhin Fortschritte machen würde.

„Hallo, Daddy. Wie läuft’s? Hast du schon irgendwelche verdächtigen Gestalten da draußen entdeckt?“ Sie gab ihm einen Kuss, und er lächelte sie mit seinem schiefen Lächeln an.

„Hallo, Schatz.“ Seine Sprache klang zwar leicht verwaschen, doch Rose konnte ihn verstehen.

Sie setzte sich zu ihm und nahm seine Hand. „Du kannst dir nicht vorstellen, was ich für einen Tag hinter mir habe, Dad.“ Sie berichtete ihm von Mr Chips und dem Besuch bei Jessamine. Dabei schmückte sie ihre Geschichten noch ein wenig aus, um ihn zu erheitern. Beim Erzählen rieb sie ihre schmerzenden Füße aneinander. Bevor sie diese Schuhe wieder tragen konnte, brauchte sie erst mal ein paar Pflaster.

„Wie ist dein neuer Chef denn so?“ Ihre Mutter erschien an der Tür, ein Geschirrtuch in der Hand. Sie hatte sich nur widerstrebend damit einverstanden erklärt, dass Rose nach Hause zurückgekehrt war, um bei der Pflege ihres Vaters zu helfen.

Ihre Eltern waren so stolz auf sie und wollten, dass sie Karriere machte. Aber Rose musste einfach zurückkommen. Sie wusste, dass die ersten Wochen nach der Entlassung aus dem Krankenhaus besonders hart sein würden. Deshalb hatte sie ihre Freistellung beantragt und auch bewilligt bekommen. Und danach würde man eben weitersehen.

„Dr. Cavendish?“ Rose überlegte. „Er ist nicht viel älter als ich. Circa eins fünfundachtzig groß, schlank und offenbar der Sohn eines Lords.“

„Nein, wirklich? Der Sohn eines Lords? Wieso arbeitet er dann als Arzt?“

„Anscheinend gehörte die Praxis früher seinem Onkel, der zum Ärzte-Team der königlichen Familie gehörte. Der Onkel hat sich zur Ruhe gesetzt, und Jonathan hat die Praxis übernommen.“

„Heißt das, er ist arm und muss sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen?“ Roses Mutter kam herüber und schüttelte ihrem Mann die Kissen auf. „Nicht alle Aristokraten sind wohlhabend.“

„Hm, mag sein, Mum. Er jedenfalls fährt einen teuren Sportwagen, aber sonst weiß ich nicht viel über ihn. Von seiner Familie habe ich jedenfalls noch nie was gehört.“ Wie sollte sie ihren Eltern Jonathan Cavendish beschreiben, wenn sie nicht einmal ihre eigene Reaktion auf ihn einordnen konnte? Die lächelnden grünen Augen, das jungenhafte Grinsen …

„Nun, die nächsten Wochen werden sicher interessant. Anstatt als Sprechstundenhilfe und medizinische Sekretärin scheine ich jetzt einen Job als Krankenschwester und Betreuerin zu haben.“ Rose erzählte von Vicki, ehe sie fortfuhr: „Dr. Cavendish hat Patienten im ganzen Land und auf dem europäischen Kontinent, und er hat mir angeboten, ihn auf seinen Reisen zu begleiten.“ Sie sah ihre Mutter an. „Das bedeutet, dass ich nicht so viel hier sein kann, um dir zu helfen, wie es mir lieb wäre.“ Sie hielt inne. „Vielleicht sollte ich ihm sagen, dass es nicht geht. Es wäre sowieso verrückt.“

„Ich möchte, dass du das machst“, meldete sich ihr Vater zu Wort. „Ich würde mich viel besser fühlen, wenn ich weiß, dass ich dich nicht von irgendwas abhalte.“

Rose umarmte ihren Vater, wobei sie spürte, wie abgemagert sein Körper war.

„Übrigens, Dr. Fairweather hat angerufen“, meinte ihre Mutter. Das war die Neurochirurgin, die Rose nach dem Schlaganfall ihres Vaters aufgesucht hatte. „Sie möchte, dass du sie im Krankenhaus anrufst. Mehr wollte sie nicht sagen. Es ist doch alles in Ordnung, Schatz, oder?“

Rose versuchte, ihre innere Unruhe zu verdrängen. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass der Schlaganfall ihres Vaters durch ein Aneurysma ausgelöst worden war, hatte sein Hausarzt Rose empfohlen, zu einem Spezialisten zu gehen. Die Krankheit war erblich, und sie sollte sich zur Sicherheit untersuchen lassen. Dr. Fairweather hatte bei Rose ein MRT veranlasst, das vor ein paar Tagen durchgeführt worden war.

„Sie will mir sicher bloß sagen, dass der Befund normal ist, Mum. Mach dir keine Gedanken. Ich ruf sie gleich an“, antwortete Rose.

Doch als Dr. Fairweather sie darum bat, möglichst bald einen Termin mit ihr zu vereinbaren, ahnte Rose, dass etwas nicht stimmte. Sie kam ins Wohnzimmer zurück und begegnete dem besorgten Blick ihrer Mutter.

„Schlechte Nachrichten, Schatz?“

Es hatte keinen Sinn, ihre Eltern unnötig zu beunruhigen, bevor sie nicht mit der Ärztin gesprochen hatte. „Nein, alles okay, Mum“, schwindelte Rose daher.

In den folgenden Tagen ging der Alltag in der Praxis seinen gewohnten Gang. Vormittags kamen Patienten zur Sprechstunde, und nachmittags machte Jonathan Hausbesuche. Wenn Rose dabei nicht gebraucht wurde, tippte sie seine Diktate ab. Einige der Patienten kannte sie aus der Zeitung oder vom Fernsehen. Andere wiederum waren ganz normale Leute. Jonathan behandelte alle mit derselben Liebenswürdigkeit und Vertrautheit.

Gelegentlich begleitete Rose ihn bei seinen Hausbesuchen. Und jede der Villen war noch eindrucksvoller als die vorherige.

Wenn Jonathan morgens zur Arbeit kam, sah er manchmal aus, als hätte er die halbe Nacht in den Clubs verbracht. Allerdings hatte er nie einen Kater. Aber die Boulevardpresse zeigte immer wieder Fotos von ihm, jedes Mal in Begleitung einer anderen glamourösen Schönheit.

An zwei Nachmittagen spielte er Polo, wovon Rose auch einmal ein Zeitungsfoto entdeckte. Mit seiner hellen Kleidung und dem Haar, das ihm verwegen in die Stirn fiel, sah er umwerfend aus. Kein Wunder, dass die Damenwelt ihn offenbar unwiderstehlich fand.

Inzwischen hatte Rose sich auch mit Jenny in Verbindung gesetzt, die die Aussicht auf eine befristete Arbeitsstelle mit Begeisterung aufnahm.

„Dass ich nichts zu tun habe, macht mich ganz verrückt“, erklärte sie. „Ich hab schon Hunderte von Bewerbungen geschrieben, aber ohne Erfolg. Ein bisschen echte Job-Erfahrung kann bestimmt nicht schaden. Vor allem, wenn Dr. Cavendish mit mir zufrieden ist und mich vielleicht weiterempfehlen kann.“

Rose hatte Jenny an dem Tag kennengelernt, als sie sich bei der Zeitarbeitsagentur gemeldet hatte. Jenny war neunzehn, hatte gerade ihre Sekretärinnen-Ausbildung abgeschlossen und sprühte förmlich vor Tatendrang.

„Könntest du nur bitte mit einer normalen Frisur kommen?“, erwiderte Rose, die sich an Jennys stacheligen Look erinnerte. „Und nimm lieber die Piercings raus, besonders die aus Lippe und Nase. Ich glaube, das wäre für die Praxis nicht angemessen.“ Auch wenn einige der Patienten selbst Tattoos und Piercings hatten.

„Kein Problem“, meinte Jenny. „Wart’s ab, du wirst mich nicht wiedererkennen.“

Wie versprochen, erschien Jenny mit einem schicken Bob und ohne Piercings. Sie trug einen zwar kurzen, aber durchaus gesitteten Rock.

Mit unverhohlener Begeisterung schaute sie sich in der Praxis um. „Das ist ja toll hier. Also, wo ist der ehrenwerte Dr. Cavendish? Wie soll ich ihn eigentlich nennen? Mylord? Sir?“

Rose lachte. „Ich denke, Dr. Cavendish ist absolut okay. Komm, ich bring dich zu ihm.“

Glücklicherweise mochte Jonathan Jenny auf Anhieb, und bald saß sie an ihrem Arbeitsplatz am Empfang.

„Er ist ziemlich attraktiv“, schwärmte sie Rose vor. „Wenn er nicht so alt wäre, würde ich ihn mir schnappen.“

„Na ja, so alt nun auch wieder nicht. Grade mal siebenundzwanzig.“

Jennys Miene zeigte, dass jeder über fünfundzwanzig ihrer Ansicht nach längst zum alten Eisen gehörte. Prüfend sah sie Rose an. „Aber für dich wäre er genau richtig.“

„Ich glaube kaum, dass ich sein Typ bin“, entgegnete Rose unbehaglich. „Und er auch nicht meiner“, fügte sie schnell hinzu.

Jenny musterte sie kritisch. „Wenn du dir Kontaktlinsen, einen moderneren Haarschnitt und ein paar schickere Klamotten zulegen würdest, wärst du eigentlich ziemlich hübsch.“

„Vielen Dank für deinen Rat, aber ich fühle mich ganz wohl in meiner Haut. Ich mag meine Kleider, sie sind bequem. Und ich habe keine Lust, mir morgens und abends in den Augen herumzufummeln.“ Sie blickte rasch über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass Jonathan außer Hörweite war. „Außerdem bin ich nicht auf der Suche nach einem Freund. Und Dr. Cavendish wäre sowieso nicht mein Typ.“

„Aber …“, protestierte Jenny.

„Kein Aber“, unterbrach Rose sie. „Ich mache hier bloß meinen Job. Mehr nicht.“

Obwohl sich in Jonathans Nähe ihr Pulsschlag auf ungewohnte Weise beschleunigte, bezweifelte sie, dass er irgendetwas in seinem Leben ernst nahm. Und sie hatte Wichtigeres im Kopf als ihren gut aussehenden Chef.

4. KAPITEL

Gegen Ende der Woche kam ein bekannter Fußballer mit seiner Frau zur Sprechstunde. Er war attraktiv, groß und sportlich, seine Frau dagegen äußerst zierlich. Während er schlicht Jeans und T-Shirt trug, wirkte sie wie ein aufgedonnertes Püppchen. Jenny besorgte gerade etwas zu trinken für die beiden, als Jonathan Rose ins Sprechzimmer rief.

„Mark und Colette waren vor zwei Wochen bei mir, weil sie eine Familie gründen wollen“, informierte er sie. „Ich hatte einige Tests veranlasst, und die Ergebnisse sind jetzt da. Leider keine besonders guten Neuigkeiten. Ihnen bleibt nur die künstliche Befruchtung oder Adoption. Ich werde sie zu weiteren Untersuchungen in die Londoner Kinderwunschklinik schicken. Ich glaube, es wäre hilfreich, Sie dabeizuhaben, wenn ich mit ihnen spreche. Falls die beiden damit einverstanden sind.“

Rose nickte. „Natürlich.“

Das Paar hatte nichts gegen ihre Anwesenheit einzuwenden. Von ihren lächelnden Gesichtern ließ sich ablesen, dass sie keine schlechten Nachrichten erwarteten. Bis Colette durch Jonathans ernste Miene stutzig wurde.

„Was ist los, Jonathan? Irgendwas stimmt doch nicht. Das sehe ich dir an.“ Ihre Stimme zitterte leicht, und Mark umschloss fest ihre Hand.

Jonathan schob seinen Stuhl zu ihr herüber und setzte sich. Sein Blick war voller Anteilnahme. „Die Blutprobe hat ergeben, dass Colettes Eierstöcke einwandfrei arbeiten. Das ist gut. Allerdings denke ich, dass ihr den Test an der Londoner Kinderwunschklinik noch einmal wiederholen solltet.“

„Es gibt also kein Problem. Das heißt, wir müssen es einfach weiter versuchen, ja?“

„An Colette scheint es zumindest nicht zu liegen“, erklärte Jonathan. „Obwohl man das nicht so trennen sollte. Wenn Paare Schwierigkeiten bei der Zeugung haben, betrachten wir das eher als eine Paar-Angelegenheit.“

„Komm schon, Jonathan. Hör auf, um den heißen Brei herumzureden. Wir sind extra zu dir gekommen, weil wir wissen, dass wir von dir klare Antworten kriegen“, entgegnete Mark.

„Das Problem liegt bei dir, fürchte ich“, meinte Jonathan mitfühlend. „In deiner Spermienprobe waren nur sehr wenige bewegliche Spermien vorhanden. Eine Empfängnis ohne künstliche Befruchtung ist daher sehr unwahrscheinlich. Es gibt da eine sehr erfolgreiche Methode.“ Er sah Mark offen an. „Falls die Spezialisten in der Klinik Spermien finden, die gesund genug sind, damit sich das Verfahren anwenden lässt.“

Mark war sichtlich schockiert. „Machst du Witze? Ich bin doch gesund. Du wirst kaum jemanden finden, der fitter ist als ich.“

„Es tut mir leid, Mark. Wie gesagt, ihr müsst noch weitere Tests machen lassen. Aber ich bin ziemlich sicher. Auf jeden Fall war es gut, dass ihr jetzt zu mir gekommen seid. Die Qualität deiner Spermien wird sich nur verschlechtern, je länger wir warten.“

Der Schock saß tief, doch Colette versuchte, sich zusammenzureißen. „Das macht mir nichts aus, Darling. Eine künstliche Befruchtung ist okay für mich. Hauptsache, wir bekommen ein Baby. Jonathan hat ja nicht gesagt, dass wir keine Kinder kriegen können. Nur das ist wichtig.“

Mark wirkte wie vor den Kopf geschlagen. Unvermittelt stand er auf und stürzte aus dem Zimmer. Jonathan sah Rose fragend an, und sie nickte. „Ich bleibe bei Colette.“

„Das muss ein Irrtum sein“, meinte Colette, nachdem Jonathan den Raum verlassen hatte. „Es ist unmöglich. Mark wird das nie akzeptieren. Wir haben immer gedacht, wenn es ein Problem gibt, dann würde es an mir liegen.“

Rose zog ihren Stuhl näher heran und nahm Colettes schmale Hand. Sie empfand großes Mitgefühl mit der jungen Frau. In den vergangenen Tagen hatte auch sie sich damit auseinandersetzen müssen, vielleicht niemals Kinder haben zu können. Mit einem Aneurysma war eine Schwangerschaft viel zu gefährlich. Unwillkürlich schnürte es Rose die Kehle zu. Doch dann schob sie den Gedanken energisch von sich. Jetzt ging es um ihre Patientin.

„Mit der Zeit wird er damit klarkommen, da bin ich sicher“, sagte sie. „Es war ein Schock. Aber Jonathan hat nicht gesagt, dass es für Sie völlig unmöglich ist, ein Kind zu bekommen. Vermutlich brauchen Sie einfach nur ein wenig Hilfe. Das ist alles.“

„Wissen Sie, wir haben nicht im Ernst daran geglaubt, dass es Probleme geben könnte. Wir sind bloß zu Jonathan gegangen, weil wir sicherstellen wollten, dass wir von vorneherein alles richtig machen. Folsäure, Vitamine und all das.“ Colettes Stimme klang gepresst. „Als er hörte, dass wir es schon seit fast einem Jahr versuchen, hat er uns diese Tests empfohlen.“

„Das Verfahren, von dem Jonathan erzählt hat, ist mittlerweile nicht mehr ungewöhnlich. Und wenn am Ende ein gesundes Baby dabei herauskommt, wen kümmert es, ob Sie dabei etwas Unterstützung nötig hatten?“

„Wir wollten immer eine Familie mit mindestens drei, vielleicht auch vier Kindern.“ Sie lächelte traurig. „Und ich weiß nicht, ob Mark überhaupt zu einer künstlichen Befruchtung bereit ist. Gut möglich, dass sein männlicher Stolz das nicht zulässt. Sie wissen ja, wie Männer sind. Was sollen wir dann machen?“

„Geben Sie ihm Zeit, Colette. Sobald er versteht, worum es geht, wird er sich bestimmt darauf einlassen.“

„Woher wollen Sie das wissen?“, konterte Colette aufgebracht. „Sie haben doch keine Ahnung, was für ein Gefühl das für uns ist. Wenn man denkt, man hat alles: Glück, Wohlstand, Ruhm, und dann herausfindet, dass einem der größte Traum zerstört wird.“

Ein heftiger Schmerz durchzuckte Rose. Colette irrte sich. Sie verstand nur allzu gut.

Nach einer Weile kamen Jonathan und Mark zurück ins Sprechzimmer.

„Wir sind ein bisschen im Regent’s Park spazieren gegangen“, wandte sich Jonathan an Colette. „Mark hat nachgedacht, und er ist damit einverstanden, dass ihr beide zu der Kinderwunschklinik geht. Sagt mir einfach, wann es euch passt, dann vereinbare ich einen Termin. Danach kommt ihr wieder zu mir, und dann sehen wir weiter, okay?“

Die beiden nickten nur. Es würde wohl eine Zeit lang dauern, bis sie die Nachricht verarbeitet hatten. Wie Colette schon gesagt hatte: Was nützten einem Ruhm und Geld, wenn man nicht das haben konnte, was man sich wirklich wünschte?

Jonathan machte eine ungewöhnlich düstere Miene, nachdem die beiden gegangen waren.

„Sie schaffen das doch, oder?“, fragte Rose.

Er strich das dichte hellbraune Haar zurück. „Hoffentlich. Die zwei sind ein großartiges Paar. Trotz Marks Berühmtheit und seinem Ruf, ein wenig über die Stränge zu schlagen, ist er nett und bodenständig. Genau wie Colette. Sie wären wunderbare Eltern.“

Energisch schüttelte Jonathan den Kopf, um seine Niedergeschlagenheit zu vertreiben. Er griff nach den Tickets, die Mark ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte. „Hätten Sie Lust, sich ein Fußballspiel anzuschauen? Mark hat Karten für das Spiel von Arsenal nächsten Samstag dagelassen. Ich würde ja hingehen, aber ich habe schon Karten für das Kricket-Turnier in Lords. Ich mag Fußball, aber gegen Kricket?“ Er lachte. „Kein Vergleich.“

„Nein, danke“, lehnte Rose bedauernd ab. „Auch wenn ich sehr gerne hingehen würde. Dad und ich waren früher oft im Stadion. Es ist hart für ihn, so viele Spiele zu verpassen. Er ist schon sein ganzes Leben lang Arsenal-Fan.“

„Dann schenken Sie ihm die Tickets.“ Jonathan schob sie ihr zu. „Es sind Logenplätze. Von dort hat er einen tollen Blick.“

Sie hätte die Karten so gerne für ihren Vater angenommen. Es wäre genau das Richtige, um ihn aufzumuntern. Aber ihn die Treppen rauf- und runterzutragen, das würden ihre Mutter und sie nicht schaffen.

„Ich wünschte, er könnte hingehen“, meinte sie leise.

„Dann nehmen Sie ihn doch mit.“

Rose wandte sich ab, um die Tränen zu verbergen, die ihr in die Augen schossen. „Vor zwei Wochen hatte er einen Schlaganfall, wovon eine linksseitige Lähmung zurückgeblieben ist. Er geht nicht mehr oft raus. Er hasst es, so in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Und da der Rollstuhl nicht in mein Auto passt, sitzt mein Vater mehr oder weniger zu Hause fest.“

Jonathan sah sie nachdenklich an. Dann erhellte sich seine Miene, und das Funkeln in seinen Augen ließ ihre Haut prickeln.

„Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg“, erklärte er aufmunternd.

Doch ehe Rose nachhaken konnte, was er damit meinte, kam schon sein nächster Patient.

„Es tut mir so leid“, sagte Dr. Fairweather. „Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas Positiveres mitteilen.“

Rose wurde von plötzlicher Übelkeit erfasst. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich bestätigt. Sie hatte ein Aneurysma. Entschlossen richtete sie sich auf und blickte die junge Fachärztin an.

„Also gut, welche Möglichkeiten gibt es jetzt für mich?“

„Sie haben zwei Alternativen. Erstens, Sie tun gar nichts und leben mit dem Aneurysma.“

„Was genau würde das bedeuten? Bitte, Doktor, reden Sie offen mit mir.“

Dr. Fairweather beugte sich vor. „Es kann sein, dass das Aneurysma bis an Ihr Lebensende nicht platzt. Falls aber doch, besteht auch für Sie die Gefahr eines Schlaganfalls. Und je nach Schweregrad könnten Sie dadurch körperlich beeinträchtigt sein oder …“

„Oder auch sterben“, ergänzte Rose. „Plötzlich und ohne jede Vorwarnung. Hm, klingt nicht gerade ermutigend. Und die andere Möglichkeit?“

„Sie können das Aneurysma operativ entfernen lassen. Allerdings sind mit diesem Eingriff einige Risiken verbunden.“

„Zum Beispiel?“ Rose presste ihre Hände zusammen, um das Zittern einzudämmen. Ihre Eltern würden am Boden zerstört sein. Sie war das einzige Kind, und ihr Vater würde sich große Vorwürfe machen, dass er seine Erbkrankheit an sie weitergegeben hatte. Wie lange hatte er mit dieser Zeitbombe im Kopf gelebt? Und sie selbst?

„Tod, Schlaganfall. Die möglichen Komplikationen bei einer Operation unterscheiden sich kaum von den Folgen eines geplatzten Aneurysmas“, erwiderte Dr. Fairweather. „Das Problem ist die Lage Ihres Aneurysmas, die eine Operation besonders schwierig macht.“

„Na, das sind ja tolle Alternativen.“ Rose lächelte ironisch.

„Andererseits, falls es uns gelingt, das Aneurysma zu entfernen, stehen die Chancen gut, dass Sie ein hohes Alter erreichen und auch Kinder haben können.“

„Und wenn nicht?“

„Dann sollten Sie eine Schwangerschaft nicht riskieren. Aber Sie müssen sich nicht sofort entscheiden“, sagte die Ärztin. „Gehen Sie nach Hause, besprechen Sie sich mit Ihren Eltern. Denken Sie gründlich darüber nach. Lassen Sie sich jedoch nicht zu viel Zeit. Wenn Sie sich für die Operation entscheiden, dann gilt: Je früher, desto besser.“

Zehn Minuten später war Rose wieder draußen. Obwohl schon fast Sommer, fühlte sich der Wind noch eisig an. Rose zog ihren Mantel eng um sich und sank auf eine Bank vor dem Krankenhaus. Dort ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Sie könnte bald sterben … Vielleicht morgen, vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren. Das wusste niemand. Ihren Eltern wollte sie jedoch nichts davon erzählen. Die hatten ohnehin schon genug Kummer.

Ein paar Minuten später putzte Rose sich entschlossen die Nase. Nein, keine Tränen mehr, kein Selbstmitleid. Sie würde Dr. Fairweathers Rat befolgen und ihre Möglichkeiten gründlich überdenken. Und in der Zwischenzeit würde sie jede Minute ihres Lebens so leben, als wäre es ihre letzte. Sie wollte sich nicht mehr verkriechen oder bestimmte Dinge meiden, weil sie zu teuer, zu beängstigend oder sonst irgendwas waren. Von nun an würde sie jede Erfahrung, die ihr das Leben zu bieten hatte, annehmen.

In den folgenden langen Nächten wälzte Rose sich schlaflos hin und her, bis sie sich schließlich gegen eine Operation entschied. Was wäre, wenn sie so enden würde wie ihr Vater, oder noch schlimmer? Wie sollte ihre Mutter zwei Invaliden versorgen?

In diesen einsamen Stunden stellte Rose eine Liste von Dingen zusammen, die sie tun wollte, ehe es zu spät war. Doch bei Nummer fünfzig hörte sie auf. Stattdessen schwor sie sich, jeden Tag nach Kräften zu genießen und alle Gelegenheiten, die sich ihr boten, zu nutzen. Noch immer fiel es ihr schwer zu glauben, dass sie jederzeit sterben konnte. Sie fühlte sich so gesund, und das Leben war ihr noch nie so kostbar und verheißungsvoll erschienen.

Jonathan fragte Rose für gewöhnlich, ob sie mit ihm Mittag essen gehen wollte, doch sie lehnte immer ab. Als das erste Mal in diesem Jahr die Sonne angenehm warm schien, erkundigte sie sich, ob es in Ordnung wäre, wenn sie ihre Mittagspause etwas verlängerte.

„Ich würde mein Lunchpaket gern mit in den Park nehmen“, meinte sie. „Es ist heute so schön draußen, und ich könnte ein bisschen Bewegung vertragen. Jenny kommt für eine Stunde auch gut alleine zurecht.“

„Prima Idee“, antwortete Jonathan prompt. „Ich komme mit. Auf dem Weg gibt es ein Delikatessengeschäft. Dort besorge ich mir etwas. Ist mal was anderes als das Zeug, das in meinem Klub serviert wird. Puh, das erinnert mich immer ans Schulessen.“

Rose war verblüfft, scheute sich aber, Nein zu sagen. „Sie können etwas von meinen Sandwiches abhaben, wenn Sie möchten. Meine Mutter gibt mir immer so viele mit, dass man eine ganze Mannschaft damit ernähren könnte. Sie hat Angst, dass ich nicht genug esse.“ Sie schüttelte lachend den Kopf. „Dabei esse ich wie ein Pferd, aber bei mir scheint einfach nichts anzusetzen.“

Jonathan musterte sie von oben bis unten, und Rose wurde rot. Verlegen zog sie ihre Strickjacke enger um sich.

„Na schön, wenn Sie meinen, dass es für zwei Leute reicht. Wir holen uns dann unterwegs noch einen Kaffee“, entschied Jonathan munter.

Während sie nebeneinander hergingen, fühlte Rose sich ziemlich befangen. Bei der Arbeit war das anders. Da konnten sie über die Patienten sprechen. Doch jetzt wusste sie nicht, was sie sagen sollte.

Sobald sie ihren Kaffee gekauft hatten, suchten sie sich eine Bank an einem kleinen Teich. Das schöne Wetter hatte zahlreiche Menschen herausgelockt. Rose reichte Jonathan ein Sandwich und hielt ihr Gesicht in die Sonne.

„Wohnen Sie schon lange in London?“, fragte er zwischen zwei Bissen.

„Ich bin hier aufgewachsen. Meine Eltern leben schon seit meiner Geburt in ihrem Haus. Zum Studieren bin ich dann nach Edinburgh gegangen. Dort habe ich bei einer Tante gewohnt, das half mir, Kosten zu sparen. Und Sie?“

„Ich war im Internat in Gordonstoun. Mit knapp sechs hat mein Vater mich dorthin geschickt. Und in Cambridge habe ich dann Medizin studiert.“

Gordonstoun war eine sehr bekannte und exklusive Privatschule im Norden Schottlands, wo viele Kinder reicher Eltern untergebracht waren. Rose hatte gehört, dass es dort sehr hart zuging.

„Wie schrecklich, weggeschickt zu werden, wenn man noch so klein ist. Hatten Sie nicht schreckliches Heimweh?“

Erstaunt sah Jonathan sie an. Seine Augen waren von einem wirklich bemerkenswert dunklen Grün. Es waren Augen, bei denen Rose das Gefühl hatte, er könnte ihr bis tief in die Seele blicken.

„Wissen Sie, ich habe eigentlich nie richtig darüber nachgedacht. Es ist einfach passiert. Ich denke, die ersten Jahre waren schwer. Aber all die anderen Jungen waren in genau derselben Situation. Und außerdem gab es ja auch Ferien. Mein Vater war geschäftlich oft unterwegs, also habe ich die Ferien meistens bei Schulfreunden verbracht.“ Seine Miene verdüsterte sich, und Jonathan richtete den Blick in die Ferne.

„Ich könnte mein Kind nie wegschicken. Schon gar nicht in dem Alter“, meinte Rose nachdenklich. „Aber Ihre Eltern hatten vermutlich Gründe. Würden Sie Ihr eigenes Kind auch im Internat erziehen lassen?“

Seine Augen wurden schmal, und seine Miene schien sich noch mehr zu verfinstern. Rose ärgerte sich über sich selbst. Sie hatte kein Recht, die Art, wie er aufgewachsen war, infrage zu stellen.

„Mein eigenes Kind? Ehrlich gesagt, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Kinder kommen in meinen Zukunftsplänen eigentlich nicht vor. Ich kann mir nicht vorstellen, welche zu haben. Kinder brauchen feste Bindungen, und dafür bin ich nicht der Typ.“ Mit einem leisen Lachen fügte er hinzu: „Das Leben bietet zu viele Möglichkeiten, als dass man sich auf eine einzige festlegen sollte.“

Rose schaute ihn an. Wenn er die richtige Frau traf, würde er das vielleicht anders sehen. Vielleicht aber auch nicht. Irgendwie war es schwer vorstellbar, dass Jonathan seinen jetzigen Lebensstil gegen die Beschränkungen eines häuslichen Lebens eintauschen würde.

„Meine Mutter hätte mich wahrscheinlich nicht aufs Internat geschickt“, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. „Ich war fünf, als sie starb, und bald nach der Beerdigung hat mein Vater mich angemeldet.“

Rose war entsetzt. Wie konnte ein Vater sein Kind fortschicken, das gerade seine Mutter verloren hatte? Und nicht etwa einfach nur in den nächsten Ort, sondern Hunderte von Kilometern weit weg. Was für ein Mann musste sein Vater sein, dass er seinem Sohn so etwas angetan hatte?

Es war schon eine Ironie des Schicksals: Jonathan, der sicher Kinder haben könnte, wollte keine. Und Rose wünschte sich sehnlichst Kinder, durfte aber keine bekommen.

„Das tut mir sehr leid, Jonathan. Ihre Mutter zu verlieren, als Sie noch so klein waren, und dann ins Internat abgeschoben zu werden.“

„Wir tun doch alle Dinge, weil wir müssen. Ich weiß, dass Pflichtgefühl heutzutage als altmodisch gilt. Aber Sie glauben offenbar auch daran. Sonst wären Sie vermutlich nicht zurückgekommen, um sich um Ihren Vater zu kümmern. Sie hatten ja sicher Ihr eigenes Leben in Edinburgh.“

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Natürlich. Aber meine Eltern brauchten mich. Also bin ich gekommen. Mein Leben in Edinburgh kann warten.“

„Kein Freund?“

„Jedenfalls nichts Ernstes.“ Rose wollte das Thema wechseln. „Warum haben Sie sich dazu entschieden, Medizin zu studieren?“, fragte sie daher. Nach allem, was sie gehört hatte, war seine Familie reich genug, sodass Jonathan gar nicht hätte arbeiten müssen.

„Wie ich bereits sagte, war mein Onkel Arzt am Hof der Königin. Er hat mir ständig von all den interessanten Fällen aus seiner Krankenhauszeit erzählt. Ich liebte es, ihm zuzuhören, und ich wollte schon immer Arzt werden. Irgendwas Sinnvolles mit meinem Leben anfangen. Mein Vater hoffte, dass ich in das Familienunternehmen einsteigen würde, doch das war nicht mein Ding.“

„Aber ausgerechnet Harley Street.“ Rose konnte ihre Missbilligung nicht verstecken.

„Mein Onkel hat die Praxis aufgebaut. Die Leute konsultierten gerne den Arzt, der für die Gesundheit der Königin zuständig war. Eine bessere Empfehlung gibt es nicht. Ich wollte eigentlich woanders eine Praxis eröffnen. Aber dann wurde er krank und konnte nicht mehr weitermachen.“ Jonathan trank einen Schluck Kaffee. „Ich wollte ihn nicht im Stich lassen.“

„Dann vermissen Sie die richtige Medizin also nicht?“

Belustigt sah er sie an. „Auch die Reichen und Berühmten werden richtig krank. Letztendlich bewahren Herkunft und Reichtum einen nicht vor gesundheitlichen Problemen. Wie zum Beispiel Mark.“

Er blickte auf die Uhr. „Apropos, ich muss heute Nachmittag zu Lord Hilton. Sie erinnern sich an seine Frau, die an Ihrem ersten Tag einen Termin bei mir hatte? Sie hat Arthritis und er Krebs im Endstadium. Eigentlich müsste er im Krankenhaus behandelt werden, aber er weigert sich. Er sagt, er will in dem Haus sterben, wo er sein ganzes Leben verbracht hat. Wollen Sie mich begleiten? Wenn ich mich recht erinnere, hatte sie Sie gleich ins Herz geschlossen.“

„Arme Lady Hilton. Ja, natürlich komme ich mit, wenn Sie mich brauchen.“

Da Lord und Lady Hilton über hundertfünfzig Kilometer von London entfernt wohnten, wurde Jonathan per Hubschrauber zu ihnen geflogen.

Als er seinen Wagen vor dem Landeplatz an der Themse parkte, meinte Rose vorwurfsvoll: „Sie haben mir nicht erzählt, dass wir zu unserem Hausbesuch fliegen.“

Amüsiert hob er die Brauen. „Etwa die Hälfte meiner Patienten lebt außerhalb Londons. Manchmal werde ich in ihre Urlaubsorte eingeflogen, wo immer das sein mag.“

„Wäre es nicht besser, einen Arzt vor Ort aufzusuchen?“

„Sie müssen noch eine Menge lernen, Rose Taylor“, erwiderte Jonathan amüsiert. „Die meisten meiner Patienten sind so reich, dass es ihnen gar nicht in den Sinn käme, ihren Arzt nicht einfliegen zu lassen. Genauso wie sie ihren Friseur oder Stylisten kommen lassen. Sie schätzen es, immer von demselben Arzt behandelt zu werden. Und mir macht es nichts aus. Einige der Patienten kenne ich schon seit meiner Kindheit.“

Es war eine völlig andere Welt, deren Regeln Rose nicht kannte. Aber es war ein Job. Und solange sie dafür bezahlt wurde und Jonathans Patienten zufrieden waren, wollte sie sich darüber kein Urteil anmaßen. Außerdem war es auch aufregend, das musste sie zugeben. Sie rief sich ihren Entschluss in Erinnerung, jeden Tag voll auszukosten. Zumindest brachte ihr die Arbeit bei Jonathan neue Erfahrungen und spannende Erlebnisse.

Rose war noch nie in einem Helikopter geflogen, geschweige denn in einem mit Ledersitzen, die so breit waren wie ein Sessel. Jonathan gab ihr Kopfhörer, die einerseits dazu dienten, den Lärm zu dämpfen, andererseits zur Kommunikation untereinander. Unter ihnen floss die Themse dahin. Rose konnte Buckingham Palace und den Tower of London sehen, sowie die sich langsam drehenden Gondeln des London-Eye-Riesenrads.

„Sind Sie schon mal damit gefahren?“ Jonathan zeigte auf das Riesenrad. „Na ja, dumme Frage. Natürlich waren Sie schon dort.“

„Nein, ich hatte noch keine Zeit. Aber ich würde es gerne ausprobieren.“ Wieder etwas für ihre stetig länger werdende Liste. „Und Sie?“

„Ein-, zweimal.“ Er lachte. „Ein Bekannter wird da in ein paar Wochen eine Party feiern. Kommen Sie doch mit.“

Wieder eine seiner höflichen Einladungen, die nicht ernst gemeint waren, wie Rose stark vermutete.

Bald ließen sie die Stadt hinter sich und überflogen eine ländliche Gegend. Kurz darauf erreichten sie ein Herrenhaus, das größer war als die meisten Hotels, in denen Rose je übernachtet hatte. Sie landeten im Park hinter dem Haus.

„Meine Güte“, staunte Rose beim Aussteigen. „Das letzte Mal habe ich so ein Haus im Film gesehen. Wie viele Leute residieren hier?“

„Bloß Lady und Lord Hilton. Ihre Söhne leben in London. Sie kommen her, wann immer sie es einrichten können.“

Ein Mann in traditioneller Butler-Kleidung kam auf sie zu. Rose schmunzelte. Es war wirklich wie im Film.

„Guten Tag, Miss, Sir“, begrüßte der Butler sie förmlich. „Die Herrschaften erwarten Sie.“ Er wandte sich an Rose. „Wen darf ich ankündigen?“

„Dies ist Miss Taylor, Goodall“, erklärte Jonathan. „Unsere Praxis-Krankenschwester. Lady Hilton und Miss Taylor kennen sich bereits.“

„Lord Hilton befindet sich in seinem Schlafzimmer. Lady Hilton würde gerne mit Ihnen sprechen, bevor Sie zu ihm gehen, wenn es Ihnen recht ist“, meinte Goodall.

Auf dem Weg zum Haus unterhielt sich Jonathan mit dem Butler. Offenbar kannten sie sich gut. Rose folgte ihnen und ließ den Blick über den französischen Garten mit seinen exakt geschnittenen Hecken und kunstvollen Blumenbeeten schweifen. Dazwischen standen etliche Statuen verteilt, einige modern, andere eher klassisch.

Um den Garten so perfekt in Ordnung zu halten, brauchte es vermutlich gleich mehrere Gärtner, dachte Rose bei sich.

Die Eingangshalle war bestimmt zweimal so groß wie die in Jessamines Stadtvilla. Von der Mitte des Marmorfußbodens aus führte eine grandiose Treppe nach oben. In dem riesigen Kamin an einer Wand brannte ein Feuer, und große Schalen mit bunten Blumen verliehen der Halle eine fröhliche Note. Trotz der enormen Größe spürte man, dass dies ein Zuhause war, das sehr geliebt wurde.

Goodall führte sie in einen fast ebenso großen Raum, der gemütlich eingerichtet war. Breite Polstersofas mit bunten Kissen und ein leicht abgetretener Teppich brachten Farbe in den sonst eher gedämpft wirkenden Salon. Das Tageslicht fiel durch die hohen Fenster, die zum vorderen Garten hinausgingen. Auch hier knisterte ein Kaminfeuer.

Mr Chips sprang von einem Sessel und lief schwanzwedelnd auf sie zu. Rose bückte sich, um ihn zu streicheln, woraufhin er ihr freudig die Hand leckte. In einem Sessel am Fenster saß Sophia Hilton, das Haar perfekt frisiert. Trotz der Hitze im Raum sah sie blass aus. Die feinen Linien um ihre Augen und ihren Mund traten deutlicher hervor als Rose es in Erinnerung hatte. Die alte Dame trug eine dicke Strumpfhose, einen Wollrock, und ihre ausgestreckte Hand zitterte kaum merklich.

Jonathan beugte sich zu ihr und küsste sie auf beide Wangen. „Sophia, wie geht es dir? Und Lord Hilton?“

„Jonathan, mein lieber Junge. Wie reizend von dir, zu uns zu kommen. Und Miss Taylor, welch unerwartetes Vergnügen, Sie auch hier zu sehen. Jonathan hat mir erzählt, dass Sie für Vicki einspringen, bis sie sich wieder besser fühlt.“ Ihre Lippen bebten. „Ich fürchte, Giles geht es nicht besonders gut.“

Jonathan zog einen Stuhl heran, und Rose setzte sich auf das Sofa gegenüber.

„Sag mir, was passiert ist“, meinte er sanft.

„Er wird immer weniger. Inzwischen isst er fast gar nichts mehr. Er hat keinen Appetit. Für ein oder zwei Stunden steht er auf, aber mehr schafft er nicht.“ Lady Hilton flüsterte: „Wir verlieren ihn.“

„Ihr seid beide immer noch sicher, nicht noch eine weitere Chemotherapie zu probieren? Ich könnte ihn noch heute Abend ins Krankenhaus einweisen.“

Bedauernd schüttelte Lady Hilton den Kopf. „Er will nichts davon hören. Und ich respektiere seine Wünsche. Deshalb möchte ich auch nicht, dass du versuchst, ihn zu überreden. Er ist zu schwach, um sich zu wehren. Aus diesem Grund hat er mich gebeten, mit dir zu reden, bevor du zu ihm gehst.“

„Habt ihr darüber nachgedacht, noch eine Krankenschwester zu engagieren?“, fragte Jonathan. „Rose könnte euch da vielleicht ein bisschen beraten.“

Rose beugte sich vor. „Wenn Sie einverstanden sind, würde ich gerne mit Ihrem Mann sprechen, bevor ich Ihnen einen Rat gebe. Aber Dr. Cavendish hat recht. Es gibt viele Möglichkeiten, es Ihrem Mann hier zu Hause etwas leichter zu machen.“

„Natürlich.“ Die alte Dame erhob sich. „Ich bringe euch nach oben.“

Der Patient saß in einem Sessel am Fenster mit einer Decke über den Knien. Ein Buch lag neben ihm, und auf dem Tisch stand vergessen eine noch volle Teetasse. Er hatte die Augen geschlossen, und sein Gesicht wirkte grau und eingefallen.

Seine Frau berührte ihn sanft an der Schulter. „Darling, Jonathan und seine Praxisschwester sind hier.“

Der alte Herr öffnete die Augen, und der Blick, mit dem er seine Frau ansah, war so voller Liebe, dass es Rose das Herz zusammenzog.

„Jonathan, mein lieber Junge. Wie geht es dir? Und deiner Familie?“ Lord Hiltons Stimme war schwach, aber klar.

„Vater erkundigt sich ständig nach dir.“ Jonathan prüfte seinen Puls.

„Willst du immer noch nicht heiraten? Das wird doch bald mal Zeit.“

Jonathan lachte. „Nein. Keine Frau ist so verrückt, mich zu nehmen.“

„Was ist denn mit dem Mädchen hier?“

Rose errötete verlegen.

„Dieses Mädchen, wie du es ausdrückst, arbeitet als Krankenschwester in meiner Praxis. Victoria ist schwanger und leider wieder sehr von Übelkeit geplagt. Rose springt für sie ein.“

„Dr. Cavendish meinte, ich könnte vielleicht helfen, es Ihnen etwas bequemer zu machen“, erklärte Rose.

Während Jonathan seine Untersuchung fortsetzte, beobachtete sie Lord Hilton genau. Sie versuchte einzuschätzen, wie stark seine Schmerzen waren. Dann wandte sie sich an Lady Hilton. „Solange Jonathan bei Ihrem Mann ist, könnten wir uns vielleicht ein bisschen unterhalten. Und Sie erzählen mir, wer Sie im Moment unterstützt.“ Wieder im Salon, brachte sie das Gespräch auf das Thema Pflegehilfe.

„Ich möchte nicht, dass sich Fremde um ihn kümmern“, wehrte Lady Hilton ab.

„Wie wäre es denn wenigstens mit einer Nachtschwester?“, schlug Rose vor. „Damit Sie sich auch einmal ausruhen können.“

„Goodall kümmert sich um Giles, wenn er nachts etwas braucht. Er hilft ihm auch beim Waschen und Rasieren. Er ist seit dreißig Jahren bei ihm und kennt seine Gewohnheiten.“

„Ich nehme an, Dr. Cavendish wird eine Morphiumpumpe vorschlagen, um Ihrem Mann die Schmerzen zu nehmen“, sagte Rose. „Zur Kontrolle der Pumpe muss mindestens jeden zweiten Tag eine Krankenschwester nach ihm schauen. Aber das dürfte nicht allzu viel Unruhe bringen. Hier gibt es sicher ein paar gute Pflegekräfte in der Nähe, die Sie unterstützen könnten.“

„Es wäre sehr zeitaufwendig, die entsprechenden Vorstellungsgespräche zu führen. Und ich möchte nichts von der Zeit opfern, die wir noch zusammen haben. Ich weiß, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt. Und Giles weiß es auch.“ Lady Hilton machte eine Pause. „Könnten Sie nicht zu uns kommen? Er hat Sie ja jetzt kennengelernt und scheint Sie zu mögen. Jonathan hätte Sie sicher nicht mitgebracht, wenn er nicht große Stücke auf Sie halten würde. Wir könnten Sie jeden Tag abholen und wieder zurückbringen lassen. Bitte sagen Sie Ja.“

In diesem Augenblick kam Jonathan herein. „Er schläft jetzt. Goodall und ich haben ihn zu Bett gebracht. Allerdings denke ich, er sollte eine kontinuierliche Schmerzmedikation bekommen.“

„Miss Taylor hat gerade dasselbe vorgeschlagen“, erwiderte Lady Hilton. „Sie sagt, eine Krankenschwester müsse die Pumpe regelmäßig überprüfen. Meinst du, sie könnte das übernehmen, Johnny?“

Er schaute Rose an. „Ich fürchte, ich brauche sie in London.“

Die alte Dame sah so unglücklich aus, dass Rose es nicht übers Herz brachte, abzulehnen. „Und wenn ich nach der Arbeit komme? Würde das gehen?“

Jonathan zog die Brauen zusammen. „Bitte entschuldige uns einen Moment.“ Damit zog er Rose außer Hörweite.

„Ich weiß, Sie möchten gerne helfen. Aber müssen Sie nicht auch an Ihre eigene Situation denken?“, fragte er. „Den ganzen Tag in der Praxis, danach hierherfahren, bevor bei Ihnen zu Hause die Pflege Ihres Vaters auf Sie wartet. Das ist zu viel. Ich muss auch auf Ihre Gesundheit achten. Schon in meinem eigenen Interesse. Schließlich will ich mir nicht noch eine andere Krankenschwester suchen müssen.“

„In der Praxis überarbeite ich mich ja nicht gerade.“ Rose blickte zu Lady Hilton hinüber, die aus dem Fenster schaute. „Wir haben mindestens drei Nachmittage die Woche, an denen keine Sprechstunde stattfindet. Ich weiß, die halten Sie für Notfälle und unvorhergesehene Hausbesuche frei. Aber bisher war es immer ruhig, und ich hatte kaum etwas zu tun. Also könnte ich dann doch auch hierherkommen.“

Trotz ihrer entschlossenen Miene und der aufrechten Haltung war es offensichtlich, dass Lady Hilton Hilfe brauchte.

„Gut. Unter einer Bedingung“, entgegnete Jonathan. „Sie fahren an den freien Nachmittagen hierher. Und an den beiden anderen legen wir die Termine so, dass keine Patienten kommen, solange Sie hier sind. Den einen oder anderen zufälligen Patienten oder Notfall schaffen Jenny und ich auch alleine. Wenn Sie damit einverstanden sind, haben wir einen Deal.“

Mit einem traurigen Lächeln setzte er hinzu: „Danke für das Angebot. Ich kenne Lord und Lady Hilton schon mein ganzes Leben. Alles, was ihnen diese letzten paar Wochen erleichtert, würde ihnen sehr viel bedeuten. Und mir auch.“

Jonathan teilte Sophia Hilton mit, was sie vereinbart hatten. Die unendliche Erleichterung in den Augen der alten Dame verursachte Rose einen Kloß im Hals.

Die Essenseinladung von Lady Hilton lehnte er ab. „Nächstes Mal, versprochen. Aber es ist schon spät, und ich muss Rose noch nach Hause bringen. Ich rufe euch morgen an.“

Der Rückflug im Helikopter verlief in gedrückter Stimmung. Rose dachte über Jonathan nach. Einerseits schien er nichts lieber zu tun, als sich auf Partys zu amüsieren. Andererseits lagen seine Patienten ihm offenbar wirklich am Herzen. Sie warf ihm einen heimlichen Blick zu. Warum war sie einem Mann wie ihm nicht schon früher begegnet, bevor ihre Welt aus den Fugen geraten war? Irgendwie hatte sie das beunruhigende Gefühl, dass sie für ihren Chef wesentlich mehr empfand, als sie sollte.

5. KAPITEL

Am späten Samstagvormittag saß Rose bei ihrem Vater und las ihm etwas vor, als es klingelte. Sie blickte aus dem Fenster und entdeckte erstaunt einen großen Geländewagen vor dem Haus. Verwundert öffnete sie die Tür. Draußen stand Jonathan mit einem breiten Lächeln. Er trug verblichene Jeans und ein kurzärmeliges Hemd. Es war das erste Mal, dass sie ihn in Freizeitkleidung sah, die ihn fast noch attraktiver als sonst wirken ließ.

Ausnahmsweise schien heute mal die Sonne, und obwohl es kühl war, lag doch ein Hauch von Sommer in der Luft.

Klopfenden Herzens trat Rose beiseite, um Jonathan hereinzulassen.

„Wer ist es denn, Schatz?“ Ihre Mutter kam herbei.

„Dr. Cavendish, Mum.“

„Bitte nennen Sie mich Jonathan.“ Er streckte die Hand aus und schenkte ihrer Mutter sein charmantes Lächeln.

„Was wollen Sie hier?“ Rose wurde sich auf einmal bewusst, wie klein das Haus mit seinen bequemen, leicht abgenutzten Möbeln war. „Entschuldigen Sie, das war ziemlich unhöflich. Ich bin nur so überrascht, Sie zu sehen. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie überhaupt wissen, wo ich wohne.“

Jonathans Lächeln wurde noch breiter. „Ihre Adresse stand in der Personalakte.“ Mit zusammengezogenen Brauen meinte er: „Ich hätte wohl vorher anrufen sollen. Aber ich dachte, wir wären verabredet?“

„Wie bitte?“

„Die Karten für das Fußballspiel. Sie erinnern sich? Ich habe Ihnen versprochen, eine Möglichkeit zu finden, um Ihren Vater mitzunehmen. Das heißt, falls er noch will.“

„Wollten Sie nicht eigentlich zu einem Kricket-Spiel?“

„Da gibt es auch noch andere Spiele“, meinte er wegwerfend. Doch sie wusste, dass Jonathan auf eine der beliebtesten Kricket-Veranstaltungen des Jahres verzichtete. „Ich werde danach noch auf eine Party gehen. Hätten Sie Lust mitzukommen?“

Verwirrt schüttelte sie den Kopf. „Ich könnte gar nicht. Ich habe überhaupt nichts Passendes anzuziehen. Außerdem werde ich hier gebraucht.“

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Ihr Vater machte von Tag zu Tag Fortschritte. Aber was sollte sie auf einer von Jonathans Partys? Worüber sollte sie sich mit seinen Freunden unterhalten? Allein die Vorstellung war schon absurd. Dennoch musste sie sich eingestehen, dass sie es ein wenig bedauerte. Es war schon ewig lange her, seit sie zuletzt ausgegangen war.

Plötzlich merkte sie, dass sie noch immer im Flur standen. „Kommen Sie doch rein.“ Sie führte ihn ins Wohnzimmer.

Interessiert schaute ihr Vater auf. „Dad, ich möchte dir Dr. Cavendish vorstellen. Er fragt, ob du Lust hast, zu dem Fußballspiel heute Nachmittag zu gehen.“

Jonathan durchquerte das Zimmer und schüttelte ihrem Vater die Hand. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mr Taylor. Ihre Tochter hat mir erzählt, dass Sie ein Arsenal-Fan sind. Zufälligerweise habe ich Karten für das Spiel heute, und ich dachte, Sie würden vielleicht gerne mitkommen.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen, mein Sohn.“ Die Aussprache ihres Vaters war noch immer ziemlich undeutlich, und Rose bezweifelte, dass Jonathan ihn verstand. „Aber ich habe ein Problem mit meinem Bein. Ich glaube nicht, dass ich die Treppen schaffe.“

„Dafür habe ich schon einen Plan“, erwiderte Jonathan, der ihren Vater offenbar gut verstand. „Wenn Rose und ich Sie ohne große Umstände zum Stadion und zu Ihrem Sitz bringen können, was würden Sie dann sagen?“

Sie sah, wie die Augen ihres Vaters aufleuchteten. Als Kind hatte er sie oft zu den Spielen mitgenommen und sie auf seine Schultern gesetzt, damit sie besser gucken konnte. Bis sie nach Schottland gegangen war, hatten sie und ihr Vater kein einziges Heimspiel verpasst.

„Ach, ich weiß nicht, mein Junge. Vielleicht sollten Sie lieber mit Rose alleine gehen. Das wäre bestimmt netter für euch.“

„Wenn du nicht mitkommst, gehe ich auch nicht hin“, entschied Rose.

„Und alleine macht es keinen Spaß“, ergänzte Jonathan. „Sie und Rose würden mir also einen Gefallen tun, wenn Sie mitkommen.“

„Tu das, Liebling“, drängte auch Roses Mutter. „Du bist schon so lange nicht mehr aus dem Haus gewesen. Ein bisschen frische Luft wird dir guttun. Und ich könnte auch mal eine Pause gebrauchen.“

Rose wusste, dass ihre Mutter das nicht ernst meinte. Ihre Eltern liebten einander sehr. Doch ihre Mutter wollte wieder ein bisschen Freude in das Leben ihres Mannes bringen.

„Also gut“, meinte Mr Taylor. „Ich würde sehr gern zu dem Spiel gehen.“

Mit Jonathans Hilfe gelang es, Roses Vater mitsamt Rollstuhl in den geräumigen Geländewagen zu verfrachten. Als sie am Fußballstadion ankamen, zeigte Jonathan dem Sicherheitsdienst irgendeine Ausweiskarte und durfte daraufhin bis direkt ans Eingangstor fahren. Danach konnten sie mit dem Lift bis zu ihrer Loge hochfahren.

„Ich wollte schon immer mal ein Spiel von einer dieser schicken Logen aus anschauen“, sagte Tom Taylor, nachdem er mit einer Decke über den Knien auf seinem Platz saß. „Konnte ich mir aber nie leisten.“

„Wenn Sie wollen, können wir auch erst in die Lounge gehen und etwas essen“, schlug Jonathan vor.

Tom schüttelte den Kopf. „Geht ihr zwei ruhig. Ich genieße es einfach, hier zu sein.“

„Und ich möchte lieber bei dir bleiben, Dad.“ Zu Jonathan gewandt, fügte Rose hinzu: „Aber bitte lassen Sie sich durch uns nicht von Ihrem Mittagessen abhalten. Wir machen es uns hier bequem, bis das Spiel anfängt.“

„Dann hole ich uns eben was. Alleine essen macht keinen Spaß. Irgendwelche besonderen Wünsche?“

Wenig später kam Jonathan mit einem Tablett voller Leckereien zurück. Darunter auch Dinge, die Roses Vater problemlos mit einer Hand essen konnte. Während sie auf den Beginn des Spiels warteten, unterhielten sich die beiden Männer über vergangene Spiele. Es war das erste Mal seit seinem Schlaganfall, dass Rose ihren Vater so lebhaft erlebte. Und sie dankte Jonathan im Stillen dafür. Vermutlich wollte er sich damit für ihren Einsatz bei Lord Hilton revanchieren.

Doch aus welchem Grund auch immer er es getan hatte, Rose merkte, dass sie dabei war, sich in ihren Chef zu verlieben. Das war gefährlich.

Obwohl Arsenal in den letzten Sekunden das Spiel doch noch verlor, war es ein schöner Tag. Auf dem Rückweg analysierten Jonathan und ihr Vater das Spiel bis ins kleinste Detail, während Rose ihren Gedanken nachhing. Sich in einen Mann zu verlieben, mit dem sie nicht das Geringste gemeinsam hatte, war keine gute Idee. Warum ausgerechnet jetzt? Selbst wenn er ihre Gefühle jemals erwidern sollte, konnte sie ihm keine Zukunft bieten. Aber vielleicht bildete sie es sich ja auch nur ein, dass sie in ihn verliebt war. Gerade weil sie nicht wusste, wie ihre Zukunft aussehen würde.

Ihre Mutter wartete bereits, als sie nach Hause kamen. Ihr schien es auch besser zu gehen, nachdem sie einen Nachmittag ganz für sich gehabt hatte.

Jonathan half Tom Taylor wieder zurück in seinen Sessel. Dann sagte er unvermittelt: „Ich habe Rose gefragt, ob sie heute Abend mit mir auf eine Party gehen möchte. Aber sie hat abgelehnt.“ Er konzentrierte seinen geballten Charme auf Roses Mutter, die er ohnehin schon im Sturm erobert hatte.

„Rose?“ Mrs Taylor drehte sich zu ihr um. „Du hast doch nicht wirklich Nein gesagt, oder?“

„Ich kann nicht weg, Mum. Ich werde hier gebraucht“, entgegnete Rose.

„Unsinn. Wir kommen gut zurecht. Außerdem könntest du mal ein bisschen Spaß gebrauchen. Du siehst in letzter Zeit ziemlich abgeschlagen aus.“

„Es gefällt mir gar nicht, wenn meine Mitarbeiter abgeschlagen aussehen“, ergänzte Jonathan. „Ich verspreche Ihnen, wenn es Ihnen dort nicht gefällt, bringe ich Sie wieder nach Hause. Oder wir könnten die Party auch sausen lassen und woanders hingehen.“

Schließlich gab Rose nach. In Wahrheit wünschte sie sich im Moment nichts sehnlicher, als noch mehr Zeit mit Jonathan zu verbringen. Wer wusste schon, wie viel Gelegenheit ihr dazu noch blieb? Falls sie nur noch kurze Zeit zu leben hatte, dann wollte sie das Leben auch genießen.

„Okay, abgemacht“, sagte sie. „Unter einer Bedingung. Sie begleiten mich in den Pub und lernen ein paar meiner Freunde kennen.“

Gespannt wartete sie auf seine Reaktion. Sie musste einfach wissen, ob Jonathan bereit war, sich auch auf ihr Terrain zu begeben.

„Einverstanden.“ Unternehmungslustig rieb er sich die Hände.

Im Pub fühlte Jonathan sich ziemlich unbehaglich. Rose war sofort von einer Gruppe von Freunden in Beschlag genommen worden, und er hatte sie seit mindestens zehn Minuten nicht mehr gesehen. Irgendjemand drückte ihm ein großes Glas Bier in die Hand.

Jonathan fragte sich, wieso er überhaupt hier war. Und vor allem: Wieso war es ihm so wichtig, mehr über Rose Taylor zu erfahren? Es gab so viele Frauen, mit denen er sich verabreden konnte. Die meisten weniger kratzbürstig als sie, und keine von ihnen hätte jemals darauf bestanden, dass er in aller Öffentlichkeit singen sollte. Er stöhnte. Anscheinend gehörte es hier mit dazu, auf der Bühne irgendetwas zum Besten zu geben. Hoffentlich hatten ihn keine Reporter verfolgt. Allerdings war das höchst unwahrscheinlich, da es niemandem in den Sinn kommen würde, dass Jonathan sich in einen solchen Vorort-Pub verirren könnte.

Der Pub war voll, denn an diesem Abend fand ein Schottland-Special statt. Das Publikum kam aus ganz London, und überall hörte man Gelächter und das Klirren von Gläsern.

Endlich tauchte Rose wieder auf und quetschte sich auf den Platz neben Jonathan. Anstatt ihres üblichen Pferdeschwanzes trug sie das Haar heute Abend offen, es fiel ihr in seidig glänzenden Wellen um die Schultern. Ihre Augen funkelten, und ein kleines Lächeln spielte um ihren Mund.

Plötzlich wurde um Ruhe gebeten, und das allgemeine Stimmengewirr verstummte. Ein Freund von Rose namens Jack stieg auf die improvisierte Bühne und sprach in ein Mikrofon. „Die meisten von euch kennen Rose.“

Es folgte großer Applaus mit Beifallrufen und Füßestampfen. Rose wurde ein wenig blass. „Aber einige von euch wissen nicht, dass sie eigene Songs schreibt und wunderbar Gitarre spielt.“

Jonathan warf ihr einen erstaunten Seitenblick zu.

„Wenn wir ihr einen kräftigen Applaus spendieren, wird sie uns bestimmt was vorspielen.“

Der Applaus wurde lauter. Rose stand auf und bahnte sich ihren Weg zur Bühne. Dort nahm sie das Mikrofon von Jack entgegen.

„Tut mir leid, Leute, aber ich habe meine Gitarre heute nicht mitgebracht. Ich kann also nicht für euch spielen.“ Sie schüttelte bedauernd den Kopf.

Ein enttäuschtes Raunen ging durch die Menge. Doch dann drehte Jack sich um und hielt ihr eine Gitarre hin, die ihm jemand gereicht hatte. „Tja, Schätzchen“, meinte er. „Zufälligerweise haben wir grade eine da. Komm schon, du kannst uns jetzt nicht hängen lassen.“

Zögernd nahm Rose die Gitarre. Jemand stellte einen Stuhl auf die Bühne. Sie setzte sich und probierte ein paar Akkorde. Auf einmal herrschte absolute Stille.

„Na gut, ich werde ein Lied für euch spielen. Es ist gälisch und heißt ‚Fear A Bhata‘. Meine Mutter hat es mir als kleines Mädchen vorgesungen, wenn sie Heimweh nach Schottland hatte. Heute Abend spiele ich es für alle, die weit weg sind von zu Hause.“

Sie schlug ein paar Töne an, ehe ihre raue Stimme den brechend vollen Raum erfüllte. Man brauchte die Worte nicht zu verstehen, um zu wissen, dass das Lied von Sehnsucht und Verlust handelte. Es berührte Jonathans Herz. Die Rose dort oben auf der Bühne war eine Offenbarung für ihn. Anstelle der schüchternen, unscheinbaren Mitarbeiterin, die er zu schätzen gelernt hatte, saß dort eine schöne Frau, die sang, als wüsste sie alles über Kummer und seelisches Leid. Eine Frau mit einer solchen Tiefe, wie er es nie für möglich gehalten hätte. In diesem Augenblick merkte Jonathan, dass er im Begriff war, sich in Rose zu verlieben. Und der Gedanke jagte ihm eine Höllenangst ein.

Als die letzten Töne des Liedes verklungen waren, herrschte einen Moment lang Stille, ehe das Publikum begeistert Beifall klatschte. Die Leute wollten eine Zugabe. Doch Rose schüttelte nur den Kopf und verließ die Bühne. Mit geröteten Wangen und glänzenden Augen kehrte sie zu ihrem Platz zurück.

„Sie haben mir gar nicht erzählt, dass Sie so singen können!“, meinte Jonathan begeistert.

Sie lächelte flüchtig. „Ich mache das nur zum Spaß. Manchmal, wenn mich etwas berührt, schreibe ich meine eigenen Songs. Das ist wohl meine Art, mich zu entspannen. Ich habe vorher noch nie in der Öffentlichkeit gesungen. Irgendwie dachte ich immer, ich könnte das nicht.“

Dann wurden plötzlich Stühle und Tische zur Seite geschoben, und drei Leute stiegen auf die Bühne. Einer mit einem Akkordeon, die beiden anderen mit ihren Fideln.

Rose lachte. „Wie es scheint, bleibt Ihnen das Singen erspart. Können Sie tanzen?“

Jonathan seufzte erleichtert. „Kommt drauf an, was. Walzer und Foxtrott hab ich ganz gut drauf. Aber das ist hier vermutlich nicht gefragt, oder?“

„Nein.“ Sie schmunzelte. „Hier gibt es entweder schottische Volkstänze oder Line Dance. Und schottische Volkstänze haben Sie doch sicher in der Schule gelernt, nehme ich an.“

Jonathan war erleichtert. Ja, man hatte ihnen im Internat die schottischen Tänze mit ihren komplizierten Schrittfolgen beigebracht. Das traute er sich zu. Dennoch machte Roses amüsierte Miene ihn misstrauisch.

Als die Band zu spielen begann, stand er auf und streckte Rose die Hand hin. „Sollen wir?“

Falls er allerdings gedacht hatte, dass er diesen Tanz souverän meistern würde, erkannte er schnell seinen Irrtum. Zwar kannte er die Schritte, aber das Tempo war ganz anders. Alles geschah in halsbrecherischer Geschwindigkeit. Und je eifriger die Tänzer dabei waren, desto schneller spielte die Band. Jonathan wirbelte Rose herum, dass ihre Haare flogen. Kaum war dieser Tanz zu Ende, ging es auch schon weiter. Jonathan ließ sich einfach mitreißen, und bald genoss er das Tempo und die angeregte Stimmung. Erst am Schluss wurde die Musik langsamer, und die Tanzpartner fanden sich zu einem Walzer zusammen.

Jonathan zog Rose an sich und sog ihren Duft ein, ein frischer, sauberer Geruch. Anfangs war sie noch etwas steif in seinen Armen. Doch bald entspannte sie sich zu den Klängen der Musik. Es war verblüffend, wie perfekt sie zusammenpassten.

„Also, wie finden Sie das hier?“ Rose schaute zu ihm auf. „Nicht ganz Ihr Stil, vermute ich?“

„Da kennen Sie mich aber wirklich schlecht, Rose. Was unternehmen wir bei unserem nächsten Date? Wie wär‘s mit der Party, von der Jessamine gesprochen hat?“ Er spürte, wie sie von ihm abrücken wollte, doch er hielt sie fest.

Verlegen gab sie zurück: „Aber dies ist doch kein Date. Bloß zwei Freunde, die zusammen was unternehmen.“

„Glauben Sie das wirklich? Ach, kommen Sie. Wir wissen beide, dass es mehr ist als das. Ich möchte die wahre Rose Taylor kennenlernen. Und ich denke, Sie sind auch nicht ganz immun gegen mich.“

Sie blickte ihm direkt in die Augen. „Wir beide wissen aber auch, dass wir keine Beziehung miteinander haben können.“

„Warum denn nicht?“

„Arbeit und Privatleben zu vermischen, ist keine gute Idee.“

„Wieso denn nicht? Genau das tun wir doch gerade. Und mir macht es Spaß. Ihnen nicht?“

„Ja, schon. Aber …“ Sie brach ab.

„Können wir nicht einfach zusammen ausgehen und Spaß haben? Als Freunde?“, meinte er. „Dann schauen wir, wohin uns das führt. Keine Versprechungen. Nur zwei Menschen, die sich mögen und einander besser kennenlernen wollen.“

„Unverbindliche Beziehungen sind nicht mein Fall, Jonathan. Ich weiß, das ist keine sehr moderne Einstellung. Aber so bin ich nun mal. Ich kann nichts für meine Herkunft, aber ich werde mich nicht ändern, nur um Ihnen zu gefallen.“

Autor

Anne Fraser
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