Romana Exklusiv Band 254

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HOCHZEIT AUF GRIECHISCH von BAIRD, JACQUELINE
Verstohlen wischt sich Helen eine Träne aus dem Auge, als sie auf ihren Bräutigam Leon Aristides zugeht. Denn der mächtige Tycoon will nur eine Vernunftehe, während Helen in seiner Villa am Fuße der Akropolis schon lange und besonders nachts von seiner Liebe träumt …

KÜSSE MEINE ZWEIFEL FORT von ASH, ROSALIE
Glühwürmchen leuchten, Grillen zirpen - die Nächte in dem französischen Château wären perfekt für ihren Honeymoon! Doch Indias Eheglück ist ganz plötzlich durch einen anonymen Brief getrübt: Ihr Bräutigam, der sexy Unternehmer Brad, soll ein dunkles Geheimnis haben …

SÜßE VERFÜHRUNG IN VENEDIG von FIELD, SANDRA
"Ich möchte dich verführen", haucht Tess ihm zu. Verlegen und verliebt bis über beide Ohren steht sie vor Cade Lorimer. Der attraktive Hotelier hat ihr schon ganz Venedig zu Füßen gelegt. Nun wünscht sie sich so sehr, dass er sie in seine Arme zieht. Doch Cade zögert …


  • Erscheinungstag 13.02.2015
  • Bandnummer 254
  • ISBN / Artikelnummer 9783733740160
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jacqueline Baird, Rosalie Ash, Sandra Field

ROMANA EXKLUSIV BAND 254

JACQUELINE BAIRD

Hochzeit auf Griechisch

Eine schlichte, zweckmäßige Trauung war geplant – und nun schreitet ihm Helen mit Rosen im Haar und einem atemberaubenden Brautkleid entgegen! Leon Aristides ist gefangen zwischen Verwirrung und Faszination. Eigentlich ging es ihm bei dieser Heirat nur um das Sorgerecht für seinen kleinen Neffen, den Helen großzieht. Doch nun geht es um unsagbar viel mehr …

ROSALIE ASH

Küsse meine Zweifel fort

Der welterfahrene Millionär Brad Carne ist eigentlich Herausforderungen gewöhnt. Aber jetzt steht er vor einer ganz besonderen: Er muss seine frisch angetraute Braut India zurückerobern! Warum ist die Frau, die ihm noch gestern ewige Liebe und Treue schwor, Hals über Kopf vor ihm in das Familienschloss nach Frankreich geflohen?

SANDRA FIELD

Süße Verführung in Venedig

Bisher hat der schwerreiche Geschäftsmann Cade Lorimer zu keinem Liebesabenteuer Nein gesagt. Doch bei der so süß unerfahrenen Tess will er stark bleiben. Schließlich hat ihr Großvater ihn gebeten, auf sie aufzupassen. Aber eines Abends, der Mond ist eben über der Lagune aufgegangen, steht Tess plötzlich in einem verführerischen Nachthemd vor seiner Hotelsuite …

1. KAPITEL

Im Februar nach England zu reisen, dafür hätte er sich nie freiwillig entschieden. Gefrierender Regen schlug unablässig gegen die Windschutzscheibe des Wagens und nahm Leon Aristides fast die Sicht. Gestern Morgen war er noch in Athen gewesen. Dort war ihm auch der Brief eines Londoner Anwalts namens Mr Smyth zugestellt worden, dessen Inhalt ihn zutiefst erschütterte.

Ganz offensichtlich kannte der Mann den Artikel in der Financial Times, in dem über einen leichten Kursrückgang der Aristides-International-Aktien berichtet wurde. Leon hatte darauf hingewiesen, dass dies nur eine verständliche Reaktion des Marktes auf den tragischen Unfalltod seiner Schwester und seines Vaters, dem Direktor der Bank, sei. Der Wert der Anteile würde jedoch bald wieder steigen. Besagter Mr Smyth behauptete jedoch, Delia Aristides sei seine Klientin. Außerdem forderte er einen Beweis für ihren Tod, da ihr Testament in seiner Kanzlei hinterlegt sei.

Zunächst hielt Leon es für einen schlechten Scherz. Der Name Aristides erschien nur selten in der Zeitung. Als Bankiersfamilie gehörten sie zu der Art wohlhabender Elite, die nicht auf Publicity und Berühmtheit aus waren. Sie schützten ihre Privatsphäre so sehr, dass die Öffentlichkeit kaum von ihrer Existenz wusste. Aber nach einem kurzen Telefonat mit eben jenem Mr Smyth wusste er, dass der Mann es ernst meinte. Wenn Leon nicht rasch handelte, könnte sich die wohlgehütete Anonymität in Luft auflösen. Dann endlich hatte er sich den Inhalt des Bankschließfachs seiner verstorbenen Schwester angesehen. Schon vor Wochen hätte er das tun sollen.

Wie erwartet, befanden sich darin die Juwelen, die ihre Mutter Delia vererbt hatte. In dem Fach entdeckte Leon jedoch auch die Kopie eines Testaments, aufgesetzt von jenem Mr Smyth in London, von Zeugen offiziell unterschrieben und beglaubigt. Und dieses Testament widersprach in einigen Punkten dem Letzten Willen, den Delia mit achtzehn Jahren auf Wunsch ihres Vaters verfasst hatte.

Die neuen Informationen in diesem Schriftstück erzürnten Leon so sehr, dass er fast seinem ersten Impuls nachgegeben und das Testament in tausend Stücke zerrissen hätte. Binnen Sekunden gewann er seine eiserne Selbstkontrolle aber zurück. Nachdem er einen seiner Anwälte angerufen hatte, dachte er anschließend lange und sehr sorgfältig über das Gespräch nach.

In einem weiteren Telefonat mit Mr Smyth vereinbarte er einen Termin für den folgenden Tag. Bei Sonnenaufgang ging Leon an Bord seines Privatjets und flog nach London. Die Unterredung mit dem Anwalt bestätigte die schockierenden Neuigkeiten.

Sobald Leon den Tod seiner Schwester in dem ersten Telefonat bestätigt hatte, hatte der Anwalt einen Brief an eine gewisse Miss Heywood geschickt. Jenes Schreiben setzte die Empfängerin über Delias Tod in Kenntnis und informierte sie darüber, dass sie im Testament benannt war. Dagegen konnte Leon nichts mehr unternehmen.

Jetzt lenkte er den Mietwagen in eine Einfahrt. Normalerweise ließ er sich von einem Chauffeur fahren, aber diese Angelegenheit musste geheim bleiben, bis er die Situation vollständig einschätzen konnte. Er hielt den Wagen an und blickte zum Haus. Das große verwinkelte Steinhaus lag eingebettet in den sanften Hügeln der Cotswolds. Überraschenderweise befand es sich auf dem weitläufigen Grundstück einer luxuriösen Hotelanlage, die von einer Mauer umgeben war.

Aus diesem Grund war er auch immer an der Zufahrt zum Fox-Tower-Hotel vorbei und drei Mal um das gesamte Areal herumgefahren, ohne die Hoteleinfahrt mit Miss Heywoods Haus in Verbindung zu bringen. So viel zum Thema satellitengesteuertes Navigationsgerät. Schließlich hatte Leon frustriert vor dem Hotel geparkt und ein Zimmer für die Nacht gebucht. Denn augenscheinlich würde er eines brauchen, wenn er nicht bald diese Miss Heywood aufspürte. Dank einiger beiläufiger Fragen gelang es ihm schließlich herauszufinden, wo sich das Haus befand und warum er so verdammt lange gebraucht hatte, um es zu finden. Sofort hatte er sich wieder hinters Lenkrad gesetzt, um die fünfhundert Meter nicht zu Fuß und im Regen zurückzulegen.

Aus einem Fenster im Erdgeschoss drang ein sanfter Lichtschein, was Leon an diesem verregneten Tag nicht wunderte. Hoffentlich bedeutete es, dass Helen Heywood zu Hause war. Er hatte darüber nachgedacht, sie anzurufen, dann jedoch entschieden, sie besser nicht vorzuwarnen. In jedem Kampf war das Überraschungsmoment die beste Waffe – und Leon war fest entschlossen zu gewinnen.

Ein listiges Funkeln erschien in seinen Augen, als er aus dem Wagen stieg und die mit Kies bestreute Einfahrt betrat. Falls Miss Heywood nicht schon Mr Smyth’ Brief erhalten hatte, was höchst unwahrscheinlich war, stand der Dame ein großer Schock bevor. Leon straffte die breiten Schultern, ging mit entschiedenen Schritten auf die Haustür zu und klingelte.

Wieder kein Freizeichen. Langsam legte Helen den Telefonhörer zurück auf die Gabel. Ihre beste Freundin Delia Aristides führte ein hektisches Leben, doch für gewöhnlich rief sie einmal in der Woche an und kam jeden Monat zu Besuch. Gut, seit Delia im Juli nach Griechenland zurückgekehrt war, hatte sie ein oder zwei Anrufe verpasst. Aber das letzte Telefonat lag schon sechs Wochen zurück. Was alles noch schlimmer machte: Delia hatte ihrem Sohn Nicholas versprochen, ihn auf jeden Fall nach Neujahr zu besuchen. Doch nachdem sie schon die letzten drei Besuche verschoben hatte, war auch bei diesem in letzter Minute etwas dazwischengekommen. Seitdem hatte Helen nichts mehr von ihrer Freundin gehört.

Delias Verhalten war Nicholas und ihr selbst gegenüber einfach nicht fair. Nicholas hatte den Morgen in der Kinderkrippe verbracht. Nachdem Helen ihn abgeholt und ihm den Lunch zubereitet hatte, hielt er nun seinen Nachmittagsschlaf. In spätestens einer Stunde würde er aufwachen. Bis dahin wollte sie mit Delia gesprochen haben. Leider besaß sie nur Delias Handynummer. Allmählich wusste Helen nicht mehr weiter.

Sie verzog das Gesicht und griff nach der Post. Vielleicht war ein Brief von Delia dabei, doch das blieb im Grunde eine trügerische Hoffnung. In all den Jahren, die sie einander kannten, hatte ihre Freundin noch nie einen Brief geschrieben. Eine Postkarte zu Weihnachten oder zum Geburtstag kam dem noch am nächsten. Telefon oder E-Mail waren Delias bevorzugte Kommunikationsmittel.

Es klingelte an der Haustür. Helen legte die Post zurück auf den kleinen Beistelltisch in der Diele und seufzte, als die Klingel ein zweites Mal ertönte. Wer in aller Welt mochte das sein?

„Ist ja gut, ich komme ja schon“, murmelte sie, als der unbekannte Besucher unablässig den Klingelknopf drückte. Wer auch immer es war, Geduld gehörte nicht zu seinen Stärken. Helen öffnete die Tür.

Leon Aristides. Sie erstarrte, ihr Griff um die Türklinke wurde fester, Helen wollte ihren Augen nicht trauen. Einen winzigen Moment lang fragte sie sich, ob sie vergessen hatte, ihre Kontaktlinsen einzusetzen. Womöglich gaukelte ihre Fantasie ihr etwas vor.

„Hallo, Helen“, begrüßte er sie mit tiefer Stimme.

Und auch wenn sie kurzsichtig war, mit ihren Ohren stimmte alles. Oh, mein Gott, Delias Bruder! Hier, vor ihrer Tür!

„Guten Tag, Mr Aristides.“ Die höfliche Erwiderung kam ihr wie automatisch über die Lippen, ihr Blick hingegen irrte schockiert über seine kräftige Gestalt. Mindestens einen Meter achtzig groß, gekleidet in einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und Seidenkrawatte. Leon hatte sich kaum verändert, seit sie ihn vor Jahren das letzte Mal gesehen hatte.

Mit den von schweren Lidern überschatteten dunklen Augen, den hohen Wangenknochen, der geraden Nase und dem großen sinnlichen Mund wirkte er eher hart als schön. Aber er war durchaus attraktiv, auf eine sehr maskuline Art. Und bedauerlicherweise übte er auf Helen immer noch denselben verstörenden Effekt aus wie damals. Rasch schob sie das flaue Gefühl in ihrem Magen auf ihre Nerven. Einfach unmöglich, dass sie sich immer noch vor diesem Mann fürchtete. Sie war sechsundzwanzig, nicht mehr siebzehn.

„Das ist ja eine Überraschung. Was tun Sie denn hier?“, fragte sie endlich und musterte ihn wachsam.

Vor neun Jahren hatte sie Delia ein einziges Mal zu ihrem Familienurlaub in Griechenland begleitet. Leon Aristides hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen, er war zynisch, arrogant und unbeschreiblich männlich.

Sie war gerade den Strand entlanggeschlendert, als eine tiefe Stimme nach ihr rief und wissen wollte, wer sie sei. Helens Blick fiel auf einen Mann, der im seichten Wasser stand. Sie wusste, dass sie sich auf einem Privatstrand aufhielt, aber als Delias Gast hatte sie jedes Recht, hier zu sein. Unbedarft wie sie war, rief sie eine Antwort und begann, auf den Fremden zuzugehen. Als ihre Sicht schärfer wurde, nannte sie ihren Namen und streckte zur Begrüßung lächelnd die Hand aus. Dann blieb Helen abrupt stehen und musterte den Unbekannten wie gebannt.

Er war groß, muskulös und hatte ein weißes Handtuch um die Hüften geschlungen. Sein bronzefarbener Körper wirkte perfekt definiert, selbst Michelangelo hätte keine bessere Skulptur schaffen können.

Ihre Blicke trafen sich, und Helen stockte der Atem. Etwas Dunkles und Gefährliches funkelte in den Tiefen seiner schwarzen Augen, das ihren Herzschlag beschleunigte. Alle Instinkte befahlen ihr wegzulaufen, doch die überwältigende physische Präsenz des Mannes nahm sie gefangen. Endlich antwortete er, und seine sarkastischen Worte hallten den ganzen Tag über wieder und wieder durch ihren Kopf.

„Ich fühle mich geschmeichelt, und Sie sind offensichtlich zu allem bereit, aber ich muss ablehnen. Ich bin ein verheirateter Mann. Sie sollten nachfragen, bevor Sie jemanden mit Blicken ausziehen.“

Damit hatte er sich abgewandt und war gegangen. Niemals zuvor oder später hatte Helen sich so sehr geschämt.

„Ich bin jedenfalls hier.“ Der Klang seiner Stimme brachte sie zurück in die Gegenwart. „Wir müssen uns unterhalten.“ Er lächelte, doch das Lächeln erreichte nicht seine Augen.

Helen wollte nicht mit ihm sprechen. Allein der Gedanke daran ließ sie erschauern.

Nach jenem ersten Treffen hatte sie während ihres restlichen Urlaubs in Griechenland versucht, ihm aus dem Weg zu gehen. Das stellte sich als nicht allzu schwer heraus. Der kontinuierliche Besucherstrom in der Villa der Aristides’ machte es zwei jungen Mädchen leicht, unbemerkt zu bleiben. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn seine Gesellschaft unvermeidlich war, begegnete sie Leon mit kühler Höflichkeit. Als kurz vor der Abreise seine wunderschöne Ehefrau Tina eintraf, konnte Helen sich nur verwundert fragen, was eine so lebenslustige Amerikanerin an diesem distanzierten zynischen Mann fand.

Für Helen jedoch bestätigten der Sarkasmus und die Reserviertheit der männlichen Aristides’ nur, was Delia ihr im Internat anvertraut hatte. Dort waren sie einige Jahre zuvor Freundinnen geworden.

Offiziell besuchte Delia das Internat, um ihre Englischkenntnisse zu verbessern. Doch der wahre Grund bestand vielmehr in der Ansicht von Vater und Bruder, dass Delia die Disziplin einer reinen Mädchenschule benötigte. Man hatte sie beim Rauchen und beim Flirten mit einem Fischerjungen erwischt. Laut Delia war das nun wirklich keine große Sache. Insgeheim hegte das Mädchen damals den Verdacht, ihr Vater gebe ihr die Schuld am Selbstmord seiner Frau. Deshalb, glaubte Delia, wollte er sie nicht in seiner Nähe haben.

Sowohl ihren Bruder als auch ihren Vater nannte sie einen halsstarrigen Chauvinisten. Als extrem konservative Banker hatten sie ihr Leben dem Familienunternehmen und dem Geldverdienen gewidmet. Frauen wurden wie finanzielle Anlagen gewählt, die nur dazu dienten, das Geschäftsimperium zu vergrößern.

Anders als ihre Mutter und ihre Schwägerin hatte sie nicht die Absicht zu heiraten, nur um der Bank einen lukrativen Vorteil zu verschaffen. Bis Delia fünfundzwanzig war, wollte sie Single bleiben. Danach würde sie nach dem Testament ihrer Mutter ihren Anteil an den Aktien der Aristides-International-Bank bekommen. Dagegen konnte Delias Vater nichts unternehmen. In den letzten Jahren hatte Helen ihrer Freundin dabei geholfen, dieses Ziel zu erreichen.

Während sie sich noch Delias schlechte Meinung über Leon ins Gedächtnis rief, schaute Helen den großen breitschultrigen Mann an, der vor ihr stand. Der Regen hatte sein schwarzes Haar durchnässt. Aber er strahlte immer noch dieselbe verhängnisvolle Aura aggressiver Männlichkeit aus wie damals.

„Bitten Sie mich nicht herein?“ Seine dunklen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Oder haben Sie die Angewohnheit, Besucher tropfnass und frierend auf der Türschwelle stehen zu lassen?“, fragte er spöttisch.

„Entschuldigung, ja … nein“, erwiderte sie stockend. „Kommen Sie herein.“ Sie trat einen Schritt zurück, und er drängte sich an ihr vorbei. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, nahm Helen all ihre Selbstbeherrschung zusammen und meinte kühl: „Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, was wir zu besprechen hätten, Mr Aristides.“

Warum war er hier? Hatte Delia ihrer Familie endlich die Wahrheit gesagt? Aber weshalb hatte sie dann nicht angerufen? Plötzlich empfand sie die Tatsache als ernsthaft bedrohlich, so lange nichts von Delia gehört zu haben. Bislang hatte Helen sich um Nicholas gesorgt, jetzt machte sie sich Sorgen um ihre Freundin.

„Nicholas.“

„Sie wissen von ihm!“, rief Helen aus und blickte ihn aus veilchenblauen Augen erschrocken an. „Dann hat Delia Sie eingeweiht.“

Sie hatte immer gewusst, dass Delia ihrer Familie eines Tages von dem unehelichen Sohn erzählen und ihn zu sich nehmen würde. Allerdings überraschte Helen, dass es schon so weit war. Auch der unglaublich tiefe Schmerz, den sie jetzt spürte, traf sie unerwartet.

„Nein, nicht Delia“, entgegnete er knapp. „Ein Anwalt.“

„Ein Anwalt …“, wiederholte Helen hilflos. Die Berufsbezeichnung erfüllte sie mit einer dunklen Vorahnung. Um ein wenig Zeit zu gewinnen und ihre Gedanken zu ordnen, durchquerte sie den Flur und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. „Hier drinnen werden Sie es bequemer haben.“

Sie deutete auf eines der beiden Sofas, die einen alten Kamin flankierten, in dem ein helles Feuer flackerte. „Bitte, setzen Sie sich“, fuhr sie nervös fort. „In der Zwischenzeit koche ich Ihnen einen Kaffee.“ Dann bemerkte sie, wie ein Wassertropfen aus seinem Haar über seine Wange lief. „Und Sie brauchen ein Handtuch.“

Hastig machte sie kehrt, griff nach ihrer Tasche, die noch auf dem Tisch im Flur lag, und flüchtete in die Küche.

Natürlich bemerkte Leon Aristides ihre Nervosität. Tatsächlich hatte er jedes Detail an Miss Heywood registriert, seit sie ihm die Haustür geöffnet hatte. Die auf der Hüfte sitzende blaue Jeans war ihm aufgefallen, genau wie der enge blaue Pullover, unter dem sich feste Brüste abzeichneten. Ihre Haare waren länger, aber ansonsten sah sie nicht älter aus als an dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Damals hatte sie absolut entzückend ausgesehen und ihm ein verführerisches Angebot gemacht. Beinah wäre er schwach geworden.

Erst spät in der Nacht hatte er damals die Villa seiner Familie erreicht. Im Morgengrauen des nächsten Tages war er nackt im Meer geschwommen. Als er aus dem Wasser ging, sah er sie, wie sie auf ihn zukam. Helles lockiges Haar umrahmte ihr blasses Gesicht. Die großen Augen, die gerade kleine Nase und der volle sinnliche Mund verliehen ihr eine natürliche Schönheit. Sie trug ein langärmeliges, bis zu den Knöcheln reichendes weißes Sommerkleid. Es sollte bestimmt tugendhaft wirken, doch in der hinter ihr aufgehenden Sonne wurde der feine Stoff fast durchsichtig. Darunter war ihre winzige weiße Unterwäsche deutlich zu erkennen.

Als er jetzt vor seinem geistigen Auge wieder die festen kleinen Brüste, die schmale Taille, die femininen Hüften und die wohlgeformten Beine sah, verschränkte er unbehaglich die Arme vor der Brust. Unbeirrt war die blonde Frau damals auf ihn zugegangen, den Blick fest auf ihn gerichtet. Er hatte sie gefragt, wer sie war und was sie an diesem Strand tat.

Seine Nacktheit schien ihr überhaupt nicht peinlich zu sein, denn sie erwiderte fröhlich, sie möge den frühen Morgen, bevor die Sonne zu heiß werde. Allein ihr Anblick erregte ihn, weshalb er sich eilig ein Handtuch um die Hüften schlang.

„Ich bin Helen“, stellte sie sich vor. „Delias Freundin aus der Schule.“ Unmittelbar vor ihm blieb sie stehen und streckte die Hand aus.

Ihre von dichten schwarzen Wimpern umrandeten Augen schimmerten in einem hellen Blauton und voller geheimer Verheißungen. Leon war versucht, auf ihr augenscheinliches Angebot einzugehen, als ihm einfiel, dass sie nicht älter als fünfzehn sein konnte.

Nach einigen spöttischen Bemerkungen war sie gegangen. Sein Ärger hatte jedoch mehr seiner eigenen Reaktion als ihrem Verhalten gegolten.

Als Helen ihm vorhin die Tür geöffnet und ihm mit denselben veilchenblauen Augen angesehen hatte, waren dieselben Empfindungen wie damals in ihm erwacht. Das erstaunte ihn, da sie ganz und gar nicht seinem Frauentyp entsprach.

Das Bild seiner momentanen Geliebten drängte sich in seine Gedanken. Louisa, eine weltgewandte, große, schlanke Brünette. Seit zwei Monaten hatte Leon sie nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich reagierte er deshalb so heftig auf Helen Heywood. Sie war das genaue Gegenteil von Louisa. Eine hellhäutige Blondine, nicht größer als eins sechzig. Dabei musste die unschuldig aussehende Miss Heywood die hinterlistigste und geldgierigste Frau sein, der er je begegnet war – und er hatte schon viele getroffen.

Nun, jetzt war er gewarnt. Sie ist keine Bedrohung mehr für mich, überlegte er und schloss kurz die Augen. Gott, er war so müde! Für einen Mann wie ihn, der lebte, um zu arbeiten, war das ein großes Eingeständnis. Die letzten Wochen waren aber auch die Hölle gewesen.

Alles begann mit einem Anruf, den Leon kurz nach Neujahr in seinem Büro in der Aristides-International-Bank in Athen entgegengenommen hatte. Sein Vater und seine Schwester waren in einen Unfall verwickelt.

Weihnachten und Silvester hatten sie noch gemeinsam auf der griechischen Insel verbracht. Am darauf folgenden Nachmittag war Leon abgereist, um nach New York zu fliegen. An diesem Morgen war er nach Athen zurückgekehrt, um seinen Vater in der Bank zu treffen.

Immer wieder schritt er den Flur vor dem Operationssaal des Krankenhauses auf und ab. Keiner der Krankenhausangestellten wagte, Leon anzusprechen. Vor der Flügeltür des Operationssaals blieb er stehen und fragte sich, wie lange er schon hier wartete. Nach einem Blick auf die Armbanduhr wusste er, dass erst vierzig Minuten vergangen waren.

Vor weniger als einer Stunde hatten sie den schwer verletzten Körper seiner Schwester in den Operationssaal geschoben. Vor drei Stunden hatte Leon erfahren, dass sein Vater bei dem schrecklichen Verkehrsunfall sofort gestorben war.

Wie zum Teufel hatte das alles geschehen können? fragte er sich zum tausendsten Mal. Dieselbe Frage hatte er schon dem Krankenhauspersonal und der Polizei gestellt. Delia war gefahren, ihr Vater auf dem Beifahrersitz. Aus irgendeinem Grund hatte sie die Kontrolle über den Wagen verloren, der in eine Schlucht gestürzt war. Die Ärzte hatten sich nur sehr zögerlich über die Genesungsaussichten seiner kleinen Schwester geäußert. Ihr Zustand sei sehr kritisch, hieß es, sie würden alles in ihrer Macht Stehende tun.

Erschöpft ließ Leon sich in einen Sessel gegenüber der Flügeltür sinken. Er lehnte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen, um die Realität der Situation wenigstens einen Moment auszublenden.

Sein Vater war tot, aber seine Schwester kämpfte hinter den verschlossenen Türen vor ihm um ihr Leben. Niemals zuvor hatte Leon sich so hilflos gefühlt.

Ein starkes Déjà-vu-Erlebnis umfing ihn. Vor vier Jahren hatte er in einem Krankenhaus in New York ebenfalls auf den Ausgang der Operation gewartet. Seine Ehefrau Tina hatte damals einen Verkehrsunfall erlitten. Ihr Beifahrer, der Fitnesstrainer, war wie Leons Vater sofort tot gewesen.

Er lächelte bitter und zynisch. Später hatte der Arzt ihm gesagt, seine Frau sei auf dem Operationstisch gestorben. Aber ihr Baby, einen Jungen, hätten sie retten können. Einen winzigen Moment lang war Hoffnung in Leon aufgekeimt, doch der Arzt hatte schon weitergesprochen: „Jedoch sind die Verletzungen sehr schwer. Es besteht kaum eine Überlebenschance.“ Wenige Stunden später hatte das Herz des Kindes aufgehört zu schlagen.

„Mr Aristides.“ Er öffnete die Augen und betete schweigend, dieser zweite Unfall würde einen glücklicheren Ausgang haben. Während der Arzt auf Leon zueilte, erhob er sich von dem Sessel.

„Die Operation war erfolgreich. Ihre Schwester befindet sich bereits auf der Intensivstation.“ Leon stieß ein erleichtertes Seufzen aus, doch das gute Gefühl hielt nicht lange an, denn der Arzt fuhr fort: „Es gab einige Komplikationen. Sie hat eine Menge Blut verloren, und ihre Nieren versagen. Auch die Reste von Rauschmitteln in ihrem Körper sind einer Heilung nicht gerade förderlich. Wir tun, was wir können. Wenn Sie möchten, können Sie sie jetzt kurz besuchen. Die Krankenschwester zeigt Ihnen den Weg.“

Er hatte sich immer noch nicht von dem Schock erholt, dass seine Schwester Drogen nahm, als sie zwei Stunden später starb.

Als Leon jetzt die Augen aufschlug, blickte er sich in dem sehr behaglich eingerichteten Wohnzimmer um. Falls er geglaubt hatte, dass es nicht schlimmer kommen könne, war er gestern eines Besseren belehrt worden. Der Drogenkonsum seiner Schwester hatte ihn entsetzt. Danach ereilte Leon ein weiterer heftigerer Schock.

Die intelligente, wohlerzogene junge Dame, zu der Delia – wie er geglaubt hatte – herangewachsen war, hatte dank der Hilfe von Helen Heywood seit Jahren ein Doppelleben geführt. Er erinnerte sich daran, wie seine Schwester einst behauptet hatte, sie hätte jeden Kontakt zu Helen seit dem Studienbeginn verloren.

Selbst einen Zyniker wie ihn entsetzten Delias schauspielerische Fähigkeiten im Nachhinein, mit denen sie ihre Familie seit Jahren getäuscht hatte. Auch wenn er es ihr vielleicht nicht immer gezeigt hatte, er liebte seine Schwester. Ihr Verrat verletzte ihn. Als Mann, der wenig von Gefühlen hielt und jene verachtete, die sie allzu offen zeigten, war dies eine tief greifende Erkenntnis. Und er wusste genau, wer dafür verantwortlich gemacht werden konnte.

Seine Schwester war tot, aber Miss Heywood war ihm verdammt viele Antworten schuldig. Und er würde nicht eher ruhen, bis er alle erhalten hatte.

2. KAPITEL

Helen stand in der Küche und beobachtete, wie der heiße Kaffee langsam in die Kanne tropfte. Leon Aristides saß nebenan. Er war hier in ihrem Haus, und er wusste über Nicholas Bescheid. So schlimm ist das nicht, beruhigte sie sich. Dann wusste er eben, dass Delia einen unehelichen Sohn hatte, um den Helen sich kümmerte. Vielleicht hatte Delia sich endlich ihrem Vater anvertraut. Der war vermutlich mit einem Anwalt in Kontakt getreten, welcher wiederum Leon informiert hatte. Dennoch blieb die Situation seltsam. Es gab viel zu viele Vielleichts!

Zumindest hätte Delia mich warnen können, dachte sie verärgert. Warum musste ihre Freundin sie überhaupt in diese unangenehme Situation bringen. Helen zog ihr Handy aus der Tasche und wählte noch einmal Delias Nummer. Die Leitung war immer noch tot.

Fünf Minuten später kehrte sie mit einem Handtuch und einem Tablett, auf dem eine Kaffeekanne und Tassen standen, ins Wohnzimmer zurück. „Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat“, sagte sie, stellte das Tablett auf den Tisch und reichte Leon das Tuch.

Wortkarg nahm er es entgegen und begann, seine glänzenden schwarzen Haare zu trocknen. Mit der zerzausten Frisur war die Ähnlichkeit zu Nicholas unverkennbar.

Sie nahm ihm gegenüber auf dem zweiten Sofa Platz. „Wie trinken Sie Ihren Kaffee, Mr Aristides?“, fragte sie kühl.

„Schwarz, ein Stück Zucker. Und lassen Sie den Mr Aristides weg. Leon reicht völlig … schließlich sind wir alte Freunde.“

„Wenn Sie das sagen“, murmelte sie. Sein Name wollte jedenfalls nicht über ihre plötzlich trockenen Lippen kommen. Und was die „alten Freunde“ anging – das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Höflich schenkte sie Kaffee ein und reichte ihrem Gast eine Tasse. Als sich ihre Hände flüchtig berührten, zuckte Helen zurück. Ihre Blicke trafen sich. Für eine Sekunde sah sie in den Tiefen seiner dunklen Augen etwas Unheilvolles aufblitzen, das gleich wieder verschwand. Trotzdem bekam sie ein flaues Gefühl im Magen.

Ein wenig aus der Fassung gebracht, aber fest entschlossen, es ihm nicht zu zeigen, trank Helen einen Schluck Kaffee. Langsam stellte sie die Tasse ab. „Vielleicht könnten Sie mir jetzt sagen, warum ein Anwalt Sie über Nicholas informiert hat? Hat Delia ihrem Vater endlich die Wahrheit gesagt?“

Leon leerte seine Tasse. Sein Blick ruhte kühl auf Helen. „Ich nehme an, mit Wahrheit meinen Sie, dass meine verrückte Schwester ein uneheliches Kind zur Welt brachte – einen Sohn, von dem ihre Familie nichts wusste. Einen Sohn, um den Sie sich seit seiner Geburt kümmern … Sprechen Sie von dieser Wahrheit?“ Seine dunklen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als ein schuldbewusster Ausdruck ihr Gesicht überschattete.

„Dass meine eigene Schwester so hinterlistig sein könnte, ihrem Vater seinen Enkel vorzuenthalten, ist schon kaum zu glauben. Und dass Sie ihr mit Unterstützung Ihres Großvaters dabei geholfen haben, ist absolut beschämend, wenn nicht kriminell …“

„Moment mal“, fiel Helen ihm ins Wort. „Mein Großvater ist einige Monate vor Nicholas’ Geburt gestorben.“

„Das tut mir leid. Ich entschuldige mich, Ihren Großvater verleumdet zu haben. Aber das stellt Ihre Taten in kein besseres Licht.“

„Das einzige Vergehen, von dem ich weiß, ist, dass Ihr Vater Delia zu der Verlobung mit einem entfernten Cousin gezwungen hat. Letztes Jahr, als sie in Griechenland war. Dieser Mann wurde nur ausgewählt, damit das Vermögen in der Familie bleibt. Delia ist nicht verrückt, ganz im Gegenteil. Sie wusste, dass ihr Vater sie verheiraten wollte, und hat einige Vorkehrungen getroffen“, entgegnete Helen mit Nachdruck. „Sie hat versucht, eine Heirat so lange wie möglich hinauszuzögern. Deshalb hat sie nach einem Jahr das Studienfach gewechselt: um länger zu studieren. Und aus demselben Grund hat sie sich auch anschließend für das Aufbaustudium eingeschrieben“, verteidigte sie ihre Freundin. Helen mochte Leon Aristides nicht, und noch weniger gefielen ihr seine abfälligen Kommentare.

„Da wissen Sie scheinbar mehr als ich“, erwiderte er und musterte sie eingehend.

Sie senkte den Kopf, damit er die Angst nicht in ihren Augen lesen konnte. Es sah Helen gar nicht ähnlich, sich so zu verplappern.

„Dazu kann ich nichts sagen.“ Sie zuckte leicht und – wie sie hoffte – nonchalant, die Schultern. „Aber ganz offensichtlich hat Delia ihre Meinung über Nicholas geändert, sonst wären Sie nicht hier. Als ich vor ein paar Wochen mit ihr sprach, hat sie nichts dergleichen angedeutet. Und soweit ich weiß, hat sie immer noch nicht die Absicht, diesen Cousin zu heiraten. Delia hat der Verlobung nur zugestimmt, um ihren Vater bei Laune zu halten – bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag im Mai, wenn sie das Erbe ihrer Mutter antritt. Wenn ihr Vater dann keine Macht mehr über sie hat, wird sie der ganzen Welt von ihrem Kind erzählen.“

„Diese Chance wird sie nie bekommen“, erwiderte er hart.

„Delia hatte absolut recht, was Sie angeht!“, rief Helen. „Sie sind …“

„Delia ist tot, genauso wie mein Vater“, unterbrach er sie brüsk. „Sie hatten einen Autounfall.“ Er sprach vollkommen emotionslos, als hätte er die Worte schon unzählige Male zuvor aufgesagt. „Mein Vater war sofort tot, Delia ist ein paar Stunden später im Krankenhaus gestorben, ohne noch einmal das Bewusstsein zu erlangen.“

In ohnmächtigem Schweigen starrte Helen ihn an. Sie konnte es einfach nicht glauben, sie wollte es nicht glauben.

„Tot … Delia ist tot“, murmelte sie. „Das ist unmöglich.“

„Der Unfall ereignete sich am fünfzehnten Januar. Drei Tage später fand die Beerdigung statt.“

Plötzlich, als würde eine mächtige Woge des Grauens auf sie einstürzen, erkannte Helen mit fassungsloser Klarheit, dass Leon Aristides die Wahrheit sagte. Das Herz zog sich schmerzhaft in ihrer Brust zusammen. Um gegen die brennenden Tränen anzukämpfen, schloss Helen die Augen. Doch es war vergebens. Salzige Tränen liefen ihr über die Wangen. In einem verzweifelten Versuch, sich zusammenzunehmen, verschränkte sie die Arme.

Delia, die wunderschöne und mutige Delia, ihre Freundin und Vertraute … tot.

Sie erinnerte sich noch genau an den Moment, in dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Das extrovertierte griechische Mädchen und die schüchterne zurückhaltende Engländerin.

Helen war erst vierzehn gewesen, als ihre Eltern bei einem Skiunfall ums Leben kamen. Damals hatte ihr Vater als IT-Berater für eine Schweizer Bank in Genf gearbeitet. Am Wochenende war die kleine Familie zu einem Ausflug in die Alpen aufgebrochen. Eine Lawine hatte die Eltern unter sich begraben und Helen gegen einen Baum geschleudert. Erst Stunden später war sie gerettet worden. Ihr Becken war gebrochen, und sie hatte ihr Augenlicht verloren. Ob die Blindheit von den langen Stunden im gleißend weißen Schnee herrührte oder eine psychische Reaktion war, ließ sich nicht mit Sicherheit feststellen. Helen hatte den Tod ihrer Eltern mit ansehen müssen.

Sie kehrte nach England zurück und lebte bei ihrem Großvater. Ganz langsam besserte sich ihr Zustand. Schließlich konnte sie sogar wieder zur Schule gehen, als Tagesschülerin ins nahe gelegene Internat. Obwohl sie zwei Jahre älter war als die anderen, besuchte sie dieselbe Klasse wie Delia. Sie machte sich für sie stark, als die Klassenkameraden Helen wegen der getönten Brille hänselten, die sie damals noch hatte tragen müssen. Von diesem Tag an waren die beiden Mädchen Freundinnen. Die Wochenenden verbrachte Delia oft bei Helen und ihrem Großvater.

Seit einem Schlaganfall war der alte Mann an den Rollstuhl gefesselt. Auch als Helen das Internat verließ, um sich um ihren Großvater zu kümmern, besuchte Delia die beiden regelmäßig. Während sie in London studierte, hielten sie Kontakt per Telefon und E-Mail. Zwei Jahre später stand eine blasse und traurige Delia unerwartet vor Helens Tür.

„Offensichtlich ist diese Nachricht ein Schock für Sie, und es tut mir sehr leid, Sie in Ihrer Trauer zu stören“, unterbrach eine dunkle samtige Stimme, die ganz und gar nicht mitfühlend klang, Helens Gedanken. „Aber ich bin hergekommen, um meinen Neffen zu sehen und über seine Zukunft zu sprechen.“

Die Lippen zusammengepresst, hob Helen den Kopf. Seine eisige Miene ließ sie zusammenzucken. Wenn dieser Mann den Verlust von Vater und Schwester betrauerte, ließ er sich nichts davon anmerken. Er wirkte hart wie Granit. Unvermittelt verdrängte die Furcht um Nicholas’ Zukunft Helens Kummer.

„Nicholas schläft oben. Morgens geht er in den Kindergarten, und nach dem Lunch hält er Mittagsschlaf“, sagte sie und versuchte, die Gedanken zu ordnen. Intuitiv wusste sie, dass Delia ihren Sohn nicht in der Welt ihres Vaters hatte aufwachsen sehen wollen. Genauso wenig in Leon Aristides’ Welt. „Ich halte es für keine gute Idee, ihn jetzt aufzuwecken und zu sagen, dass seine Mutter tot ist“, stieß sie mühsam hervor.

„Das habe ich auch nicht vorgeschlagen.“ Er fuhr sich mit der Hand durch das schwarze dichte Haar. Einen Moment lang glaubte Helen, seelische Qualen in seinen dunklen Augen schimmern zu sehen.

Vielleicht litt Leon Aristides mehr, als der äußere Anschein vermuten ließ? Helen fiel ein, wie Delia einmal erzählt hatte, seine Frau und sein Baby seien bei einem Autounfall gestorben. Für ihn musste es doppelt schwer sein. Helen hatte ihre beste Freundin verloren, er seinen Vater und seine Schwester. Mitgefühl stieg in ihr auf.

„Später werden wir es ihm sagen müssen. Aber in der Zwischenzeit …“, Leon stand auf und trat einen Schritt auf sie zu, „… will ich einen Beweis für seine Existenz und den Jungen sehen.“

Helen biss die Zähne zusammen. Dieser zynische Kommentar vertrieb jedes verständnisvolle Gefühl bei ihr. „Natürlich.“ Auch sie erhob sich. Er stand viel zu nah bei ihr. Hastig wich sie zur Seite. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen“, meinte sie und ging auf die Tür zu.

Die Vorhänge waren geschlossen. Nur die wie ein Auto geformte Lampe auf dem Nachttisch, die Nicholas heiß und innig liebte, erhellte das Kinderzimmer. Auch das Bett erinnerte an ein Auto. Darin lag Nicholas auf dem Rücken und schlief.

Helen lächelte und strich zärtlich einige schwarze Locken aus der Stirn des Kindes. Sie hörte, wie Leon geräuschvoll einatmete, und wandte sich zu ihm um. Deutlich war die Anspannung seines Körpers sichtbar, während er seinen Neffen unverwandt ansah.

Helen mochte Leon nicht; sie fand ihn hart und zynisch. Und wenn sie ehrlich war, flößte er ihr Angst ein. Doch in diesem Moment wirkte er auch verletzlich wie ein Kind.

Schweigend zog sie sich zurück. Sie wollte ihm ein wenig Zeit geben, um sich an seinen Neffen zu gewöhnen, den er jetzt zum ersten Mal sah. Das musste sie ihm einfach zugestehen. Allerdings hat er keinen Anspruch auf das Sorgerecht für Nicholas, rief sie sich ins Gedächtnis.

Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen, als sie vor ihrem geistigen Auge Delia sah, wie sie an jenem Februarmorgen vor vier Jahren vor der Haustür gestanden hatte.

Sie war schwanger, weigerte sich jedoch rundheraus, ihrem Vater davon zu erzählen. Stattdessen bat sie ihre Freundin um Hilfe. Helen solle sich um das Baby kümmern, bis Delia ihr Erbe erhielt. Dann konnte sie ihren Vater zur Hölle wünschen und als unverheiratete Frau ihr Kind so großziehen, wie sie es für richtig hielt.

Ein trauriges Lächeln bildete sich um Helens Lippen. Auf ihre eigene Weise, dachte sie, war Delia genauso stur wie ihr Vater und ihr Bruder.

Unvermittelt schloss sich eine Hand um ihren Arm und riss Helen aus den Erinnerungen.

„Er ist eindeutig ein Aristides“, sagte Leon fast zärtlich und stellte sich direkt vor sie. „Sie und ich müssen uns wirklich unterhalten.“ Seine Berührung und die unerwartete Nähe ließen ihr den Atem stocken. „Sind Sie allein?“

Nach Luft ringend, hob Helen den Kopf. Ihr Blick traf auf den seinen. Plötzlich war ihr Mund wie ausgetrocknet, und ihr Puls begann zu rasen. Er bemerkte ihre Reaktion und betrachtete erst ihre leicht geöffneten Lippen, dann die sanft gerundeten Brüste, die der weiche Stoff ihres Pullovers nicht versteckte.

„Sie sind eine sehr attraktive Frau“, fügte Leon hinzu, während er ihr nun wieder ins Gesicht sah. „Vielleicht haben Sie einen Liebhaber?“

„Nein“, fuhr sie ihn an und errötete bis in die Haarspitzen.

„Das vereinfacht die Angelegenheit“, murmelte er und legte einen Finger auf ihren Mund. „Aber sch… wir wollen den Jungen doch nicht aufwecken.“

Ihre Lippen prickelten seltsam unter seiner Berührung. Doch bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er sie schon die Treppe zur Hälfte hinuntergeführt.

„Sie können mich jetzt loslassen.“ Endlich fand Helen ihre Stimme wieder.

Wortlos nahm er die Hand von ihrem Arm und ging zurück ins Wohnzimmer. Offensichtlich nahm Leon an, dass Helen ihm folgte. Sie blieb einen Augenblick am Fuß der Treppe stehen. Für wen zum Teufel hielt er sich, dass er sich in ihrem Haus aufführte, als sei es sein eigenes?

Leider wusste sie nur allzu gut, wer er war: ein reicher mächtiger Mann und Nicholas’ Onkel. So gern sie ihn auch schnellstmöglich losgeworden wäre – ihr war klar, dass es nicht in Nicholas’ Interesse lag, Leon zu verärgern. Zögernd folgte sie ihm.

Er hatte sich auf das Sofa gesetzt, den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Die obersten Hemdknöpfe standen offen. Die Krawatte gelockert und die langen Beine ausgestreckt, saß Leon da.

Die jähe Wirkung, die seine bloße Gegenwart auf sie ausübte, traf sie wie ein Schlag. Auch wenn Leon Aristides als konservativer Banker arbeitete, war er doch zugleich ein sehr, sehr attraktiver Mann.

In hilfloser Faszination ließ sie ihren Blick über seinen Körper wandern. Wahrscheinlich ist er ein fantastischer Liebhaber, dachte sie. Verlegene Röte breitete sich über ihre Wangen.

Helen kam sich wie eine Voyeurin vor. Niemals zuvor hatten sie ungebetene erotische Gedanken heimgesucht, noch dazu in dieser Situation. Gerade hatte Helen vom Tod ihrer Freundin erfahren. Was um alles in der Welt geschah hier?

Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück und hob den Kopf. Aus dunklen scharfsinnigen Augen beobachtete Leon sie nun. Oh nein! Ahnte er, woran sie gedacht hatte? Hastig nahm sie das Gespräch wieder auf. „Möchten Sie noch einen Kaffee oder irgendetwas anderes?“

„Etwas anderes …“ Unverhohlene Bewunderung schimmerte in seinen Augen. „Ja, dieses andere hat durchaus seinen Reiz“, fuhr er mit leiser Stimme fort. „Was schlagen Sie vor?“ Er lächelte vielsagend.

Ihr Blick glitt von dem amüsierten Ausdruck in seinen Augen zu den sinnlichen Lippen und zu den ebenmäßigen weißen Zähnen. Einen Moment lang hörte sie auf zu atmen, überwältigt von dem unerwarteten Strahlen seines Lächelns.

Helen wurde bewusst, dass sie ihn wieder anstarrte. Sofort fixierte sie einen imaginären Punkt über seiner Schulter. „Tee oder Wein?“, sprach sie das Erste aus, was ihr in den Sinn kam.

Noch nie im Leben hatte sie sich so unbeholfen und ihren Empfindungen so ausgeliefert gefühlt. Sie war nicht naiv. Sie wusste, was erotische Anziehungskraft war. Immerhin war sie fast ein Jahr mit Kenneth Markham zusammen gewesen – bis er entschieden hatte, nach Afrika zu gehen und den Menschen dort zu helfen. Aber dies hier mit Leon Aristides war anders. Intensiv und elektrisierend. Und es erschreckte sie zutiefst.

„Ich hole den Wein.“ Wie von der Tarantel gestochen flüchtete sie aus dem Zimmer.

In der Küche atmete sie tief ein und aus. Ich stehe immer noch unter Schock wegen Delias Tod, versicherte sie sich. Deshalb reagierte sie so seltsam auf Leon Aristides. Schließlich mochte sie ihn noch nicht einmal. Sie bevorzugte sensible liebevolle Männer, mit denen man reden konnte, ohne sich bedroht zu fühlen. Die tragische Nachricht hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht, das war alles. Durch diese Feststellung einigermaßen beruhigt, nahm Helen zwei Gläser aus dem Schrank und wandte sich dann dem Weinregal darüber zu.

„Sie sind so klein, erlauben Sie?“

Beinah blieb ihr das Herz stehen, als er den Arm über ihren Kopf streckte. Sie wirbelte herum. Leon stand unmittelbar hinter ihr. „Ich komme schon zurecht“, entgegnete sie zittrig.

„Zu spät.“ Er zuckte die Schultern und hielt ihr eine Flasche Rotwein entgegen. „Aber Sie können mir einen Korkenzieher geben. Und etwas zu essen wäre sehr nett. Ich war so damit beschäftigt, diese Adresse zu finden, dass ich das Mittagessen verpasst habe. Sandwiches reichen voll und ganz.“

Dass er sie klein nannte und davon ausging, sie würde ihn verpflegen, machte sie wütend. Trotzdem erwiderte sie nichts. Es war eine Erleichterung, aus der körperlichen Nähe zu entkommen. Nachdem Helen einen Flaschenöffner aus einer Schublade genommen hatte, legte sie ihn auf die Arbeitsplatte und ging dann zum Kühlschrank.

„Ist Käse in Ordnung?“, fragte sie und drehte sich nach ihm um. Er hatte sich an den Küchentisch gesetzt, ein Glas Wein in der Hand. Das zweite stand ihm gegenüber auf dem Tisch.

„Perfekt“, sagte er ruhig und nippte an seinem Rotwein.

Rasch bereitete Helen zwei Sandwiches zu und legte sie auf einen Teller. Sie konnte die Blicke des Mannes förmlich in ihrem Rücken spüren.

„Ihr Großvater hatte einen erlesenen Geschmack“, meinte Leon anerkennend. „Dem Bericht zufolge, den mein Vater über ihn erstellen ließ, war er ein sehr intelligenter, moralisch absolut integrer und allgemein geachteter Professor.“

„Ein Bericht!“, rief Helen aus und wirbelte zu ihm herum. Der Teller mit den Sandwiches in ihrer Hand schwankte bedenklich.

„Lassen Sie mich das nehmen.“ Er streckte die Hand aus und griff nach dem Teller. Nachdem er ihn auf den Tisch gestellt hatte, begann Leon, mit offensichtlichem Genuss zu essen.

„Ihr Vater hat tatsächlich Nachforschungen über meinen Großvater angestellt?“

„Natürlich“, antwortete er kühl. „Damit meine Schwester die Erlaubnis bekam, dieses Haus zu besuchen, mussten Sie und Ihr Großvater die passende Gesellschaft für sie sein. Offensichtlich hat sich das über die Jahre geändert. Doch weder mein Vater noch ich wussten von diesem Umstand. Delia war in dieser Hinsicht sehr einfallsreich.“ Er trank noch einen Schluck Wein. „Ich erinnere mich an eine Karte zu Weihnachten, die Sie vor drei Jahren an Delia geschickt haben. Darauf war ein Cartoon abgebildet. Mein Vater hat sich köstlich amüsiert. Er hat nach Ihnen gefragt und vorgeschlagen, Sie wieder einmal einzuladen. Delia erzählte uns von dem Schlaganfall Ihres Großvater und dass Sie sich um ihn kümmerten. Abgesehen von den Karten zu Weihnachten und zum Geburtstag hätte sie keinen Kontakt mehr zu Ihnen.“ Spöttisch hob er eine Augenbraue. „Ich verstehe allmählich, dass meine unschuldige kleine Schwester genau wie alle anderen Frauen war: Hinterlistig wie der Teufel und eine perfekte Lügnerin“, bemerkte er und griff nach dem zweiten Sandwich.

Schon öffnete Helen den Mund, um ihre Freundin zu verteidigen, dann schloss sie ihn wieder. Was sollte sie auch sagen? Indem sie Nicholas bei sich aufgenommen hatte, erklärte sie sich mit jedem Märchen einverstanden, das Delia ihrer Familie auftischen mochte. Und während Helen gehofft hatte, Delia würde zur Vernunft kommen und alles gestehen, war diese mit etwas ganz anderem beschäftigt gewesen: jede Spur zu löschen, die vielleicht zu Helen und Nicholas führen könnte.

„Setzen Sie sich, und trinken Sie etwas. Sie sehen gar nicht gut aus.“

Sie ließ sich auf einen der Stühle sinken. Ihre Hand zitterte leicht, als sie nach dem Weinglas griff. Alkohol trank Helen nur selten, weil er ihr sofort zu Kopf stieg. Aber Leon hatte recht, sie stand unter enormer emotionaler Anspannung. Erst nach und nach begriff sie, was für einer Ungeheuerlichkeit sie zugestimmt hatte. Natürlich hatte Helen ihrer besten Freundin helfen wollen. Aber ganz uneigennützig konnte sie die eigenen Motive nicht nennen.

Vor dem Tod ihrer Eltern hatte sie wie ein glücklicher selbstsicherer Teenager gelebt. Die Wünsche und Träume jedes jungen Mädchens waren Helens Lebensinhalt gewesen. Schule, College, eine Karriere, dann Liebe, Ehe und Kinder. Doch der Skiunfall hatte alles verändert. Ihr nahezu idyllisches Leben war zersplittert. Sosehr sie ihren Großvater auch liebte, die Eltern hatte er nicht ersetzen können.

Delia war damals der Lichtblick in ihrem Leben geworden. Dennoch hatte Helen abgelehnt, als die Freundin sie zum ersten Mal vor vier Jahren um Hilfe bat. Erst nach dem Tod ihres Großvaters im April änderte sie ihren Entschluss. Delia war zur Beerdigung gekommen.

In tiefer Trauer und zum ersten Mal in ihrem Leben vollkommen allein, war Helen die Idee mit einem Mal nicht mehr ganz so verwerflich erschienen. Sich um Nicholas zu kümmern kam ihr vielmehr vor, als würde ein Traum wahr.

„Mehr Wein?“, unterbrach Leon ihre Gedanken und hielt ihr die Weinflasche entgegen.

Helen blickte auf. Ihre Wunschvorstellungen hatten sich in den schlimmsten Albtraum verwandelt. Überrascht stellte sie fest, dass ihr Glas leer war.

„Nein, vielen Dank“, wehrte sie ab. Für das, was nun unweigerlich folgen musste, brauchte sie einen klaren Kopf.

„Wie Sie wünschen“, erwiderte er und schenkte nur sich nach.

Während er trank, beobachtete sie seinen Mund und die Kehle, als Leon den Wein schluckte. Fasziniert schweifte ihr Blick tiefer, zu dem geöffneten Hemdkragen, unter dem einige schwarze Härchen hervorlugten. Unvermittelt pochte das Blut heiß in ihren Adern und sammelte sich tief in ihrem Inneren.

Sie öffnete den Mund, um etwas, irgendetwas zu sagen. Aber kein Laut drang über ihre Lippen. Sie saß einfach nur da, errötet vor Scham und gefangen in einer seltsamen Empfindsamkeit, die jede Nervenfaser in ihrem Körper prickeln ließ.

Schon bevor er das Weinglas zurück auf den Tisch stellte, musterte Leon sie aufmerksam. Er wusste genau, was mit ihr geschah und warum.

Sie bemerkte das wissende Funkeln in seinen Augen, sah das zufriedene Lächeln auf seinen sinnlichen Lippen. Die Luft zwischen ihnen knisterte förmlich spannungsgeladen.

3. KAPITEL

Es war der selbstzufriedene Ausdruck in Leons Lächeln, der Helen zurück in die Wirklichkeit brachte. Sie versteifte sich und versuchte, die lodernden Wogen zurückzudrängen, die durch ihren Körper brandeten.

„Nicholas“, sagte sie mit fester Stimme. „Sie wollten über Nicholas sprechen.“

„Ja, Nicholas“, stimmte er zu und lehnte sich zurück. „Aber zuerst müssen wir uns über Delia unterhalten. Sie war das Nesthäkchen der Familie. Ich war fünfzehn, als sie geboren wurde. Ich gebe zu, dass ich sie seltener gesehen habe, als vielleicht gut war. Als ich studierte und anschließend nach New York ging, wurde es schwierig. Normalerweise sahen wir uns drei Mal im Jahr, während der Ferien. Als Teenager hat sie ein bisschen über die Stränge geschlagen, aber die Phase war bald wieder vorbei. Mein Vater gab ihr ein großzügiges Taschengeld, und sie hat fast alles bekommen, was sie sich wünschte.“ Ungläubig schüttelte er den Kopf. Mit einem Mal wirkte er nicht mehr wie der kühle nüchterne Banker, als den Helen ihn kannte.

„Sie schien mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Warum sie dachte, ihr Kind vor ihrer Familie verstecken zu müssen, werde ich nie begreifen.“ Er warf ihr einen abwägenden Blick zu. „Offensichtlich kannten Sie eine andere Delia als ich und mein Vater. Sie waren vermutlich in ihre Geheimnisse eingeweiht.“

Helen wich seinem neugierigen Blick aus und errötete. „In ein paar.“

„Wie viel hat sie Ihnen bezahlt, damit Sie sie für sich behielten?“

„Sie hat mir nie Geld angeboten“, stieß Helen empört hervor. „Ich habe Delia geliebt. Sie war meine beste Freundin.“ Sie atmete hörbar ein und senkte den Kopf, damit Leon die Tränen in ihren Augen nicht sah. „Seit dem ersten Tag im Internat hätte ich alles für Delia getan. Sie hat mich vor den anderen Kindern verteidigt. Ich war dort Tagesschülerin, was mich schon von den meisten unterschied, und auch noch zwei Jahre älter als unsere Klassenkameraden.“

Dann war Helen Heywood doch nicht so jung, wie er gedacht hatte … interessant. Er hatte den festen Entschluss gefasst, sie vor Gericht zu bringen, wenn es sein musste. Der Gedanke an die daraus resultierende Publicity war ihm jedoch zuwider. Auf einmal kam Leon die Idee zu einem viel besseren Plan.

Versunken in ihre eigenen Gedanken, bekam Helen von den Überlegungen ihres Besuchers nichts mit. „Die anderen Kinder haben mich wegen meines Alters und der Brille gehänselt“, fuhr sie fort. „Delia hat sich meinetwegen mit allen angelegt und gewonnen. Ich wurde nie wieder schikaniert. Von diesem Tag an waren wir Freundinnen. Ich hätte wirklich alles für sie getan – und sie für mich, das weiß ich.“

„Vielleicht, aber das werden Sie nun nie erfahren“, meinte Leon spöttisch. „Fahren Sie fort … Ich würde zu gerne wissen, warum Sie mit dem wahnwitzigen Vorhaben einverstanden waren.“

„Vor vier Jahren kam Delia zu mir. Sie war schwanger und hatte sich bereits einen perfekten Plan zurechtgelegt. Die Ostertage wollte sie in Griechenland verbringen, ohne dass jemand ihre Schwangerschaft bemerkte. Delia wollte verhindern, dass ihr Kind wie ihr Vater wurde – ein chauvinistischer Tyrann, der ihr die Schuld am Tod der Mutter gab.“ Ruckartig hob Leon den Kopf, sagte aber nichts. „Nachdem Sie als ihr Bruder zugestimmt hatten, sie wegen ein paar harmloser Teenagerflirts in ein Internat im Ausland zu stecken, dachte Delia über Sie nicht wesentlich besser.“

„Und Ihnen ist selbstverständlich auch nie eingefallen, dass es für Delia besser gewesen wäre, die Familie einzuweihen?“

„So einfach war das nicht“, erwiderte Helen hitzig. „Ich habe ihr genau dazu geraten.“ Sie hielt inne. Ihre Wut verebbte bei der Erinnerung an die zurückliegenden Ereignisse. Kurze Zeit später war Helens Großvater gestorben.

„Sehr löblich von Ihnen, unter den gegebenen Umständen allerdings wenig glaubwürdig. Und jetzt müssen wir über die Zukunft des Jungen sprechen, eines Jungen, der keine Eltern mehr hat.“ Er musterte sie aufmerksam. „Es sei denn, Sie wissen den Namen des Vaters?“

„Delia hat mir gesagt, er sei tot.“

„Sind Sie sicher?“

„Absolut“, entgegnete sie mit fester Stimme und sah ihm in die Augen. Delia hatte ihr den Zeitungsartikel von dem Zugunglück in London gezeigt. Nicholas’ Vater war ums Leben gekommen, ein junger Mann, den Delia an der Universität kennengelernt hatte.

„Gut. Dann besteht also keine Gefahr, dass urplötzlich jemand auf der Bildfläche erscheint und den Jungen zu sich holen will. Damit bleiben nur Sie und ich.“

„Bevor Sie weitersprechen“, fiel Helen ihm ins Wort, „sollten Sie wissen, dass Delia mich bei Nicholas’ Geburt als Vormund eingesetzt hat. Ich habe die Dokumente und kann das jederzeit belegen.“

„Da bin ich mir ganz sicher“, erwiderte er sarkastisch. „Vor meinem Besuch habe ich einen Anwalt in London aufgesucht, einen gewissen Mr Smyth. Er verwaltet Delias Testament. Danach erben Sie einen Teil ihres Vermögens, zwanzig Prozent, um genau zu sein. Das macht uns, wie Sie wahrscheinlich nur allzu gut wissen, bis zu Nicholas’ einundzwanzigstem Geburtstag zu den Verwaltern seines Erbes.“ Fassungslos öffnete Helen den Mund. „Tun Sie nicht so überrascht. Sie sind wahrscheinlich das bestbezahlte Kindermädchen in der Weltgeschichte. Damit erzähle ich Ihnen ja nichts Neues.“

„Delia hat mir so viel hinterlassen? Das wusste ich nicht, und ich will kein Geld. Ich liebe Nicholas. Ich habe zugestimmt, sein Vormund zu sein und Delia zu helfen, aber nicht des Geldes wegen“, sagte sie. Es entsetzte und ängstigte sie, dass dieser Mann so schlecht von ihr dachte. „Und ich finde es unglaublich, dass sie auch Sie als seinen Vormund eingesetzt hat. Immer wieder hat sie mir es versichert, Nicholas sollte nicht so aufwachsen wie Sie“, stieß sie hervor, ohne nachzudenken.

Leons Augen verengten sich. In ihrer Wut und ihrer Bestürzung hatte Helen Heywood etwas missverstanden. Er hatte erklärt, dass sie beide Nicholas’ Vermögen verwalteten. Das Sorgerecht teilten sie sich deshalb aber nicht. Leon hatte jedoch keinerlei Bedenken, ihre Annahme zu seinen Gunsten zu nutzen. Auch wenn sie es weit von sich wies, Helen war logischerweise doch nur auf Geld aus. „Es scheint, als hätte meine kleine Schwester nicht immer die Wahrheit gesagt“, sagte er. „Aber das ist nicht mehr wichtig. Was zählt, ist allein Nicholas.“

„Glauben Sie etwa, ich weiß das nicht?“, herrschte sie ihn an. „Seit seiner Geburt habe ich mich um ihn gekümmert. Ich liebe ihn wie ein eigenes Kind. Sein zukünftiges Glück ist alles, was mich interessiert.“

„Sehr gut.“ Er ignorierte den gequälten Ausdruck in ihren veilchenblauen Augen. „Dann haben Sie ja auch nichts dagegen, wenn Nicholas mit mir nach Griechenland kommt.“

„Sie können ihn nicht einfach aus seiner gewohnten Umgebung herausreißen“, erwiderte sie eindringlich. „Dies hier ist das einzige Zuhause, das er kennt.“

„Nicholas ist Grieche. Er wird sich in meinem Haus und bei meinen Angestellten wohlfühlen. Und ganz bestimmt wird ihm das sonnige Klima besser gefallen als der kalte Regen hier. Er ist ein Aristides. Selbstverständlich wird er die bestmögliche Erziehung genießen und irgendwann seinen Platz in Aristides International einnehmen.“ Bewusst arrogant musterte Leon sie.

„Sie behaupten, Sie wollen das Geld nicht, das Delia Ihnen hinterlassen hat. Doch wenn man der Rezeptionistin des Fox-Tower-Hotels, in dem ich ein Zimmer für die Nacht gebucht habe, glauben darf, arbeiten Sie halbtags in der Kinderkrippe des Hotels. Natürlich ist das ein ehrenwerter Beruf, aber wohl kaum geeignet, um ein Vermögen zu verdienen“, setzte er spöttisch hinzu. „Ich bin bereits sehr wohlhabend. Haben Sie Nicholas etwas Vergleichbares zu bieten?“

Helen hatte genug gehört. „Geld ist nicht alles. Ich liebe Nicholas. Nach allem, was man so hört, haben Sie davon überhaupt keine Ahnung.“ Wenn es um einen verbalen Schlagabtausch ging, stand sie Leon in nichts nach.

„Aha, da spricht wohl wieder Delia aus Ihnen, nehme ich an. Sie sollten nicht alles glauben, was Sie hören.“

„Nun, Ihre Ehe war keine Liebesheirat, sondern ermöglichte vielmehr den Kauf einer amerikanischen Bank“, fuhr sie ihn an. „Was für ein Vorbild wollen Sie einem gutgläubigen liebenswerten Jungen wie Nicholas geben?“

„Ein realistisches“, gab er zurück, stand auf und ging zu ihr hinüber. „Kein idealistisches Märchen, dem Sie und meine Schwester offenbar nachhingen.“ Er umfasste ihr Kinn und zwang Helen, ihm in die Augen zu sehen. „Überlegen Sie, was Liebe und Unabhängigkeit Delia eingebracht haben. Und dann sagen Sie mir, ob ich unrecht habe.“

Einen Moment lang war Helen sprachlos. Sie ballte die Hände in ihrem Schoß zu Fäusten, widerstand jedoch dem Drang, ihn zu schlagen. Seine Schwester war tot und sein höhnischer Kommentar ein Schlag unter die Gürtellinie.

„Oh! Und Ihr Weg ist so viel besser, ja? Sie haben schon eine Frau und einen Sohn verloren“, schoss sie zurück, auch wenn es ihr kurz darauf leidtat. „Zumindest befindet sich Nicholas hier in Sicherheit. Sie sind der verabscheuenswerteste Mann, dem ich je das Unglück hatte zu begegnen. Ich würde Ihnen nicht einmal meinen Goldfisch anvertrauen.“

Der Griff um ihr Kinn wurde stärker. Sie sah ein, dass sie zu weit gegangen war. Wenn sie Nicholas nicht verlieren wollte, musste sie mit diesem Mann auskommen. Nur wie sie das anstellen sollte, wusste sie nicht.

Plötzlich ertönte eine kindliche hohe Stimme von der Küchentür her. „Lass meine Helen los, du böser Mann!“

Wütend durchquerte der Junge das Zimmer und trat gegen Leons Schienbein. Augenblicklich ließ Leon sie los und trat einen Schritt zurück. Verwundert blickte er zu dem kleinen Kind hinunter, das sich nun an seinem Bein festklammerte.

„Es ist alles in Ordnung, Nicholas.“ Helen sprang von dem Stuhl auf und kniete sich neben den Jungen. „Er ist kein böser Mann.“ Sie legte einen Arm um die Schultern des Kleinen und drehte ihn zu sich herum. „Er ist der Bruder deiner Mutter. Dein Onkel.“ Vertrauensvoll schlang Nicholas seine Ärmchen um ihren Nacken, und sie stand auf. „Er ist wirklich sehr nett. Und er ist den weiten Weg aus Griechenland gekommen, nur um dich zu sehen.“

„Nur um mich zu sehen“, wiederholte der Junge und richtete den Blick aus großen dunklen Augen auf den schweigenden Fremden. Nicholas hatte die gleichen Augen wie seine Mutter. „Du bist mein Onkel. Bleibst du jetzt bei uns?“

„Ja, das würde ich gerne“, bestätigte Leon. „Wenn du es mir erlaubst“, fügte er lächelnd hinzu. „Du erinnerst mich sehr an meine Schwester Delia.“

„Sie hat versprochen, uns zu besuchen, aber sie ist nicht gekommen“, erwiderte Nicholas. „Aber sie hat mir ein Bett geschenkt, das wie ein Auto aussieht, und ganz viele Spielsachen.“ Er entwand sich Helens Umarmung und blickte schüchtern zu Leon empor. „Möchtest du sie sehen?“

Sprachlos vor Wut, beobachtete Helen, wie Leon niederkniete und die Hand des Jungen ergriff. Wie konnte er es wagen, Nicholas zu sagen, er würde bei ihnen bleiben?

„Sehr gern.“

„Toll, komm mit.“ Ungeduldig zerrte Nicholas an der großen Hand seines Onkels.

„Einen Moment.“ Helen fand endlich ihre Stimme wieder. „Zunächst einmal, Nicholas, was machst du hier unten? Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht alleine die Treppe hinuntergehen darfst.“

Wegen der Ereignisse der letzten Stunden hatte sie es ganz vergessen. Nicholas schlief nicht mehr in seiner Wiege, sondern in dem neuen Bett, aus dem er natürlich jederzeit selbstständig aufstehen konnte. Helen hatte überhaupt nicht mehr daran gedacht, die Treppe mit dem hölzernen Kindergitter abzusperren. Sie fühlte sich unendlich schuldig. „Du hättest fallen können.“

„Ich bin sicher, Nicholas ist schon ein großer Junge, der nicht mehr die Treppe hinunterfällt“, verkündete Leon, während er aufstand. „Das stimmt doch, oder?“

„Ja“, erwiderte Nicholas freudestrahlend. „Wie heißt du?“

„Leon Aristides.“ Der große Mann grinste seinen kleinen Neffen an. „Du kannst mich Onkel oder Leon nennen. Ganz wie du willst.“

Sie sah den beiden nach, während sie aus der Küche gingen, um das neue Bett zu begutachten. Ein kalter Schauer der Furcht lief Helen über den Rücken. Ihr Einwand, Nicholas müsse erst seinen Saft trinken und sein Nachmittagsplätzchen essen, wurde von dem Jungen mit dem offenbar typisch männlichen Habitus der Aristides’ abgelehnt.

„Du kannst mein Essen machen, wenn ich Onkel Leon mein Bett zeige.“

Auch ihre Bedenken, er müsse sich erst anziehen, wurden beiseite gefegt. Diesmal von Onkel Leon mit einem gemurmelten: „Kein Problem. Ich mache das.“

Schweren Herzens sah sie sich in der Küche um. Delia war tot, und irgendwie musste sie es Nicholas sagen. Ihr Blick fiel auf die Weinflasche. Eine Sekunde lang war Helen versucht, ihren Kummer in Alkohol zu ertränken. Doch sie musste stark sein für Nicholas. Sie schuldete es ihrer Freundin, dass sie sich um den Jungen kümmerte – ganz gleichgültig, was Leon Aristides plante.

Sie begann, die Gläser im Spülbecken abzuwaschen. Auf keinen Fall, schwor sie sich, werde ich mich an den Rand von Nicholas’ Leben drängen lassen.

Im Gegensatz zu dem, was Leon Aristides glaubte, war sie nicht nur die kleine halbtags arbeitende Hüterin der Kinderkrippe. Während der vier Jahre, in denen sie ihren Großvater gepflegt hatte, hatte Helen von zu Hause aus studiert. Auch in den ersten drei Jahren als Nicholas’ Pflegemutter hatte sie das Fernstudium fortgesetzt und vor vielen Monaten den Abschluss in Kunstgeschichte bestanden.

Außerdem war sie nicht so arm, wie Leon vermutete. Nach dem ersten Schlaganfall hatte ihr Großvater das Land um das Haus herum an einen internationalen Hotelkonzern verkauft. Daraufhin war das Fox-Tower-Hotel auf dem Grundstück erbaut worden. Damit hatte er auf lange Sicht für seine Enkelin gesorgt.

Nach dem Tod ihres Großvaters hatte sie sein Vermögen geerbt, zusammen mit dem Geld aus der Lebensversicherung ihrer Eltern, das er bislang für sie verwaltet hatte. Helen war alles andere als mittellos.

Zudem arbeitete sie freiberuflich als Illustratorin. Drei Kinderbücher hatte sie bereits illustriert, die alle in die Bestsellerliste gekommen waren. Das hatte Helen einen lukrativen Vertrag eingebracht, auch für die restlichen Bände der achtteiligen Serie die Bilder zu malen. Die Arbeit in der Krippe hatte sie angenommen, weil ihr der Umgang mit Kindern Spaß machte. Unter den gegebenen Umständen war ihr Leben so perfekt, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Bis heute.

Sie öffnete den Kühlschrank, nahm den Saft heraus und stellte die Tüte neben Nicholas’ Lieblingstasse aus Plastik und die Keksdose. Unschlüssig straffte Helen die Schultern. Was sollte sie jetzt tun?

Leise ging sie in den Flur, bis sie am Fuß der Treppe stehen blieb. Von oben drangen gedämpfte Stimmen zu ihr hinunter, dann hörte Helen kindliches Gelächter. Sie wollte zu den beiden gehen. Stattdessen schlenderte sie aber den Flur auf und ab. Vor dem kleinen Tisch hielt sie inne und griff nach der Post. Werbung und ein Brief. Den Absender kannte sie nicht. Sie zuckte zusammen, als sie erkannte, dass es eine Anwaltskanzlei war. Nachdem Helen das Schreiben dreimal gelesen hatte, ließ sie es in die kleine Schublade des Tischchens fallen.

Zurück in der Küche, sah sie blicklos aus dem Fenster. Erst jetzt wurde Helen die Endgültigkeit der Situation wirklich bewusst. Leon hatte die Wahrheit gesagt. Der Brief des Anwalts war knappgehalten, beinhaltete aber das Wesentliche. Er bestätigte, dass Delia tot und Helen als Erbin in ihrem Testament eingesetzt war.

Seufzend wandte sie sich um. Sie musste etwas tun, um sich von dem Schmerz und dem Leid abzulenken. Vielleicht sollte sie das Abendessen vorbereiten. Gewöhnlich aßen sie um sechs, bevor Nicholas badete und zu Bett ging. Rühreier mit gebratenem Schinken und gegrillten Tomaten, das war sein Lieblingsessen. Gerade als sie nach dem Körbchen mit den Eiern griff, kehrten Nicholas und Leon zurück in die Küche.

„Onkel Leon mag mein Bett“, verkündete Nicholas mit einem glücklichen Grinsen. „Er hat versprochen, mir eines zu besorgen, das genauso aussieht, wenn wir in seinem Haus in Griechenland leben. Ist das nicht prima?“

Mit einem bösen Blick auf den großen Mann neben ihm, hob sie Nicholas auf die Arme. „Ja, ganz fantastisch“, stieß sie beherrscht hervor und setzte den Jungen in seinen Kinderstuhl. „Und jetzt trink deinen Saft und iss deine Plätzchen, während ich mich um das Abendessen kümmere.“ Gegen ihren steifen Tonfall konnte sie nichts tun. Helen war so aufgebracht, dass es sie ihre gesamte Kraft kostete, höflich zu bleiben.

Es sollte noch schlimmer kommen.

4. KAPITEL

Drei Stunden später saß Helen neben Nicholas’ Bett und las ihm eine Gutenachtgeschichte aus Der Hase Rex und die gute Fee vor. Es war das erste Buch, das sie illustriert hatte. Nicholas liebte die Geschichten um den ungezogenen Hasen, dem die gute Fee immer aus der Patsche helfen musste. An der Wand über seinem Bett hing das Originalbild der Fee.

Für Helen war dies normalerweise die schönste Zeit am Tag. Aber der heutige Abend, da Leon Aristides auf der anderen Seite des Bettes stumm zuhörte, fühlte sie sich seltsam an. Als sie am Ende der Geschichte angelangt war, warf sie einen nervösen Blick in Leons Richtung.

Ruhig erwiderte er ihren Blick. Kaum wahrnehmbar verdunkelten sich seine Augen. Sie wusste genau, was das bedeuten sollte. Sie musste Nicholas vom Tod seiner Mutter berichten. Wenn sie es nicht tat, würde er es tun. Das hatte Leon ihr vorhin noch einmal eingeschärft.

„Wann kommt Delia endlich?“, meldete Nicholas sich schläfrig zu Wort. „Ich habe mich noch gar nicht für mein Bett bedankt.“

Es gab keinen richtigen Zeitpunkt für das, was Helen ihm sagen musste. Ihr blieb keine andere Wahl. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie streckte die Hand aus und streichelte sanft über die Wange des Jungen. „Delia kommt nicht mehr, mein Liebling“, erklärte sie und zog Nicholas in ihre Arme. „Du weißt doch, dass sie meistens in Griechenland gelebt hat. Genauso wie Onkel Leon. Er ist heute hierhergekommen, um uns zu sagen, dass Delia einen Unfall hatte und gestorben ist.“ Ihre Stimme brach. Die Worte laut auszusprechen verlieh allem eine schmerzhafte Endgültigkeit.

„Du meinst, sie kommt nie wieder?“ Nicholas’ Unterlippe zitterte, und auch in seinen Augen schimmerten jetzt Tränen. „Aber warum denn nicht?“

Helen zog ihn fester in die Arme und schmiegte sich beruhigend an ihn. „Erinnerst du dich, als dein Hamster starb und wir eine kleine Zeremonie abgehalten haben? Ich habe dir gesagt, dass er jetzt im Himmel ist. Du kannst ihn nicht mehr sehen, aber er dich.“

Der Junge blickte erst Leon an, dann wieder Helen. „Ist Delia auch im Himmel?“, fragte er leise. Jetzt kullerten dicke Tränen über seine Wangen.

„Ja, sie wird immer über dich wachen.“

„Aber ich will sie wiedersehen!“ Er begann zu weinen.

„Sch … alles wird wieder gut“, flüsterte Helen tröstend.

„Wirst du auch weggehen?“, fragte Nicholas zwischen zwei Schluchzern. Mit seinen kleinen Händen hielt er ihre Schultern umklammert, sein Körper zitterte.

Ob er wirklich die Bedeutung des Todes verstand oder nur auf die Anspannung der Erwachsenen reagierte, konnte Helen nicht mit Sicherheit sagen. Sie hielt Nicholas einfach fest, streichelte zärtlich über sein lockiges Haar und murmelte beruhigende Worte.

Schließlich verstummte sein Weinen. Helen legte den Jungen sachte in sein Bett zurück und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.

„Versprichst du mir, nicht zu sterben?“, bat er, die Augen weit aufgerissen. „Du musst es versprechen.“

„Mach dir keine Sorgen, mein Schatz, ich werde immer für dich da sein“, beteuerte Helen leise, bevor sie ihm noch einen Kuss gab. Dann holte die Müdigkeit ihn ein, und Nicholas schloss die Augen.

„Ich verspreche es“, flüsterte sie und zog die Bettdecke bis zu seinen Schultern hoch. Eine einzelne Träne fiel aus ihrem Auge auf seine Wange.

Zehn Minuten später saß Helen allein im Wohnzimmer. Leon hatte darauf bestanden. Er war in die Küche gegangen, um Kaffee zu kochen. Sie war emotional zu erschöpft, um zu widersprechen. Jetzt bettete sie den Kopf auf die weichen Kissen und senkte die Lider.

Trauer und Schuldgefühle stiegen abwechselnd in ihr auf. Sie hätte Delias Plan niemals zustimmen dürfen. Doch dann hätte sie auch nie die tiefe Liebe zu Nicholas empfunden. Ihn zu verlieren würde ihr das Herz brechen. Auch wenn sie immer gewusst hatte, dass Delia ihn eines Tages zurückfordern würde.

„Hier, trinken Sie das.“ Leon stand vor ihr und hielt ihr eine Tasse entgegen. „Ich habe ein wenig von dem Cognac aus dem Schrank hinzugefügt. Sie sehen aus, als könnten Sie ihn gebrauchen.“

Höflich nahm sie die Tasse entgegen und nippte an der heißen Flüssigkeit. Als Helen den scharfen Alkohol schmeckte, verzog sie das Gesicht. Während sie die Tasse in kleinen Schlucken leerte, überkam sie zusammen mit der Wärme ein wenig Ruhe.

Irgendwann blickte sie zu Leon hinüber, der es sich auf dem Sofa ihr gegenüber bequem gemacht hatte. Auch er trank seinen Kaffee, während er sie mit nachdenklicher Miene betrachtete. Helen fragte sich, woran er wohl dachte. Einen Moment später fand sie es heraus.

„Haben Sie das ernst gemeint, dass Sie Nicholas niemals verlassen wollen?“

„Ja, natürlich“, versicherte sie ihm. „Mir ist bewusst, dass das schwierig wird. Und ich erwarte auch nicht, ständig mit ihm zusammen sein zu können“, fuhr sie fort. „Ich verstehe, dass Sie auch Zeit mit ihm verbringen wollen. Vielleicht könnten Sie ihn in den Ferien zu sich nehmen. Unter den gegebenen Umständen ist es wohl unvermeidbar, dass Nicholas und ich uns für kurze Phasen nicht sehen. Aber ich werde ihn jeden Tag anrufen, damit er nie das Gefühl bekommt, im Stich gelassen zu werden“, bot Helen an und glaubte, sie sei sehr vernünftig.

„Ich kann Ihnen nicht zustimmen. Nicholas ist sehr glücklich bei Ihnen. Ich will nicht, dass Sie sich von ihm trennen. Als sein Onkel und sein einziger lebender Blutsverwandter denke ich jedoch, dass wir uns gemeinsam um seine Erziehung kümmern sollten. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich denke, Sie haben sich ganz wunderbar um ihn gekümmert. Aber der Junge hatte nicht gerade einen idealen Start ins Leben. Er verdient zwei Elternteile und ein sicheres Zuhause. Genau das biete ich ihm.“

Einen Augenblick lang war sie nur verwirrt. Schließlich verstand sie, was er eigentlich sagen wollte: Offensichtlich hatte er eine neue Ehefrau.

„Also haben Sie wieder geheiratet? Das wusste ich nicht“, murmelte sie. Warum hatte sie daran nicht gedacht? Ein wohlhabender attraktiver Mann wie Leon Aristides blieb natürlich nicht lange allein. Plötzlich erschien ihr die Möglichkeit, Nicholas zu verlieren, sehr real.

„Nein, ich habe nicht wieder geheiratet.“

„Dann sind Sie verlobt. Sie haben die Absicht, zu heiraten und ein Heim für Nicholas zu schaffen?“, fragte sie mutig.

Leon antwortete nicht sofort. Er lehnte sich auf dem Sofa zurück und musterte sie eindringlich. „Nein, es gibt keine Verlobte. Aber unter einer Bedingung können Sie mich heiraten. Dann können wir Nicholas gemeinsam in meinem Haus in Griechenland großziehen.“

Ungläubig und völlig verblüfft sah Helen ihn an. „Sie heiraten? Sind Sie verrückt geworden?“ Es musste ein Scherz sein. Sie mochte den Mann überhaupt nicht. Zugegeben, etwas an den ernst zusammengepressten Lippen, ein Ausdruck in den dunklen unergründlichen Augen sandte ihr einen Schauer über den Rücken. Auf einmal war sie wieder da, die Furcht, die sie als Teenager vor Leon empfunden hatte. Und Helen wusste, dass er nicht scherzte.

„Man hat mich vieler Dinge beschuldigt – verrückt zu sein gehörte nicht dazu. Das trifft wohl eher auf Sie und Delia zu, die diesen heimtückischen Plan ausheckten, den Jungen seiner Familie zu entziehen. Als Delia starb, hat der Arzt mir gesagt, dass sie Drogen nahm. Das erklärt vielleicht ihr absurdes Verhalten. Leiden Sie unter demselben Problem? Ich muss das wissen, bevor ich Sie heirate.“

„Ganz bestimmt nicht!“, rief sie wütend. „Und ich glaube nicht für eine Sekunde, dass Delia Drogen nahm. Das letzte Mal, als wir uns getroffen haben, wirkte sie vollkommen gesund.“

„Dann sind Sie naiver, als Sie aussehen“, entgegnete er spöttisch. „Ich bin im Besitz des Krankenhausberichts, in dem es steht.“

Helen schwieg. Sie konnte es einfach nicht glauben. Andererseits … Seit dem vergangenen Sommer hatte sie Delia nicht mehr gesehen. Mit der Rückkehr nach Griechenland und ihrer arrangierten Verlobung sah sie sich bestimmt einem starken Druck ausgesetzt. Vielleicht hatte das Delia zu einer Dummheit verleitet? Die in letzter Minute abgesagten Besuche, die selteneren Anrufe, das alles ergab auf einmal einen neuen Sinn. Warum war ihr nicht aufgefallen, dass etwas nicht stimmte? Sie hatte ihre Freundin im Stich gelassen, als diese sie brauchte. „Das hätte ich nie gedacht“, murmelte Helen.

„Ich bin sogar geneigt, Ihnen das zu glauben. Letztes Jahr hat sie sich der Athener Partyszene angeschlossen. Seitdem konsumierte sie wohl auch die bei diesen Veranstaltungen kursierenden Modedrogen. Delia war unaufrichtiger, als wir alle vermutet haben. Aber da sie nicht mehr unter uns weilt, müssen Sie nun den Preis für ihre Torheit bezahlen. Falls Sie kein Trauma in Nicholas auslösen wollen, indem Sie ihn auch verlassen, müssen Sie mich heiraten.“

Wie sollte sie sich jetzt noch verteidigen? Zögernd suchte sie nach Worten. „Es muss doch noch einen anderen Weg geben, Nicholas zu beschützen, ohne gleich zu heiraten.“

Leon sah Hilflosigkeit in ihren veilchenblauen Augen schimmern. Als Helens schmale Schultern nach unten sanken, fühlte er sich siegessicher. „Nicholas hat gerade seine leibliche Mutter verloren“, meinte er trocken. „Er sieht Sie als seine wirkliche Mutter an. Und er braucht die Sicherheit zu wissen, dass Sie da sind, jetzt mehr denn je. Sie kennen meinen Neffen seit seiner Geburt. Dieses Privileg ist mir verwehrt geblieben. Ich bin kein Unmensch, aber unter keinen Umständen werde ich zulassen, dass Sie das alleinige Sorgerecht haben. Eine Hochzeit ist die einzige Lösung.“ Damit erhob er sich und setzte sich neben sie.

„Glauben Sie mir, Helen. Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, würde ich sie wählen.“ Er griff nach ihrer Hand. „Ich war schon einmal verheiratet und hege nicht den Wunsch, das Ganze zu wiederholen.“ Mit dem Daumen streichelte er zärtlich ihr Handgelenk. „Aber für Nicholas werde ich es tun.“

Er spürte, wie sie erzitterte. In rascher Folge las er zwei Emotionen in ihren Augen. Die erste war Furcht. Die zweite hätte ein Mann mit seiner Erfahrung jederzeit wiedererkannt. Ein Gefühl von Triumph stieg in ihm auf. Den ganzen Nachmittag über hatte sie versucht, ihre Reaktionen auf ihn zu verbergen. Natürlich hatte Leon die hastig gesenkten Lider und die leichte Röte auf ihren Wangen bemerkt. Es würde nicht schwer werden, die süße Helen in sein Bett zu locken. Allein der Gedanke daran erregte ihn, sein muskulöser Körper versteifte sich merklich.

Noch war die Zeit nicht reif. Außerdem gab es immer noch Louisa in seinem Leben. Und er durfte nicht vergessen, dass Helen Heywood genauso hinterhältig war wie jede andere Frau, die er bisher getroffen hatte. Da sie Nicholas’ Erziehungsberechtigte war und dank Delia seinen Anteil an dem Vermögen der Aristides’ verwaltete, brauchte er sie in Griechenland. Wenn Helen durch eine Ehe an ihn gebunden war, umso besser. Als ihr Ehemann würde es ihm keinerlei Schwierigkeiten bereiten, die Interessen des Jungen zu schützen … und seine eigenen.

Mit dem Tod seines Vaters hatte er die Nachfolge als Direktor von Aristides International angetreten. Die Vorbehalte einiger entfernter Cousins, die durch diverse Erbschaften ein Mitspracherecht genossen, hatte er zügig aus der Welt geschafft. Leon hatte alles unter Kontrolle – bis Delias Testament aufgetaucht war. Plötzlich war Helen Heywood an der Firma beteiligt und bedeutete eine Bedrohung. Nur eine kleine, aber er war kein Mann, der irgendetwas dem Zufall überließ.

„Was auch immer Sie und ich für persönliche Opfer erbringen müssen, Helen, zu heiraten ist der einzige vernünftige Ausweg“, sagte er, wobei er bewusst gequält und einsichtig klang. Er ließ den Blick über sie gleiten und lächelte innerlich. Sie war verwirrt und versuchte verzweifelt, es nicht zu zeigen. „Sie haben gesagt, es gibt im Moment keinen Mann in Ihrem Leben. Auch ich bin ungebunden, also werden wir niemand sonst verletzen. Nur Nicholas wird leiden, wenn wir es nicht tun.“

„Aber wir kennen uns doch kaum“, brachte sie schwach hervor.

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