Ranch der einsamen Herzen

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Eine Auszeit nach der Scheidung: Single-Mom Gabriella zieht mit ihren Kindern zurück in ihr Heimatstädtchen. Hier ist alles genau wie früher – selbst Gabriellas Jugendschwarm Carson Rivers ist noch so umwerfend wie damals. Nur dass der Rancher inzwischen das Lachen verlernt hat …


  • Erscheinungstag 23.01.2025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751536332
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Sind wir bald da?“

Gabriella Tucker seufzte und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie im Grunde genauso ungeduldig war wie ihre Tochter. In der letzten halben Stunde hatte Sophia ihr diese Frage dreimal gestellt, aber Gabriella konnte sie nur zu gut verstehen. Sie hatte es ebenfalls satt, in diesem SUV eingepfercht zu sein.

Um die lange Fahrt von Ohio im Mittleren Westen nach North Carolina an der Ostküste so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten, hatte sie einige Attraktionen auf der Route herausgesucht, die besonders für Kinder geeignet waren. Sophia und ihr älterer Bruder Justin hatten zwar jede Menge Spaß im Erlebnispark, im Zoo und in einem kleinen Musikstudio gehabt, aber inzwischen hatten sie genug von den langen Autofahrten. Sie waren genervt und übermüdet und konnten es kaum erwarten, endlich anzukommen – bei dem Haus, das Gabriellas Großtante gehörte und in dem sie ihre Sommerferien verbringen würden.

„Jetzt ist es nicht mehr weit“, versuchte Gabriella sie zu vertrösten.

„Das hast du vor ein paar Stunden auch schon gesagt.“

„Da hast du wohl recht.“ Aber diesmal stimmte es wirklich: Laut dem Schild, an dem sie gerade vorbeigefahren waren, lag die Kleinstadt Sweet Briar nur noch zwanzig Meilen von ihnen entfernt. Davor gab es noch zwei Ausfahrten, und eine davon führte zu der kleinen Ranch ihrer Großtante Mildred. Als kleines Kind hatte sie Mildred und ihren Mann Bob regelmäßig zusammen mit ihrer Mutter besucht. Als sie dann etwas älter gewesen war, war sie allein hergekommen, um die Sommerferien auf der Ranch zu verbringen. Einige der schönsten Erinnerungen ihres Lebens waren hier entstanden, und die hatte sie zusammen mit ihrem besten Ferien-Freund Carson Rivers erlebt.

Sie wusste noch genau, wie sie ihn mit sieben Jahren kennengelernt hatte. Bei dem Gedanken daran musste sie lächeln. Sie hatten sich auf Anhieb verstanden und waren von diesem Moment an unzertrennlich gewesen. Jede freie Minute verbrachten sie miteinander, ritten zusammen aus und gingen auf dem Grundstück seines Vaters an der Badestelle schwimmen. Damals, als das Leben noch so einfach und unkompliziert war …

Bis Gabriella fünfzehn Jahre alt wurde. In besagtem Sommer bestand sein Vater darauf, dass Carson sich in den Familienbetrieb einarbeitete, und dadurch hatte er kaum noch eine freie Minute. Die Familie Rivers war mit ihrer Rinderzucht äußerst erfolgreich. Ihre Ranch gehörte zu den größten in ganz North Carolina. Gabriella war sehr enttäuscht, dass ihr Freund plötzlich nicht mehr so viel Zeit für sie hatte, gab sich aber mit den wenigen gemeinsamen Momenten zufrieden. Es war der letzte Sommer, den sie bei ihrer Großtante und ihrem Großonkel verbrachte, wie sich später herausstellte.

Mit sechzehn nahm sie eine Teilzeitstelle an, und damit war es vorbei mit den Sommerferien in Sweet Briar. Mit neunzehn verliebte sie sich dann Hals über Kopf in Reggie und heiratete ihn völlig überstürzt – weil sie naiverweise davon ausging, dass sie für immer zusammenbleiben würden. Aber die Ehe hielt nicht lange.

Gabriella runzelte die Stirn und verdrängte die unschönen Erinnerungen. Sie wollte jetzt nicht daran denken, dass ihr Ex-Mann sie betrogen hatte. Immerhin war sie nicht nach Sweet Briar gekommen, um ihrer Vergangenheit nachzutrauern. Nein, sie wollte hier in Ruhe über einen Neuanfang nachdenken.

„Wann sind wir denn endlich da?“, hakte Sophia nach.

„Bei der nächsten Ausfahrt fahren wir vom Highway ab“, erwiderte Gabriella. „Zehn Minuten später sind wir auch schon beim Haus von Tante Mildred.“

„Okay.“ Sophia warf einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett, offenbar um die Zeit im Auge zu behalten. Obwohl das Mädchen genauso aussah wie ihre Mutter damals mit acht Jahren, waren die beiden vom Charakter her grundverschieden: Sophia war ein sehr nachdenklicher Typ. Bevor sie etwas unternahm, ließ sie sich alle möglichen Folgen genauestens durch den Kopf gehen. Gabriella hingegen war früher sehr impulsiv und spontan gewesen und hatte einfach getan, wonach ihr gerade zumute gewesen war.

„Was hast du hier früher bloß den ganzen Tag gemacht?“, schaltete ihr zehnjähriger Sohn Justin sich jetzt ein. „Hier gibt es doch nur Kühe.“

„Kühe gibt’s hier wirklich viele“, erwiderte Gabriella, „aber es gab damals auch jede Menge Pferde. Und eine Badestelle.“

„Schwimmen ist toll. Schade, dass ich gerade nicht mehr zum Training gehen kann, weil wir jetzt hier sind.“

„Das tut mir leid, aber das geht vielen anderen Kindern in deinem Schwimmverein auch so, wenn sie den Sommer über weg sind. Vielleicht probierst du hier ja etwas anderes aus?“

„Was denn bitte? Gibt es hier überhaupt noch andere Kinder?“

„Früher, als ich im Sommer hier war, gab es sogar einige!“

„Okay, aber das ist jetzt schon hundert Jahre her.“

„Quatsch, das ist erst neunzig Jahre her.“

Alle lachten, und schon entspannte sich die Atmosphäre. Dass Gabriella natürlich älter war als ihre Kinder und damit aus deren Sicht „uralt“, war ein Running Gag zwischen ihnen. Dabei ahnten Sophia und Justin nicht, dass es ihr selbst vorkam, als lägen ihre unbeschwerten Sommerferien auf der Ranch schon hundert Jahre zurück.

„So, hier wären wir.“ Langsam lenkte Gabriella den Wagen die einsame Landstraße hinunter und bog schließlich in eine Zufahrt ein. Die Sonne ging gerade unter und tauchte das weiße Ziegelgebäude in einen orangefarbenen Schein. Das Gras davor war frisch gemäht, die Blumenbeete, die den breiten Aufgang und die Veranda umgaben, waren allerdings unbepflanzt. Wahrscheinlich kümmerte sich einer von Tante Mildreds Nachbarn ein bisschen um das Grundstück, seit sie in die Seniorenresidenz gezogen war. Das war ein Aspekt, der Gabriella am Ranchleben besonders gut gefiel: dass Nachbarn immer füreinander da waren.

Sie stieg aus dem Wagen, und rechnete fast damit, dass ihre Großtante ihnen entgegenlief, um sie fest in die Arme zu schließen – genau das hätte Gabriella jetzt auch gut gebrauchen können. Doch sie wusste, dass niemand zu Hause war: Onkel Bob war vor drei Jahren plötzlich gestorben, und Tante Mildred war vor sieben Monaten in eine Seniorenwohnanlage in Willow Creek gezogen. Die Stadt lag etwa eine Autostunde von Sweet Briar entfernt. Das Haus war zu groß für sie geworden, hatte sie gesagt. Und weil bereits zwei ihrer Freundinnen in besagter Anlage lebten, hatte auch Mildred sich dort eine Wohnung genommen und sich schnell mit einigen anderen Frauen angefreundet.

Justin und Sophie sprangen aus dem Wagen und rannten kreuz und quer über die große Rasenfläche vor dem Haus. Dann entdeckten sie die Hollywoodschaukel auf der Veranda, liefen die Treppen hoch und kletterten auf die Sitzfläche.

„Holt schon mal eure Rucksäcke aus dem Auto; wir sehen uns gleich drinnen um“, rief Gabriella ihnen zu. „Die Koffer und Kisten können wir später reinbringen.“

„Okay.“ Sophia kletterte von der Schaukel. Justin seufzte und kam hinter seiner Schwester die Stufen herunter.

Mit dem Schlüssel, den Tante Mildred ihr per Botendienst zugeschickt hatte, schloss Gabriella die Eingangstür auf, dann knipste sie das Licht im großen Wohnzimmer an. Als sie sich umsah, fühlte sie sich sofort in die Vergangenheit zurückversetzt. Ein wohlig-wehmütiges Gefühl überkam sie. Alle Möbel waren zwar mit Tüchern bedeckt, trotzdem erkannte sie sofort das Sofa, von dem aus sie sonntagabends ferngesehen hatten. Wochentags hatte sie immer viel zu viel vorgehabt, aber die Sonntagabende hatten sie, ihre Großtante und ihr Großonkel gemeinsam vor dem Fernseher verbracht, um sich Filme oder Onkel Bobs geliebte Sitcoms anzuschauen.

„Das ist ja ein richtiges Geisterhaus“, flüsterte Sophie. Eingeschüchtert stellte sie sich neben ihre Mutter.

„Buh!“, schrie Justin und lachte laut los, als seine Schwester zusammenfuhr.

„Schluss jetzt“, wies Gabriella ihn zurecht. Eigentlich war er immer ein lieber Junge gewesen, doch seit Reggie seine Kinder nicht mehr besuchen kam, ließ Justin seinen Frust darüber an seiner Schwester aus. Zwar nicht besonders oft, aber immerhin so, dass es Gabriella auffiel.

„Tut mir leid“, murmelte er.

„Die Tücher sollen nur verhindern, dass die Möbel darunter verstauben“, erklärte Gabriella. Sie zog eines von dem nächststehenden Sessel, sodass ein orange-braun gemusterter Bezug zum Vorschein kam: echte Herbstfarben. Und obwohl sie sich gerade in der zweiten Juniwoche befanden, passten sie sehr gut in den Raum.

Offenbar hatte Gabriella mit der Aktion ihre Kinder angesteckt: Sophia und Justin ließen sofort ihre Rucksäcke fallen und liefen von Zimmer zu Zimmer, um überall die Tücher von den Möbeln zu ziehen. Dabei wirkten sie so fröhlich und ausgelassen, dass Gabriella ganz warm ums Herz wurde. Immerhin hatten sie in den letzten zwei Jahren kaum etwas zu lachen gehabt.

Die Tinte auf den Scheidungsdokumenten war kaum getrocknet, da hatten Reggie und seine neue Freundin Natalie auch schon geheiratet. Die aufwendige Feier war perfekt durchorganisiert; alle aus ihrem exklusiven Umfeld waren gekommen. Dadurch wurde Gabriella bewusst, dass die beiden die Hochzeit schon lange geplant haben mussten. Als Reggie dann seine Kinder übers Wochenende abholte, wirkte er unendlich glücklich – so hatte sie ihn noch nie erlebt. Im Grunde ihres Herzens war Gabriella sehr romantisch veranlagt, und sie liebte Happy Ends. Trotzdem tat sie sich schwer damit, dass der Mann, der ihr bei der Trauung ewige Liebe versprochen hatte, jetzt für immer mit einer anderen Frau glücklich sein wollte. Zumal Gabriella an ihre und Reggies Liebe geglaubt hatte.

Zumindest bis er ihr gestanden hatte, dass er eigentlich immer nur Natalie geliebt hatte. Als diese dann einen anderen Mann geheiratet hatte, hatte er versucht, durch Gabriella darüber hinwegzukommen. Doch dann war Natalies Ehe gescheitert, und sie hatte wieder Kontakt zu Reggie aufgenommen, obwohl er inzwischen selbst verheiratet war und zwei Kinder hatte. Der Rest war – wie es so unschön hieß – Geschichte.

Natalie wurde sofort schwanger, und vor sechs Monaten war das Baby zur Welt gekommen. Seit der Geburt seines Sohnes übernachteten Justin und Sophia nicht mehr bei ihm, stattdessen holte er sie samstags morgens ab und brachte sie später nach dem Abendessen zurück. Während sie bei ihm waren, beachtete er sie nicht weiter, sondern war eher mit seinem und Natalies Baby beschäftigt. Schließlich schlug er vor, die beiden nur noch einmal im Monat abzuholen. Allerdings hielt er selbst das nicht ein; oft sagte er in letzter Minute wieder ab oder tauchte einfach nicht auf.

Sein Verhalten hatte Justin und Sophia verwirrt und verletzt, Gabriella wiederum war enorm wütend geworden. Dass Reggie mit ihr nichts mehr zu tun haben wollte, konnte sie hinnehmen; als erwachsene Frau kam sie darüber hinweg. Aber Justin und Sophia waren ja noch Kinder – und dazu Reggies Kinder. Als er ihr außerdem mitteilte, dass er im Sommer nicht die geplanten drei Wochen mit den Kindern verbringen würde, wurde ihr klar, dass sich dringend etwas ändern musste. Die Kinder sollten nicht täglich daran erinnert werden, dass sie ihrem Vater nicht so wichtig waren wie sein jüngster Sohn und seine wunderbare neue Frau.

Und als Tante Mildred ihr angeboten hatte, über den Sommer das Haus in Sweet Briar zu beziehen, hatte Gabriella sofort Ja gesagt. Hier konnten die Kinder ihren Spaß haben und die neue Umgebung erkunden … während Gabriella die Zeit dafür nutzte, sich Gedanken über ihre Zukunft zu machen. Darüber zum Beispiel, was sie aus ihrem Studienabschluss in Psychologie machen wollte, für den sie so hart gearbeitet hatte.

Sie folgte den Kindern durch die Zimmer, sammelte dabei die Abdecktücher vom Boden auf und bündelte sie unter dem Arm. Die beiden lachten und wirkten ausgelassen und fröhlich. Das war immerhin ein guter Anfang.

Carson Rivers seufzte erleichtert, als er in die einsame Straße zu seiner Ranch bog. Normalerweise legte er die Fahrten in den Ort so, dass er dort nicht zu vielen Menschen begegnete, und trotzdem waren die Besuche für ihn nervenaufreibend. Daran konnte er nichts ändern, obwohl er wusste, dass er ein bisschen überempfindlich reagierte und zu viele Dinge fälschlicherweise auf sich bezog. Als Sohn eines Mörders entwickelte man schon mal solche Macken. Der Mord lag zwar über zehn Jahre zurück, außerdem hatte Carson schließlich dafür gesorgt, dass das Verbrechen aufgedeckt wurde – aber das machte es für ihn auch nicht besser. Sein Vater, Karl Rivers, war ein sehr mächtiger Mann gewesen; einige in der Umgebung hatten ihn ebenso sehr gefürchtet wie gehasst. Und sie hatten ihren Ärger an Carson ausgelassen, sich sogar ganz offensichtlich an seinem Unglück gefreut.

Nach Karls plötzlichem Tod im letzten Jahr war Carsons Jugendfreund und ehemaliger Nachbar Donovan Cordero nach Sweet Briar zurückgekehrt. Zehn Jahre lang war er verschollen gewesen. Man hatte ihn sogar für tot gehalten. Er war derjenige, der Carson die schreckliche Wahrheit über seinen Vater erzählte. Donovan war Zeuge des Mordes geworden. Karl hatte ihn unter der Bedingung mit dem Leben davonkommen lassen, dass er sofort aus der Stadt verschwand und sich dort nie wieder blicken ließ. Sobald Donovan von Karls Tod hörte, kam er jedoch wieder zurück und nahm auch wieder Kontakt mit Raven Reynolds auf, die damals von ihm schwanger gewesen war und inzwischen seinen Sohn zur Welt gebracht hatte. Und die inzwischen außerdem mit Carson verlobt war …

Als Carson von dem Mord erfuhr, wollte er herausfinden, wer das Opfer war. Schließlich gab es irgendwo da draußen eine Familie, die sich immer wieder fragen musste, was aus dem von ihnen geliebten Menschen geworden war. Der Gedanke ließ Carson keine Ruhe; er wollte, dass sie endlich Gewissheit hatten. Also wandte er sich an den neuen County Sheriff, der daraufhin Nachforschungen anstellte. Außerdem engagierte Carson einen Privatdetektiv, um die Familie des Opfers ausfindig zu machen. Nachdem dessen sterblichen Überreste gefunden wurden, ließ Carson sie nach Tennessee überführen, wo die Familie des Mannes wohnte, und kam für die Beerdigungskosten auf.

Seinen Freunden und Nachbarn gegenüber war Carson offen mit den Geschehnissen umgegangen. Nie im Leben hätte er damit gerechnet, was das für Auswirkungen haben würde: Einige Leute, die er zwar nicht unbedingt zu seinem Freundeskreis zählte, aber auch nicht als Feinde sah, fingen plötzlich an, hinter seinem Rücken über ihn zu reden. Manche ließen ihn sogar wissen, er möge doch gefälligst aus der Stadt verschwinden. Und obwohl ihm seine wahren Freunde weiterhin zur Seite standen, trafen ihn diese Bemerkungen schwer.

Zum Glück zog seine Mutter kurz nach Karl Rivers’ Beerdigung zu ihrer Schwester nach Atlanta. Das Gerede mancher Leute hätte ihr den Rest gegeben, und das hatte diese sanfte, stolze Frau nicht verdient.

Bevor die schreckliche Wahrheit ans Licht gekommen war, war Carson ein äußerst erfolgreicher Pferdetrainer gewesen. Dabei hatte er viel mit ehemals misshandelten Tieren gearbeitet, außerdem hatte er den Kindern in der Gegend Reitunterricht gegeben. Als jedoch die Leute in der Gegend immer mehr über seinen Vater zu tuscheln begannen, hatte er seine Reitschule geschlossen, noch bevor sich die ersten Schüler abmelden konnten, und sich wieder ganz der Familienranch gewidmet.

In diesem Moment fuhr er gerade an der Nachbarranch vorbei. Automatisch blickte er zum Haus hinüber. Als Mildred Johnson in ihre Seniorenwohnung in Willow Creek gezogen war, hatte er ihr versprochen, das Anwesen ein bisschen im Auge zu behalten.

Er nahm den Fuß vom Gas. Im Haus brannte überall Licht! Dabei war es doch unbewohnt?

Sollte er vielleicht den Sheriff rufen? Andererseits – welcher Einbrecher wäre so dumm, in jedem Zimmer das Licht anzuschalten und davon auszugehen, dass es niemandem auffiel? Carson beschloss, sich erst mal selbst ein Bild zu machen und dann zu entscheiden, wie er weiter vorgehen wollte.

Als er in die Auffahrt bog, fiel ihm ein SUV mit ortsfremdem Nummernschild auf. Er stieg aus, schaute hinein, aber der Wagen war leer. Wie gut, dass Mrs. Johnson ihm einen Schlüssel gegeben hatte! Damit öffnete er die Eingangstür und ging ins Haus.

Wer auch immer hier war, fühlte sich offenbar wie zu Hause: Die Abdecktücher waren von den Möbeln gezogen worden, und neben der Treppe in den ersten Stock lagen Koffer und Rucksäcke. Aus dem hinteren Teil des Hauses dröhnte laute Musik zu ihm, dazu sang eine Frau falsch, aber voller Inbrunst einen bekannten Popsong. Ihre Stimme schraubte sich nach oben, bis zum höchsten Ton … den sie natürlich kläglich verfehlte. Dafür traf sie Carsons Trommelfell auf schmerzliche Weise.

Als nächstes hörte er Kinderlachen.

Was war hier eigentlich los?

Wenn Mrs. Johnson ihr Haus verkauft oder vermietet hätte, hätte sie ihm das nicht erzählt? Zuletzt hatten sie vor zwei Wochen miteinander gesprochen, und da hatte sie nichts dergleichen erwähnt.

Carson ging weiter in die Küche. Dort tanzten gerade eine Frau und ein sieben- oder achtjähriges Mädchen um den Resopaltisch herum und wollten einen etwa zehnjährigen Jungen dazu bewegen mitzumachen. Die Chancen standen schlecht: Er lehnte an der Spüle und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

Die Frau lachte, und urplötzlich fühlte sich Carson in die Vergangenheit katapultiert. Irgendetwas an ihrer Stimme kam ihm ausgesprochen vertraut vor.

Die Eindringlinge waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie ihn gar nicht bemerkten. Er drehte den Knopf an Mrs. Johnsons Uralt-Radio nach links, bis die Musik verstummte, und räusperte sich.

Die Frau fuhr herum, blitzschnell schob sie sich vor das Mädchen. Der Junge blickte sich um, als würde er nach einer Waffe Ausschau halten. Glücklicherweise war nichts in greifbarer Nähe.

„Wer sind Sie, und was haben Sie hier zu suchen?“, fuhr ihn die Frau an.

Jetzt zog der Junge ein Handy aus der Hosentasche und tippte eine Nummer ein; offenbar wollte er die Polizei rufen. Obwohl Carson fand, dass eigentlich er diese Fragen stellen sollte, wollte er lieber für eine entspannte Atmosphäre sorgen. „Ich bin der Nachbar der Hausbesitzerin. Und wer sind Sie?“

Die Frau kam auf ihn zu und musterte ihn von oben bis unten. Dann betrachtete sie sein Gesicht so lange und intensiv, als stünden darin die Antworten auf alle lebenswichtigen Fragen geschrieben. Allmählich wurde ihm richtig unbehaglich zumute …

Schließlich lächelte sie. „Carson?“

Er nickte und sah sie genauer an. In ihren kaffeebraunen Augen blitzte es schelmisch. War das wirklich möglich? Fünfzehn Jahre waren inzwischen vergangen, seit seine gute Freundin von damals zuletzt in Sweet Briar gewesen war. Doch wenn er sich das wunderschöne Gesicht der Frau genauer ansah, ihre glatte, hellbraune Haut, die hohen Wangenknochen und die vollen Lippen, dann bestand für ihn kein Zweifel: Sie war es wirklich. „Gabriella?“

Lachend warf sie sich ihm in die Arme und drückte ihn an sich. „Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen!“

„Allerdings.“ Vor einigen Jahren hatte sie ihn und seine Eltern zu ihrer Hochzeit eingeladen, allerdings hatten sie nicht kommen können. Carson erwiderte kurz ihre Umarmung, dann wich er zurück und versuchte, nicht darauf zu achten, wie stark sein Körper auf sie reagierte. Es war schon ewig her, dass er eine Frau in den Armen gehalten hatte. Vor über einem Jahr hatten er und Raven ihre Verlobung gelöst, und im November oder Dezember hatte er noch ein kurzes Verhältnis mit einer anderen Frau gehabt, die für ein paar Wochen nach Sweet Briar gekommen war. Als sie die Stadt wieder verlassen hatte, war alles wieder vorbei gewesen.

Doch eben, als er Gabriella kurz in den Armen gehalten hatte, hatte es sich angefühlt, als stünde er unter Starkstrom. Auch jetzt spürte er noch die Nachwirkungen. Das Blut rauschte ihm heiß durch die Adern. Das durfte er sich auf keinen Fall anmerken lassen! Mit einer verheirateten Frau hatte er noch nie etwas angefangen – egal, wie wunderschön sie aussah oder wie toll sie duftete. Seine langjährige Jugendfreundin sollte da keine Ausnahme bilden.

„Kennst du den etwa?“ Der Junge hatte immer noch die Finger am Handy, als wäre er sich unsicher, ob er nicht doch die Polizei rufen sollte.

„Oh, ja!“ Gabriella strahlte Carson so freudig an, dass ihm ganz warm ums Herz wurde. Dann wandte sie sich wieder dem Jungen zu, offenbar war es ihr Sohn. „Als ich so alt war wie ihr, waren wir richtig gute Freunde und im Sommer jeden Tag zusammen. Carson wohnt auf der Ranch da drüben, auf der anderen Straßenseite.“

Der Jungen ließ den Blick von Carson zu Gabriella schweifen. Ob er wohl gerade versuchte, sich ihn und Gabriella als Kinder vorzustellen? Oder überlegte er, ob sich da noch etwas anderes zwischen ihnen abgespielt hatte? Der Gedanke war völlig abwegig! Selbst wenn es Carson immer noch am ganzen Körper kribbelte, hatte das rein gar nichts zu sagen und hing allein damit zusammen, dass er so lange keine Frau mehr berührt hatte.

„Aber jetzt sag doch mal, warum ihr hier seid“, wiederholte er seine Frage von vorhin.

Sie wandte sich zu ihren Kindern um. „Hey, wie wär’s, wenn ihr zwei schon mal nach oben geht und schaut, in welchen Zimmern ihr schlafen wollt? Dann machen wir gleich zusammen die Betten.“

„Willst du uns nicht erst mal vorstellen, Mommy?“ Das kleine Mädchen wirkte beleidigt.

„Entschuldige, meine Süße.“ Gabriella legte einen Arm um ihre schmalen Schultern und zog sie an sich. „Carson, das hier ist meine Tochter Sophia. Und wie du dir bestimmt gedacht hast, ist das dort mein Sohn, Justin. Und das ist Mr. Rivers.“

Justin kam auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Sir“, sagte er ernst und wirkte dabei sehr erwachsen.

Carson schlug ein. „Ich freue mich auch. Aber du braucht nicht Sir zu mir zu sagen, Carson reicht.“

Die Kinder blickten fragend zu Gabriella hinüber, die kurz nickte. „So, ab nach oben mit euch“, wiederholte sie.

Erst nachdem die beiden die Treppe hochgelaufen waren, wandte Gabriella sich wieder Carson zu. Ihr Lächeln war erloschen, und sie ließ die Schultern hängen. Plötzlich wirkte sie überhaupt nicht mehr so sorglos wie eben. „Willst du dich nicht hinsetzen?“

Er schüttelte den Kopf. Schließlich war er nicht zu Besuch hier. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und wollte eigentlich nur noch nach Hause, sich ein Fertiggericht in der Mikrowelle warmmachen, um dann ein paar Stunden bei einer stumpfsinnigen Fernsehshow zu entspannen. Außerdem wollte er sich gar nicht erst daran gewöhnen, Zeit mit Gabriella zu verbringen. Soweit er das beurteilen konnte, war sie eine verheiratete Frau, und was er mit Raven erlebt hatte, war schwierig genug gewesen. „Was machst du hier in der Stadt?“, wollte er wissen.

Sie holte tief Luft und ließ dann den Atem entweichen. „Ich bin inzwischen geschieden. Mein Ex-Mann hat sofort wieder geheiratet, und seine neue Frau hat vor wenigen Monaten ein Baby bekommen. Jetzt hat Reggie keine Zeit mehr für Sophia und Justin. Er hat sie fallen lassen wie … Da fällt mir gerade kein passender Vergleich ein. Das tut den beiden ganz schön weh.“

Sie seufzte erneut. „Jetzt haben sie Sommerferien, und ich habe mir überlegt, dass uns allen ein Ortswechsel vielleicht guttut. Früher war ich immer sehr gern in Sweet Briar, da dachte ich, dass Justin und Sophia hier vielleicht auch ihren Spaß haben. Außerdem brauchen sie sich dann nicht ständig lahme Ausreden darüber anzuhören, warum ihr Vater sie schon wieder nicht abholt.“

Obwohl Gabriella ruhig und sachlich sprach, hörte Carson heraus, wie schmerzhaft die Situation für sie war. Vielleicht trauerte Gabriella ihrem Ex-Mann auch noch hinterher.

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