Romana Exklusiv Band 284

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LIEBESTRAUM AM MITTELMEER von PHILIPS, SABRINA
Leon Montallier, Fürst von Montéz, ist arrogant, unverschämt und herzlos - Cally sprüht vor Zorn. Obwohl mit seinem Auftrag für die Restauratorin ein Traum in Erfüllung geht, will sie den Palast am Mittelmeer sofort wieder verlassen. Dabei fühlt sie in Wirklichkeit längst ganz anders für Leon.

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MEIN SIZILIANISCHER GELIEBTER von WALKER, KATE
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  • Erscheinungstag 02.06.2017
  • Bandnummer 284
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744106
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sabrina Philips, Penny Roberts, Kate Walker

ROMANA EXKLUSIV BAND 284

1. KAPITEL

Ihr Herz pochte so wild, dass man es bestimmt im ganzen Auktionssaal hören konnte. Cally Greenway atmete tief durch, während sie zum wiederholten Mal ihre Sitzposition wechselte.

Wahrscheinlich lag es nur an ihrer Anspannung, denn dies war der Abend, auf den sie sehnlich gewartet hatte. Sie blickte auf ihre Uhr. In weniger als zehn Minuten würde der Traum, für den sie so hart gearbeitet hatte, endlich wahr werden.

Warum fühlte sie sich dann nur dem Zusammenbruch nahe?

Cally schloss die Augen und suchte nach einer Erklärung dafür, als der Preis für das vorletzte Stück, einen sehr begehrten Monet, eine astronomische Höhe erreichte. Ja, nun wusste sie es! Sie war Restauratorin, doch auf Veranstaltungen wie diesen, auf denen sich alles nur um Äußerlichkeiten und Geld drehte, wurde ihr immer klar, wie fremd die Kunstwelt sie anmutete. Im Overall in ihrem Atelier hätte sie sich wohler gefühlt als hier auf der renommiertesten Kunstauktion des Jahres bei Crawford’s.

Genau deshalb bin ich auch so aufgewühlt, redete sie sich ein, während sie den Saum des schwarzen Etuikleids, einer Leihgabe von ihrer Schwester, übers Knie zog. Mit seiner Anwesenheit hatte es absolut nichts zu tun.

Wie kam sie nur auf die Idee, dass er diese Wirkung auf sie ausübte? Kein Mann konnte solche Empfindungen in ihr wecken, vor allem nicht bei der ersten Begegnung.

Bei dem Besichtigungstermin vor zwei Tagen hatte sie ihn zwar schon einmal gesehen, aber nicht mit ihm gesprochen. Mit den klassischen Zügen war er sehr attraktiv und sein eleganter Anzug offenbar maßgeschneidert. Dies und seine Anwesenheit ließen darauf schließen, dass er reich sein musste. Vermutlich besaß er außerdem einen Titel wie Herzog oder Graf und würde eine Frau wie sie keines Blickes würdigen. Und das konnte ihr nur recht sein, weil sie ein gebranntes Kind war und seitdem um einen großen Bogen um arrogante Männer wie ihn machte.

Dennoch musste sie ständig an seine intensiven blauen Augen denken, seit sie jenen Verkaufsraum betreten und den Fremden dort stehen sehen hatte. Sie musste all ihre Willenskraft aufbieten, um sich nicht wieder umzudrehen und einen verstohlenen Blick in die zweite Reihe von hinten auf der rechten Seite zu werfen. Jedes Mal, wenn sie es tat, schenkte er ihr ein unwiderstehliches schiefes Lächeln, das sie erschauern ließ.

„Und damit kommen wir zu Nummer fünfzig, zwei Gemälde von Jacques Rénard aus dem neunzehnten Jahrhundert mit dem Titel Mon Amour par la Mer, aus dem Nachlass von Hector Wolsey. Sie sind zwar restaurierungsbedürftig, aber es handelt sich um die bedeutendsten Werke des Künstlers.“

Cally richtete sich auf, als die Worte des Auktionators den entscheidenden Moment ankündigten. Erneut schloss sie die Augen und atmete tief durch, um einen klaren Kopf zu bekommen. Als sie sie wieder öffnete, drehte sich das Wandpaneel zur Rechten des Mannes um hundertachtzig Grad, und die Exponate kamen zum Vorschein. Vor Ehrfurcht stockte ihr der Atem.

Sie erinnerte sich noch genau an das erste Mal, als sie sie – oder vielmehr einen Druck davon – gesehen hatte. Es war in der fünften Klasse gewesen. Ihre Kunstlehrerin Mrs. McLellan hatte sie ihnen als Beispiel dafür gezeigt, wie Jacques Rénard zu seiner Zeit die Kunst revolutioniert hatte, indem er statt einer Göttin eine echte Frau darstellte. Ihre Mitschüler hatten verlegen gekichert, denn das erste Bild zeigte diese angezogen und das zweite nackt. Für sie hingegen war es ein entscheidender Moment in ihrem Leben gewesen, weil die Bilder für sie Schönheit und Wahrheit versinnbildlichten und ebenso, dass alles zwei Seiten hatte. In dem Augenblick war ihr bewusst geworden, dass ihre Zukunft in der Kunst lag. Dieser Gewissheit war später nur ihr Entsetzen darüber gleichgekommen, dass die Originale nicht in einem Museum hingen, sondern sich im Besitz eines selbstgefälligen Aristokraten befanden und auf dessen Landsitz feucht wurden und Zigarrenrauch ausgesetzt waren.

Jetzt allerdings gehörten sie Hector Wolsey junior, der sie so schnell wie möglich verkaufen musste, weil seine Leidenschaft den Pferdewetten galt. Die Citygalerie in London hatte alles darangesetzt, sie zu erwerben, und einen Spezialisten gesucht, der sie aufwendig restaurieren sollte. Mit ihrer Begeisterung, ihren bisherigen Berufserfahrungen und ihrem Fachwissen über den Künstler hatte Cally die Leitung der Galerie davon überzeugen können, dass sie die ideale Kandidatin für diese Aufgabe war. So lange sie sich erinnern konnte, hatte sie sich genau das gewünscht, und für sie war es die Chance ihres Lebens.

Cally blickte sich im Auktionssaal um, während die Gebote in die Höhe schnellten. Gina, die Agentin der Galerie, die einige Plätze weiter saß, hatte das erste abgegeben. In allen Reihen wurde aufgeregt geflüstert, und die Mitarbeiter von Crawford’s an den Telefonen gaben die Summen an Interessenten auf der ganzen Welt durch. Innerhalb kürzester Zeit überstiegen die Gebote den Schätzpreis im Verkaufskatalog so weit, dass Cally sich am liebsten mit ihrem Exemplar Luft zugefächelt hätte, weil ihr plötzlich ganz heiß wurde. Allerdings tat sie es nicht, aus Angst, man könnte es mit einem Handzeichen für ein Gebot verwechseln.

Ihr Puls raste noch mehr, sobald sie einen verstohlenen Blick über die Schulter warf und den attraktiven Fremden betrachtete. Scheinbar ungerührt lehnte er sich mit einer beneidenswerten Lässigkeit zurück. Sie hingegen konnte ihre Nervosität nicht ablegen, auch wenn Gina weiter mitbot und die Galerieleitung ihr versichert hatte, dass sie den Zuschlag bekommen würden.

Aber das hat Wolseys Sohn beim Wetten wohl auch gedacht, überlegte Cally. Sie erinnerte sich noch zu gut, wie gefährlich es sein konnte, jemandem blind zu vertrauen. Dann versuchte sie sich zu entspannen, was ihr jedoch nicht gelang. Auch wenn man ihr gesagt hatte, die Citygalerie London würde über genügend finanzielle Mittel verfügen, konnte man eine Situation wie diese nur als Außenstehender gelassen verfolgen. Und der Fremde hatte auf keines der elf Gemälde geboten. Noch während sie überlegte, was er dann hier machte, passierte etwas.

„Jemand hat am Telefon … Warten Sie … zehn Millionen mehr geboten“, verkündete der Auktionator überraschend langsam, bevor er erstaunt die Brille abnahm und von seinem Mitarbeiter am Apparat zu Gina blickte. „Damit wären wir bei siebzig Millionen. Höre ich einundsiebzig, Madam?“

Plötzlich herrschte unheilvolles Schweigen. Cally spürte, wie ihr das Herz bis zum Hals klopfte und ihr Magen sich zusammenkrampfte. Wer, in aller Welt, mochte ihr Mitbewerber sein? Der Galerieleitung zufolge hätte jeder ernsthafte Interessent hier im Publikum sitzen müssen. Ginas entsetzte Miene sagte alles. Die Nerven zum Zerreißen gespannt beobachtete Cally, wie ihre Kollegin nervös in die Unterlagen auf ihrem Schoß blickte und schließlich nickte.

„Einundsiebzig Millionen“, bestätigte der Auktionator. Dann setzte er seine Brille wieder auf und sah seine Mitarbeiter an den Telefonen an. „Höre ich zweiundsiebzig? Ja.“ Erneut wandte er sich an Gina. „Bekomme ich dreiundsiebzig?“

Diese nickte widerstrebend.

Nun sah er wieder seine Mitarbeiter an.

„Wir haben achtzig am Telefon.“

Achtzig?

„Bietet jemand einundachtzig?“

Nichts. Krampfhaft schloss Cally die Augen.

„Achtzig zum ersten …“

Hilflos blickte sie Gina an, die allerdings bedauernd den Kopf schüttelte.

„… zum zweiten … und zum dritten.“

Die Worte des Auktionators und das Geräusch des Hammers hallten schmerzhaft in ihr nach.

Die Londoner Citygalerie hatte die Rénards verloren.

Es dauerte eine Weile, bis ihr die ganze Tragweite bewusst wurde. Cally war schockiert. Die Gemälde, die ihr so viel bedeuteten, würden in irgendein Land verschifft werden. Sie konnte die Hoffnung, sie zu restaurieren und damit auch einen enormen Karrieresprung zu machen, endgültig begraben. Im nächsten Moment drehte das Wandpaneel sich wieder, und die Bilder verschwanden.

Nichts im Leben war wirklich sicher. Es war vorbei.

Während die Anwesenden den Auktionssaal verließen, blieb Cally wie gelähmt auf ihrem Stuhl sitzen und blickte starr auf die leere Wand. Daher bemerkte sie auch nicht, dass der attraktive Fremde noch blieb und Gina sich leise bei ihr entschuldigte, bevor sie mit gesenktem Kopf wegging. Natürlich wusste sie, dass die Galerie nicht über unbegrenzte Mittel verfügte. Und selbst wenn sie den anonymen Käufer überboten hätte, mussten die Ausgaben im Verhältnis zu den späteren Einnahmen durch die Besucher stehen. Immerhin überstieg die erzielte Summe den Schätzwert um fast das Doppelte. Gina war ein großes Risiko eingegangen, als sie so hoch mitbot.

Jemand anders hatte die Rénards also noch mehr gewollt. Aber wer? Dieser Gedanke riss Cally aus ihrer Starre. Derjenige, der die Bilder erworben hatte, würde sicher jemanden suchen, der sie restaurierte. Obwohl es gegen alle Regeln verstieß, musste sie es herausfinden. Sie sprang auf und eilte zu den Mitarbeitern, die an den Telefonen gestanden hatten.

„Bitte sagen Sie mir, wer die Rénards gekauft hat“, rief sie zu dem Mann, der mit dem anonymen Bieter gesprochen hatte.

Genau wie einige seiner Kollegen und Kolleginnen blieb er stehen und betrachtete sie neugierig und missbilligend zugleich.

„Das weiß ich nicht, Madam. Es ist streng vertraulich.“

Verzweifelt blickte sie ihn an, doch er schüttelte den Kopf.

„Er sagte nur, er würde im Auftrag eines privaten Sammlers handeln.“

Mit weichen Knien wich sie einige Schritte zurück und sank auf den nächsten Stuhl, wo sie das Gesicht in den Händen barg und mit den Tränen kämpfte. Ein privater Sammler! Also würde vermutlich niemand die Werke zu sehen bekommen, bis dieser starb.

Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. Zum ersten Mal seit der Geschichte mit David hatte sie geglaubt, ihr Leben würde endlich weitergehen. Doch ihr Traum war wie eine Seifenblase zerplatzt. Und was sollte sie jetzt tun? Sie würde sich in ihrem Zimmer in dem billigen Hotel in London vergraben und am nächsten Tag in ihr Stadthaus mit dem Atelier in Cambridge zurückkehren. Dann würde sie sich ein weiteres Jahr mit gelegentlichen Aufträgen über Wasser halten müssen, von denen sie gerade ihre Hypothek abtragen konnte. Denn wenn sich mal eine einzigartige Chance wie diese bot, schien es immer nur darauf anzukommen, wen man kannte, und nicht darauf, welche Fähigkeiten man besaß.

„Ich glaube, Sie können einen Drink gebrauchen.“

Die Worte verrieten einen französischen Akzent, und der Klang der Männerstimme ließ sie noch mehr erschauern als das Geräusch des Hammers zuvor. Natürlich wusste sie sofort, wer mit ihr sprach. Und anders als sie sich weiszumachen versucht hatte, übte er eine noch verheerendere Wirkung auf sie aus, als er sich ihr näherte. Nervös strich sie sich durchs Haar, bevor sie sich zu ihm umdrehte.

„Nein, es geht mir gut, danke.“

Gut? Beinah hätte sie laut gelacht. Selbst wenn man sie gebeten hätte, alle versteigerten Gemälde zu restaurieren, wäre es eine starke Übertreibung gewesen. Sie blickte zu ihm auf. Mit fast einem Meter neunzig wirkte er noch imposanter, weil er stand, und er weckte Gefühle in ihr, die sie weder ergründen konnte noch wollte.

„Das klingt nicht besonders überzeugend.“ Forschend betrachtete er sie.

„Und wer sind Sie? Crawford’s hauseigener Psychologe?“, konterte Cally forsch. „Betreten Sie gegen Auktionsende den Raum, um danach die enttäuschen Bieter zu betreuen?“

Ein ebenso ironisches wie entwaffnendes Lächeln umspielte seine Lippen. „Sie haben mich also bemerkt, als ich gekommen bin.“

Prompt errötete sie. „Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“

„Stimmt.“

Sie machte eine finstere Miene. Menschen, die es mit der Wahrheit nicht so genau nahmen, mochte sie noch weniger als solche, die mit ihrem Geld protzten. Energisch nahm sie ihre Handtasche und stand auf.

„Danke für Ihr Mitgefühl, aber ich muss jetzt in mein Hotel.“ Sie wandte sich zum Gehen.

„Nein, das bin ich nicht“, erklärte er. „Psychologe, meine ich.“

Daraufhin drehte sie sich zu ihm um, was er zweifellos beabsichtigt hatte. „Wer sind Sie dann?“

„Ich heiße Leon.“ Der Fremde kam zu ihr und reichte ihr die Hand.

„Und?“

„Ich bin im Auftrag meiner Universität hier.“

Er war also Dozent? Hätte ich bloß in Frankreich studiert, wünschte sich Cally und schämte sich sofort dafür. Ihre Kunstprofessoren waren alle fast sechzig und nicht besonders gepflegt gewesen. Dann wunderte sie sich, weil er für einen Universitätsmitarbeiter zu wohlhabend und weltgewandt wirkte. Andererseits galten Franzosen als besonders schick und gut aussehend. Und seine Tätigkeit erklärte, warum er nicht mitgeboten hatte. Anscheinend hatte sie vorschnelle Schlüsse gezogen.

„Cally.“ Als sie ihm die Hand schüttelte, durchlief es sie heiß.

„Und, sind Sie eine enttäuschte Bieterin?“ Skeptisch zog er eine Braue hoch.

„Entspreche ich Ihrer Meinung nach nicht dem Bild?“

„Soweit ich weiß, haben Sie kein einziges Gebot abgegeben.“

„Sie haben mich also vorhin bemerkt?“ Cally versuchte die Freude zu unterdrücken, die sie bei dieser Vorstellung empfand. Vor zwei Tagen hatte er sie keines Blickes gewürdigt, wahrscheinlich, weil sie sich nicht zurechtgemacht hatte. Und was spielte es für eine Rolle, ob er sie wahrnahm oder nicht? Es war nur eine Frage der Zeit, bis er seine Aufmerksamkeit einer anderen Frau widmete.

Leon nickte. „Ja. Und da Sie meine Frage, ob Sie enttäuscht sind oder nicht, auch nicht beantwortet haben, sind wir jetzt quitt.“

Als sie den Blick zu der Stelle schweifen ließ, an der eben noch die beiden Bilder gehangen hatten, fühlte sie sich wieder wie eine Versagerin. „Das ist ziemlich kompliziert. Sagen wir, heute hätte mein Leben eine positive Wendung nehmen sollen. Leider war es nicht der Fall.“

„Der Abend ist noch jung.“ Er lächelte selbstsicher.

Widerstrebend wandte sie den Blick von seinen Lippen ab und sah demonstrativ auf ihre Uhr. Viertel nach zehn. „Ich muss jetzt ins Hotel zurück, wie ich schon sagte.“

Sie wandte sich ab und ging auf die geöffnete Flügeltür zu.

„Haben Sie ein besseres Angebot, oder gehören Sie zu den Frauen, die Angst davor haben, Ja zu sagen?“

Cally erstarrte, wandte sich allerdings nicht um.

„Nein, aber ich weiß, dass fremde Männer, die einen gleich auf einen Drink einladen, eigentlich etwas anderes wollen. Und ich bin nicht interessiert.“

Leon pfiff leise. „Sie ziehen es also vor, wenn ein Mann gleich auf den Punkt kommt?“

Wieder errötete sie. „Nein, sondern wenn es bei einem Drink bleibt.“

„Sie sind also durstig, chérie?“

Plötzlich war ihr Mund so trocken, dass sie schlucken musste. Gehörte sie tatsächlich zu den Frauen, die Angst davor hatten, Ja zu sagen? Die Vorstellung, dass er womöglich recht hatte, schockierte sie und machte sie traurig. Nein, sagte Cally sich dann. Ich habe nur die Erfahrung gemacht, dass ein solches Ja unweigerlich zu Enttäuschungen führt. Deswegen hatte sie anders als ihre Altersgenossinnen, die ständig mit wechselnden Typen in Clubs gingen, die letzten sieben Jahre damit verbracht, sich weiterzubilden, und oft bis in die frühen Morgenstunden am Schreibtisch gesessen. Und was hatte sie nun davon? Gar nichts.

Sie atmete tief durch. Natürlich ging sie das Risiko ein, enttäuscht zu werden. Aber wäre es schlimmer, als in ihr Zimmer zurückzukehren, wo sie ihren Kummer nur mithilfe des völlig überteuerten Inhalts der Minibar lindern konnte? Mit einem ganz normalen Mann etwas trinken zu gehen würde sie wenigstens für eine Weile auf andere Gedanken bringen.

„Einverstanden. Unter einer Bedingung …“, begann sie. Als sie dann jedoch zu ihm aufblickte und sein umwerfendes Lächeln sah, fiel ihr zu spät ein, dass die Gefühle, die er in ihr weckte, alles andere als normal waren. „Wir reden nicht über unsere Arbeit.“

„Abgemacht.“

„Und?“ Ihr wurde schwindelig. „Wo gehen wir hin?“

2. KAPITEL

Leon hatte keine Ahnung, wohin sie gehen sollten. Die letzten beiden Tage hatte er an nichts anderes denken können als an sie. Er hatte den Besichtigungstermin bei Crawford’s wahrgenommen, um sich die beiden Gemälde anzusehen, die alle haben wollten, und festgestellt, dass er etwas ganz anderes begehrte – die schöne Fremde mit der üppigen rotbraunen Mähne, die wie gebannt die beiden Bilder betrachtete. Bei ihrem Anblick hatte er diese völlig vergessen, denn sie hatte starkes Verlangen in ihm geweckt, allerdings unbeabsichtigt. Ihre Hemdbluse und der lange Rock, die sie trug, hatten ihre weiblichen Kurven nur erahnen lassen, und er hatte den übermächtigen Wunsch verspürt, sie an Ort und Stelle auszuziehen.

Auf ihn hatte sie jedoch wie der Typ Frau gewirkt, der alles durch Gefühle kompliziert machte. Und um herauszufinden, ob es tatsächlich der Fall war, hatte er sich diskret über sie erkundigt und erfahren, dass sie im Auftrag der Londoner Citygalerie die Rénards restaurieren sollte. Was für eine Fügung des Schicksals!

Verstohlen beobachtete er sie, während sie neben ihm herging, ohne den Verkehrslärm wahrzunehmen, der die laue Juniluft erfüllte. Zu seiner Freude war ihr Outfit anders als vor achtundvierzig Stunden diesmal richtig glamourös, denn sie trug ein elegantes schwarzes Etuikleid, und ihr wunderschönes Haar fiel ihr in weichen Wellen über die Schultern. An diesem Abend verkörperte sie genau den Typ Frau, der einer flüchtigen Affäre, wie sie ihm vorschwebte, nicht abgeneigt war.

„Entscheiden Sie“, forderte er sie auf, sobald sie das Ende der Straße erreichten und ihm bewusst wurde, dass er ihr noch immer eine Antwort schuldete.

Cally, die mit jeder Sekunde nervöser wurde, wollte das Ganze so schnell wie möglich beenden. „Lassen Sie uns einfach in die nächste Bar gehen. Schließlich wollen wir nur etwas trinken, oder?“

Leon nickte.

Als sie um die Ecke bogen, hörte Cally dumpfe Bässe und sah eine Leuchtreklame: Straße zur Hölle.

„Perfekt“, verkündete sie. Die Bar wirkte zwar wenig anheimelnd, aber wenigstens war es darin zu laut für eine Unterhaltung.

Im nächsten Moment kam ein Pärchen heraus und fing an zu knutschen. Leon musste sich ein Lächeln verkneifen. „Sieht nicht schlecht aus.“

Das konnte er unmöglich ernst meinen! Forschend betrachtete sie ihn, bereute es allerdings sofort, denn der Anblick seines Gesichts im sanften Schein der Straßenbeleuchtung ließ sie erschauern.

„Prima. Und mein Hotel ist nur zwei Straßen entfernt“, sagte sie, um sich davon zu überzeugen und ihn daran zu erinnern, dass sie sich gleich nach dem Drink in ihr Zimmer zurückziehen konnte.

„Besser geht es nicht“, bemerkte er mit einem vielsagenden Ausdruck in den Augen.

Als sie an dem Pärchen vorbeikamen, das sich gerade voneinander löste, um Luft zu holen, schluckte Cally.

In der Bar war es sehr schummrig, und einige Paare tanzten zu einem Stück, das eine Künstlerin mit rauchiger Stimme sang. Insgeheim beglückwünschte sie sich zu ihrer Wahl, weil die Geräuschkulisse jedes Gespräch unmöglich machte.

„Und, was soll es sein? Ein Süßer Tod oder ein Ananasquickie?“

„Wie bitte?“ Schockiert wirbelte sie herum und stellte dann fest, dass Leon aus der Cocktailkarte vorlas, die er vom Tresen genommen hatte.

„Ich nehme nur ein Mineralwasser, danke.“ Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, zog er missbilligend die Brauen hoch. „Na gut.“ Schnell überflog sie die Auswahl. „Ein Kaktusgift bitte.“

Angestrengt überlegte sie, wann sie das letzte Mal Alkohol getrunken hatte. Ja, ein Glas Wein auf der Taufe ihres Neffen im Januar. Sie musste wirklich öfter ausgehen!

Nachdem Leon sein Jackett ausgezogen hatte, bestellte er zweimal dasselbe. Er wirkte so lässig, als würde er sich häufig in solchen Etablissements aufhalten. Cally hingegen verschränkte verlegen die Arme vor der Brust, weil sie sich overdressed fühlte.

„Erzählen Sie mir jetzt nicht, dass Sie oft hier sind.“

„Nein, ich lebe in Frankreich. Und wie lautet Ihre Entschuldigung?“

Cally lachte und entspannte sich ein wenig, als Leon und sie einen Tisch fanden und sich setzten. Sofort servierte die Kellnerin die Drinks. „Ich wohne in Cambridge.“

„Sie wussten also nicht, dass die Straße zur Hölle gleich hinter der nächsten Ecke liegt?“

„Nein.“ Der Name passt ja, dachte sie, als sie sich an die Auktion erinnerte.

Er schien ihre Verzweiflung zu spüren und prostete ihr zu. „Und, worauf sollen wir trinken?“

Sie überlegte einen Moment. „Darauf, dass harte Arbeit sich letztendlich nicht lohnt.“

Seine Gesellschaft und die Atmosphäre in der Bar machten ihr bewusst, dass sie vielleicht doch darüber reden musste. Zumindest hoffte sie, es wäre der Grund dafür und nicht die Tatsache, dass sie kein anderes Gesprächsthema kannte.

„Entschuldigen Sie“, fügte sie hinzu, als sie merkte, wie unhöflich es geklungen hatte. „Auf … die Straße zur Hölle.“

Nachdem sie angestoßen hatten, tranken sie einen Schluck und verzogen beide das Gesicht, weil der Cocktail so sauer war.

„Der heutige Abend ist für Sie also nicht unbedingt nach Plan verlaufen?“, hakte Leon dann nach.

„So könnte man es nennen. Die Leitung der Londoner Citygalerie hatte mir den Auftrag, die Rénards zu restaurieren, in Aussicht gestellt, falls sie den Zuschlag bekommen. Aber das haben sie nicht.“

„Vielleicht sollten Sie Ihre Dienste dem Käufer anbieten.“

„Dem Mitarbeiter des Auktionshauses zufolge, der mit ihm telefoniert hat, war es ein anonymer privater Sammler“, erwiderte sie ärgerlich.

„Und wer sagt, dass ein privater Sammler Sie nicht damit beauftragen würde?“

„Meine Erfahrung. Selbst wenn ich herausfinden könnte, um wen es sich handelt, würde derjenige jemanden nehmen, den er kennt, oder das Team, das es am schnellsten bewerkstelligt. Für die Reichen sind Kunstwerke wie Luxusautos oder Immobilien – eine Anschaffung, mit der man protzt –, aber keine Dinge, an denen sich alle erfreuen sollten.“

Regungslos saß Leon da. „Würde man auf Sie zukommen, dann würden Ihre Moralvorstellungen Sie also davon abhalten zuzusagen?“

Cally wandte sich ab, weil sie schon wieder mit den Tränen kämpfte. „Nein, ich würde den Auftrag annehmen.“

Natürlich ließ dieses Geständnis sie prinzipienlos wirken, aber es ging nicht nur um die Chancen, die sich ihr dadurch bieten würden. Sie hätte die Gelegenheit niemals ausgeschlagen, weil diese Gemälde die Richtung bestimmt hatten, die ihr Leben genommen hatte. Da sie sich allerdings schämte, es zuzugeben, schüttelte sie den Kopf.

„Es wäre idiotisch von mir, es nicht zu tun. Die Restaurierung der Rénards würde mich auf der ganzen Welt bekannt machen.“

Leon nickte. Sein erster Eindruck hatte ihn getäuscht. Sie wollte nur berühmt werden. Aber welche Frau möchte das nicht? überlegte er zynisch. Außerdem wirkte Cally genauso unglaubwürdig wie alle anderen. Zuerst hatte sie behauptet, sie würde nicht über ihre Arbeit sprechen wollen, und ihm dann ihr Herz ausgeschüttet. Es gab nur eine Möglichkeit, herauszufinden, ob sie zu ihrem Wort stand.

Er lehnte sich zurück. „Haben Sie Mon Amour par la Mer beim Besichtungstermin zum ersten Mal gesehen?“

Cally erschauerte. „Ich … dachte, Sie hätten mich an dem Tag gar nicht bemerkt.“

„Oh doch. Und da habe ich beschlossen, mit Ihnen zu schlafen. Deshalb bin ich überhaupt nur zur Auktion gekommen.“

Seine Offenheit schockierte sie. Gleichzeitig rieselte ihr ein prickelnder Schauer über den Rücken, der sie noch mehr überraschte als seine Worte. Leon hatte sie schon begehrt, als sie ihre Alltagssachen getragen hatte, nicht erst an diesem Abend, als sie sich zurechtgemacht hatte, um in eine ihr fremde Welt zu passen. Eine Welt, der er offenbar auch nicht angehörte. Dennoch konnte sie nicht fassen, dass er nur ihretwegen erschienen war. Schließlich hatte sie nichts an sich, was Männer faszinierte.

„Ich sollte jetzt gehen“, erklärte sie matt.

„Dann machen Sie es.“

„Ich … habe noch nicht ausgetrunken.“

„Und tun Sie immer, was Sie ankündigen, Cally?“

Sie wusste genau, dass sie es nicht über sich bringen würde zu gehen. „Ich hasse Menschen, die nicht Wort halten.“

„Ich auch.“ Forschend betrachtete er sie. „Aber wir hatten noch nicht alles besprochen – zum Beispiel ob zu dem Drink auch ein Tanz gehört.“

Cally atmete scharf ein, als sie den Blick zu den Tanzenden schweifen ließ. Einige Pärchen gingen auf Tuchfühlung, sobald die stark geschminkte Sängerin eine Coverversion von Black Velvet anstimmte.

„Das ist nicht Ihr Ernst, oder?“

„Warum nicht? Den Tag zu nutzen gehört doch zu den schönen Dingen im Leben, die die Kunst preist, oder?“

Ja, die Kunst preist das Leben, dachte sie. Aber wann hatte sie sich das zum letzten Mal bewusst gemacht und es sich zugestanden? Fasziniert betrachtete sie Leon – das dunkelblonde Haar, das ihm in die Stirn fiel, und seine braunen Augen, in denen ein verlangender Ausdruck lag, der sie gleichermaßen ängstigte und erregte. Und einen Moment lang hatte sie nicht das Gefühl, dass sie an diesem Abend etwas verloren hatte.

Dann reichte sie ihm die Hand und erwiderte mit einer Stimme, die selbst in ihren Ohren ganz fremd klang: „Also gut.“

Da ihr der Alkohol beim Aufstehen sofort zu Kopf stieg, schloss sie sekundenlang die Lider und atmete tief ein. Plötzlich war es sehr stickig, und sie spürte den Rhythmus der Livemusik mit jeder Faser ihres Körpers. Als Teenager hatte sie diesen Song geliebt. David hingegen hatte ihn gehasst. Warum hatte sie ihn seitdem nie wieder gespielt?

„Kommen Sie.“ Ohne zu überlegen, ob es eine gute Idee war, legte er Cally den Arm um die Taille. Das starke Verlangen, das er für sie empfand, beunruhigte Leon. Wie gebannt betrachtete er ihre Lippen, während sie lautlos mitsang, und fragte sich, ob er sich zum ersten Mal in seinem Leben nicht an seine eigenen Regeln halten würde.

Cally erschauerte, als Leon sie an sich zog. Noch nie hatte sie einen Mann wie ihn kennengelernt. Obwohl sie ihm erst vor einer knappen halben Stunde begegnet war, schien es ihr, als würde er sie besser kennen als sie sich selbst, so klischeehaft es auch anmuten mochte. Der intime Körperkontakt und sein Duft berauschten sie. Langsam ließ sie die Hände über seinen Rücken gleiten und legte sie ihm um den Nacken. Während sie sich harmonisch im Takt der Musik bewegten, fiel die Anspannung allmählich von ihr ab.

„Habe ich dir schon gesagt, wie sexy du bist?“, fragte Leon, die Lippen an ihrem Ohr.

Hitzewellen durchfluteten sie, und sie bekam weiche Knie. Sicher ist das seine Masche, versuchte Cally sich einzureden. Sie hingegen hatte so etwas noch nie zuvor getan und wusste nicht, was sie sich davon versprach. Vom Verstand her war ihr natürlich klar, welches Risiko sie einging, doch sie konnte die Empfindungen, die er in ihr weckte, nicht einfach unterdrücken.

„Habe ich dir schon gesagt, wie sexy du bist?“, erwiderte sie nervös. Sie hoffte, er merkte nicht, wie sie am ganzen Körper bebte.

„Nein!“ Verführerisch streifte er mit dem Mund ihr Ohrläppchen.

Sie hielt es nicht mehr aus. Sie musste ihn küssen, und zwar richtig. Mit bebenden Fingern umfasste sie seinen Kopf, um ihn zu sich herabzuziehen. Wahrscheinlich hatte Leon genau das beabsichtigt, aber es kümmerte sie nicht.

Quälend langsam strich er mit den Lippen über ihre, bis er sie schließlich öffnete, um ihre Zunge zu umspielen. Gleichzeitig ließ er eine Hand über ihren Rücken bis zu ihrem Po gleiten. In einer exklusiven Bar wäre ein solcher Kuss völlig unangemessen gewesen, denn er drückte dieselbe ungezügelte Begierde aus, die das Pärchen auf der Straße überkommen hatte. Schockiert stellte Cally fest, dass sie sich nach mehr sehnte. Und sosehr sie sich auch einzureden versuchte, dass es an der Musik und dem verführerischen Duft seines Aftershaves lag, tatsächlich war es der Kuss, der diese verheerende Wirkung auf sie ausübte. Plötzlich vergaß sie alles andere – dass sie diesen Mann kaum kannte, dass sie ihn enttäuschen und er ihr nur das Herz brechen würde –, denn ihr Verlangen überwältigte sie, und er schien es auch zu spüren.

„Willst du hier weg?“

Sie rang nach Atem. „Ja.“

Leon versuchte sich zusammenzureißen. Nun hatte er den Beweis dafür, dass sie nicht zu ihrem Wort stand.

Ihr glühten die Wangen, und ihr Herz pochte wie wild, als Leon sie an den anderen Pärchen vorbei und dann aus der Bar führte. Draußen winkte er ein Taxi heran. Nachdem er ihr die Tür geöffnet hatte, schloss er sie wieder hinter ihr, blieb jedoch auf dem Fußweg stehen.

Cally drehte die Scheibe hinunter und blickte ihn verwirrt an. „Ich dachte, wir verschwinden von hier.“

„Nicht wir, sondern du“, erwiderte er mit grimmiger Miene. „Du wolltest doch nur einen Drink, stimmt’s, Cally?“

Sie spürte, wie ihr erneut das Blut ins Gesicht stieg, als er dem Chauffeur das Zeichen gab zu fahren und sie die Situation erst richtig erfasste.

„Du Mistkerl!“, rief sie.

Allerdings hörte Leon es nicht mehr, denn der Taxifahrer hatte sich schon in den Verkehr eingefädelt.

3. KAPITEL

Als Cally im Zug nach Cambridge saß und draußen die grünen Felder vorbeiflogen, kam sie zu dem Ergebnis, dass sie sich noch nie so geschämt hatte wie jetzt.

Sie, Cally Greenway, hätte beinah einen One-Night-Stand mit einem Fremden gehabt.

Und, was noch schlimmer war, in ihrem tiefsten Inneren wünschte sie fast, sie hätte mit Leon geschlafen.

Nein, natürlich nicht, rief sie sich dann zur Ordnung. Sie wünschte nur, er hätte sie nicht derart zurückgewiesen oder sie würde sein Verhalten zumindest verstehen.

Der leidenschaftliche Kuss auf der Tanzfläche hatte ein Verlangen in ihr geweckt, das sie für gegenseitig gehalten hatte. Aber vielleicht hatte Leon sie einfach nur langweilig gefunden und keine Lust auf mehr verspürt. Oder hatte er nur mit ihr gespielt und ihr beweisen wollen, dass er jede Frau dazu bringen konnte, ihre Moralvorstellungen über Bord zu werfen?

Auch in der darauf folgenden Woche zerbrach sie sich den Kopf darüber und war hin- und hergerissen zwischen Wut und ihrer alten Unsicherheit, die wieder aufflammte. Schließlich gewann ihr Zorn die Oberhand, weil sie frustriert darüber war, dass sie sich überhaupt Gedanken darüber machte. Fast hätte sie einen Fehler begangen, und der Grund für sein verletzendes Verhalten konnte ihr egal sein, denn Leon bedeutete ihr nichts, und sie würde ihn vermutlich niemals wiedersehen.

Nur warum hatte seine Abfuhr sie dann mehr verletzt als die Tatsache, dass sie den Auftrag nicht bekommen hatte? Beschämt biss Cally sich auf die Lippe, riss sich dann allerdings zusammen. Es lag nur daran, dass sie bis zu jenem Moment geglaubt hatte, sie hätte ihren Traumjob verloren. Leon hingegen hatte ihr klargemacht, dass sie nur dieses Ziel verfolgt und dabei alles andere aus den Augen verloren hatte. Das Gefühl der Leere und ihr Kummer darüber, dass sie nie wieder in seinen Armen liegen würde, bewiesen ihr nur, wie einsam sie war. In den letzten Jahren hatte sie sich völlig zurückgezogen und zu niemandem außer ihrer Familie Kontakt gepflegt.

Leon hatte sie in dem Glauben bestärkt, dass man Männern nicht vertrauen konnte. Trotzdem durfte sie nicht weiter jede Einladung unter irgendwelchen Vorwänden ausschlagen. Die wenigen Aufträge, die ich für die nächsten drei Monate angenommen habe, werden mich zeitlich auch nicht besonders in Anspruch nehmen, überlegte sie traurig, als sie ihren Computer einschaltete, um ihre E-Mails abzurufen. Andererseits konnte man kaum am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, wenn das Geld dazu fehlte.

Während ihrer Abwesenheit waren drei neue Nachrichten eingetroffen – eine Werbemail von ihrem Lieferanten, die sie sofort löschte, weil sie momentan keine neuen Materialien bestellen konnte. Die zweite kam von ihrer Schwester Jen, die mit ihrer Familie aus dem Urlaub in Florida zurückgekehrt war und unbedingt wissen wollte, ob das schwarze Kleid ihr auf der Auktion genauso viel Glück gebracht hatte wie ihr im letzten Monat, als sie einen begehrten Journalistenpreis bekommen hatte. Cally schüttelte den Kopf, während sie sich einmal mehr darüber wunderte, wie ihre Schwester es schaffte, gleichzeitig Karriere zu machen und außerdem Ehefrau und Mutter zu sein. Sie würde ihr erst antworten, wenn sie in besserer Stimmung war und sich nicht wie eine Versagerin fühlte.

Die dritte Mail stammte von einem Absender mit einem ausländischen Namen, den sie nicht kannte. Misstrauisch öffnete sie sie.

Liebe Miss Greenway,

der Fürst von Montéz ist kürzlich auf Ihre Fähigkeiten als Restauratorin aufmerksam geworden und möchte Ihnen eventuell einen Auftrag erteilen. Für das Vorgespräch mit Seiner Königlichen Hoheit müssen Sie in drei Tagen im königlichen Palast erscheinen. Die Flugtickets werden Ihnen morgen per Kurier zugestellt, es sei denn, Sie lehnen dieses großzügige Angebot ab.

Mit freundlichen Grüßen

Boyet Durand

im Auftrag Seiner Königlichen Hoheit, des Fürsten von Montéz

Cally blinzelte ungläubig. Jemand bot ihr eine kostenlose Reise auf eine Trauminsel im Süden an. Warum verschob sie diese Nachricht nicht sofort in den Papierkorb? Sie las sie noch einmal und kam zu dem Ergebnis, dass es sich nicht um eine gewöhnliche Werbemail handelte: Sie haben eine Reise nach Barbados gewonnen. Bitte wählen Sie folgende Nummer … Dieser Absender kannte ihren Namen und ihren Beruf. Es war durchaus möglich, dass jemand eine ihrer Arbeiten in einer kleinen Galerie gesehen und daraufhin ihre Webseite besucht hatte, aber ein Fürst?

Nachdem sie die Nachricht ein drittes Mal gelesen hatte, wurde ihr bewusst, wie anmaßend der Fürst von Montéz war. Falls es sich nicht um einen Scherz handelte, für wen hielt er sich eigentlich, dass er seinen Berater anwies, sie zu sich zu zitieren?

Sie ging ins Internet, um sich Informationen über den Fürsten von Montéz zu beschaffen, doch diese waren recht spärlich. Sein Name wurde nirgends genannt. Auf den entsprechenden Seiten stand nur, dass der jetzige Fürst von Montéz vor einem Jahr die Herrschaft übernommen hatte, nachdem sein Bruder Girard mit nur dreiundvierzig Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war und keine Kinder hinterlassen hatte.

Cally überlegte. Ja, sie erinnerte ich noch gut an die Fotos von der Adelshochzeit, die in dem Sommer, als sie Examen machte, die Titelseiten aller Zeitschriften geschmückt hatten. Die Nachricht vom tragischen Tod des Regenten hatte sie im vergangenen Jahr in ihrem Atelier im Radio gehört. Nur leider erfuhr sie im Internet nichts über den Bruder des verstorbenen Fürsten, den Mann, der glaubte, eine gewöhnliche Künstlerin wie sie würde seinetwegen alles stehen und liegen lassen.

Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, seinem Berater zu schreiben, dass das Angebot zwar verlockend wäre, der Fürst sich jedoch irren würde, wenn er annahm, dass sie ihm so kurzfristig zur Verfügung stehen würde. Nur leider verhielt es sich nicht so. Hatte sie nicht gerade gewünscht, sie hätte mehr Aufträge und würde mehr unter Menschen gehen, statt immer nur sonntags mit ihren Eltern zu Mittag zu essen?

Und genau deswegen wollte sie die Tickets entgegennehmen und beantwortete die Mail entsprechend. Allerdings bezweifelte sie, dass diese überhaupt kommen würden, bis der Kurier am nächsten Morgen klingelte und sie aus dem Schlaf riss, als sie gerade von einem Franzosen namens Leon träumte …

Und sie glaubte auch nicht, dass sie es wagen würde, die Flugscheine zu benutzen, bis sie am darauf folgenden Tag in der Maschine saß und die Stewardess die Passagiere bat, sich anzuschnallen.

Ihre erste und letzte Reise nach Frankreich war ein Tagesausflug mit der Fähre nach Le Touquet gewesen, und zwar mit ihrer Schulklasse. Sie hatte immer davon geträumt, einmal nach Paris zu fahren und die Museen und Galerien zu besuchen, es sich bisher allerdings nicht leisten können. Als sie nach dem kurzen Flug nun auf die Gangway trat und zu einer Seite das azurblaue Wasser sah, das in der Sonne glitzerte, und zur anderen die grünen Berge, schien es ihr, als würde all das jemand anderem passieren. Zum ersten Mal seit Jahren hätte sie am liebsten sofort einen Block gezückt, um einige Skizzen anzufertigen.

Dieser Wunsch verstärkte sich noch, als der Chauffeur, der sie mit einer Limousine abgeholt hatte, vor dem Fürstenpalast hielt und ihr den Schlag öffnete. Das imposante Gebäude wirkte wie ein Märchenschloss auf einem prachtvollen Gemälde.

„Bitte folgen Sie mir, Mademoiselle“, sagte der Fahrer, als sie ausgestiegen war. „Der Fürst wird Sie im salle de bal empfangen.“

Cally krauste die Stirn und versuchte angestrengt, sich an ihr Schulfranzösisch zu erinnern, als er sie durch einen großen Rundbogen führte. Offenbar hatte er ihren verwirrten Gesichtsausdruck bemerkt.

„Ich glaube, Sie sagen Ballsaal, nicht?“

Sie nickte und blickte sich fasziniert um, während sie den Hof überquerten und dann eine weiße Marmortreppe hochgingen, auf der ein dunkelroter Teppich lag.

Sofort verspürte sie Gewissensbisse, denn der Besitzer dieses prunkvollen Palasts verkörperte all den Überfluss, den sie verabscheute. Umso mehr schämte sie sich dafür, dass sie insgeheim wünschte, sie würde etwas Schickeres tragen als das schlichte schwarze Kostüm mit der weißen Bluse. Aber warum zerbrach sie sich überhaupt den Kopf über ihre Kleidung? Schließlich würde sie sich dem Fürsten gegenüber genauso verhalten wie bei jedem anderen Kunden. Und er sollte sie nur nach ihren Fähigkeiten als Restaurateurin beurteilen.

„Da sind wir, Mademoiselle Greenway.“

„Danke“, erwiderte Cally leise, als der Mann eine Verbeugung andeutete und dann ging.

Unwillkürlich presste sie sich ihre Mappe an die Brust, bevor sie den Ballsaal betrat. Sie rechnete damit, dass es ihr beim Anblick des prächtigen Marmorfußbodens, der kunstvoll verzierten Täfelungen und der hohen stuckverzierten Decke, auf die sie von der Tür her einen Blick erhaschen konnte, den Atem verschlagen würde. Als sie sich umwandte, stieß sie jedoch einen verblüfften Laut aus.

In der Mitte der gegenüberliegenden Wand hingen zwei Gemälde. Die Renards.

Sie eilte hin, um sie näher zu betrachten. Tatsächlich handelte es sich um die Originale. Das Herz klopfte ihr plötzlich bis zum Hals, ohne dass sie den Grund dafür benennen konnte. War es Aufregung? Verzweifelt hatte sie gewünscht, die Identität des anonymen Bieters ermitteln und diesen davon überzeugen zu können, dass sie die Gemälde am fachkundigsten restaurieren würde. Und nun schien dieser sie gefunden zu haben.

„Und, erkennst du sie wieder?“

Schockiert öffnete Cally die Augen. Nein, das konnte nicht sein!

Leon.

Hör auf, schalt sie sich. Die Landessprache ist Französisch, natürlich spricht der Fürst so ähnlich wie Leon. Sie musste wirklich mehr unter Leute gehen, wenn eine bedeutungslose Begegnung wie jene sie so aus der Fassung brachte, sobald ein Landsmann von ihm sie ansprach. Diese Stimme gehörte dem Fürsten von Montéz, der sie hierher bestellt hatte, um sie möglicherweise zu engagieren. Also riss sie sich zusammen und wirbelte herum.

Bei seinem Anblick hätte sie fast das Bewusstsein verloren.

Ihre Fantasie hatte ihr keinen Streich gespielt. Er war es tatsächlich. Und in dem dunkelgrauen Anzug, den er trug, wirkte er noch maskuliner und beeindruckender als bei ihrer ersten Begegnung.

Ihr schwirrte der Kopf, während sie die Situation zu erfassen versuchte. Leon war Universitätsdozent. Vielleicht hatte der Fürst ihn eingeladen, damit er die Bilder genauer untersuchte. Vielleicht war dies einer jener unglücklichen Zufälle im Leben?

Doch als sie ihn betrachtete und den ironischen Zug um seinen Mund wahrnahm, wurde ihr plötzlich klar, dass dies kein Zufall war. Mit ihrer anfänglichen Einschätzung, dass dieser Mann reich war und einen Titel trug, hatte sie richtiggelegen. Alles andere war gelogen gewesen. Hieß er überhaupt Leon?

„Du Mistkerl!“

Nur für den Bruchteil einer Sekunde veränderte sich seine Miene. „Das hast du auch bei unserer letzten Begegnung gesagt, Cally. Aber ich dachte, zu deinem potenziellen Auftraggeber wärst du etwas höflicher.“

Höflicher? Unbändiger Zorn stieg in ihr auf. „Da ich dir gegenüber in diesem Leben sicher nicht mehr höflich sein kann, sollte ich lieber gehen, findest du nicht?“

Ärgerlich presste Leon die Lippen zusammen. Ja, das wäre sicher besser gewesen, genau wie er es in London für klüger gehalten hatte zu gehen. Nach all den langen Nächten, in denen er sich unzählige Male frustriert gefragt hatte, warum er nicht mit Cally geschlafen hatte, als sich die Gelegenheit bot, konnte er allerdings nicht mehr klar denken.

Und genau deshalb stellte er sich ihr in den Weg.

„Bleib wenigstens auf einen Drink.“

„Und warum, zum Teufel, sollte ich das tun?“

„Weil du schon wieder so aussiehst, als könntest du einen gebrauchen.“

Hatte Leon sie nur hierher bestellt, um sie noch mehr zu demütigen? Entschlossen, sich ihren inneren Aufruhr nicht anmerken zu lassen, setzte Cally eine ausdruckslose Miene auf. „Ich werde nachher im Flughafen etwas trinken.“

„Hast du es denn so eilig?“

Natürlich wusste sie genau, worauf er anspielte. Genau wie an jenem Abend, als sie behauptet hatte, sie müsste zurück ins Hotel, wartete niemand auf sie. Und genau deswegen hatte sie auch so kurzfristig kommen können.

„Nein, du hast recht. Aber ich möchte überall lieber sein als auf dieser abgelegenen Insel bei einem miesen Kerl wie dir, der Frauen nur zum Zeitvertreib aufreißt.“

Eine Frau“, verbesserte Leon sie ungerührt. „Du bist wirklich einzigartig, Cally Greenway.“

„Und Typen wie dich gibt es in jeder Luxusvilla und jedem Palast auf der Welt. Es ist so vorhersehbar, dass es mich langweilt.“

„Ich dachte, du magst es, wenn für dich immer alles nach Plan läuft – oder gibst du es womöglich nur vor?“

„Wie ich dir bereits sagte, möchte ich nur gehen.“

„Schade, dass deine Körpersprache etwas anderes verrät.“

Cally blickte nach unten und stellte fest, dass sie unwillkürlich zurückgewichen war und ihre Mappe noch immer krampfhaft umklammerte.

„Macht es dich etwa an, wenn eine Frau dich verabscheut?“

„Nur wenn ihr Abscheu aus unerfülltem Verlangen herrührt“, bemerkte Leon lässig.

„Träum weiter!“

„Du auch – von mir!“

Zu ihrem Leidwesen spürte sie, wie ihr das Blut in den Kopf stieg.

„Das dachte ich mir“, meinte er mit einem amüsierten Unterton. „Aber stell dir vor, wie schön es ist, wenn wir uns lieben, chérie.“

„Ich hätte tatsächlich fast mit dir geschlafen, als ich noch nicht wusste, wer du bist.“ Es fiel ihr schwer, bei der Erinnerung an ihr Verhalten nicht zusammenzuzucken. „Allerdings werde ich ganz sicher nicht noch einmal Gefahr laufen, es zu tun.“

„Hast du eine Schwäche für Universitätsdozenten?“ Nachdenklich legte er sich einen Finger auf den Mund. „Sind Fürsten nicht dein Fall?“

Nein, selbstgefällige Männer wie du sind nicht mein Fall, ging es ihr durch den Kopf. Nur warum konnte sie dann nicht den Blick von seinem Mund abwenden?

„Ich mag keine Lügner. Männer, die sich als jemand anders ausgeben, verschweigen, wie reich sie sind, und so tun, als hätten sie ein offenes Ohr für …“ Sofort musste sie wieder an die Auktion denken, die sie für einen Moment ganz vergessen hatte. Lässig hatte er dagesessen – aber nicht, weil er sich für keines der Stücke interessierte, sondern weil er einen seiner Bediensteten angewiesen hatte, am Telefon für ihn mitzubieten. Selbstgefällig hatte er mitverfolgt, wie er alle Konkurrenten aus dem Rennen schlug. Er hatte die Auktion nicht ihretwegen besucht, und das tat am meisten weh. „Und tatsächlich hast du mir meine berufliche Zukunft verbaut!“

Ironisch zog Leon die Augenbrauen hoch. „Bist du jetzt fertig? Gut. Erstens habe ich dir gesagt, wie ich heiße. Du hast mich nicht nach meinem Nachnamen gefragt und mir deinen auch nicht genannt. Und dass ich im Auftrag meiner Universität nach London gereist bin, stimmte ebenfalls. Ich habe sie gerade gegründet und wollte einige Stücke für das Kunstinstitut kaufen. Da du die Bar ausgesucht hast, kannst du mir kaum vorwerfen, dass ich dir verschwiegen habe, wie reich ich bin. Und deine Behauptung, ich hätte so getan, als hätte ich ein offenes Ohr für dich, was deinen beruflichen Frust angeht … Du warst diejenige, die nicht über den Job sprechen wollte.“

„Fürst zu sein ist für dich also ein Beruf?“

„Kein selbst gewählter“, erwiderte er ernst. „Aber es ist meine Arbeit, ja.“

„Die Wahrheit zu verschweigen kommt für mich einer Lüge gleich. Wenn wir beide verheiratet wären …“, Cally verstummte, als ihr bewusst wurde, wie absurd das klang, „… und du mit einer anderen Frau schlafen, es allerdings nicht erwähnen würdest, wäre das akzeptabel?“

Leon presste die Lippen zusammen. Hatte er nicht geahnt, dass Cally zu den Frauen gehörte, die nur ein Ziel verfolgten?

„Eine Heirat käme für mich nie infrage, Cally. Dein Vergleich hinkt deshalb.“

„Warum überrascht mich das nicht?“, konterte sie leise. Wie typisch, dass Leon zu den Männern gehörte, die eine Ehe scheuten wie der Teufel das Weihwasser! Dass es sie überhaupt interessierte, wunderte sie jedoch, denn sie hatte schon vor langer Zeit den Glauben an die Liebe verloren.

„Ich hoffe, es ist eine angenehme Überraschung“, nahm er nun den Faden wieder auf. „Statt dir deine berufliche Zukunft zu verbauen, lege ich nämlich den Grundstein für deine Karriere, wofür du mir ewig dankbar sein wirst. Es wird sich bestimmt nicht schlecht in deinem Lebenslauf machen, wenn du zwei der berühmtesten Gemälde der Welt restaurierst, oder?“

Die Vorstellung, in seiner Schuld zu stehen, erfüllte Cally mit Entsetzen. Aber Leon bot ihr genau das, was sie sich immer gewünscht hatte – beinah zumindest. „Du sagtest, du wärst nach London gereist, um einige Stücke für das Kunstinstitut der Universität zu kaufen. Heißt das, die Rénards werden nach der Restaurierung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht?“

Unvermittelt hob er den Arm, um einen Blick auf seine Luxusuhr zu werfen. „Ich würde die Einzelheiten gern jetzt besprechen, aber ich habe gleich einen Termin mit dem Rektor der Universität. Und leider kann ich dich nicht mitnehmen, auch wenn du eine Schwäche für Wissenschaftler hast und Professor Lefevre sicher sehr anregend fändest. Wir können unsere Unterhaltung beim Frühstück fortsetzen.“

„Wie bitte?“

„Beim Frühstück. Petit dejeuner. Die erste Mahlzeit am Tag.“ Regungslos erwiderte er ihren entsetzten Blick. „Ich glaube, es gibt ein Gemälde von Renoir mit dem Titel. Aber du bist natürlich die Expertin auf dem Gebiet.“

Seine Dreistigkeit verschlug ihr den Atem. „Mir ist durchaus klar, was es bedeutet, danke. Genauso wie mir bewusst ist, dass ich morgen zu Hause in Cambridge frühstücken werde. Du hast mich hierher eingeladen, damit wir es heute besprechen.“

„Und ich habe erst danach erfahren, dass Professor Lefevre sich nur heute mit mir treffen kann. Aber da du keine anderweitigen Verpflichtungen hast, kann es doch bis morgen warten, oder?“

Cally kochte vor Wut. „Ich muss meinen Flug bekommen.“

„Aber wie willst du die wichtigste Entscheidung in deiner beruflichen Laufbahn treffen, ohne alle Fakten zu kennen?“

Es gab überhaupt nichts zu entscheiden. Wie hätte sie überhaupt mit dem Gedanken spielen können, für einen Mann zu arbeiten, der sie belogen und gedemütigt hatte? Weil der Auftrag die Erfüllung meiner Träume wäre, überlegte sie zerknirscht. Prompt erinnerte sie sich an ihren widerwärtigen Chef im Souvenirshop der Galerie, den sie für einen Hungerlohn allein geführt hatte. Sie hatte den Mann einfach ignoriert. Leon nicht wahrzunehmen würde allerdings nicht so leicht sein. Es sei denn, sie mietete sich irgendwo ein Atelier und restaurierte die Gemälde dort. Dann bräuchte sie ihn erst wiederzusehen, wenn sie sie ihm nach getaner Arbeit übergab.

„Falls ich noch bis zum … Frühstück bleibe“, begann sie deshalb, „kann ich auch eigene Vorschläge einbringen, wie ich den Auftrag durchführen möchte?“

„Ja, natürlich.“

Da sie davon ausgegangen war, dass sie am Nachmittag zurückfliegen würde, rechnete sie schnell nach, ob sie sich eine Übernachtung in einer Pension auf der Insel leisten konnte.

„Wann soll ich denn wiederkommen?“

„Du wirst hier im Palast bleiben und auf mich warten“, verkündete er, während er mit großen Schritten den Ballsaal verließ und ihr bedeutete, ihm zu folgen.

Im Flur wartete der Chauffeur, der sie vom Flughafen abgeholt hatte.

„Boyet zeigt dir dein Zimmer und bringt dir dann das Abendessen“, fügte Leon hinzu und verschwand, bevor sie etwas erwidern konnte.

4. KAPITEL

Carry nahm ihr Mobiltelefon vom Nachttisch und blickte im Dunkeln auf das Display. Es war 2:48 Uhr und sie noch immer hellwach. Sie hatte alle Positionen ausprobiert – auf dem Rücken, dem Bauch und der Seite –, hatte das Fenster geschlossen, um das leise Meeresrauschen auszublenden und sich vorzustellen, sie wäre zu Hause. Schließlich hatte sie es wieder geöffnet, in der Hoffnung, es würde sie einschläfern. Und schließlich hatte sie es aufgegeben und sich eingeredet, dass es keine Rolle spielte, ob sie schlief oder nicht. Doch je später es wurde, desto mehr Fragen stellten sich ihr.

Warum war sie überhaupt nach Montéz gekommen? Das Leben war schließlich kein Märchen, in dem Prinzen sich durch edle Taten auszeichneten. Schließlich wusste sie aus Erfahrung, wie egoistisch und unaufrichtig privilegierte Männer wie er sein konnten. Spätestens bei der Lektüre der E-Mail hätte es ihr klar sein sollen. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass der Fürst und Leon ein und dieselbe Person waren. Selbst im Internet hatte sie nichts über die Identität des Herrschers von Montéz erfahren, was sie noch immer wunderte, zumal die Regenbogenpresse damals ständig über seinen Bruder und dessen Frau berichtet hatte.

Cally atmete tief durch. Wie schrecklich musste es für Leon gewesen sein, den Bruder zu verlieren und gleichzeitig eine derartige Verantwortung zu übernehmen! Das setzt allerdings voraus, dass er ein Herz hat, überlegte sie bitter. Sein Verhalten ihr gegenüber hatte jedoch nicht darauf hingedeutet. Hatte er seine Identität nicht aus rein egoistischen Gründen verschwiegen?

Wahrscheinlich. Genauso wie er vermutlich annahm, dass sie sich in seiner Schuld fühlen würde, wenn sie eine Nacht in seinem Palast verbrachte. Bei der Vorstellung wurde ihr übel. Deswegen hatte sie trotz ihres großen Hungers am Abend auch nichts gegessen und die luxuriösen Toilettenartikel in dem apricotfarbenen Bad mit den weißen Möbeln, das zu ihrem Zimmer gehörte, nicht angerührt und sich nur notdürftig frisch gemacht. Allerdings hatte sie nicht der Versuchung widerstehen können, einige der Flakons zu öffnen und daran zu schnuppern …

Als ihr Wecker einige Stunden später klingelte, fühlte Cally sich wie gerädert, stellte allerdings erleichtert fest, dass sie nun alles etwas nüchterner sah. Für sie war jetzt nur wichtig, ob Leon ihr den Auftrag anbot oder nicht.

Deshalb musste sie das gemeinsame Frühstück, das ihr bevorstand, einfach als Bewerbungsgespräch betrachten. Hätte ich bloß noch etwas anderes eingepackt, dachte sie unbehaglich, als sie zu der Veranda ging, auf der sie Leon Boyet zufolge den Fürsten um zwanzig nach acht treffen würde. Zum Glück war sie wenigstens so vorausschauend gewesen, frische Unterwäsche und ein Top mitzunehmen.

Von diesem Flügel des Palasts aus hatte man einen herrlichen Blick auf die Bucht, in der das blaue Wasser einladend glitzerte. Als sie auf die cremefarbenen Fliesen der Veranda trat, musste sie zugeben, dass Leon mindestens ebenso faszinierend wirkte wie die Landschaft. Die Beine lässig übereinandergeschlagen saß er auf einem schmiedeeisernen Stuhl und blätterte in der Zeitung. In dem weißen Leinenhemd und der lässigen Hose erinnerte er eher an ein Model als an einen Prinzen. Und dass es nur halb zugeknöpft war, hätte bei den meisten Männern lächerlich gewirkt – nicht so bei ihm.

„Und, gefällt dir die Aussicht?“, erkundigte er sich, während er die Zeitung zuschlug.

Cally, die sich ertappt fühlte, blickte schnell zum Horizont. „Sie ist genauso schön wie die englische Küste“, sagte sie trotzig.

„Stimmt, man könnte meinen, man wäre hier in England. Nur das Wetter ist besser“, erwiderte er trocken, während er auf den anderen Stuhl deutete.

Steif setzte sie sich darauf und senkte die Lider, nachdem sie ihre Mappe auf den Tisch gelegt hatte.

„Du siehst furchtbar aus“, bemerkte Leon. „Hast du schlecht geschlafen?“

Seine Worte trafen sie bis ins Mark. Eigentlich hätte sie froh darüber sein müssen, dass er ihr gegenüber kein Verlangen mehr vortäuschte, doch es machte sie traurig. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Frauen aussahen, mit denen er sonst frühstückte – perfekt durchgestylt und in den teuersten Designersachen. Genau wie Portia an jenem Morgen, als sie die Tür von Davids Haus geöffnet und den Ring mit dem großen rosafarbenen Diamanten getragen hatte.

„Leider sehen Frauen, die sich nicht zentimeterdick Make-up ins Gesicht kleistern, morgens so aus, Leon.“

Gereizt schüttelte er den Kopf. „Du hast so etwas überhaupt nicht nötig. Ich meinte nur, dass du etwas … mitgenommen wirkst.“

Sein Kompliment überraschte sie so, dass Cally zuerst überhaupt nicht wusste, wie sie reagieren sollte. „Na ja, mehr als vier Stunden habe ich nicht geschlafen.“

Er unterdrückte ein Lächeln und runzelte demonstrativ die Stirn, während er ihr Kaffee einschenkte, ohne sie vorher zu fragen. „Die Suite wurde erst vor Kurzem renoviert. Die Matratze soll das Beste sein, was es auf dem Markt gibt. Aber ich werde sie austauschen lassen.“

Er glaubt wohl, man könnte jedes Problem mit Geld lösen, überlegte sie verärgert und versuchte, den köstlichen Duft des Kaffees zu ignorieren. „Mit dem Bett war alles in Ordnung – abgesehen von der Tatsache, dass es unter deinem Dach steht.“

„Fürchtest du dich etwa in großen Gebäuden?“, fragte er gespielt besorgt, als Boyet mit einem großen Tablett erschien.

Beim Anblick der Sachen darauf lief ihr das Wasser im Mund zusammen – frisches Brot, Butter, Honig, eine Käseauswahl, Obst mit Naturjoghurt und frisch gepresster Orangensaft in zwei Krügen, einmal mit und einmal ohne Fruchtfleisch. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie hungrig sie war.

„Nein“, erklärte sie. „Ob du es glaubst oder nicht, ich möchte einfach nur nicht in deiner Nähe sein.“

„Und trotzdem bist du immer noch hier.“

„Wie du schon sagtest, wäre es ein Fehler, diese wichtige Entscheidung in meiner beruflichen Laufbahn zu treffen, ohne die Fakten zu kennen. Meine Gefühle spielen dabei keine Rolle.“

„Iss erst einmal etwas“, forderte Leon sie auf.

Am liebsten hätte Cally geantwortet, dass sie keinen Hunger hatte. Das Brot duftete jedoch so verlockend, dass sie sich ein Stück nahm. Nachdem sie etwas gegessen hatte, verzog sie den Mund.

„Keine Frau, mit der ich bisher gefrühstückt habe, hat sich so viel Mühe gegeben, unglücklich auszusehen, wie du.“

Als sie sich erneut vorstellte, wie viele Frauen schon so mit ihm zusammengesessen haben mochten, begann sie, nervös mit ihrer Jacke zu spielen. Und obwohl es zu dieser Stunde schon ziemlich warm war, knöpfte sie diese noch weiter zu.

„Gefühle sind unwichtig, stimmt’s?“ Sie schob ihm die Mappe hin und rief sich dabei ihren Vorsatz ins Gedächtnis, diese Unterhaltung als Bewerbungsgespräch zu betrachten. „Hierin findest du Fotos von meinen wichtigsten Arbeiten und meine Unterlagen. Im Studium habe ich mich im theoretischen Teil auf Rénard spezialisiert.“

Lässig öffnete er die Mappe und begann zu lesen, während er seinen Kaffee trank. „Du hast ein Kunststudium in London begonnen, es aber nicht beendet?“, erkundigte er sich nachdenklich und blickte sie dabei an.

Typisch, dass es ihm als Erstes auffiel! Der Inhaber der Citygalerie war bei ihrem zweiten Termin auch darauf zu sprechen gekommen. Nach all den Jahren harter Arbeit hatte sie diese Frage endlich selbstbewusst beantworten können. Warum schämte sie sich dann jetzt so?

„Stimmt.“ Cally atmete tief durch. „Und im Nachhinein bereue ich es. Aber danach war ich zwei Jahre in Vollzeit tätig und habe in jeder freien Minute gelernt und gemalt. Dann habe ich ein Zertifikat am Cambridge Institute erworben.“

„Und warum hast du dein Studium abgebrochen?“ Ohne sie sich weiter anzusehen, schloss Leon ihre Mappe wieder. „Hast du dich in einen der Professoren verliebt und alles hingeworfen, weil er deine Gefühle nicht erwiderte?“

„Das spielt doch keine Rolle, oder?“

Der in ihren Augen aufblitzende Ausdruck bewies Leon, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Am liebsten hätte er nachgebohrt, doch er wollte lieber nicht wissen, mit wem Cally zusammen gewesen war, oder sie gar darüber reden hören. Das wiederum erschien ihm absurd, weil er sonst nur mit sexuell erfahrenen Frauen schlief.

Er sah ihr in die Augen. „Zufällig glaube ich, dass Menschen sich in persönlichen Beziehungen nicht anders verhalten als in beruflichen.“

Jetzt begriff sie! Cally spürte, wie ihr in dem Kostüm noch heißer wurde. Leon hatte sie in London nur auf die Probe stellen und herausfinden wollen, ob sie sich für den Job eignete. Und sie konnte sich denken, zu welchem Ergebnis er gekommen war. Ausgerechnet an dem Abend, an dem sie sich so hätte zeigen müssen, wie sie wirklich war, hatte sie sich völlig untypisch verhalten. Doch woher nahm er das Recht, sie danach zu beurteilen?

Herausfordernd funkelte sie ihn an. „Dann möchtest du sicher nicht wissen, worauf dein Verhalten hindeutet.“

„Da du diejenige bist, die meine Bilder restaurieren will, spielt mein Verhalten keine Rolle. Deins hingegen …“

„Warum hast du mich überhaupt kommen lassen, wenn ich deinen dämlichen Persönlichkeitstest schon nicht bestanden habe?“, fiel sie ihm wütend ins Wort.

„Du hast zwar bewiesen, dass du dich nur für die Bilder interessierst, weil sie dich berühmt machen können …“ Demonstrativ machte er eine Pause, als wollte er ihr Entsetzen über seine Einschätzung auskosten. „Aber meine Recherchen in der letzten Woche haben ergeben, dass du dich am besten für den Job eignest.“

Dass er sie in einem Atemzug so beleidigte und gleichzeitig würdigte, verschlug ihr die Sprache. Und bevor sie diese wiederfand, fuhr er fort: „Deshalb möchte ich dich engagieren. Allerdings unter einer Bedingung. Du kannst es in deinen Lebenslauf aufnehmen, aber mehr auch nicht. Auf Montéz darf die Presse nur über mich und meine Mitarbeiter berichten, wenn es um meine öffentliche Arbeit geht. Ich lege großen Wert darauf, dass es auf der ganzen Welt so gehandhabt wird und auch meine Mitarbeiter sich daran halten.“

Deshalb habe ich im Internet also nichts über ihn gefunden, überlegte Cally. Dass er glaubte, diese Bedingung könnte für sie der einzige Streitpunkt bei seinem Angebot sein, überraschte sie. Gleichzeitig hätte sie ihn am liebsten gefragt, ob er schon einmal etwas von dem Begriff Pressefreiheit gehört hätte.

Sie krauste die Stirn. „Gestern habe ich dich so verstanden, dass du die Rénards für die Universität gekauft hast. Sind sie dann nicht ohnehin Bestandteil deiner öffentlichen Arbeit?“

Gereizt fuhr Leon sich durchs Haar. Hatte er nicht geahnt, dass sie es so hindrehen würde, wie es ihr passte? „Nein, sie sind für meine Privatsammlung. Auf der Auktion habe ich einen kleinen Goya für die Universität ersteigert. Zum Glück muss er nicht restauriert werden.“

Seine Worte brachten das Fass zum Überlaufen. „Die Rénards sind also eine Art Trophäe, an der sich niemand außer dir erfreuen soll?“, fuhr sie ihn an.

Ungerührt trank er einen Schluck Kaffee. „Wenn du es so sehen willst, ja. Dann passt es ja, dass die Gemälde die Verschiedenheit der Dinge zum Thema haben.“

„Du hast mich also wieder belogen.“

„Nein. Ich habe dir nur nicht gleich die ganze Wahrheit erzählt.“ Lässig zuckte er die Schultern. „Macht das etwa einen Unterschied?“

„Natürlich tut es das!“

„Wirklich? Wenn ich mich recht entsinne, hast du mir zu verstehen gegeben, dass du sogar auf deine Moralvorstellungen pfeifen würdest, um den Auftrag zu bekommen. Es sei denn …“

„Was?“

„Es sei denn, du würdest wieder nicht zu deinem Wort stehen.“

Herausfordernd blickte er sie an. Cally wusste, dass er sie bewusst quälte, und ihr Instinkt riet ihr, die Flucht zu ergreifen. Leon hatte die Gemälde nur für sich privat ersteigert. Er war ein verdammter Lügner. Und noch nie zuvor hatte ein Mann sie so gedemütigt. Und noch nie hatte sie sich so lebendig gefühlt.

In Cambridge warteten jedoch nur ein leeres Auftragsbuch und ein Stapel Rechnungen auf sie. Und sie würde ihre Situation als noch deprimierender empfinden, weil sie in dem Bewusstsein zurückkehren würde, dass sie ihren Traumjob nur aus Stolz abgelehnt hatte. Und Leon würde glauben, sie hätte nicht genug Durchhaltevermögen und würde tatsächlich nicht Wort halten. Seine Meinung über sie interessierte sie zwar nicht, wie sie sich einzureden versuchte, aber genau diese Eigenschaften waren ihr fremd.

Wenn sie sein Angebot ablehnte, würde sie den Kürzeren ziehen. Er konnte jemand anders mit der Restaurierung beauftragen, und ein Mann mit mehr Geld als Charakter hätte ihre Träume zum zweiten Mal wie eine Seifenblase platzen lassen. Bei dieser Vorstellung flammte erneut unbändiger Zorn in ihr auf. Aber zum Teufel, selbst wenn Leons Pläne in Bezug auf die Gemälde all dem widersprachen, woran sie glaubte – warum sollte sie nicht einmal im Leben ihren Vorteil daraus ziehen?

„Soll ich sofort mit der Arbeit anfangen?“

„Das kommt darauf an. Unterschreibst du einen Vertrag, in dem steht, dass du den Job sofort verlierst, wenn du gegen die Bedingung verstößt?“

„Ich sehe keinen Grund, warum ich es nicht tun sollte.“

„Dann kannst du gleich heute Nachmittag loslegen.“

So leicht wollte sie es ihm jedoch nicht machen. „Dann brauche ich einen Vorschuss, weil ich mir etwas mieten muss und …“

„Mieten?“, wiederholte er verächtlich.

Cally nickte.

„Und warum? Der Palast ist doch groß genug.“

„Weil … es unter den gegebenen Umständen wohl unpassend wäre, wenn ich hier wohnen und arbeiten würde.“

Leon zog eine Braue hoch. „Was meinst du damit?“

Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg, und bereute ihre Wortwahl sofort. „Das weißt du genau.“

„Hätten wir miteinander geschlafen, würde ich es verstehen, ma belle. Aber da wir es nicht getan haben, sehe ich da kein Problem.“

Von wegen, dachte sie, ging allerdings nicht mehr darauf ein. „Gut. Dann wohne und arbeite ich eben hier. Aber ich brauche Arbeitsmaterialien.“ Sie ließ den Blick über ihr Kostüm schweifen, bevor sie ihn wieder ansah. „Und ich muss meine Kleider hierher schicken lassen. Oder willst du etwa behaupten, dass ich sie nicht brauche?“ Kaum hatte sie die Frage gestellt, wurde ihr klar, wie zweideutig diese war.

„Das wird die Zeit zeigen, Cally“, erwiderte er trügerisch sanft. Sein sinnlicher Tonfall und die Art, wie Leon ihren Namen aussprach, riefen Hitzewallungen bei ihr hervor, und eine Schweißperle rann ihr zwischen den Brüsten hinunter. „Aber deine Kleider können in Cambridge bleiben“, fügte er lässig hinzu, als wäre ihr Vorschlag lächerlich. „Ich lasse alles, was du brauchst, aus Paris herschicken, auch eine neue Garderobe.“

„Ich brauche keine neue Kleidung!“

Kritisch musterte er daraufhin ihr Kostüm. „Ich glaube doch.“

Ihr brannten die Wangen, und ihr wurde noch heißer bei seinen beleidigenden Worten. „Was für ein Glück, dass deine Meinung mich nicht interessiert, stimmt’s?“

„Glück? Ich würde eher sagen, es spielt keine Rolle“, erklärte er, bevor er seine Tasse leerte.

„Aber …“ Vor Wut kochend funkelte Cally ihn an, doch er ignorierte sie einfach und sprach weiter.

„In der Zwischenzeit möchtest du dir sicher die Gemälde ansehen“, verkündete er dann. „Stell eine Liste mit allen Materialien zusammen, die du brauchst, und gib sie heute Abend Boyet. Er sorgt dafür, dass die Sachen umgehend bestellt werden.“ Beim Aufstehen musterte er sie wieder von Kopf bis Fuß. „Die neuen Sachen werden zwar erst morgen kommen, aber an deiner Stelle würde ich die Jacke ausziehen. Du siehst aus, als würdest du jeden Moment in Ohnmacht fallen.“

Schnell erhob sie sich auch, weil dieses Treffen nicht so enden sollte, dass er einfach ging. „Du bist es vielleicht gewohnt, wenn Frauen in deiner Gegenwart ohnmächtig werden, Leon, aber mich lässt du völlig kalt.“

„In dem Fall kann ich es kaum erwarten, dich zu erleben, wenn du in Flammen stehst“, spottete er und verließ die Veranda, bevor Cally etwas entgegnen konnte.

Zu ihrem Leidwesen sah es nun so aus, als wäre sie aufgestanden, um ihm Ehrerbietung zu zollen.

„Dann kannst du dich hoffentlich in Geduld üben“, rief sie ihm nach.

Sobald er durch die Glastüren verschwunden war, sank sie wieder auf ihren Stuhl und zog die Jacke aus.

„Das wird wohl kaum nötig sein“, hörte sie in dem Moment seine Stimme und stellte fest, dass er drinnen die Jalousie zurückgezogen hatte und sein Blick auf ihren Brüsten, die sich unter der weißen Bluse abzeichneten, ruhte. „Oder was meinst du?“

5. KAPITEL

„Soll ich die Sachen gleich in Ihr Zimmer bringen, Mademoiselle Greenway?“

Cally, die gerade die Treppe hinunterging, war verblüfft, als sie Boyet inmitten der unzähligen Einkaufstüten und Schachteln in der Eingangshalle bemerkte. Es erinnerte sie an den Berg von Geschenken unter dem drei Meter hohen Tannenbaum an jenem Weihnachtsfest vor acht Jahren in Davids Haus. Als sie David später mit zu sich genommen hatte, um ihn ihren Eltern vorzustellen, und er die bescheidenen Päckchen bei ihnen sah, waren ihm die Gesichtszüge entgleist. Der Gedanke daran trübte sofort ihre Stimmung.

„Ja, vielen Dank, Boyet. Sicher befindet sich in einer der Tüten etwas, das ich zum Arbeiten anziehen kann. Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“

Ungeachtet seiner Proteste ging sie ihm zur Hand und zählte schließlich vierundfünfzig Teile. Nachdem sie einige der Tüten und Schachteln ausgepackt hatte, musste sie allerdings feststellen, dass sie sich geirrt hatte. Außer zahlreichen Paaren hochhackiger Pumps und Sandaletten, Cocktailkleidern und einem Berg von Dessous entdeckte sie unter den Einkäufen zwar auch einige edle Leinenhosen sowie eine Designerjeans, aber nichts, das sie guten Gewissens hätte schmutzig machen können. Eine Garderobe wie diese hätte ein Mann eher einer Geliebten als einer Angestellten geschenkt.

Aber vielleicht macht Leon das immer so, wenn er eine Frau kennenlernt, mit der er ins Bett will, überlegte sie bitter. Sie war allerdings nicht hier, um sich für ihn schick zu machen. Doch das erwartete er auch nicht, denn in London hatte er nur so getan, als würde er sich zu ihr hingezogen fühlen, um sie auf die Probe zu stellen. Sie wusste nicht, warum diese Tatsache sie am meisten ärgerte. Wütend nahm sie die Designerjeans und begann, ihr Necessaire zu suchen.

Zwanzig Minuten später schritt Cally mit einem Hochgefühl die Treppe hinunter – in der mit ihrer Nagelschere zu einer Shorts umfunktionierten Designerjeans und einer weißen Leinenbluse, deren Enden sie um die Taille geknotet hatte.

Das Atelier war dreimal so groß wie ihres in Cambridge, aber im Vergleich zu den anderen Zimmern im Palast, die sie bisher betreten hatte, erstaunlich einfach ausgestattet. Einige Schränke, eine Spüle, daneben ein kleiner Kühlschrank, ein bequem anmutendes Sofa mit einem roten Überwurf und ein kleines Regal mit einem CD-Player in einer Ecke waren die einzigen Möbel. Dank der hohen Glastüren, die zum Meer hinaus lagen, war das Atelier lichtdurchflutet und daher ideal zum Arbeiten.

Die Rénards standen auf zwei Staffeleien in der Mitte. Als sie am Vortag nach dem Frühstück auf der Veranda saß, hatte Boyet ihr mitgeteilt, dass die Gemälde sich bereits im Atelier befinden würden, damit sie sie begutachten konnte. Ihre Wut über Leons Verhalten war sofort einer neuen Entschlossenheit gewichen, weil sie sich endlich auf die praktischen Dinge konzentrieren konnte. Am Nachmittag hatte sie Boyet die Liste mit den von ihr benötigten Materialien überreicht und dabei zu ihrer Erleichterung erfahren, dass Leon den Palast verlassen hatte, um seinen Geschäften nachzugehen, und erst nach Einbruch der Dunkelheit zurückkehren würde.

Obwohl er sie auch an diesem Morgen sich selbst überließ, musste sie sich jedoch eingestehen, dass sie sich anders als sonst bei neuen Aufträgen nicht richtig konzentrieren konnte.

Nachdem sie sich einen Hocker herangezogen und vor die Gemälde gesetzt hatte, atmete sie tief durch und versuchte, alles andere auszublenden. Vergeblich. Vielleicht war es zu still, denn von zu Hause war sie Verkehrslärm gewohnt. Deswegen stand sie auf und ging zum CD-Player. Überrascht stellte sie fest, dass sich unter den CDs im Regal mehrere mit Rockmusik befanden. Am liebsten hätte sie eine davon eingelegt, aber es hätte sie an jenen Abend erinnert und sie noch mehr durcheinandergebracht. Also entschied sie sich für zeitgenössischen Jazz und sagte sich dabei, dass ein Fürst seine CDs ohnehin nicht selbst kaufte, bevor sie wieder auf dem Hocker Platz nahm.

Völlig in einer Sache aufgehen zu können war immer ihre Stärke gewesen. Cally dachte an den Restaurierungskurs zurück, den sie am Cambridge Institute besucht hatte. Viele der anderen Teilnehmer waren begabter als sie gewesen, doch der Dozent hatte ihr besonderes Engagement hervorgehoben. Während die anderen oft feierten und sich erst kurz vor den Abgabeterminen hinsetzten, war sie ihnen mit dem Lernstoff immer um Wochen voraus. Vielleicht lag es daran, dass sie so hart für diese zweite Chance hatte kämpfen müssen. Oder daran, dass ihre Leidenschaft für die Kunst seit jenem Moment in Mrs. McLellans Klasse all die Jahre zuvor alles andere übertroffen hatte.

Zuerst hatte sie freischaffende Künstlerin werden wollen, und sie wusste nicht, warum sie immer noch Bedauern verspürte, wenn sie daran dachte. Normalerweise betrachtete sie die Tatsache, dass sie einen anderen Weg eingeschlagen hatte, ganz nüchtern. Hätte sie irgendeine ihrer Skizzen damals nach der Trennung von David umgesetzt, dann hätten diese Gemälde vielleicht eine größere Chance darauf gehabt, in einer Galerie ausgestellt zu werden, als die Rénards. Aufgewühlt ballte Cally die Hände zu Fäusten. Wie konnte ein Mann, der eine Universität gründete, zwei so bedeutende Kunstwerke wie diese der Öffentlichkeit vorenthalten? Vielleicht fördert er die Bildung nur, weil er sich dazu verpflichtet fühlt, überlegte sie. Und genauso emotionslos, wie Leon offenbar handelte, musste sie diesen Auftrag betrachten.

„Ich fange einfach mit den Fotos an“, sagte sie dann laut, als würde es ihr helfen, wenn sie mit sich selbst sprach. Nachdem sie ihre schon etwas lädierte Kamera aus der Handtasche genommen hatte, ging sie einen Schritt zurück und hob sie ans Auge.

„Na, denkst du gerade an deine kostbare Mappe, chérie?“

Beim Klang von Leons Stimme ließ sie den Fotoapparat schuldbewusst sinken. Sofort wurde ihr bewusst, wie lächerlich das war, doch ihre Hand zitterte zu stark, als dass sie weitermachen konnte.

Leon hat mich nur erschreckt, weiter nichts, redete sie sich ein. Ärgerlich fragte sie sich, wie lange er schon dagestanden und sie beobachtet haben mochte. Die Musik war zwar nicht laut, aber offenbar nicht leise genug.

Autor

Kate Walker
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