Rachels Traum

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Die große Liebe erwartet Rachel gar nicht mehr. Aber sie möchte ihre Tochter wiedersehen, die sie vor zwölf Jahren zur Adoption freigeben musste. Und so beschließt sie, in die Nähe von Megan und ihrem Adoptivvater zu ziehen, ohne den beiden jedoch zu verraten, wer sie ist...


  • Erscheinungstag 07.10.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733753474
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Middlewood, 50 Meilen.

Das Schild am Straßenrand huschte vorüber. Noch fünfzig Meilen bis in ihre Zukunft. Weniger als eine Stunde entfernt.

Rachel blickte auf den Tacho und widerstand dem Drang, das Gaspedal durchzutreten. Warum die Eile? Welchen Unterschied machten schon ein paar Minuten? Sie hatte bereits zwölf Jahre gewartet – zwölf lange, schmerzliche Jahre.

Sie umklammerte das Lenkrad, als sie an die fünf schlichten Worte des Privatdetektivs dachte. Fünf schlichte Worte, die ihr Leben für immer verändert hatten.

Sie leben in Middlewood, Connecticut.

So nahe. Wie war es nur möglich, dass sie es nicht gespürt hatte?

Anderthalb Stunden nach der Abfahrt in Hartford checkte sie in das Gasthaus Colonial Inn ein. Ihr Zimmer mit Bad war behaglich, überstieg aber ihr Budget. Sie musste sich schleunigst ein kleines, billiges Apartment suchen. Der Privatdetektiv war teuer gewesen, und sie zahlte immer noch Miete in Hartford. Wenn ihr Plan aufging, brauchte sie die Wohnung dort natürlich nicht mehr.

Nachdem sie ausgepackt hatte, machte sie sich frisch und schlüpfte in ein grünes Leinenkostüm. Sie wollte professionell und doch feminin wirken. Attraktiv, aber nicht zu aufgetakelt.

Sie blickte zur Uhr. Ihr blieb noch eine halbe Stunde. Sie setzte sich an den Schreibtisch, öffnete ihren Aktenkoffer und holte ein Foto aus dem großen Umschlag.

Das Mädchen auf dem Bild, mit den langen Wimpern und hohen Wangenknochen, mochte auf andere zart wirken, aber Rachel ließ sich nicht irreführen. Das herzförmige Gesicht, von schulterlangen roten Locken umrahmt, ließ sie sanft erscheinen, aber die Augen blickten eindringlich und herausfordernd.

Rachel lächelte vor sich hin. Sie hatte sich immer vorgenommen, ihr Baby Katie zu nennen – nach ihrer Großmutter Katie McCarthy, einer eigensinnigen, stolzen Person, die nie einer Herausforderung ausgewichen war.

„Katie“, flüsterte sie und strich mit einem Finger über das Gesicht ihrer Tochter, die sie mit siebzehn, vor zwölf Jahren, zur Adoption freigegeben hatte. Laut dem Bericht des Privatdetektivs hieß sie Megan.

Jahrelang hatte Rachel davon abgesehen, nach ihr zu suchen. Sie hatte sich eingeredet, dass sie kein Recht hatte, sich in das Leben ihrer Tochter einzumischen, die bestimmt glücklich war, die behütet und geliebt wurde.

Jahrelang hatte sie versucht, die Sehnsucht zu ignorieren, und jahrelang war es ihr misslungen. Dann hatten die Träume eingesetzt, und die Sehnsucht war übermächtig geworden. Als die Träume sie schließlich vor einer Gefahr gewarnt hatten, war sie ausgezogen, um ihre Tochter zu suchen.

Und nun war die Suche vorüber.

Rachel holte ein zweites Foto heraus. Sie musste zugeben, dass Adam Wessler, Megans Adoptivvater, gut aussah. Sein markantes Gesicht deutete auf Fairness und Integrität, aber war es ein gütiges Gesicht? Ein mitfühlendes Gesicht? Um ihrer Tochter willen hoffte sie es inbrünstig.

Erneut blickte sie zur Uhr. Es war Zeit zu gehen. Sie steckte die Fotos zurück in den Umschlag, nahm Handtasche und Aktenkoffer und verließ das Gasthaus.

Eigentlich hatte sie beabsichtigt, mit dem Auto zu fahren, denn es waren starke Regenfälle vorausgesagt worden. Doch der Himmel war strahlend blau, und keine Wolke war in Sicht. Spontan beschloss sie, zu Fuß zu gehen.

Sie hatte einen Sommer lang Zeit, ein wesentlicher Teil von Megans Leben zu werden. Erst wenn ihr das gelungen war, wollte sie ihre wahre Identität enthüllen. Und welcher Mensch würde jemanden abweisen, der seiner Tochter so wichtig geworden war?

Aber wenn er es doch tat? Was war, wenn er sie ausschloss, sobald ihr Geheimnis gelüftet war?

Eine weitere, dringendere Sorge beschlich sie. Was war, wenn das Einstellungsgespräch schief lief?

Rote und gelbe Tulpen säumten den gepflasterten Gehweg und verneigten sich vor ihr in der leichten Brise, doch sie achtete kaum darauf. Im Geiste sah sie Adams Gesicht vor sich.

Aus einem Zeitungsausschnitt, den ihr der Privatdetektiv geschickt hatte, wusste sie, dass Adam kürzlich seine Stellung an der Highschool aufgegeben hatte, um das neue Gemeindezentrum zu leiten, und dass er Personal suchte. Es war kein Zufall, dass es sich bei einer der freien Stellen um eine Schauspiellehrerin handelte und sie die perfekte Kandidatin war. Es war Schicksal.

Ein Spaziergang von fünf Minuten brachte sie zu einem supermodernen, großen Bauwerk aus Backstein und Glas. Der Komplex erhob sich vor ihr wie eine abweisende Festung. Das war das Gemeindezentrum einer Kleinstadt? Unschlüssig blieb sie auf den Stufen stehen und erwog, sich abzuwenden und nach Hause zurückzukehren. Aber was für ein Leben führte sie in Hartford? Ohne Megan war es bedeutungslos. Nichts anderes konnte die Leere in ihr füllen, die wie ein Brunnen von Jahr zu Jahr tiefer und breiter wurde.

Während sie sich zögernd den riesigen Glastüren näherte, blickte sie zu dem Komplex, der sich an das Hauptgebäude anschloss. Das Gemeindezentrum war nicht nur Mittelpunkt für die schönen Künste, sondern diente auch für Freizeitaktivitäten von Yoga bis Eiskunstlauf. Eine Eisbahn am Arbeitsplatz zu haben, war unbestritten ein großer Vorteil. Zusammen mit Megan Schlittschuh zu laufen, konnte eine Verbindung zwischen Mutter und Tochter knüpfen.

Mit frischem Mut betrat Rachel die Eingangshalle. Fröhliche, leuchtende Aquarelle zierten die Wände. Eines fesselte ihre Aufmerksamkeit. Es zeigte einen Marktplatz mit fünf Kindern in Mänteln und Handschuhen, die gerade einen Schneemann bauten. Die Sonne fiel auf den Schnee, erschuf ein Kaleidoskop an Farben und erweckte den Zauber der Kindheit zum Leben.

„Es ist wundervoll, nicht wahr?“, fragte eine Stimme hinter ihr. „Es ist das Werk unserer besten Künstlerin, Laura Matheson-Logan. Ihr Mann, Jake Logan, hat diesen Komplex erbaut und das Gemälde gestiftet.“

„Es ist wunderschön“, sagte Rachel, den Blick auf das Bild geheftet. „Ich beneide Künstler. Sie haben diese erstaunliche Gabe, eine Illusion einzufangen und zu etwas Permanentem zu machen.“ Sie drehte sich zu der Frau um. „Ich bin beim Theater. Sobald das Stück vorüber ist, bleibt nichts weiter als eine Erinnerung.“

„Ich weiß, was Sie meinen. Aber ich bewundere Menschen, die aus dem Effeff Gemütsbewegungen erzeugen können. Die Stimmung mag vergänglich sein, aber das ist das Leben doch auch.“ Die Frau lächelte. „Ich bin Doreen Parker, die Direktionsassistentin. Momentan bin ich Empfangsdame, Sekretärin und allgemein Mädchen für alles. Wir haben erst vor ein paar Tagen eröffnet, und wie Sie sehen, stecken wir mitten im Chaos.“ Sie deutete zu zahlreichen Kisten an den Wänden. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich bin Rachel Hartwell.“ Obwohl sie seit zwei Jahren als Single lebte, trug sie noch ihren Ehenamen. Zumindest war die Ehe nicht ganz umsonst, dachte sie sarkastisch. „Ich habe einen Termin bei Mr. Wessler.“

Doreen musste bereits um die sechzig sein, aber sie sah keineswegs matronenhaft aus. Ihr dunkelblaues Schneiderkostüm war schlicht, aber dennoch schick, und ihr Haar war zu einem eleganten Knoten hochgesteckt. Rachel wurde bewusst, dass auch sie gemustert wurde, und wusste instinktiv, dass dem prüfenden Blick nicht viel entging.

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie so anstarre“, sagte Doreen. „Aber Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Sind wir uns schon mal begegnet?“

Rachels Herz setzte einen Schlag lang aus. Ihre Mutter war im Nachbarort Ridgefield aufgewachsen und erst einen Monat vor Rachels Geburt nach Hartford gezogen. Hatte Doreen sie womöglich gekannt? Waren ihr vielleicht Jahre später Gerüchte über Beth Cunninghams zügellose schwangere Tochter zu Ohren gekommen?

Erneut war Rachel ihrem Exmann dankbar, dass er ihr seinen Namen gegeben hatte. „Ich komme aus Hartford“, sagte sie ausweichend. „Ich bin durch und durch ein Großstadtmensch.“

„Middlewood ist zwar keine Großstadt, aber es wird Ihnen bestimmt gefallen. Kommen Sie mit. Ich bringe Sie zu Adams Büro.“

Rachel folgte ihr über einen langen Korridor. „Haben Sie keine Angst vor Diebstahl?“, fragte sie, als sie um eine Ecke bogen. Alle Fenster der Empfangshalle standen weit offen, damit der Geruch nach frischer Farbe abziehen konnte. „Gibt es keine Alarmanlage?“

Doreen lachte. „Sie sind wirklich ein Großstadtmensch.“ Dann wurde sie ernst. „Ich muss zugeben, dass es auch in Middlewood Verbrechen gibt. In letzter Zeit wurde ein paar Mal eingebrochen. Aber das waren wohl nur Kids, denn es wurde nichts weiter als CDs und DVDs entwendet. Aber um Ihre Frage zu beantworten, wir aktivieren eine Alarmanlage, wenn das Zentrum geschlossen ist. So, da sind wir.“ Sie klopfte an eine unlackierte Holztür und öffnete, ohne auf eine Antwort zu warten.

Der Raum wirkte leer. „Der verdammte Pfosten will einfach nicht halten“, knurrte eine tiefe Stimme aus einem Schrank. „Wo steckt Farley? Er hat versprochen, diesen Schrank bis Mittag fertig zu haben.“

Ein großer Mann in gut geschnittenem, aber zerknittertem Anzug tauchte auf und schalt: „Also wirklich, Doreen, kannst du nicht auf eine Antwort warten, bevor du hereinkommst?“

Der Privatdetektiv hatte Adam Wessler beschrieben als einen wichtigtuerischen und arroganten Mann, der großen Wert auf seine Privatsphäre legt. Offensichtlich liebte Adam seine Privatsphäre, denn sonst hätte er Doreen nicht zurechtgewiesen, und ob er ein Wichtigtuer war oder nicht, blieb abzuwarten. Aber arrogant? In seinem zerknitterten, verstaubten Anzug entsprach er nicht dem, was sie erwartet hatte. Zugegeben, er sah so gut aus wie auf dem Foto mit seiner geraden, schmalen Nase und dem kantigen, stolzen Kinn, aber seine Kleidung ließ ihn eher wie einen Bauarbeiter als den Direktor eines Gemeindezentrums wirken. Er hielt einen Hammer in einer Hand und strich sich mit der anderen durch das völlig zerzauste Haar.

Als er sich umdrehte und den Hammer auf den Schreibtisch legte, musste sie ein Grinsen unterdrücken. Im Gegensatz zu dem einfarbigen grauen Anzug war seine Krawatte mit bunten Cartoons bedruckt. Ein Geschenk von Megan? Dass er sie trug, widersprach jedenfalls dem Bericht des Detektivs, der ihn nicht nur als wichtigtuerisch und arrogant, sondern auch als konservativ darstellte.

Adam Wessler schien eine sehr interessante Mischung an Charakterzügen aufzuweisen.

Er wirbelte herum und musterte sie unverhohlen. Weder der Bericht noch die Fotos von ihm hatten sie auf seine stahlblauen Augen vorbereitet, deren scharfer Blick sich wie ein Laserstrahl in sie zu bohren schien.

„Aber, Adam“, sagte Doreen wie zu einem Kind, „Farley hat gesagt, dass er hier erst Ende der Woche fertig wird. Du weißt doch, dass das Theater Vorrang hat. Wie sollen die Kinder denn ohne Bühne proben? Sie können nicht ewig die Cafeteria benutzen.“

„Und was ist damit?“, murrte Adam und deutete zu der Wand hinter ihm. Die linke Seite war in einem freundlichen Grün, die rechte hingegen in einem schmutzigen Grau gestrichen.

Doreen schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Es ist nicht Farleys Schuld, dass du dich nicht entscheiden kannst. Was meinen Sie, Rachel? Grün oder Grau?“

Sie blickte zu Adam, der mit verschränkten Armen und gereizter Miene dastand. „Grün beruhigt angeblich die Augen. Der Anblick besänftigt das Gemüt, genau wie Harfenmusik.“

„Wer ist diese Frau, und warum redet sie mit mir über Harfenmusik?“ Während er zu Doreen sprach, ließ er Rachel nicht aus den Augen. Er heftete den Blick auf ihr pfefferminzgrünes Kostüm und erklärte: „Ich ziehe Grau vor.“

Das merkt man, dachte sie und bemühte sich, seine Grobheit zu übersehen. „Ich bin Rachel Hartwell“, sagte sie, reichte ihm die Hand und ließ sie wieder sinken, als er sie nicht nahm. „Ich bin wegen der Stelle hier …“, fuhr sie mit erzwungener Zuversicht fort. „Mr. Wessler?“, hakte sie nach, als er unter seinem Schreibtisch verschwand.

„Da ist es ja.“ Triumphierend tauchte er wieder auf. „Nach diesem kleinen Kasten habe ich verzweifelt gesucht.“ Er stand auf und begann, an seinem Computer zu basteln. „Vielleicht kann ich jetzt endlich meine E-Mail einrichten, wenn das Telefon schon nicht installiert wird.“

„Entschuldigen Sie, dass ich mich einmische, aber ich wüsste nicht, wie Sie ohne Telefon E-Mails empfangen wollen.“

„Zu Ihrer Information, wir haben einen permanenten, drahtlosen Internetzugang. Was sagten Sie doch gleich, wie Sie heißen, Miss …?“

„Mr. Wessler“, entgegnete sie in geduldigem Ton, „wenn es kein günstiger Zeitpunkt für Sie ist, kann ich ja später wiederkommen. Wenn es Ihnen genehm ist, natürlich.“

„Siehst du, was du angestellt hast?“, schalt Doreen. „Wie du dich aufführst, ist es ein Wunder, dass du überhaupt Personal hast. Warum ich noch für dich arbeite, ist mir selbst ein Rätsel.“

„Es liegt daran, dass du insgeheim seit Jahren in mich verliebt bist und sofort mit mir durchbrennen würdest, wenn dieser Roger dich ließe.“

„Achten Sie nicht auf ihn“, riet Doreen. „Er entwickelt immer Wahnvorstellungen, wenn er gereizt ist. Mein Roger konnte diesem Jungen schon vor dreißig Jahren den Hintern versohlen, und er kann es immer noch.“ Sie lachte über Rachels verwirrte Miene und erklärte: „Mein Mann und ich waren mit Adams Eltern befreundet. Jetzt bin ich für ihn wie eine zweite Mutter.“

„Er hat Glück, dass er zwei Mütter hat“, scherzte Rachel. „Ein Mann braucht so viele vernünftige Ratschläge, wie er nur kriegen kann.“

Abrupt trat ein gespanntes Schweigen ein, und Adam erblasste.

Was habe ich denn jetzt gesagt? fragte sie sich und blickte Hilfe suchend zu Doreen, die jedoch ebenfalls sehr ernst geworden war.

„Ich lasse euch beide jetzt zum Geschäft kommen“, sagte sie. Dann kehrte ihr Lächeln so schnell wieder zurück wie die Sonne, die plötzlich durch eine Wolke bricht. „Viel Glück, meine Liebe, ich drücke Ihnen die Daumen.“

„Es tut mir leid wegen Ihrer Mutter“, murmelte Rachel, nachdem Doreen die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Wie lange ist sie schon … von Ihnen gegangen?“

„Sie ist nicht von mir gegangen, und sie geht nirgendwohin, weder jetzt noch später.“

„Entschuldigung, Mr. Wessler“, sagte sie hastig. „Ich hatte angenommen …“

„Nennen Sie mich Adam“, warf er ein. „Mir persönlich wäre es lieber, wenn wir uns als potenzielle Angestellte und Vorgesetzter mit Miss und Mr. anreden würden, aber leider sind diese Zeiten vorbei.“

Er war in der Tat ein Wichtigtuer und überheblich dazu. Und was hatte es mit seiner Mutter auf sich? Anscheinend hatte er Probleme, die der Privatdetektiv übersehen hatte, und das war seltsam angesichts seiner sehr umfassenden, detaillierten Nachforschungen. „Ms.“, sagte sie schroff.

„Wie bitte?“

„Die politisch korrekte Anrede lautet Ms. und nicht Miss. Ein Arbeitgeber hat kein juristisches Anrecht darauf, den Personenstand einer potenziellen Arbeitnehmerin zu erfahren.“ Sie wusste, dass sie sich aufs Glatteis begab, denn er hatte ihre Zukunft in der Hand, aber er war so provozierend.

Ms. Hartwell, Ihr Personenstand ist mir völlig egal. Ich wollte nur sagen, dass Sie mich mit meinem Vornamen anreden dürfen. Es wird sogar bevorzugt. Eines der Ziele dieses Zentrums ist es, die Gemeinschaft und ihre Werte zu reflektieren. Sie wissen schon, was ich meine: eine große, glückliche Familie. Dieses Image versuchen wir zu fördern.“

„Ich nehme an, Sie billigen diese Philosophie nicht?“

„Ob ich sie billige oder nicht, tut nichts zur Sache. Wollen wir jetzt anfangen, Ms. Hartwell?“

„Nennen Sie mich Rachel. Denken Sie an die große, glückliche Familie.“

Einen Moment lang blickte er sie finster an. Doch dann grinste er unverhofft, und ihr stockte der Atem. Sein strenges Gehabe schwand völlig dahin, und sie fragte sich, wie ein einfaches Lächeln ein Gesicht so total verändern konnte. Er sah charmant und fast jungenhaft aus, ganz anders als auf den Fotos in ihrem Hotelzimmer.

Diesmal reichte er ihr die Hand. „Was halten Sie davon, wenn wir noch mal von vorn anfangen? Ich bin Adam Wessler, der arrogante, abscheuliche Direktor dieser wundervollen neuen Einrichtung.“

„Rachel Hartwell“, erwiderte sie und nahm seine Hand. Sie hatte einmal gelesen, dass ein Händedruck viel über den Charakter einer Person aussagte. Seiner wirkte sehr herzlich.

Ihr wurde bewusst, dass sie ihn zu lange festhielt, und mit glühenden Wangen zog sie die Hand zurück. „So abscheulich sind Sie gar nicht“, scherzte sie, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

Er lachte laut auf. „Endlich sind wir uns in etwas einig. Setzen Sie sich, Rachel Hartwell. Entschuldigen Sie die Klappstühle. Das Mobiliar ist noch nicht vollständig eingetroffen.“ Er setzte sich neben sie. „Erzählen Sie mir doch etwas über sich.“

„Haben Sie meinen Lebenslauf nicht bekommen? Ich habe Kopien dabei.“ Sie griff zu ihrem Aktenkoffer. „Hier …“

Er nahm ein Blatt Papier von seinem Schreibtisch. „Ich habe Ihren Lebenslauf. Ich weiß, was darin steht. Ich möchte etwas wissen, das ich nicht weiß. Etwas über die Person, die Sie sind.“

„Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“

„Ich gebe Ihnen einen Hinweis. Erzählen Sie mir, warum Sie hier unterrichten möchten.“

„Ich liebe Kinder und das Theater. Also habe ich mich für einen Beruf entschieden, der beides verbindet.“ Als er nicht reagierte, stieg Panik in ihr auf. Was konnte sie sonst noch sagen, ohne ihr Geheimnis zu lüften? Sie musste sich etwas einfallen lassen. Sie musste den Job bekommen. Dann fiel ihr das Gemälde an der Wand in der Eingangshalle ein. Es zeigte nicht nur die Freuden der Kindheit; es ging auch um die Freuden des Kleinstadtlebens. „Außerdem bin ich die Großstadt leid. Sie ist mir zu laut und unpersönlich. Ich möchte in einer beschaulichen, altmodischen Gemeinde leben, in der jeder über jeden Bescheid weiß.“ Solange es nicht um mich geht, dachte sie. „Wie Sie vorhin sagten: in einer großen, glücklichen Familie.“

„Sie scheinen seltsame Vorstellungen entwickelt zu haben“, entgegnete er schroff. „Wir sind keine Hinterwäldler, sondern ebenso modern und aufgeschlossen gesinnt wie in den Großstädten.“

„Sie haben mich falsch verstanden. Ich wollte nicht …“

„Sagen Sie mir, was für ein Mensch Sie sind.“

„Ich habe Ihnen doch zusammen mit meinem Lebenslauf eine Liste mit Referenzen geschickt. Haben Sie die nicht erhalten?“

Keine der Personen auf der Liste kannte ihre Vergangenheit. Ebenso wichtig war, dass die Privatschule, an der sie unterrichtete, den Sommer über geschlossen war. Vorläufig sollte niemand dort erfahren, dass sie vielleicht nicht zurückkehrte. Momentan war es unklug, die Brücken hinter sich abzubrechen. Denn wenn ihr Plan nicht aufging, wollte sie nach Hartford zurückkehren. Sie konnte nicht in Middlewood bleiben, wenn Megan ihr so nahe und doch unerreichbar war.

„Sie verstehen mich immer noch nicht. Nennen Sie mir einen guten, konkreten Grund, aus dem ich Ihnen den Job geben sollte.“

„Ich weiß, wie es ist, Träume zu haben“, erwiderte sie. „Ich weiß auch, wie es ist, niemanden zu haben, der einem bei der Verwirklichung dieser Träume hilft. Ich wollte Eiskunstläuferin werden, aber eine Profikarriere war zu teuer, und jetzt bin ich zu alt dafür. Ich möchte den Kindern helfen, ihre Träume zu verwirklichen.“

Nachdenklich blickte Adam auf ihren Lebenslauf. „Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie hier weniger verdienen würden als bisher in einer Privatschule.“

„Natürlich. Ich möchte in einer entspannten Atmosphäre arbeiten“, erwiderte sie aufrichtig. Sie war nicht begeistert über das geringere Gehalt, aber sie war die sinnlosen Sitten, die strenge Kleiderordnung, die willkürlichen Vorschriften in der Privatschule leid. „Außerdem gibt es hier gewisse Vorzüge. Die Eisbahn zum Beispiel. Ich liebe immer noch Eiskunstlauf, auch wenn es nicht länger mein Lebensziel ist. Und hier ist es nicht so hektisch wie in der Großstadt.“

„Leider befürchte ich, dass es nicht klappen wird“, entgegnete er mit abweisender Miene.

Leider? War es das? All ihre Hoffnung zerstört mit einem Wort? „Das verstehe ich nicht. Wollen Sie nicht …?“

„Sehe ich etwa wie Grace aus? Also wirklich!“ Ein junges Mädchen mit leuchtend roten Haaren stürmte in das Büro. „Würdest du Erika bitte sagen, dass ich Grace nicht spielen will? Was ist bloß los mit der Frau? Sieht sie denn nicht, dass ich für Annie geschaffen bin?“

In diesem Moment mischte sich Traum und Wirklichkeit für Rachel. Der Raum um sie her schien zu schwanken, und sie musste blinzeln, um die Tränen zu vertreiben, die ihr in den Augen brannten. Tränen der Freude, ihre Tochter zu sehen. Tränen der Freude, ihre Stimme zu hören.

Adam hatte sie um einen guten, konkreten Grund gebeten. Da stand dieser Grund, die Hände in die Hüften gestemmt, mit zornig blitzenden Augen.

2. KAPITEL

Rachel klammerte sich an die Stuhllehne. Abgesehen von den Haaren hätte sie schwören können, in einen Spiegel zu blicken, der sie in Megans Alter reflektierte. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Würde es anderen auch auffallen? Wie konnte es anderen nicht auffallen?

Sie verdrängte ihre Befürchtung, indem sie sich einredete, dass niemand wissen konnte, wie sie im Alter von zwölf Jahren ausgesehen hatte.

„Siehst du denn nicht, dass ich in einem Meeting bin?“, fragte Adam in gereiztem Ton.

Rachel löste den Blick von ihrer Tochter. Adams angespannte Miene verriet das Ausmaß seiner Frustration, die offensichtlich nicht nur auf Megans kleiner Szene beruhte. Nein, die Probleme zwischen den beiden mussten schon länger bestehen. Darüber hinaus wurde Rachel bewusst, dass ihm die Ähnlichkeit zwischen ihr und Megan entging, und sie atmete erleichtert auf.

Sie richtete den Blick wieder auf Megan und ihr leuchtendes, lockiges Haar, das zum Glück von der Ähnlichkeit ablenkte, denn Rachels Haare waren glatt und brünette.

„Aber Dad, du bist doch immer in einem Meeting“, beklagte sich Megan, „Außerdem ist es wichtig.“ Sie wandte sich an Rachel. „Sind Sie die neue Schauspiellehrerin?“

„Ja. Ich bin Rachel Hartwell. Du kannst mich Rachel nennen.“

„Okay. Wir müssen gleich was klarstellen. Vor allem …“

„Megan, bitte“, unterbrach Adam in scharfem Ton. „Wir reden später.“

„Schon gut, Mr. Wes… Adam. Mich interessiert, was Ihre Tochter zu sagen hat.“

Zwei grüne Augen – wie meine Augen, dachte Rachel – blickten sie argwöhnisch an. „Ach ja? Warum?“

„Warum?“, hakte Rachel verwirrt nach.

„Bist du taub oder was?“

„Megan!“ Adam stand auf. „Kann das nicht bis später warten?“

Rachel hätte beinahe über seinen jammernden Tonfall gelacht. Der coole, beherrschte Mr. Wessler war offensichtlich Wachs in den Händen seiner Tochter, der es ebenso offensichtlich an Manieren mangelte. „Schon gut“, beschwichtigte sie. „Die Frage ist eine Antwort wert, und damit meine ich nicht die Frage über mein Gehör. Du würdest dich wundern, wie wenig meinen Ohren oder meinen Augen entgeht.“ Megan lehnte an der Wand, die Arme vor der Brust verschränkt wie ein trotziges kleines Kind. Doch Rachels Ansicht nach steckte mehr hinter ihrem Verhalten als nur schlechte Manieren. Dieses Kind, ihr Kind, litt.

„Es ist sehr schade, dass du Grace nicht spielen willst“, sagte sie. „Sie war immer meine Lieblingsrolle in Annie. Und du erinnerst mich an sie, denn du bist auch so groß und schlank und hübsch wie eine Prinzessin. Deswegen interessiert mich, was du zu sagen hast.“

„Ich bin überhaupt nicht wie sie!“, fauchte Megan. „Sieh dir doch bloß meine Haare an!“ Sie zerrte an ihren Locken. „Wozu habe ich denn einen Vater, der hier alles leitet, wenn ich nicht die Hauptrolle kriege? Ich kann genauso gut singen und tanzen wie die doofe Alice Tucker. Sogar besser. Ich bin Annie. Wieso sieht das denn keiner?“

„Ich beneide dich um deine Haare“, sagte Rachel. „Ich wette, du brauchst sie gar nicht zu stylen. Und was würde ich für die Farbe geben!“

Megan wirkte besänftigt. „Siehst du, Dad? Sie findet auch, dass ich Annie spielen sollte.“

„Das habe ich nicht gesagt“, entgegnete Rachel, „obwohl ich sicher bin, dass du eine wundervolle Annie abgeben würdest. Aber es wäre jammerschade.“

„Wieso das denn?“

„Ich denke mir, dass sich eine erwachsene Person wie du ein bisschen albern als Annie fühlen würde. Grace ist so wunderschön und talentiert, und zum Schluss heiratet sie den wundervollsten Mann der Welt. Für mich ist sie die Seele der Story. Ohne sie hätte Annie sich niemals mit Daddy Warbucks vereint.“

„Na ja, Annie ist schon irgendwie kindisch“, räumte Megan ein. „Vielleicht hast du recht. Vielleicht sollte ich wirklich Grace spielen. Sie ist kultivierter und weltoffener. Es wäre interessanter, eine reifere Person zu spielen. Glaubst du nicht?“

„Ich weiß es“, sagte Rachel nachdrücklich und wunderte sich über Megans Ausdrucksweise. Nun sprach sie wie eine Achtzehnjährige. Ihr ganzes Auftreten hatte sich plötzlich von einem trotzigen Kind in eine intellektuelle junge Dame verwandelt. Es war typisch für Mädchen in dem Alter. In einem Moment holten sie ihre alten Puppen hervor, und im nächsten verlangten sie den Autoschlüssel.

Megan wuchs schnell heran. Zu schnell. Rachel hatte die ersten zwölf Jahre ihrer Tochter verpasst und war nun entschlossen, sich nicht eine weitere Minute entgehen zu lassen.

„Aber was ist mit meinen Haaren?“, hakte Megan nach. „Ich muss sie doch nicht abschneiden oder färben lassen, oder?“

Autor

Elissa Ambrose
Elissa Ambrose kommt ursprünglich aus Montreal, Canada. Jetzt lebt sie mit ihrem Ehemann und 2 Töchtern in Arizona. Sie hat einen College – Abschluss in Englischer Literatur und arbeitete danach als Software – Entwicklerin. Immer noch sucht sie nach der Verbindung beider Berufsfelder aber sie glaubt, nach all den Jahren...
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