Romana Exklusiv Band 256

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NUR EIN LIEBESTRAUM AM MITTELMEER? von WINTERS, REBECCA
Unbeschwerte Urlaubstage könnte Laura in der Villa der Laroches verbringen, wäre da nicht Raoul, der argwöhnische Bruder ihrer Gastgeber! Bei einem nächtlichen Bad ihm Pool will sie den attraktiven Franzosen vergessen. Bis sie plötzlich mit ihm zusammentrifft

SPANISCHE NÄCHTE von COX, MAGGIE
Nur eine heiße Verführung im traumhaften Spanien? Von wegen! Noch Monate später denkt Leandro an die leidenschaftliche Isabella aus England. Als er seiner Sehnsucht folgt und sie in London aufspürt, erlebt er eine Überraschung: Denn sie ist nicht mehr allein!

VERLOCKUNG IN ITALIEN von BROOKS, HELEN
Allein der Klang seiner Stimme genügt, um Maisie heiße Schauer über den Rücken zu jagen. Als der charmante Italiener Blaine Morosini ihr einen Job an der Almafiküste anbietet, kann sie nicht Nein sagen. Nur ahnt sie nicht, worauf sie sich einlässt …


  • Erscheinungstag 10.04.2015
  • Bandnummer 0256
  • ISBN / Artikelnummer 9783733740184
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Rebecca Winters, Maggie Cox, Helen Brooks

ROMANA EXKLUSIV BAND 256

REBECCA WINTERS

Nur ein Liebestraum am Mittelmeer?

Raoul hegt einen bösen Verdacht: Ist die schöne Frau, die bei seiner Familie zu Gast ist, womöglich gar nicht so unschuldig, wie sie tut? Unbedingt will er seinen jüngeren Bruder vor einer Raubkatze wie Laura beschützen! Schließlich spürt Raoul es am eigenen Leib: Mit ihren Reizen könnte Laura jedem Mann den Kopf verdrehen …

MAGGIE COX

Spanische Nächte

Durch die malerische Landschaft Nordspaniens führt Isabella ihre Reise auf dem Jakobsweg – direkt in Leandros Arme. Der berühmte charismatische Filmregisseur mit den grauen Augen ist ein Traummann: Und statt des geplanten Interviews schenkt er ihr eine heiße und unvergessliche Nacht – die nicht ohne Folgen bleibt …

HELEN BROOKS

Verlockung in Italien

Blaine hat längst den Glauben an die große Liebe verloren. Doch irgendetwas fasziniert ihn an Maisie, der jungen Tierarztassistentin. Ihr zauberhaftes Lachen, ihre unerschütterliche Lebensfreude? In seiner italienischen Traumvilla kommen sie sich immer näher. Bis Blaine von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt wird ...

1. KAPITEL

Was für ein herrliches Anwesen, dachte Laura Aldridge, als sie am frühen Abend auf den Balkon der Gästesuite hinaustrat. Die Villa der Familie Laroche lag traumhaft schön auf einem weitläufigen Grundstück an der französischen Riviera, genauer gesagt auf der Halbinsel Cap Ferrat.

Laura sah zu dem halbmondförmig angelegten Swimmingpool hinunter, dann ließ sie den Blick über den gepflegten, riesigen Garten schweifen bis hin zum blau glitzernden Mittelmeer.

Es war ein warmer Sommertag Anfang Juli. In der Luft lag der Duft von Rosen. Laura genoss die sanfte, kühlende Brise, die ihr über das Gesicht strich und sachte mit ihrem Haar spielte.

Zum ersten Mal seit sechs Monaten konnte sie wieder frei atmen. Ihr Noch-Ehemann Theodore Stillman hatte keine Ahnung, wo sie sich gerade aufhielt. Keiner seiner zahlreichen Vertrauten und Freunde würde es ihm erzählen können. Selbst die Leute, die er angeheuert hatte, um sie zu überwachen, hatten ihre Spur verloren. Mit der Überwachung wollte er ihr zeigen, dass sie ihm gehörte und er sie zurückbekommen würde. Doch selbst die Detektive dürften unmöglich herausfinden, wohin der Helikopter sie am Vormittag gebracht hatte.

Seit sie von Ted getrennt lebte, benutzte sie wieder ihren Mädchennamen. Und seit einiger Zeit schon kämpfte sie um die Scheidung, gegen die er sich mit allen Mitteln wehrte. Schließlich wollte er im nächsten Jahr für den amerikanischen Kongress kandidieren. Er hatte ihr gedroht, mithilfe des Millionenvermögens seiner angesehenen, politisch stark ambitionierten Familie das Verfahren endlos zu verschleppen. Zweifellos hoffte er, dass sie einlenken und einen Rückzieher machen würde.

Doch da irrte er sich gewaltig. Sie würde nicht mehr zu ihm zurückkehren und beabsichtigte genauso wenig, je wieder zu heiraten. Den Ehering hatte sie bereits abgelegt, und ihr sehnlichster Wunsch war es, Ted nie mehr begegnen zu müssen. Hier in Saint-Jean-Cap-Ferrat, dem Tummelplatz der Prinzen und Fürsten, war sie vor ihm und seinen Leuten sicher. Selbst die einflussreiche Familie Stillman hatte keinen Zutritt zu dem französischen Adelsparadies.

Es war einem Zufall zu verdanken, dass sie heute zu Gast im Haus von Guy und Chantelle Laroche war. Sie hatte das Ehepaar schon vor elf Jahren in Manhattan Beach in Kalifornien kennengelernt. Damals war sie gerade mit der Highschool fertig gewesen und hatte sich bis zum Studienbeginn im Herbst etwas Geld verdienen wollen. So war sie als Rettungsschwimmerin und Babysitterin in einem Strandhotel der Extraklasse gelandet.

Eines Tages hatte ihr Boss sie gebeten, ihm einen Gefallen zu tun und einige Tage lang als Kindermädchen für den kleinen Sohn der Laroches zu arbeiten. Es war ihm sehr wichtig gewesen, denn wie er ihr erklärte, versetzte der Name Laroche in Finanzkreisen an der Côte d’Azur Berge.

Als die Laroches dann mit dem kleinen Paul nach zehntägigem Aufenthalt nach Hawaii weitergeflogen waren, hatte Laura echten Abschiedsschmerz empfunden. Chantelle und Guy waren für sie in der kurzen Zeit fast zu Freunden geworden.

Überhaupt hatte es ihr große Freude bereitet, das Ehepaar zu erleben. Die zwei waren so verliebt ineinander gewesen und verrückt nach ihrem süßen Söhnchen. Laura hatte ihnen versprechen müssen, dass sie sie besuchen würde, sollte sie je in Frankreich sein.

Anfangs hatten die beiden ihr immer wieder Karten von ihren Reisen geschrieben und ihr auch Fotos von Paul geschickt. Aber irgendwann war der Kontakt dann eingeschlafen – bis sie ihn vorgestern wieder aufgenommen hatte.

Sie war aus beruflichen Gründen in Siena gewesen, wo zweimal im Jahr der Palio, ein historisches Pferderennen, stattfand. Auf der Piazza del Campo hatte sie Touristen französisch reden hören, sodass sie sich an Chantelle und Guy erinnert und spontan versucht hatte, sie über das Laroche-Unternehmen zu erreichen, um wenigstens einmal kurz Hallo zu sagen. Zu mehr würde ihre Zeit nicht reichen, da sie in Kürze von Rom nach Amerika zurückfliegen musste.

Guy hatte natürlich erst einen Augenblick gebraucht, um zu begreifen, wer ihn anrief, dann allerdings hocherfreut geklungen. Und wie der Zufall es wollte, hielt er sich gerade mit seinem Sohn Paul bei Freunden in Siena auf, um den Palio zu besuchen. Er hatte darauf bestanden, dass sie sich trafen und sie sein Gast wäre. Dankend hatte Laura die Einladung angenommen und sich zwar gewundert, dass Chantelle offenbar nicht mit in Italien war, aber keine Fragen gestellt.

Gestern am frühen Abend hatten sie sich schließlich wiedergesehen. Es war ein bewegender Moment gewesen. Trotzdem hatte sie gespürt, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.

Guy hatte sich stark verändert. Er war nicht mehr der lebenslustige Mann von einst, sondern wirkte sehr ernst und älter als vierundvierzig. Die dunkelbraunen Haare zeigten bereits das erste Silbergrau, und die aristokratischen Gesichtszüge spiegelten eine gewisse Anspannung. Auch Paul, ein ausgesprochen hübscher Junge, schien nicht so unbekümmert, wie es ein Zwölfjähriger eigentlich sein sollte.

Nachdem Guy ihr den Stuhl an seiner Seite zurechtgerückt hatte, machte er sie mit den Leuten am Tisch bekannt. Er stellte ihr zunächst seinen guten Freund Maurice Charrière vor, dessen Frau Yvette und den Sohn Remy, der in Pauls Alter war.

Während des Abendessens verschluckte sich Guy an einem Bissen und geriet in akute Atemnot, ohne dass es jemand in der Runde anfangs mitbekam. Erst als er aufzustehen versuchte, bemerkten seine Freunde, was mit ihm los war. Sie sprangen auf und blickten ihn entsetzt an, doch keiner kannte sich mit Erste-Hilfe-Maßnahmen aus – bis auf Laura.

Seit über zehn Jahren arbeitete sie in ihrer Freizeit als Rettungsschwimmerin und bildete auch den Nachwuchs aus. Sie hatte schon viele Menschen vor dem Ertrinken bewahrt – unter anderem ihren Ehemann Ted. Ohne zu zögern eilte sie Guy zu Hilfe, indem sie die sogenannte Heimlich-Methode anwandte. Sobald Guy sich wieder halbwegs erholt hatte, bedankte er sich überschwänglich in seinem charmanten Englisch für die Lebensrettung.

„Jeder, der diese Methode kennt, hätte es machen können. Ich bin zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen“, erwiderte Laura und erntete allseits stürmischen Protest ob ihrer Bescheidenheit. Maurice erklärte sie sogar zur Heldin.

Später am Abend begleitete Guy sie zurück ins Hotel, während Paul bei Remy und dessen Eltern blieb. Als sie sich im Foyer von ihm verabschieden wollte, bat er sie, ihren Flug um einen Tag zu verschieben und morgen mit ihm nach Cap Ferrat zu kommen. Chantelle würde sie gern wiedersehen.

Beim Essen hatte er ihr erzählt, dass seine Frau vor drei Monaten mit dem Auto verunglückt war. Dabei hatte sie sich Verletzungen an den Beinen zugezogen, die inzwischen aber völlig abgeheilt waren. Eigentlich sollte sie problemlos laufen können, aber sie weigerte sich, aus dem Rollstuhl aufzustehen und ihr Leben wieder aufzunehmen. Auch wollte sie nicht mehr unter Leuten sein.

„Sie hat mir gegenüber allerdings den dringenden Wunsch geäußert, dich nach Cap Ferrat mitzubringen.“

Laura hatte ihre Arbeit in Siena erledigt. Warum sollte sie Guys Einladung ablehnen? Sie konnte ihre Heimkehr in die Staaten gut um einen Tag verschieben und von Nizza aus nach Los Angeles zurückfliegen. Und so hatte sie zugesagt.

In Guys Hubschrauber war sie heute auf dem Anwesen eingetroffen und anschließend mit einer Limousine zur Villa gefahren worden. Einem Traum von einem Haus, das geschmackvoll und edel mit Antiquitäten und äußerst reizvollem Kontrast dazu auch mit modernen Möbelstücken eingerichtet war.

Kurz nachdem eine Angestellte sie zu der Gästesuite geführt hatte, holte Guy sie ab, um sie zu Chantelle zu geleiten. Die grazile Dreiundvierzigjährige sah in ihrem Designerkleid noch immer aus, als könnte sie das Cover einer Modezeitschrift zieren. Doch schien sie ihr einst sprühendes Temperament verloren zu haben. In den braunen Augen spiegelten sich Traurigkeit, Kummer und Schmerz.

Ganz offensichtlich freute sie sich über Lauras Besuch. Und nachdem ihr Mann ihr von dem gestrigen Zwischenfall erzählt hatte, dankte sie ihr herzlich für Guys Lebensrettung. Außerdem lud sie sie ein, so lange wie möglich zu bleiben. Aber ihren Worten folgten keinerlei freundschaftliche Gesten.

Wie anders ist Chantelle früher gewesen, dachte Laura, während sie sich jetzt auf das Geländer des Balkons stützte. Es musste hart für Guy sein, mit dem veränderten Verhalten seiner Frau zurechtzukommen. Kein Wunder, dass er so ernst geworden war. Seit dem Unfall, hatte er ihr erklärt, sei Chantelle vor Angst wie gelähmt.

Laura wusste, was es hieß, Angst zu haben, und in wie vielen verschiedenen Formen diese auftreten konnte. Gleich am Anfang ihrer Ehe hatte sie Dinge über Ted erfahren, die ihre Liebe zu ihm hatten erkalten lassen. Aus Furcht vor Repressalien und vor der einflussreichen Familie Stillman hatte sie geschwiegen. Wäre sie mutiger gewesen, hätte sie sich nur wenige Monate nach der Hochzeit von Ted getrennt.

Chantelle litt offenkundig unter einer anders gelagerten Angst. Sie war nach dem Unfall vier Stunden lang in ihrem Wagen eingeschlossen gewesen, bevor man sie entdeckt und befreit hatte. Ein traumatisches Erlebnis, das die Psyche beeinträchtigte und erst einmal verarbeitet werden musste. Was alles andere als leicht war und eine Weile dauern konnte. Solche Verletzungen brauchen einfach Zeit, um zu heilen, wusste Laura aus eigener Erfahrung.

Die Situation war für Guy und seine Frau äußerst schwierig. Vermutlich weigerte sich Chantelle, aus dem Rollstuhl aufzustehen, weil sie fürchtete, die Leute könnten glauben, sie wäre bereit, ihr Leben wieder aufzunehmen. Aber das war unmöglich, solange man psychisch noch nicht bereit dazu war.

Nachdenklich kehrte Laura ins Zimmer zurück, um kurz ihr Make-up für die Party aufzufrischen, die Guy ihr zu Ehren heute gab. Als sie gerade fertig war, klopfte jemand an die Tür der Gästesuite. Wahrscheinlich wollte sich eines der Hausmädchen erkundigen, ob sie etwas benötigte. Sie öffnete und war überrascht, als Guy in cremefarbener Leinenhose und dazu passendem seidig schimmernden Hemd vor ihr stand.

„Können wir kurz miteinander sprechen?“

„Du meinst hier?“

„Ja. Mir wäre es lieber, wenn wir ungestört sind.“

„Natürlich. Komm rein.“

Sie gingen ins Wohnzimmer der Suite, wo er sich auf einen der gepolsterten Louis-XVI-Stühle setzte. Laura nahm ihm gegenüber auf dem kleinen Sofa Platz, das mit einem edlen Jacquardstoff bezogen war.

„Ich habe gehofft, dass ich vor der Party einen Moment in Ruhe mit dir reden kann.“ Guy beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. „Sag, wäre dein Mann sehr enttäuscht, wenn du nicht gleich zu ihm nach Kalifornien zurückfliegen würdest? Ich frage aus einem bestimmten Grund.“

Laura hatte ihm bisher nichts von ihrer unglücklichen Ehe erzählt. Aber er sah sie jetzt so forschend und aufmerksam an, dass sie nicht länger damit hinterm Berg hielt. „Ich habe vor sechs Monaten die Scheidung eingereicht. Je schneller sie durch ist, umso besser.“

„Es tut mir leid, dass du solchen Kummer hast. Ich hatte keine Ahnung.“

Sein Mitgefühl bewog sie, ihm die Wahrheit zu offenbaren. „Kummer hatte ich während der zweijährigen Ehe, die sich schnell als großer Fehler herausstellte. Die Trennung war das beste Heilmittel. Mein Mann wehrt sich gegen die Scheidung und lässt mich überwachen. Er möchte mich so dazu bringen, zu ihm zurückzukehren. Doch das wird nie geschehen. Ich hoffe, beim nächsten Gerichtstermin den Saal als freie Frau zu verlassen.“

„Bitte entschuldige, dass ich offen spreche … Gibt es jemand anderen, der in den Staaten auf dich wartet?“

„Nein.“ Wenngleich es unnötig gewesen war, hatte ihr Anwalt ihr geraten, sich von jedem Mann fernzuhalten, um Ted keine Angriffsfläche zu bieten.

„Was ist nur mit den Männern in deinem Land los?“

„Es liegt nicht an ihnen, sondern an mir. Seit der Trennung von Ted bin ich ständig beruflich unterwegs gewesen und zu beschäftigt, um an jemand anderen zu denken. Aber was ist der Hintergrund deiner Frage?“

Guy seufzte. „Du hast sicher Françoise kennengelernt, oder?“

Laura nickte. Françoise war eine Frau mittleren Alters, die Chantelle tagsüber oft Gesellschaft leistete, während Guy arbeitete.

„Sie hat ab morgen für zwei Wochen Urlaub. Ich habe selbstverständlich eine Ersatzkraft engagiert. Doch hoffe ich eigentlich, dass ich dich überreden kann, deinen Besuch auszudehnen, bis Françoise wieder da ist. Immer vorausgesetzt, es ist mit deinem Job vereinbar.“

„Guy …“

„Bitte lass mich aussprechen. Als Chantelle sagte, du mögest so lange wie möglich hierbleiben, war ich überglücklich. Seit dem Autounfall hat sie sich für niemanden mehr interessiert. Dir vertraut sie. Sie ist begeistert davon gewesen, wie du dich damals in Kalifornien um Paul gekümmert hast, und dir sehr zugetan. Ihr beide habt eine gemeinsame Vorgeschichte. Sie hat zweifellos bei dir nicht das Gefühl, dass du mehr von ihr verlangst, als sie geben kann.“

Große Güte, wie verzweifelt musste Guy sein. „So gern ich auch helfen möchte … Ich bin kein Arzt.“

Er schüttelte den Kopf. „Sie hat schon den allerbesten. Mir geht es um etwas anderes. Um die Art und Weise, wie sie auf dich reagiert. Wenn du tagsüber bei ihr wärst, natürlich nicht jede Minute, könnte es gut sein, dass sie dir so vertraut wie damals in Kalifornien. Ich glaube, dass du einen Weg zu ihr finden kannst und sie es mit deiner Unterstützung vielleicht schafft, sich wieder zu öffnen. Für dieses Wunder ist mir kein Preis zu hoch.“

„Sicher, sie hat sich mir vorhin zugewandt. Doch du weißt ebenfalls, dass ein kurzer Besuch immer ein willkommener ist. Ich habe Angst, sollte ich länger bleiben, dass meine Anwesenheit sie allmählich nerven wird und sie sich völlig verschließt. Es könnte passieren, und ich möchte nicht, dass du dieses Risiko eingehst.“

„Diese Gefahr besteht nicht. Du bist ein sehr friedlicher, ruhiger Mensch, und genau den braucht sie jetzt. Damals bist du so wunderbar mit Paul umgegangen, dass sie dich sofort akzeptiert hat. Daran hat sich nichts geändert. Deshalb meine ich auch, dass du eventuell hilfreich wärst. Wenn du deinen Aufenthalt etwas ausdehnen könntest … Lass uns sehen, was geschieht.“

„Ich weiß nicht, Guy.“

„Versprich mir nur, dass du darüber nachdenkst“, bat er sie inständig. „Und natürlich würde ich dich großzügig entschädigen.“

Laura atmete scharf ein. „Ich fühle mich geschmeichelt, dass du glaubst, meine Gegenwart könnte Chantelle guttun. Aber ich würde nie einen Cent dafür nehmen.“

Sie verdiente genug, um davon zu leben. Außerdem war ihr der Gedanke unerträglich, Geld anzunehmen, das sie sich nicht wirklich erarbeitet hatte. Selbst wenn sie ein gesetzliches Anrecht darauf hatte. Ihr Noch-Ehemann war vom Gericht verpflichtet worden, ihr Unterhalt zu zahlen. Doch sie hatte bisher keinen Dollar von dem Konto abgehoben und überlegte, die aufgelaufene Summe zu spenden.

Nach ihren Erfahrungen mit Ted misstraute sie allen vermögenden, einflussreichen Männern. Sie hatte zu spät erkannt, dass er sie nicht wirklich liebte, sondern sich mit ihr schmücken wollte. Und wie sein Vater und seine Brüder hatte er nichts dabei gefunden, die Ehe zu brechen und sie zu betrügen. Allerdings schien Guy, dessen Vermögen weit größer war als das der Stillmans, aus einem anderen Holz geschnitzt.

„Soll das heißen, dass du aus Freundschaft bleiben würdest?“ Seine Augen begannen, verdächtig zu glitzern. „Gestern Abend wäre ich vermutlich erstickt, hättest du nicht so schnell gehandelt. Ich fühle mich dir jetzt näher denn je. Deshalb möchte ich dir etwas sehr Persönliches erzählen.

Chantelle und mir ist quasi ein zweites gemeinsames Leben geschenkt worden. Bis vor drei Monaten war hier in der Villa das Glück zu Hause. Aber seither hat sich vieles verändert. Wir haben uns voneinander entfernt. Sie schottet sich praktisch von mir und der Welt ab. Früher sind wir immer zusammen mit den Charrières zum Palio gefahren. Doch dieses Mal wollte sie nicht mit. Ich bin mit Paul nur dort gewesen, weil sie sich so aufregte, als ich ihr sagte, ich würde sie nicht allein lassen.“ Er seufzte tief.

„Irgendetwas stimmt mit ihr nicht und hält sie gefangen. Ihr Psychiater ist frustriert, weil er ihr bislang nicht hat helfen können. Seit dem Unfall habe ich noch kein einziges Mal mit ihr schlafen dürfen. Laura, ich liebe meine Frau. Ich würde alles tun, um sie hinter der von ihr selbst errichteten Mauer hervorzuholen. Ich befürchte, dass sie etwas Schreckliches erlebt hat, während sie auf ihre Rettung wartete. Etwas, das ihr entsetzliche Angst eingejagt hat.“

„Zum Beispiel?“

„Vielleicht hat irgendein Mistkerl sie belästigt, als sie im Auto festsaß, und sie kann sich nicht dazu bringen, es mir zu erzählen.“

Laura graute bei der Vorstellung. Das Szenario war zwar höchst unwahrscheinlich, allerdings nicht ganz ausgeschlossen. „Meinst du nicht, sie hätte es dir gesagt?“

Guy sprang auf. „Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr“, stieß er verzweifelt hervor.

Wie sehr muss er Chantelle lieben, dachte Laura und überlegte ernsthaft, wie sie helfen konnte. Carl, ihr Boss in Los Angeles, würde ihr vermutlich noch zwei Wochen in Europa zubilligen. Sie könnte sogar einen Arbeitsurlaub daraus machen, was ihn bestimmt freuen würde.

Sie bezweifelte, dass sie bei Chantelle wirklich etwas ausrichten könnte. Wenn Guy es aber für möglich hielt, würde sie zumindest ihr Bestes versuchen, die gute Beziehung von einst wieder aufzubauen.

„Mein Chef dürfte momentan in seinem Büro sein. Ich werde ihn anrufen, und wenn er einverstanden ist, fliege ich noch nicht zurück und sehe, was ich hier bewirken kann. Chantelle war damals so nett zu mir, und wer würde sich in dieser herrlichen Umgebung nicht wohlfühlen? Ihr wohnt in einem Paradies, das nur wenige Leute auf der Welt genießen dürfen.“

Und Teds „Wachhunde“ werden mich hier nicht aufspüren, schoss es ihr durch den Kopf. Zwei Wochen lang würde sie frei atmen können, denn keiner aus der Familie Stillman hatte eine Ahnung, wo sie sich aufhielt. Welch ein Geschenk des Himmels.

Guy ging zu ihr und umfasste ihre Hände. „Du bist ein Engel, Laura. Ich weiß nicht, womit ich es verdient habe, dass sich unsere Wege ausgerechnet jetzt wieder kreuzen. Ich werde immer in deiner Schuld stehen. Egal, was du möchtest oder brauchst, es ist dein.“

„Vielen Dank.“ Sie erhob sich und begleitete ihn zur Tür. „Ich komme nach, sobald ich telefoniert habe.“

Raoul betrat das Haus seines Bruders durch den Seiteneingang, der seiner eigenen Villa auf dem weitläufigen Familienanwesen am nächsten lag. Gemächlich schlenderte er dann zu Guys bestem Freund Maurice, der im Wohnzimmer an der geöffneten Terrassentür stand.

„Hallo, Maurice. Comment ça va?

Maurice wandte den Kopf. „Bonsoir, Raoul. Du bist schon aus der Schweiz zurück?“

„Ja, seit heute Nachmittag. Ich konnte die Angelegenheit erfreulich schnell erledigen. Als Guy vorhin das Büro verließ, sagte er, er würde eine Party geben, nannte aber keinen Grund. Kennst du den Anlass? Seit dem Unfall meidet Chantelle doch jedes gesellige Beisammensein wie die Pest.“

„Er möchte Mrs Aldridge allen Freunden und der Familie vorstellen, weißt du, das ist die Amerikanerin, die du momentan anstarrst.“

Ja, er starrte tatsächlich eine Frau mit langen blonden Haaren an, und es ärgerte ihn, dass Maurice es bemerkt hatte. „Wer ist sie?“

„Die Frau, die ihn vorm Ersticken bewahrt hat.“

Raoul hob die schwarzen Brauen. „Wirklich?“

Die Nachricht vom Beinahetod seines Bruders passte zum heutigen Abend. Er hatte schon unerfreulich genug mit einem Anruf seiner Exfrau begonnen. Danielle war ziemlich beleidigend geworden und hatte ihm mit Selbstmord gedroht, sollte er ihrer Beziehung keine zweite Chance geben. Wie üblich hatte sie versucht, seine Aufmerksamkeit zu erheischen. Er war ihr Verhalten inzwischen leid und hatte das Telefonat abrupt beendet. Doch spürte er noch immer den Widerwillen, den sie bei ihm ausgelöst hatte.

„Ja, das hat sie.“

„Wann ist es passiert?“

„Gestern Abend beim Dinner in Siena. Guy hat sich verschluckt. Uns ist erst überhaupt nicht aufgefallen, in welchen Schwierigkeiten er steckte, und dann haben wir nicht gewusst, was wir tun sollten. Bis auf Mrs Aldridge, die ihm das Leben gerettet hat.“

„Dem Himmel sei Dank.“ Raoul war erleichtert und zugleich etwas verwirrt. Warum hatte sein Bruder ihm vorhin im Büro nichts davon erzählt? Es war völlig untypisch für ihn. „Was macht sie hier in Cap Ferrat?“

„Guy wollte sich bei ihr bedanken und beschloss, ihr zu Ehren eine Party zu geben.“

„Und Chantelle ist damit einverstanden?“

Raoul fand das Ganze ziemlich seltsam. Sein Bruder fühlte sich für Chantelles aktuellen Zustand verantwortlich und litt unter Schuldgefühlen. Außerdem konnte man die Ehe der beiden momentan nicht gerade als stabil bezeichnen. Die Amerikanerin war eine Fremde, auch wenn sie ihn vorm Ersticken bewahrt hatte.

„Es scheint so. Und Mrs Aldridge ist eine außergewöhnliche Frau“, fügte Maurice mit ehrfürchtig klingender Stimme hinzu, während er den Blick über Laura schweifen ließ.

Sie dürfte mindestens fünfzehn Jahre jünger sein als ich, dachte Raoul. Aber das Alter war letztlich unbedeutend, wenn eine Frau eine so wohlproportionierte feminine Figur besaß und mehr Sinnlichkeit ausstrahlte, als erlaubt sein sollte.

Man konnte es den männlichen Gästen sicher verzeihen, dass sie ihre Gespräche unterbrachen, um diese Schönheit zu betrachten. Die anwesenden Frauen hingegen gaben – wenngleich erfolglos – vor, dass sie das hinreißende Wesen in dem eleganten apricotfarbenen Seidenkleid nicht bemerkten.

Das Geschehen hätte Raoul amüsiert, wäre er von ihrer Weiblichkeit nicht selbst in den Bann gezogen worden. Die Amerikanerin schien sich ihrer Wirkung allerdings überhaupt nicht bewusst zu sein. Doch dieses Verhalten konnte nur gespielt sein. Eine so fesselnde Schönheit wusste genau um ihre Macht – diese Erfahrung hatte er am eigenen Leib gemacht.

Vor vielen Jahren hatte ihn eine solche Frau beinahe eingewickelt und er sich ihretwegen fast die Zukunft ruiniert. Er war von ihren Reizen so geblendet gewesen, dass er ihr wahres Gesicht erst sehr spät erkannte. Sie hatte ihn von vorne bis hinten belogen und gehofft, sich ihn als Ehemann Nummer drei zu angeln und ihr restliches Leben im Luxus zu genießen.

Es war ein herber Schlag für sein Ego gewesen, aber er hatte ihn überlebt und schließlich verwunden. Als er dann Danielle begegnet war, war er ihrer Faszination ganz schnell erlegen. Sie stammte aus einer guten, wohlhabenden Familie und benötigte folglich sein Geld nicht. Deshalb hatte er seine Wachsamkeit und Vorsicht aufgeben können und ihr schon bald einen Heiratsantrag gemacht.

Welch ein schrecklicher Fehler! Mit der Zeit stellte sich nämlich heraus, dass seine vermeintlich liebende Gattin ebenfalls eine große Lügnerin war. Was das Ende ihrer Ehe bedeutet hatte. Und kein Bitten und Betteln würden je wieder die Gefühle in ihm wecken, die er einst für sie empfunden hatte.

Dankend verneinte Raoul, als eines der Hausmädchen ihm ein Glas Wein anbot. Er brauchte jetzt etwas wesentlich Stärkeres. „Wie lange wird Mrs Aldridge hierbleiben?“

„Sie hatte in Europa einen Auftrag zu erledigen“, antwortete Maurice. „Ich habe keine Ahnung, wie bald sie an ihren Arbeitsplatz zurückkehren muss.“

Unwillkürlich ließ Raoul den Blick zu ihr schweifen. Sie maß etwa einen Meter siebzig, vielleicht auch zweiundsiebzig. Eine Größe, die ihren Reiz besaß, wie ihm zum ersten Mal bewusst wurde. Erneut ärgerte er sich, weil er etwas bemerkte, das ihm gar nicht auffallen sollte.

„Was macht sie beruflich?“

„Ich weiß es nicht. Ihre Rettungstat war an dem Abend in Siena das vorrangige Gesprächsthema. Später bat uns Guy, uns um Paul zu kümmern, während er sie ins Hotel zurückbegleitete.“

Na wunderbar! Was dachte sich sein Bruder nur? Verstohlen sah er zu der Amerikanerin hin. „Woher kommt sie?“

„Aus Südkalifornien.“

Ein Model dürfte sie aufgrund der sehr weiblichen Figur nicht sein, überlegte er. Wahrscheinlich war sie irgendeine Schauspielerin, die ihre Rollen ihrer Erscheinung und der sinnlichen Ausstrahlung verdankte.

Er blickte zu seiner elegant gekleideten Schwägerin im Rollstuhl. Sie wirkte noch immer jung – und gleichzeitig sehr in sich gekehrt. Wie stark hatte sie sich nach dem Unfall verändert.

Verflixt, sie brauchte keinen zweiten seelischen Schock. Warum, in aller Welt, brachte Guy diese Mrs Aldridge ins Haus? Je früher sie in die Staaten zurückflog, umso besser.

Bevor er Maurice noch weiter ausfragen konnte, entdeckte sein Bruder ihn und kam sogleich mit seinem Gast auf ihn zu. Raoul fand es beunruhigend, fast schon widerwärtig, wie vertraut er die Amerikanerin am Ellbogen fasste.

„Raoul, ich möchte dich mit Laura Aldridge bekannt machen. Laura, das ist mein jüngerer Bruder Raoul, das Genie unserer Familie. Laura hat mich gestern vorm Ersticken bewahrt.“

„Davon habe ich gehört“, antwortete Raoul leise und bemühte sich, gelassen zu klingen. Am liebsten hätte er Guy beiseitegenommen und ihn um eine Erklärung gebeten. Stattdessen schüttelte er Laura die Hand und bemerkte, dass sie keinen Ring trug. „Enchanté, Madame“, sagte er und betonte die Anrede.

Ihre schmale, gepflegte Hand ist so wohlgeformt wie ihr ganzer Körper, schoss es ihm durch den Kopf. Im nächsten Moment wurde ihm bewusst, wohin sich seine Gedanken verirrten, und er fluchte insgeheim.

„Warum so förmlich? Laura ist meine Lebensretterin. Ihr solltet euch duzen.“

„Guten Abend, Raoul“, erwiderte sie höflich, jedoch leicht abweisend, als ahnte sie, dass er sie begutachtet hatte.

Raoul fühlte sich ertappt, und der intelligente Ausdruck in ihren grünen Augen machte ihn zusätzlich gereizt. „Welch glücklicher Umstand für uns Laroches, dass du in deiner Freizeit Leben rettest.“

Laura lächelte Guy zuliebe. „Damit verdiene ich unter anderem meinen Lebensunterhalt.“

Obwohl es ihm missfiel, dass er körperlich auf sie reagierte, konnte er sich ihrer faszinierenden Ausstrahlung nicht entziehen. „Du bist also in der Notrufzentrale beschäftigt?“

„Laura arbeitet ab und an als Rettungsschwimmerin am Manhattan Beach in Kalifornien. Daher kennt sie auch diese Rettungsmethode von Heimlich“, erklärte Guy.

Unwillkürlich musste Raoul an die amerikanische Fernsehserie „Baywatch“ denken. Vermutlich hatten viele Franzosen begeistert verfolgt, wie Pamela Anderson und ihre Geschlechtsgenossinnen sich in die Fluten stürzten. „Ich habe nicht gewusst, dass die Heimlich-Methode bei diesen Rettungen angewandt wird“, sagte er und beobachtete, wie sich ihre grünen Augen dunkler färbten.

„Das wird sie auch nicht.“

„Wie gut, dass sie sie trotzdem beherrscht“, meinte Guy leise, während er Laura bewundernd anblickte.

Raoul hoffte, dass Chantelle diesen Blick nicht sehen konnte. In den Tagen, in denen er auf Geschäftsreise gewesen war, hatte sich in der Welt seines Bruders offenbar viel ereignet.

„Ja, fast sollte man von einem Wunder reden“, meldete sich Maurice zu Wort.

Guy nickte. „Ich möchte, dass ihr es als Erste erfahrt: Laura hat sich von der Arbeit freistellen lassen können. Sie wird die nächsten zwei Wochen, während Françoise nicht da ist, unser Hausgast sein. Ich hoffe, dass ihre Gegenwart sich positiv auf Chantelle auswirkt.“

Raoul brauchte einen Moment, um sich von dieser überraschenden Neuigkeit zu erholen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sein Bruder konnte die Frau unmöglich erst gestern Abend kennengelernt haben. Niemand, der etwas auf sich hielt, würde eine solche Einladung nach so kurzer Bekanntschaft annehmen.

Hatten Guy und sie eventuell schon vor Chantelles Unfall eine Beziehung angefangen? Wusste seine Schwägerin vielleicht sogar davon? Das würde jedenfalls erklären, warum sie sich so stark verändert hatte. Sollte sein Bruder tatsächlich eine Affäre haben, spielte er ein gefährliches Spiel, was so überhaupt nicht zu ihm passte.

Raoul schwirrte der Kopf. Konnte es sein, dass Guy bereits seit einiger Zeit insgeheim ein Verhältnis mit dieser Amerikanerin hatte? War es womöglich mit ihr abgesprochen gewesen, dass sie gestern in seiner Nähe sitzen und er einen Erstickungsanfall simulieren sollte? Hatte er sich so einen Vorwand verschafft, sie in sein Haus zu holen?

Immer hatte Raoul geglaubt, sein Bruder und Chantelle würden eine perfekte Ehe führen. Er hatte nie ein glücklicheres Paar erlebt. Hatte er sich getäuscht und Guy allen etwas vorgegaukelt?

„Wie schön, dass du einen Job hast, der dir so viel Freiheit lässt.“ Raoul beobachtete die Anspannung, die sich in Lauras fein geschnittenem Gesicht spiegelte. Seine Bemerkung hatte offenbar ihr Ziel nicht verfehlt. Sie war sichtlich beunruhigt.

„Ich habe Glück, dass mein Boss so verständnisvoll ist.“

Mit Glück hatte es wohl nichts zu tun. Sie konnte sicher jeden Mann auf der Welt so verzaubern, dass er ihr alle Wünsche erfüllte. Sogar seinen Bruder, zu dem er stets aufgeblickt hatte, unter anderem wegen seiner strengen Prinzipien.

Jetzt brauche ich wirklich einen harten Drink, dachte Raoul und schaute Guy an. „Wenn du mich bitte entschuldigst. Ich möchte Chantelle Hallo sagen.“

Vielleicht brachte die Erwähnung des Namens seiner Frau ihn zur Besinnung und veranlasste ihn, ihr seine Aufmerksamkeit zu schenken. Nein, seine Worte bewirkten leider nicht das Geringste.

Flüchtig sah er Laura an und nickte höflich zum Abschied. Noch kein weibliches Wesen hatte je zuvor eine solche Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Zielstrebig ging er auf das Arbeitszimmer zu, das an den Wohnraum grenzte. Er öffnete den Barschrank und schenkte sich einen Whisky ein. Hoffentlich betäubte das Getränk seine Sinne ein wenig, die beim Anblick der blonden Amerikanerin in Aufruhr geraten waren.

Außerdem würde ihm diese Stärkung helfen, seine Schwägerin halbwegs normal zu begrüßen und sich nicht zu verraten, bevor er alle Fakten kannte. Er würde Laura Aldridge überprüfen lassen. Dass ein Mann ihren Reizen erlag, konnte er gut nachvollziehen. Aber was wusste Guy tatsächlich über sie?

Raoul stürzte den Whisky hinunter und bediente sich noch ein zweites Mal. Dann schlenderte er mit seinem Glas zu der geöffneten Terrassentür und sah gedankenverloren nach draußen.

„Raoul?“

Er schreckte aus seiner Versunkenheit und drehte sich um. Maurice war ins Arbeitszimmer gekommen. „Ja?“

„Können wir kurz miteinander sprechen?“

„Natürlich. Gehen wir zum Pool“, schlug er vor, denn dort würden sie sich ungestört unterhalten können. „Worüber möchtest du mit mir reden?“

„Über deinen Bruder.“

Beunruhigte Guys seltsames Benehmen auch Maurice? Die beiden waren seit Jahren gute Freunde. „Ich mache mir ebenfalls seinetwegen Gedanken.“

„Er ist so verzweifelt. Ich fürchte, er klammert sich an einen Strohhalm.“

Wie bitte? Raoul war verwundert. Diese Antwort hatte er nicht erwartet. Bemerkte er als Einziger, was sich hier abspielte? Wenn ja, dann wohl deshalb, weil eine Frau ihn selber einmal gründlich genarrt und er seine Lektion gelernt hatte.

„Yvette glaubt, dass es wegen des Altersunterschieds zwischen den beiden nicht funktionieren kann“, fuhr Maurice fort. „Ich neige dazu, ihr zuzustimmen.“

Offenbar erkennt er die Zeichen doch, dachte Raoul. Maurice schob geschickt seine Frau, eine Freundin von Chantelle, vor, um ihn vor der Gefahr zu warnen, die diese Amerikanerin darstellte. Eine jüngere Frau sollte keinen Kontakt zu Chantelle finden können? Nein, das hatte Maurice nicht gemeint. Diskret, wie er war, hatte er ihm durch die Blume etwas anderes mitteilen wollen.

Schon aus Loyalität zu seinem Bruder sollte er dieses Gespräch nicht fortsetzen. „Letzten Endes ist es Guys Entscheidung, oder? Bitte entschuldige mich jetzt. Nach meiner Geschäftsreise brauche ich dringend etwas Schlaf. Grüß Chantelle von mir und sag ihr, dass wir uns morgen sehen.“

2. KAPITEL

Nachdem Guys Bruder gegangen war, konnte Laura wieder freier atmen. Seit der Sekunde, in der sie seinen durchdringenden Blick gespürt hatte, war sie angespannt gewesen. Raoul mochte sie nicht, aus welchem Grund auch immer.

Eigentlich hätte es ihr egal sein sollen. Doch hatte sie die Feindseligkeit verblüfft, die ihr entgegengeschlagen war. Sie hatte sie sogar aus mehreren Metern Entfernung deutlich wahrgenommen. Und die kurze Begegnung mit ihm hatte ihr Empfinden weiter bestätigt.

Zweifellos war er ein ausgesprochen attraktiver Mann. Er maß gut einen Meter neunzig und hatte widerspenstige schwarze Haare sowie ein kantiges Gesicht mit markanten Zügen. Außerdem besaß er eine ungeheuer sinnliche Ausstrahlung, der sie sich nicht verschließen konnte, sosehr sie es auch versucht hatte.

Laura mischte sich unter die Gäste und schlenderte nach einer Weile auf Chantelle zu. Mehrere Freundinnen hatten sich um sie geschart und bemühten sich, sie in die Unterhaltung mit einzubeziehen.

Aber sie reagierte nicht im Mindesten, saß teilnahmslos in ihrem Rollstuhl, als wäre sie in einer eigenen Welt. Laura setzte sich in einen Sessel ganz in der Nähe und massierte sich die Schläfen. Hoffentlich konnte sie die Kopfschmerzen noch verhindern.

„Ich kann dir eine Tablette geben“, sagte Chantelle plötzlich. „Komm mit.“

Laura staunte nicht schlecht. Ihr war überhaupt nicht aufgefallen, dass Chantelle sie beobachtet hatte. Und die warmherzige Fürsorglichkeit erinnerte sie an die Frau von einst. Vielleicht bot sich ihr hier eine Gelegenheit, etwas von der alten Vertrautheit zwischen ihnen wiederherzustellen.

„Vielen Dank, ich könnte gut eine gebrauchen.“

Sie folgte Chantelle, deren überraschte Freundinnen schnell zur Seite traten. Geschickt manövrierte sie ihren Rollstuhl zwischen den Gästen hindurch und fuhr dann in den seitlichen Flügel der Villa, wo sich die privaten Räume des Ehepaars befanden. Noch bevor Laura ihr eine Tür öffnen konnte, hatte sie es bereits selbst gemacht. Schließlich hielt sie im erlesen eingerichteten Wohnzimmer vor dem Couchtisch an, auf dem eine Medikamentenpackung lag.

„Hier, nimm. Ich habe noch mehr davon, sollte sie dir nicht reichen.“

„Herzlichen Dank.“

„Gern geschehen.“ Sie blickte Laura an. „Ich habe gesehen, wie du vorhin mit Raoul gesprochen hast. Er ist seit dem Unfall sehr besorgt um mich und kann ziemlich unfreundlich sein. Lass dich von ihm nicht verscheuchen. Er hat mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Ich habe Guy gebeten, dich zu uns einzuladen. Raoul bewohnt seine eigene Villa. Wer bei uns zu Besuch ist, geht ihn nichts an. Ich wünsche dir eine erholsame Nacht. Hoffentlich schläfst du gut.“

Erst wurde sie gewarnt und danach abrupt verabschiedet. „Das tue ich bestimmt. Und du hoffentlich auch. Angenehme Träume.“

Auf dem Weg ins Gästeapartment überdachte Laura noch einmal Chantelles Worte. Sie ließen keinen Rückschluss zu, ob sie ihren Schwager mochte oder nicht. Doch machten sie deutlich, dass sie geistig völlig fit war und dass es in der Familie Laroche Geheimnisse gab.

Laura hatte das Gefühl, sich in einem Kriegsgebiet zu befinden, in dem Landminen verlegt waren, die bei dem kleinsten falschen Schritt explodierten. Die nächsten zwei Wochen könnten ganz schön anstrengend werden, überlegte sie, während sie den Wohnraum der Suite betrat. Sie schenkte sich ein Mineralwasser ein und schluckte eine der Tabletten.

Nein, sie würde jetzt mit Sicherheit noch nicht schlafen können, dazu war sie viel zu angespannt. Ein paar Bahnen im Pool würden ihr bestimmt guttun.

In dem weißen Einteiler, den sie immer als Rettungsschwimmerin trug, ging sie wenig später die Stufen zum Pool hinunter. Sie warf das mitgebrachte Handtuch auf eine Liege, kühlte sich unter der Dusche etwas ab und sprang kopfüber ins Becken.

Mit einem wohligen Seufzer drehte sie sich nach dem Auftauchen auf den Rücken und bewegte einfach nur die Beine auf und ab. Das Wasser war lauwarm, und über ihr glitzerten die Sterne am wolkenlosen Abendhimmel. Sie kam sich vor wie im Paradies.

Nach einer perfekten Wende kraulte sie kraftvoll durch den Pool. Auf der zweiten Etappe spürte sie dann, wie ihre Anspannung mehr und mehr nachließ. Sie hatte das andere Ende fast erreicht, als sie plötzlich mit einem muskulösen Männerkörper kollidierte. Im nächsten Moment fühlte sie, wie sich zwei starke Arme um sie legten und sie festhielten. Überrascht schaute sie auf und sah Raoul, dessen Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war.

„Ich … ich habe nicht bemerkt, dass du im Pool bist“, stieß sie hervor.

„Meine Villa liegt auf der anderen Seite der Hecke. Ich bin einfach ins Becken gesprungen, ohne dich im dunklen Wasser gesehen zu haben.“

Die beiden Brüder wohnten also praktisch Tür an Tür. Jetzt verstand sie Chantelles Warnung noch besser. Starr blickte sie Raoul an. Die nassen schwarzen Haare klebten ihm am Kopf.

Immer wieder berührten sich ihre Körper. Der Pool war an dieser Stelle so tief, dass sie nicht stehen konnten und sich durch Schwimmbewegungen über Wasser halten mussten.

Als sich ihre Beine miteinander verhedderten, empfand Laura plötzlich ein so großes Verlangen, dass sie kaum noch atmen konnte. Und zu allem Überfluss blieb Raoul nicht verborgen, welche Wirkung er auf sie hatte, das konnte sie in seinen dunklen Augen lesen.

Peinlich berührt von der starken Anziehungskraft, die er auf sie ausübte, befreite sie sich aus seinen Armen. Sie kraulte zurück zum anderen Ende – wo Raoul sie bereits erwartete, und zwar kein bisschen außer Atem.

„Wie wär’s mit einem Wettschwimmen über zehn Runden? Wer gewinnt, darf den Siegerpreis bestimmen.“

Er glaubte doch nicht ernsthaft, sie wäre so dumm, sich darauf einzulassen. Natürlich würde er gewinnen, und welcher Siegerpreis ihm vorschwebte, war ihr nur zu klar.

„Es war ein langer Tag. Ich bin leider zu müde, um in Bestform zu sein.“

Energisch drückte sie sich mit den Füßen vom Beckenrand ab und kraulte zurück. Dann kletterte sie aus dem Pool, nahm das Handtuch von der Liege und stieg die Stufen zum Gästeapartment hinauf. Deutlich spürte sie Raouls Blick, bis sie aus seinem Gesichtskreis verschwunden war.

Selbst die heiße Dusche half ihr nicht, sich zu entspannen. Als Raoul die Arme um sie gelegt und sie festgehalten hatte, war ihr Körper zu neuem Leben erwacht. Verflixt, sie hatte eigentlich gemeint, sie würde nie wieder so empfinden.

Sogar als sie schließlich im Bett lag, hatte sie sich noch nicht ganz beruhigt. Aber ihre Reaktion auf ihn hatte kaum etwas damit zu tun, ob sie ihn mochte oder nicht. Ihre Hormone spielten schlichtweg verrückt.

Wie unter Zwang ließ sie noch einmal die Unterhaltung im Wohnzimmer Revue passieren. Seine Fragen und Bemerkungen waren mit viel gutem Willen gerade noch höflich zu nennen. Begegnete er jedem fremden Menschen so wenig freundlich, oder stellte sie eine Ausnahme dar?

Laut Chantelle hatte er eigene Probleme. Was bis zu einem gewissen Grad vielleicht seine scharfe Art erklärte, allerdings nicht die Bissigkeit, die er ihr gegenüber gezeigt hatte. Die war gegen sie persönlich gerichtet gewesen.

Und was hatte sein Benehmen im Pool zu bedeuten? Für jemanden, der sie nicht mochte, hatte er sie eigentlich etwas zu lange festgehalten. Doch fiel es Männern leichter, nicht dem Verstand zu folgen, sondern dem Begehren. Wenn sie nur den Moment genauso gelassen betrachten könnte wie er.

Er trug keinen Ehering. Also war er vermutlich noch Junggeselle oder geschieden. Möglicherweise lebte er auch in Trennung. Dann wartete er entweder ungeduldig darauf, seine Freiheit zurückzugewinnen, oder er litt schrecklich, weil er seine Frau noch liebte. Letzteres würde immerhin seine spitzen Bemerkungen erklären. Er fühlte sich verletzt und wollte deshalb anderen wehtun.

Laura drehte sich auf die Seite und hoffte, endlich Schlaf zu finden. Von jetzt an würde sie den Pool nur noch tagsüber benutzen. Eine weitere Begegnung wie die eben, auf die sie nicht im Mindesten vorbereitet gewesen war, wollte sie auf alle Fälle vermeiden.

Einen Moment lang hatte sie gemeint, Raoul wollte sie küssen. Aber noch verrückter war, dass sie ihn nicht daran gehindert hätte. Sie hatte tatsächlich das verrückte Verlangen gehabt, seine Lippen auf ihren zu spüren und ihn zu schmecken!

Sie war nicht weltfremd. Natürlich wusste sie, dass zwischen Menschen, die sich praktisch nicht kannten, dergleichen immer wieder vorkam. Man nannte es Lust. Sie hatte schon oft davon gehört, es allerdings noch nie selbst erlebt – bis zum heutigen Abend. Nein, solche Gefühle konnte sie nicht gutheißen. Doch bestimmt war er ein toller Liebhaber, ging es ihr im nächsten Augenblick durch den Kopf. Wohin verirrten sich ihre Gedanken! Wütend über sich selbst legte sie sich auf den Bauch und zog sich das Kissen über den Kopf, als könnte sie ihre Fantasien dadurch im Keim ersticken.

Seit Laura den Pool verlassen hatte, war Raoul zwanzig Bahnen geschwommen, um erschöpft ins Bett sinken zu können. Er war eben absichtlich mit ihr zusammengestoßen, um eine Reaktion von ihr zu provozieren. Aber seine Aktion hatte sich als Bumerang erwiesen, wie er deutlich spürte.

Auch war sein Plan gescheitert, sie länger im Becken festzuhalten. Hoffentlich habe ich mich jetzt genug ausgepowert, um ohne Tablette schlafen zu können, dachte er, als er schließlich aus dem Wasser stieg.

„Raoul? Was tust du denn hier?“ Guy klang verwundert.

Natürlich war sein Bruder erstaunt, dass er diesen Pool benutzte und nicht seinen eigenen. Doch hätte er ihm umgekehrt auch gern einige Fragen gestellt. Aber die Situation war ausgesprochen misslich, da es nur einen Grund geben konnte, warum Guy hier in der Badehose auftauchte. Laura! Sie hatte aus ihnen beiden Narren gemacht.

„Paul hat sich vorhin erkundigt, ob wir ein paar Bahnen zusammen schwimmen würden.“ Das war nicht gelogen. „Als ich herkam, war er nicht mehr da. Wie hat Chantelle die Party verkraftet?“

„Ich weiß es nicht.“ Guy schlenderte auf seinen Bruder zu. „Sie hat bereits geschlafen, als ich bei ihr vorbeigeschaut habe. Ist Laura im Pool gewesen?“

Höre ich da so etwas wie Eifersucht in seiner Stimme? überlegte Raoul. Guy wäre schockiert, würde er nur ahnen, was er gern mit Laura getan hätte. Aber er hatte sich beherrscht, und bei der Vorstellung, dass sein Bruder vielleicht ein Verhältnis mit ihr hatte, wurde er wütend. „Sie hat ein paar Runden gedreht und ist dann ins Haus gegangen.“

„Sie hat nichts über Chantelle gesagt?“

Guy klang beunruhigt, und das sollte er auch sein. Er sollte sogar hochgradig beunruhigt sein. „Warum hätte sie es sollen?“

Guy fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Sie haben während der Party den Wohnraum zusammen verlassen. Ich habe mich gefragt, worüber sie geredet haben.“

„Auf die Antwort wirst du schätzungsweise bis morgen warten müssen“, erwiderte Raoul scharf. „Du hast sie doch hierher eingeladen, damit sie Chantelle Gesellschaft leistet, oder?“, erkundigte er sich, und sein Bruder nickte.

Jetzt wäre eigentlich der Zeitpunkt für ein Geständnis gekommen. Aber Guy schwieg. Auch entdeckte Raoul nicht das kleinste Anzeichen dafür, dass er unter Gewissensbissen litt. Stattdessen spiegelte sich Enttäuschung in seinem Gesicht, die seine wahre Absicht verriet.

Sein Bruder schämte sich offenbar nicht im Mindesten. Doch kann er in meiner Gegenwart wohl kaum in die Gästesuite gehen. Dass Guy heute Abend nicht zu Laura konnte, erfüllte Raoul in Bezug auf Chantelle mit Erleichterung und erfreute ihn rein persönlich ungemein.

Gemächlich trocknete er sich mit einem flauschigen Handtuch ab. Er beabsichtigte bestimmt nicht, vor seinem Bruder von hier zu verschwinden. Heute würde es kein trautes Beisammensein mehr geben.

„Ich bin möglicherweise morgen erst später im Büro“, sagte Guy leise.

Möglicherweise? Mit Sicherheit! Vermutlich würde man ihn in den nächsten vierzehn Tagen nur äußerst selten dort antreffen. „Ich werde auch nicht da sein. Jean-Luc möchte, dass ich mir ein Lagerhaus in Antibes anschaue. Warum kommst du nicht mit? Dann können wir gleich vor Ort entscheiden, ob wir es kaufen wollen. Da Laura jetzt bei Chantelle ist, musst du dich nicht mehr ständig sorgen, wenn du eine kurze Weile nicht in unmittelbarer Nähe bist.“ Und eventuell konnte er seinen Bruder auf der Fahrt dazu bringen, sich ihm anzuvertrauen. Sie hatten noch nie Geheimnisse voreinander gehabt.

Guy schüttelte den Kopf. „Vielleicht das nächste Mal.“ Er wandte sich um und trat tief in Gedanken versunken den Rückweg an.

Raoul blickte ihm nach. Er war innerlich zerrissen. Einerseits tat es ihm weh zu sehen, wie sehr sich Guy verändert hatte. Aber es empörte ihn auf der anderen Seite auch, dass sein Bruder womöglich eine Affäre mit dieser Amerikanerin hatte, die ihm selbst nicht mehr aus dem Sinn ging. Wie viele Männer hatte sie hier in Europa wohl schon vor Guy umgarnt?

Frauen wie sie brauchten ihren Lebensunterhalt nicht selbst zu verdienen. Höchstwahrscheinlich hatte sie überhaupt keinen richtigen Job. Die Geschichte vom verständnisvollen Boss war mit Sicherheit erfunden.

Frauen wie Laura ließen sich von ihren Opfern finanzieren. Wenn sie von einem Mann genug hatten und sich langweilten, suchten sie sich den nächsten mit einem reichlich gefüllten Bankkonto. Warum erkannte Guy das nicht?

Morgen rufe ich einen unserer Anwälte an, beschloss Raoul. Es konnte nicht schaden, die Amerikanerin überprüfen zu lassen. Vielleicht war sie nicht diejenige, die zu sein sie vorgab. Unter Umständen wurde ihr Name sogar auf beiden Seiten des Atlantiks in einem Strafregister geführt.

Nach dem Tod der Eltern vor vielen Jahren hatte Guy stets ein Auge auf ihn, den jüngeren Bruder, gehabt. Nun war die Zeit gekommen, dass er sich revanchierte. Er würde Guy vor einer Raubkatze beschützen, die mit ihren Reizen selbst aus einem Heiligen einen Sünder machen konnte.

Am nächsten Morgen geleitete ein Hausmädchen Laura zu Chantelle, die auf der Terrasse vor dem Speisezimmer saß. Von hier aus hatte man einen wunderbaren Blick auf ein Meer von Rosen, deren herrlicher Duft Laura gestern schon in die Nase gestiegen war.

Bonjour, Laura.“

Bonjour, Chantelle.“

Laura lehnte ihren Skizzenblock gegen eines der gusseisernen Beine des Glastischs, bevor sie sich Chantelle gegenüber hinsetzte. Momente später wurde ihnen das Frühstück serviert.

„Wie hast du geschlafen?“

„Bestens, sobald die Tablette gewirkt hatte. Nochmals danke. Ich sollte mir in der Apotheke selbst welche besorgen.“

„Das ist nicht nötig. Ich habe noch viele. Sag mir einfach, wenn du Nachschub brauchst.“

„Danke, das ist nett von dir.“ Laura biss in das Croissant und kaute genüsslich. „Es zergeht auf der Zunge“, meinte sie schließlich, und Chantelle lächelte sie unerwartet an.

„Ich werde es an den Küchenchef weiterleiten.“

Laura lachte. „Weißt du, dass ich mir wie im Paradies vorkomme? Euer Zuhause ist ein einziger Traum.“ Sie ließ den Blick über die prächtigen Rosen schweifen. „Du musst die besten Gärtner von ganz Frankreich haben.“

„Vor meinem Unfall habe ich mich selbst um die Pflege gekümmert. Nun muss ich den Leuten erklären, wie sie ihren Job machen sollen. Leider übersehen sie zu viel Unkraut.“

„Ich könnte in der nächsten Zeit das Jäten übernehmen.“

„Magst du denn Gartenarbeit?“

Laura nickte. „Ich habe dir doch damals erzählt, dass ich bei meiner Großmutter aufgewachsen bin. Sie hat Blumen über alles geliebt und mich schon als Kind in die Geheimnisse des Gärtnerns eingeweiht. Ich bin immer gern mit ihr draußen gewesen.“

„Lebt sie noch?“

„Nein. Sie ist vor acht Jahren gestorben. Ich habe bis zu meiner Heirat weiter in ihrem kleinen Bungalow gewohnt. Dann hat mein Mann mich überredet, das Haus zu verkaufen, und seither habe ich mich nicht mehr als Gärtnerin betätigt.“

Sie hätte nicht so schnell auf Ted gehört, wäre da nicht der Bauträger gewesen, der die Grundstücke in der Umgebung erwarb, um ein Einkaufszentrum zu errichten. Ihr Mann hatte argumentiert, dass sie vermutlich nie einen höheren Preis für die Immobilie erzielen würde.

Also hatte sie sich, wenn auch widerwillig, von ihrem Eigentum getrennt. Kurz danach war das Projekt gescheitert, und sie hatte sich des Gefühls nicht erwehren können, dass dies keine Überraschung für Ted gewesen war. Er hatte nicht gewollt, dass sie an irgendwelchen Erinnerungen festhielt.

„Wenn du wirklich Unkraut jäten möchtest, will ich dich nicht daran hindern.“

„Nur zu gern. So kann ich mich etwas nützlich machen. Aber vor allem brenne ich darauf, wieder einmal in der Erde zu wühlen.“

„Ich weiß genau, was du meinst.“

Chantelles Antwort stimmte Laura für einen Moment traurig. Offenbar sehnte sie sich danach, im Garten zu arbeiten, konnte sich jedoch nicht dazu bringen, es zu tun.

„Morgen bitte ich den Gärtner, dir Handschuhe und die nötigen Gerätschaften zu geben.“

„Danke.“

„Ich glaube, dass in jedem, der Spaß am Gärtnern hat, ein Künstler steckt. Zeigst du mir deinen Skizzenblock, wenn du zu Ende gefrühstückt hast?“

„Du kannst ihn dir gern gleich anschauen.“ Laura reichte ihn ihr.

Bedächtig schlug Chantelle ein Blatt nach dem anderen um. Als sie Laura schließlich wieder ansah, leuchteten ihre Augen wie einst. „Du hast die Atmosphäre beim Palio toll eingefangen. Die Leute … die Kostüme … die Pferde … Du bist ein echtes Genie.“

„Nein.“

„Doch, das bist du“, erwiderte Chantelle energisch. „Was machst du aus den Skizzen? Fertigst du Ölgemälde? Oder Aquarelle?“

„Weder noch. Ich habe Grafikdesign studiert und arbeite seit meinem Abschluss für eine kalifornische Firma, die Videospiele herstellt. Mein Job ist es, reizvolle Hintergründe für die Spiele zu liefern, die andere Kollegen dann entwickeln.“

„Videospiele? Etwa solche, die mein Sohn sehr zu meinem Missfallen spielt?“

„Ich fürchte, ja. Die Skizzen vom Palio werden für ein Pferderennen verwandt. Jeder Reiter muss sich durch ein Stadtviertel kämpfen und diverse Hindernisse überwinden“, erklärte Laura. „Eine meiner Aufgaben ist es, ungewöhnliche Orte zu finden, die mir als Kulisse für Videospiele geeignet erscheinen.“

„Wo bist du schon überall gewesen?“ Chantelle klang lebhaft und interessiert und erinnerte Laura erneut an die lebenslustige Frau, die sie einst gewesen war.

„Vor zwei Monaten war ich eine Woche lang in Hameln. Es ging um ein Videospiel für Kinder. Meine Großmutter hat mir früher immer Märchen vorgelesen. ‚Der Rattenfänger von Hameln‘ war eine meiner Lieblingsgeschichten. Mir ist die Idee gekommen, man könnte daraus ein Videogame entwickeln, das vergnüglich und auch nützlich ist. Die kleinen Spieler müssen verhindern, dass die Kinder dem Rattenfänger folgen, wobei sie ihre Geschicklichkeit trainieren.

Nachdem ich in Hameln fertig war, bin ich ein paar Tage in Holland gewesen. Dort habe ich Windmühlen und alte Giebelhäuser skizziert. Sie dienen als Hintergrund für ein Spiel, in dem die Spieler verhindern müssen, dass die Deiche brechen.“

„Das klingt großartig. Du bist großartig!“

„Nein. Allerdings finde ich es sehr schön, für einen Job bezahlt zu werden, den ich ausgesprochen gern mache“, erwiderte Laura. „Und natürlich arbeite ich nach wie vor als Rettungsschwimmerin. Wie du dir leicht vorstellen kannst, habe ich auch Skizzen für ein Videogame angefertigt, das unter Wasser spielt.“ Sie hatte kaum ausgeredet, als sich ein Bild von Raoul im Pool vor ihr inneres Auge schob und ihr kurz den Atem raubte.

„Wann hast du bei all den Aktivitäten noch Zeit für deinen Mann?“

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. „Meine Ehe war nahezu von Anfang zum Scheitern verurteilt. Ted ist Anwalt und stammt aus einer Politikerfamilie. Als wir uns kennenlernten, hat er mir versichert, er würde keine politischen Ambitionen hegen. Ich habe ihm klar gesagt, dass ich mit keinem Politiker verheiratet sein möchte, und ihn lange hingehalten, bis ich überzeugt war, dass er es ehrlich meinte.

Ein paar Monate nach der Hochzeit erfuhr ich dann, dass er schon immer beabsichtigt hatte, für den Kongress zu kandidieren. Seine Versprechungen waren alle falsch gewesen. Er hat mich nicht geliebt, sondern sich nur mit mir zeigen wollen. Und das hasse ich wie die Pest.“ Laura trank einen Schluck Kaffee und fuhr dann fort: „Vor sechs Monaten habe ich herausgefunden, dass er mich betrügt, und endlich die Kraft aufgebracht, die Scheidung einzureichen. Er wehrt sich mit allen Mitteln dagegen. Aber das wird ihm nichts helfen, denn ich werde sie bekommen.“

„Bravo! Einmal ein Lügner, immer ein Lügner“, stieß Chantelle so vehement hervor, dass Laura aufhorchte.

Sprach sie etwa aus Erfahrung? Wenn ja, konnte es nichts mit Guy zu tun haben, oder? „Was Ted anbetrifft, ist es sicher richtig.“ Sie blickte Chantelle an. „Er ist so anders als dein Mann, der dich über alles liebt.“

Kaum hatte sie den Satz gesagt, veränderte sich die Atmosphäre am Tisch. Chantelle klappte den Skizzenblock zu und gab ihn ihr zurück. Hatte Guy seine Frau etwa angelogen und tief verletzt? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen.

„Ist er schon ins Büro gefahren, oder bleibt er bei dir?“

„Er ist in seinem Arbeitszimmer und hält eine Telefonkonferenz ab.“

„Wie schön für dich, ihn zu Hause zu haben“, erwiderte Laura und wusste nicht, ob ihre Antwort Chantelle verdross. „Was hast du heute vor?“

„In einer halben Stunde werde ich massiert, und danach möchte ich hier draußen ein wenig lesen.“

„Hast du etwas dagegen, wenn ich währenddessen die Umgebung zeichne? Die wunderschöne Villa und der verwunschene Garten haben mich auf eine Idee für ein Spiel gebracht.“

„Worum wird es darin gehen?“ Chantelle klang freudig interessiert.

„Ich habe erst eine vage Vorstellung. Vielleicht können wir beide später ein Brainstorming veranstalten, damit es richtig Gestalt annimmt.“

„Ist das für dich in Ordnung?“

„Was ist in Ordnung?“

Laura zuckte zusammen, als sie die tiefe Männerstimme hörte. Sie brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen, wer gerade die Terrasse betreten hatte.

Bonjour, Raoul. Was ist heute nur hier los? Muss denn keiner mehr zur Arbeit? Ich hätte gedacht, dass du nach deiner Rückkehr aus der Schweiz gleich in aller Frühe ins Büro fährst. Stattdessen tauchst du hier auf, und Guy telefoniert noch in seinem Arbeitszimmer.“

Laura beobachtete, wie er um den Tisch herumging und seine Schwägerin auf die Wange küsste. In der grauen Hose und dem schwarzen Seidenhemd machte er eine blendende Figur.

„Ich muss geschäftlich nach Antibes und wollte mich erkundigen, ob du und Laura vielleicht Lust habt, mitzukommen und zu shoppen. Wir packen deinen Rollstuhl einfach in den Wagen.“

„Heute nicht. Ich habe schon andere Pläne. Doch Laura würde sich sicher freuen, etwas zu unternehmen.“

Bei dem Gedanken, mit Raoul allein zu sein, schlug ihr Herz gleich schneller. „Das ist sehr lieb gemeint von dir, Chantelle, aber ich fühle mich hier pudelwohl“, lehnte sie ab, denn schließlich zählte Guy auf sie.

„So ein Unsinn. Außerdem seid ihr nicht den ganzen Tag weg. Oder, Raoul?“

„Je nachdem.“

Laura konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er dies nur gesagt hatte, um sie zu ärgern. Zwischen ihnen hatte sich nichts geändert. Er mochte sie nach wie vor nicht, das spürte sie genau.

„Fahr mit ihm, Laura. Unterwegs fallen dir vielleicht noch mehr Ideen ein. Paul hat Freunde eingeladen. Ich werde gut damit beschäftigt sein, sie im Auge zu behalten.“

Zweifellos wollte Chantelle allein gelassen werden. Sie drängte sie förmlich ihrem Schwager auf. Hatte sie sie mit ihrer Bemerkung über Guy gekränkt? Wenn sie wollte, dass Chantelle sich ihr öffnete, sollte sie in Zukunft lieber nicht mehr das Gespräch auf Guy bringen.

„Man könnte meinen, du hättest Angst, mit mir zu kommen.“ Raoul hatte sich gesetzt und ließ sich ein Croissant schmecken. „Ich verspreche dir, dass ich dich vor Sonnenuntergang zurückbringe. Was würde wohl Mr Aldridge sonst sagen.“

„Es reicht, Raoul! Wenn du so weitermachst, bekommt Laura noch einen falschen Eindruck.“

„Welchen Eindruck?“ Er blickte Laura an. „Stimmt das?“

Aus irgendeinem Grund genoss er es, sie zu ärgern. Und Chantelle war ihr auch keine Hilfe. Anscheinend hatte sie Spaß an dem Geplänkel. Die beiden hatten offenbar eine einzigartige Beziehung, die Dritte nicht ansatzweise verstanden.

Laura nahm ihren Skizzenblock und erhob sich. „Wann willst du aufbrechen?“

„Eigentlich sofort.“

„Dann lass mir noch einen Moment Zeit zum Umziehen.“

„Du siehst in dem weißen Top und den Shorts gut aus“, antwortete er, nachdem er sie gemächlich von oben bis unten gemustert hatte.

„Vielen Dank. Aber für einen Einkaufsbummel fühle ich mich in einem Rock wohler. Wo treffen wir uns?“

„Ich warte mit dem Wagen vor der Villa auf dich.“

„Gib mir fünf Minuten.“ Laura schaute Chantelle an. „Kann ich dir etwas aus Antibes mitbringen? Vielleicht ein Buch, das du gern lesen würdest?“

„Nein, herzlichen Dank.“

„Etwas anderes, das dir Freude bereitet?“

Chantelle lächelte sie an. „Das ist nett von dir. Doch nein, danke.“

Irgendeine Kleinigkeit werde ich schon finden, dachte Laura, während sie sich wieder Raoul zuwandte, der sie seltsam anblickte. „Ich brauche nicht lang.“

Spöttisch verzog er den Mund. „Hast du das gehört, Chantelle?“

„Nicht alle Frauen sind so unmöglich, wie du zu glauben beliebst. Eine so hübsche Frau wie Laura hat es nicht nötig, sich herauszuputzen.“

Eilig lief Laura ins Haus, um den weißen Wickelrock aus Leinen anzuziehen. Ihre Haare hatte sie vor dem Frühstück mit einem weißen Tuch zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Und da sie davon ausgegangen war, den Tag in der Villa zu verbringen, hatte sie kein Make-up aufgetragen.

Auch jetzt würde sie sich nicht damit aufhalten. Raoul würde sie so mitnehmen müssen, wie sie war. Hoffentlich schaffte sie es, ihre Aufgeregtheit vor ihm zu verbergen. Er sollte nicht erfahren, wie sehr sie auf ihn reagierte.

Nachdem sie alles Nötige in die Handtasche gepackt hatte, verließ sie das Gästeapartment. Ja, sie lag gut in der Zeit, wie sie mit einem Blick auf die Armbanduhr feststellte. Es waren erst vier Minuten verstrichen.

3. KAPITEL

Raoul staunte nicht schlecht, als er Laura erblickte. Dass eine Frau pünktlich fertig ist, erlebe ich wohl zum ersten Mal, dachte er, während er den Wagen vor der Villa anhielt.

Er war zufrieden mit sich, dass er Guy heute ein heimliches Treffen mit ihr vermasselt hatte. Raoul beugte sich seitwärts und öffnete die Beifahrertür. Ja, seine Schwägerin hatte recht, Laura sah auch ohne Make-up fantastisch aus.

Ohne sich zu zieren, stieg sie ein und legte den Sicherheitsgurt an, wobei sich ihre Arme kurz berührten. Sogleich spürte Raoul zu seinem Verdruss, wie sein Körper auf den Hautkontakt reagierte. Er schaltete in den ersten Gang und lenkte das Cabrio wortlos den gewundenen, von Zypressen gesäumten Weg entlang. Freundlich nickte er am Tor dem Wachmann zu und bog in die Küstenstraße ein.

„Wäre Chantelle mitgekommen, hätte ich einen geräumigeren Wagen genommen“, sagte er schließlich nach ein paar Minuten. „Stört dich das aufgeklappte Verdeck? Ich kann es jederzeit schließen.“

„Nein, nicht im Mindesten. Ich habe gern überallhin einen freien Blick“, erwiderte Laura, ohne ihn anzuschauen.

Raoul wunderte sich erneut. Er kannte keine Frau, die nichts dagegen hatte, wenn der Wind ihr ins Gesicht wehte. Mehr und mehr verdichtete sich sein Eindruck, dass sie keine typische Vertreterin ihres Geschlechts war.

So redete sie zum Beispiel auch nicht pausenlos. Was ihm eigentlich gefallen sollte, denn er beabsichtigte, sie heute so lange von Guy fernzuhalten, wie ihm der Sinn danach stand. Aber anstatt erfreut über seine eigene Raffinesse zu sein, ärgerte ihn die Tatsache, dass sie völlig entspannt neben ihm saß.

„Die Gegend hier dürfte sich kaum von der südkalifornischen Küste unterscheiden.“

„Oh doch, sehr sogar. Der Pazifik und das Mittelmeer lassen sich nicht vergleichen“, antwortete sie, und Raoul, der schon mehrfach in Kalifornien gewesen war, gab ihr insgeheim recht. „All die versteckt liegenden alten Bergdörfer, die ich vom Hubschrauber aus gesehen habe, verleihen der Region einen einzigartigen Charme.“

Sein Bruder hatte sie mit dem Helikopter hergebracht? Es war das erste Mal, dass er einem Gast diesen Luxus anbot. Offenbar steckt Guy ganz schön tief drin, dachte Raoul, während er beobachtete, wie Laura die langen Beine übereinanderschlug.

Tat sie es absichtlich? Unwillkürlich schweifte sein Blick zu den zierlichen Füßen in den hellbraunen Ledersandaletten. Ihre Zehennägel waren nicht lackiert. An ihr war alles natürlich. Bis jetzt hatte er noch nichts entdeckt, das ihm an ihr missfiel. Und er hatte sich sehr bemüht, etwas zu finden.

„Bist du zum ersten Mal in Europa?“

„Nein. Aber ich war noch nie an der französischen Riviera. Sie ist atemberaubend.“

Genau wie du, gestand er sich widerwillig ein. „Womit verdienst du deinen Lebensunterhalt, wenn du nicht gerade als Rettungsschwimmerin unterwegs bist?“

Laura setzte ihre Sonnenbrille auf. „Ich zeichne Landschaften für Hintergründe von Videospielen.“

Diese Antwort hatte er nun wirklich nicht erwartet. „Welche Art von Spielen?“

„Zumeist für Kinder und Jugendliche.“

„Keine Gewaltvideospiele?“

„Natürlich nicht.“

Er musste lachen, und nachdem sie ihm mehrere Spiele genannt hatte erkundigte er sich nach dem Firmennamen.

Other World Video Games. Vermutlich hast du ihn noch nie gehört.“

„Stimmt. Und wie lange arbeitest du schon für das Unternehmen?“

„Seit der Uni.“

„Hast du einen Abschluss gemacht?“

Laura nickte. „In Grafikdesign.“

„Vorhin habe ich dich mit einem Skizzenblock gesehen.“

„Ja. Er enthält Zeichnungen von Siena und dem Palio. Chantelle wollte sie gern anschauen.“

Sie beantwortete alle Fragen, ohne zu zögern. Sollte sie etwas zu verbergen haben, wusste sie es glänzend zu verstecken. Und bislang hatte sie ihm noch keine einzige Frage gestellt. Der Gedanke, dass sie ihn einfach nur ertrug, gefiel ihm nicht sonderlich.

Obwohl er sich einredete, das Ganze um Guys willen zu tun, war ihm doch irgendwie klar, dass diese Begründung nicht völlig der Wahrheit entsprach. Laura Aldridge erregte zu sehr sein Interesse, als dass er sich so leicht belügen konnte.

Heute Morgen hatte er mit Louis telefoniert und ihn gebeten, sie zu überprüfen. Der Anwalt wollte sich sofort bei ihm melden, sobald er gesicherte Informationen besaß. Und bis er von ihm hörte, würde er selbst versuchen, so viel wie möglich über sie zu erfahren. Wenn er ihr weiter persönliche Fragen stellte, wand sie sich vielleicht doch bei der einen oder anderen Antwort und verriet sich.

„Wie schaffst du es, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bringen?“

„Gar nicht“, erwiderte Laura nach einem Moment des Schweigens.

Richtig, sie hatte lediglich Zeit, sich darauf zu konzentrieren, die Familie eines anderen zu zerstören! „Ich möchte mir hier im Hafen eine Immobilie ansehen, die wir eventuell kaufen wollen“, erklärte er, als sie Juan-les-Pins vor den Toren von Antibes erreicht hatten. „Es wird nicht lange dauern. Anschließend fahren wir über Vence in eines der Bergdörfer, die du eben erwähnt hast. Dort essen wir – wenn auch etwas verspätet – zu Mittag, und danach machen wir, wonach uns ist.“

Laura nickte zustimmend. Jetzt spürte er, dass sie doch angespannt war. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, ihn so lange ertragen zu müssen. Ihre Geduld neigte sich offenbar dem Ende zu. Wenn das nicht die Chance war, auf die er gewartet hatte.

Er parkte den Wagen nahe des betreffenden Lagerhauses im Schatten mehrerer Palmen. Jean-Luc stand bereits vor dem großen Eingangstor.

Kaum hatte der Immobilienmakler ihn erkannt, kam er auf das Cabrio zu. Dann fiel sein Blick auf Laura, und er starrte sie förmlich an. So ähnlich ging es auch Guy und mir ebenfalls, dachte Raoul und fühlte, wie Verlangen und Ärger gleichzeitig in ihm erwachten.

Von spontaner Lust und einer anderen Regung, die er nicht zu benennen vermochte, geleitet, beugte er sich zu ihr und küsste sie auf den Mund. Es geschah so schnell und überraschend, dass Laura keine Zeit blieb, sich zu wehren.

Im nächsten Moment wurde ihm sein zweites Motiv klar. Jean-Luc war die größte Klatsch- und Schwatzbase an der ganzen Côte d’Azur. Was er allein schon aus beruflichen Gründen sein musste. Spätestens bis morgen würde auch Guy gehört haben, dass sein Bruder etwas mit einer sexy Blondine hatte, und dann waren ihm die Hände gebunden.

Sollte Guy ihn zur Rede stellen, würde er sich quasi selbst entlarven. Natürlich wäre sein Bruder erst einmal wütend auf ihn. Aber er würde auch irgendwann einsehen, welche Opportunistin Laura war, und ihm schlussendlich dankbar sein.

Raouls Denkvermögen ließ nach, während er ihre warmen, weichen Lippen spürte. Sie schmeckte noch besser, als er ohnehin geglaubt hatte. Und so küsste er sie, bis sie sich ihm verweigerte.

„Was fällt dir ein!“, stieß sie leise hervor.

Ihre Empörung klang echt. Allerdings hatte sie einen Augenblick zu lang gebraucht, um sie zu äußern. Wie ihm nicht entgangen war, hatte sie kurz auf ihn reagiert und sich erst danach gefangen. Wenn sie mit Guy ein Verhältnis hatte, was bedeutete dann ihre Reaktion auf ihn?

Zwei Seelen stritten in seiner Brust. Eine wollte die Frage nicht beantwortet haben, denn er hatte den Kuss einen verrückten Moment lang zu sehr genossen. Der Gedanke, dass sie sich auf ihn und seinen Bruder einließ, war ihm unerträglich.

Aber du hast das Experiment doch gestartet, um herauszufinden, was für eine Frau sie ist, ermahnte er sich und lächelte. „Reg dich ab, Laura. Nach dem, was gestern im Pool fast geschehen wäre, wissen wir beide, dass du so viel nicht dagegen gehabt hast.“

Zufrieden beobachtete er, wie sie errötete, dann öffnete er die Fahrertür und stieg aus, um Jean-Luc auf Abstand zu halten. Wenn er ihn nicht mit Laura bekannt machte, würde dessen Interesse, wer diese neue Frau in seinem Leben war, nur noch brennender werden.

„Bin gleich zurück“, rief er Laura im Gehen zu.

„Oh, là, là!“ Der Makler klopfte ihm auf die Schulter, während sie auf das Lagerhaus zugingen. „Wenn Ihre Ex davon erfährt, wird sie ihr die Augen auskratzen.“

Erneut rang sich Raoul ein Lächeln ab. „Sie kann es versuchen“, erwiderte er, und Jean-Luc lachte schallend.

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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