Romana Exklusiv Band 291

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WENN IN FLORENZ DIE WEIHNACHTSGLOCKEN LÄUTEN von GORDON, LUCY
Obwohl Alysa ihn kaum kennt, folgt sie dem attraktiven Drago di Luca in seine prächtige Villa nach Florenz. Und bereut ihre Entscheidung keine Sekunde lang. Schon freut sich Alysa auf das nahende Weihnachtsfest an seiner Seite, da tauchen dunkle Wolken am Glückshimmel auf …

EIN CHEF ZUM VERLIEBEN von SOUTHWICK, TERESA
Finger weg vom Chef! Immer ist Madison ihrem Grundsatz treu geblieben. Bis zu diesem Weihnachtsdinner in einem Londoner Luxushotel. Jacks Abschiedskuss durchfährt sie wie ein Stromschlag, ihre Nerven vibrieren - und es ist fast ein Schock: Maddie hat sich rettungslos verliebt …

SO KÜSST MAN NUR IM WILDEN WESTEN von WILDER, QUINN
Es gibt viele Dinge, die den athletischen Cowboy Cliff Carpenter an Mandy Marlowe ärgern, aber am meisten ist er auf sich selbst wütend: der Wunsch, sie in die Arme zu reißen, ist übermächtig. Da hilft auch nicht die Einsamkeit, die er in der Prärie sucht …


  • Erscheinungstag 15.12.2017
  • Bandnummer 291
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744588
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lucy Gordon, Teresa Southwick, Quinn Wilder

ROMANA EXKLUSIV BAND 291

PROLOG

Fröhlich funkelten die Lichter am über und über mit Lametta geschmückten, winzigen Plastikweihnachtsbaum – ein größerer hätte nicht in das moderne kleine Apartment gepasst.

Alysa liebte die elegante, teure Wohnung, die sie sich dank einer steilen Karriere hatte leisten können. Doch heute spürte sie zum ersten Mal, dass etwas fehlte. Und ich weiß auch was, dachte sie und legte sich die Hand auf den Bauch: ein Kinderzimmer. Zum Glück war James’ Wohnung größer. Wenn er von dem Baby erfuhr, würde er die bisher nur vagen Heiratspläne bestimmt vorantreiben. Noch am selben Abend wollte sie ihm von der Schwangerschaft berichten.

Alle Vorbereitungen dafür waren getroffen, nur eine Kleinigkeit hatte gefehlt: eine Figurengruppe, die Alysa heute auf dem Heimweg im Überschwang der Gefühle spontan gekauft hatte – Maria, über die Krippe gebeugt, liebevoll ihr Neugeborenes betrachtend.

Vorsichtig stellte Alysa sie neben das Bäumchen, damit der Schein der Lichter auf das Gesicht des Kindes fiel. Es blickte lächelnd zu seiner Mutter auf – sicher ein gutes Omen!

Wo blieb James nur? Jetzt war er schon eine Stunde überfällig. Jede Sekunde mit ihm war ihr teuer, so sehr liebte sie ihn. Er kam bestimmt gleich!

Zum hundertsten Mal vergewisserte sie sich, dass alles perfekt aussah, sie selbst eingeschlossen. Das lange Haar trug sie heute offen und nicht wie sonst zu einem strengen Knoten zusammengefasst. Schon lange spielte sie mit dem Gedanken, es abschneiden zu lassen, weil sie dann in ihrem Job als Anlageberaterin seriöser wirken würde, doch sie hatte sich bisher nicht dazu durchringen können, denn ihr dichtes braunes Haar mit den tizianroten Strähnen, das ihr bis zur Taille reichte, war das Schönste an ihr. Für eine Frau hatte sie, wie sie fand, zu herbe Gesichtszüge, außerdem meinte sie, zu groß und zu dünn zu sein, auch wenn ihre Freundinnen sie um ihre angebliche Modelfigur beneideten.

Am Tag ihrer ersten Begegnung mit James hatte sie es ungebändigt gelassen.

„Dein Haar hat mich von Anfang an so fasziniert, dass ich den Blick einfach nicht mehr davon abwenden konnte“, hatte er ihr später gestanden.

Und jedes Mal, wenn sie sich für die Arbeit ein schlichtes Kostüm anzog und für die strenge Frisur entschied, runzelte er die Stirn.

„Im Job muss ich geschäftsmäßig aussehen“, erinnerte sie ihn dann liebevoll. „Nur für dich trage ich es anders!“

Einmal hatte sie, ohne ihn vorher zu fragen, ein paar Zentimeter abschneiden lassen. Daraufhin war er richtig böse geworden, und sie hatten am Ende gestritten, wie sie sich jetzt lächelnd erinnerte.

Heute hatte sie sich zurechtgemacht, wie er es liebte. Zu einem figurbetonten, sexy Kleid trug sie das Haar offen, sodass er mit den Fingern darin spielen und das Gesicht in die duftende Fülle schmiegen konnte. Sicher würden sie bald zusammen ins Bett gehen, und wenn sie endlich in seinen Armen lag, wollte sie ihm ihr wunderbares Geheimnis verraten.

Wo blieb er nur?

1. KAPITEL

Die kalte Februarsonne tauchte den Schauplatz des schrecklichen Unfalls in den italienischen Apenninen in strahlend helles Licht. Vor einem Jahr hatten hier fünfzehn Menschen bei einem Seilbahnunglück ihr Leben verloren.

Heute hatten sich die Angehörigen an dieser Stelle versammelt, um ihrer Lieben zu gedenken. Einige blickten zu dem neu errichteten Sessellift über dem Wasserfall, der über schroffe Felsen in die Tiefe stürzte. Die Andacht wurde mit Rücksicht auf die ausländischen Gäste sowohl auf Englisch als auch auf Italienisch abgehalten.

„Lasst uns ihrer mit Stolz und Freude erinnern, dankbar, dass wir sie kennen durften …“

Dann war alles vorbei. Einige Leute gingen, andere verweilten in stillem Gebet.

Alysa blieb länger als die meisten, denn sie wusste nicht, was sie sonst anfangen und wohin sie gehen sollte. Etwas tief in ihrem Innern hielt sie hier fest.

Da trat ein junger Journalist mit einem Mikrofon in der Hand zu ihr und sprach sie auf Italienisch an. Als er ihre verständnislose Miene bemerkte, wechselte er schnell ins Englische.

„Darf ich fragen, warum Sie hier sind? Haben Sie auch jemanden bei dem Unglück verloren?“

Einen verrückten Moment lang wollte sie ihr Leid herausschreien: „Ich trauere um einen geliebten Mann, der mich betrogen und verlassen hat, und um unser ungeborenes Baby, von dem er noch nichts wusste. Er ist hier gemeinsam mit seiner Geliebten gestorben. Sie hatte Mann und Kind, aber sie hat diese ebenso hintergangen wie er mich. Ich habe wirklich keine Ahnung, warum ich hierhergekommen bin. Ich weiß nur, dass ich es tun musste.“

Ein Jahr lang hatte sie ihre Trauer mit niemandem geteilt und ihr Elend und ihre Einsamkeit vor aller Welt verborgen, aus Angst, sich sonst in ihrem abgrundtiefen Kummer und Zorn völlig zu verlieren und sich nicht mehr kontrollieren zu können.

„Nein. Ich war nur neugierig.“

Der sympathische Reporter seufzte enttäuscht. „Dann können Sie mir also nichts berichten? Keiner will mit mir sprechen, und der Einzige, den ich kenne, ist Drago di Luca.“

Bei der Erwähnung dieses Namens zuckte sie zusammen. „Ist er hier?“

„Das ist der finster dreinblickende Herr da drüben.“

Sie sah in die angegebene Richtung. Der Mann strahlte etwas Düsteres aus. Doch es lag nicht an seinem Äußeren, nicht an seinem Haar, das ebenso dunkel war wie seine durchdringend blickenden Augen. Es schien von Innen herauszukommen. Alysa schauderte.

Er hatte ein kantiges Gesicht mit einer markanten Nase und einer ausgeprägten Kinn- und Wangenpartie, und sein Blick hatte, selbst auf diese Entfernung erkennbar, etwas Wildes an sich, das sich jede Annährung verbat.

„Dem möchte man lieber nicht in die Quere kommen, oder?“, murmelte der Journalist. „Aber er hat auch allen Grund zu seinem Groll. Seine Frau starb hier, und es heißt, sie habe ihn kurz vorher verlassen.“

Einen Moment lang suchte Alysa nach Worten. „Ist das nur ein Gerücht, oder gibt es dafür Anhaltspunkte?“

„Sie war Rechtsanwältin und – offiziell – unterwegs zu Mandanten. Di Luca zerreißt jeden in der Luft, der etwas anderes zu behaupten wagt.“

Sie sah noch einmal zu dem stattlichen, kräftigen Mann hinüber. Er hatte breite Schultern und große Hände. „Er wirkt tatsächlich Furcht einflößend.“

„Er gehört zu den einflussreichsten Männern von Florenz und ist ein renommierter Bauunternehmer, der schon viele Großprojekte abgewickelt hat, Neubauten genauso wie die Restaurierung alter Gebäude. Als jemand vorschlug, er solle für den Stadtrat kandidieren, hat er nur gelacht. Er besitzt so viel Einfluss auf das Gremium, dass er es nicht nötig hat, seine Zeit in den Sitzungen zu verschwenden. Alle wichtigen Persönlichkeiten in der Umgebung hören auf ihn, und er kann seine Beziehungen spielen lassen, wie es ihm gefällt.“

Sie warf einen letzten Blick auf Drago und bemerkte überrascht, dass er sie ebenfalls ansah. Das konnte nicht sein! Einen Moment lang schienen alle Geräusche um sie her verstummt, und sie hatte das Gefühl, dass er ihr etwas sagen wollte.

„Ich muss jetzt los“, verabschiedete sie sich nervös von dem Reporter.

Während sie zum Ausgang ging, ließ sie Drago di Luca nicht aus den Augen. Sein Gesicht war ihr von ihren Recherchen her vertraut.

Beim letzten Gespräch mit James war ihm der Name seiner Geliebten ungewollt entschlüpft: Carlotta. Drei Wochen später hatte die Tragödie Schlagzeilen gemacht, und Alysa hatte aus der Zeitung von seinem Tod erfahren. Auf der Liste der Opfer war auch eine Signora Carlotta di Luca aufgeführt, eine vielversprechende junge Anwältin. Im Internet hatte Alysa dann etliche reich bebilderte Artikel über sie gefunden.

Die dunkelhaarige und offenbar lebhafte Frau war nicht wirklich schön gewesen, hatte aber das gewisse Etwas gehabt. Ein Familienfoto zeigte ein etwa vier Jahre altes Mädchen, Carlottas Tochter, die ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war, und den Mann der Verunglückten. Er musste etwa Ende dreißig sein und blickte mit undurchdringlicher Miene in die Kamera.

War er vielleicht brutal gewesen und hatte seine Frau mit seiner Härte in die Arme eines anderen und damit in den Tod getrieben? Jetzt, da Alysa ihn persönlich sah, erschien ihr der Gedanke nicht abwegig.

Im Internet hatte es auch detaillierte Berichte über den Unfall gegeben, die in keiner Zeitung erschienen gewesen waren, mit schockierenden Bildern, von skrupellosen Sensationsjägern aufgenommen. Auf einem davon hatte sie James erkannt – an seiner Jacke. Er befand sich noch in dem Sessel, Arm in Arm mit der Geliebten!

Doch das war Vergangenheit und vorbei. Denk nicht mehr daran! ermahnte sie sich selbst.

Eines Nachts, bei einer ihrer nächtlichen Nachforschungen, hatte Alysa stechende Bauchschmerzen bekommen. Dann war alles zu schnell passiert, um noch Hilfe zu holen. Sie hatte sich ins Bad geschleppt und war dort ohnmächtig zusammengebrochen. Als sie wieder zu sich gekommen war, hatte sie ihr Baby bereits verloren.

Im Nachhinein war sie froh, sich niemandem anvertraut zu haben. So hatte sie ganz still trauern können – doch sie hatte keine Träne vergossen. Nacht für Nacht hatte sie allein im Dunkeln gelegen, ins Nichts gestarrt, und ihr Herz war wie versteinert.

Vielleicht ist das gut so, hatte sie gedacht. Wenn sie jetzt nicht weinte, würde sie es nie wieder tun. Wer nichts liebte, nichts fürchtete, sich für nichts interessierte, der musste sich auch um nichts sorgen!

Dann hatte sie begonnen, ihr Leben umzukrempeln. Sie hatte einige hochmodische, teure Hosenanzüge erworben und ihr herrliches Haar abschneiden lassen. Der jungenhafte Look verlieh ihr eine elegante Note, doch das war nicht der Grund für ihre Entscheidung. Sie wollte alles hinter sich lassen und neu durchstarten.

Auch ihre Gesichtszüge hatten sich, von ihr unbemerkt, verändert. Sie waren nun meist streng und angespannt. Lediglich die großen Augen, jetzt ihr schönstes Attribut, verliehen ihr etwas Sanftes.

Sie verfolgte ihre Karriere von diesem Zeitpunkt an so verbissen, dass in ihrer Firma schon bald von einer „Partnerschaft“ gemunkelt wurde. Schon ein Jahr nach James’ Tod war sie einen großen Schritt vorangekommen. Und doch …

Langsam ging sie am Wasser entlang und überlegte. Warum war sie eigentlich hier? Warum hatte sie ihn immer noch nicht vergessen?

Weil sein Geist sie ständig verfolgte. Sie hatte vorgehabt, ihn an diesem Ort zu vertreiben – vergeblich.

„Lass mich endlich in Ruhe“, wisperte sie verzweifelt und schloss die Augen.

Doch alles blieb still. Er war nicht hier, und sogar seine Abwesenheit quälte sie.

Unter einem großen Baum war eine Gedenktafel mit den Namen der Opfer aufgestellt worden. James’ Name stand ganz unten. Sie kniete sich hin und berührte den kalten Stein mit den Fingerspitzen. Näher würde sie ihm nie mehr sein.

Jemand sprach sie auf Italienisch an.

Erschrocken drehte sie sich um. Drago di Luca ragte vor ihr auf. Aus dieser Perspektive wirkte er riesig und bedrohlich.

„Ich bin Engländerin – Inglese!

„Ich habe gefragt, ob Sie den Mann kannten.“

„Ja“, gestand sie zögernd.

„Gut?“

„Ja, sehr gut sogar. Warum wollen Sie das wissen?“

„Alles, was ihn betrifft, interessiert mich!“

Sie erhob sich, um ihn besser ansehen zu können. „Weil er mit Ihrer Frau durchgebrannt ist?“

Erschrocken rang er nach Luft und sah sie wütend an.

„Wenn Sie das wissen …“

„James Franklin war mein Verlobter. Er hat mich wegen Carlotta verlassen.“

„Was hat er Ihnen sonst noch erzählt?“

„Nichts. Ihr Name ist ihm versehentlich entschlüpft. Aber nach dem Unglück …“

„Ja.“ Er atmete schwer. „Danach kamen alle Details ans Licht.“

Andere Trauernde wollten zu der Gedenktafel, also trat Alysa zur Seite. Sofort nahm er einfach ihren Arm und dirigierte sie von der Stelle weg.

„Lieben Sie ihn noch immer?“ Seine Stimme klang schneidend.

Seltsamerweise ärgerte sie sich nicht über die Frage. Schließlich saßen sie beide im selben Boot.

„Ich weiß nicht. Inzwischen sollte ich darüber hinweg sein – doch irgendwie …“

Er nickte nur.

Dass dieser Fremde sie so vollkommen verstand, war ihr ein bisschen unheimlich.

„Sind Sie auch deswegen hier?“

„Zum Teil. Aber auch wegen meiner Tochter.“ Er wies auf ein Kind, das in einiger Entfernung mit einer älteren Dame sprach. Es war dasselbe Mädchen wie auf dem Foto, allerdings inzwischen etwas älter.

Die beiden gingen nun zu der Gedenktafel, und die Kleine legte dort einen Blumenstrauß nieder. Dann sah sie auf, bemerkte ihren Vater und lief lächelnd zu ihm. „Papà!“ Sofort bückte er sich und hob sie auf den Arm.

Alysa schloss gequält die Augen und drehte sich rasch zur Seite, sodass sie das Kind nicht mehr sehen würde, wenn sie sie wieder öffnete. Der Anblick erinnerte sie zu sehr an ihr Baby. Doch im Lauf der Monate hatte sie eine Technik entwickelt, mit schmerzlichen Gefühlsaufwallungen umzugehen. Und so war sie schon bald wieder in der Lage, sich umzudrehen und beinahe natürlich zu lächeln. Allerdings nur solange sie das Kind nicht ansah.

Drago betrachtete das kleine Mädchen in seinen Armen liebevoll, und Alysa bemerkte, wie weich seine Gesichtszüge dabei wirkten.

Dann stellte sich die ältere Frau vor: „Ich bin Signora Fantoni, und das ist meine Enkelin Tina.“

„Ich heiße Alysa Dennis.“

Tina hatte die Engländerin neugierig gemustert. Nachdem ihr Vater sie abgesetzt hatte, ging sie sofort zu Alysa, reichte ihr die Hand und begrüßte sie langsam und sorgfältig auf ihre Worte bedacht auf Englisch: „Guten Tag, Madam.“

„Guten Tag!“

„Wir sind wegen meiner Mutter hier. Hast du auch jemanden gekannt, der hier gestorben ist?“, fragte sie altklug.

Drago schnappte erschrocken nach Luft, und auf einmal wusste Alysa, wovor er Angst hatte.

„Ja, das habe ich.“

Eine kleine Hand schob sich in Alysas.

„Hast du diesen Menschen sehr geliebt?“ Das Mädchen sprach sanft und voller Mitgefühl.

„Ja. Bitte verzeih mir, aber ich kann jetzt nicht darüber reden.“

Drago entspannte sich sichtlich, da sie seiner Tochter nichts enthüllt hatte, was sie nicht wissen sollte.

Tina nickte verständnisvoll und drückte Alysas Hand.

„Wir sollten jetzt fahren“, sagte Drago in diesem Moment.

„Ich muss auch los.“

„Nein!“ Das kam so bestimmt, dass alle ihn überrascht ansahen. Erklärend fügte er hinzu: „Ich wollte Sie bitten, mit uns zu Abend zu essen.“

Seine Schwiegermutter runzelte die Stirn. „Aber das ist doch eine Familienangelegenheit …“

„Wir sind alle eine Familie von Trauernden“, widersprach Drago. „Signorina, bitte leisten Sie uns Gesellschaft. Eine Absage lasse ich nicht gelten.“ Er strich seiner Tochter über das Haar. „Geh schon einmal mit nonna zum Auto vor.“

Signora Fantonis Blick sprach Bände, aber Drago ließ sich nicht umstimmen, und so nahm sie ihre Enkelin an der Hand und wollte mit ihr davongehen.

Papà, du kommst doch auch?“, fragte Tina ängstlich.

„Natürlich“, beruhigte er sie.

Erleichtert ließ sie sich daraufhin von ihrer Großmutter wegführen.

„Seit dem Tod ihrer Mutter hat sie manchmal Angst, dass auch ich plötzlich verschwinde“, erklärte er.

„Die arme Kleine. Wie wird sie damit fertig?“

„Nur schwer. Sie hing sehr an ihrer Mutter. Vielen Dank, dass Sie ihr nichts erzählt haben. Ich hätte Sie warnen sollen.“

„Das war doch selbstverständlich. Ich habe mir schon gedacht, dass Sie ihr nicht alles gesagt haben.“

„Gar nichts. Sie weiß nicht, dass Carlotta uns verlassen hatte. Sie glaubt, ihre Mutter hätte Mandanten besucht und auf dem Heimweg beim Wasserfall einen Zwischenstopp eingelegt. Ich möchte nicht, dass sie etwas anderes erfährt, bevor sie älter ist.“

„Die meisten Mütter hätten ihr Kind mitgenommen.“

„Nicht Carlotta, und das darf Tina nie erfahren. Selbst meine Schwiegermutter hat keine Ahnung. Warum sollte ich sie verletzen, indem ich ihr die Wahrheit sage?“

„Dann ist es aber auch besser, wenn ich nicht mit Ihnen komme.“

„Keineswegs, ich vertraue Ihnen. Sie verstehen die Situation. Gehen wir?“

Plötzlich war Alysa alarmiert. Dieser Mann war eine Gefahr für ihren Seelenfrieden. Sie sollte besser davonlaufen und das nächste Flugzeug nach England nehmen.

„Es tut mir leid, ich kann Ihre Einladung nicht annehmen. Ich muss nach Hause.“

„Erst wenn wir uns ausführlich unterhalten haben!“

Allmählich wurde sie wütend.

„So nicht! Obwohl wir uns gerade erst kennengelernt haben, wollen Sie mich herumkommandieren! Ich gehe jetzt.“

Sie drehte sich um, aber er packte ihren Arm.

„Wagen Sie es nicht!“, fuhr sie ihn an. „Lassen Sie mich sofort los!“

Er ignorierte jedoch ihre Aufforderung.

„Gerade erst kennengelernt! Das sollten Sie doch besser wissen.“

In der Tat. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag in den Magen. Das schmerzliche Geheimnis, das sie beide teilten, hatte vom ersten Moment an eine enge Verbindung zwischen ihnen hergestellt und sie wie durch eine gläserne Wand vom Rest der Welt getrennt.

„Sie wussten genau, wer ich bin, als Sie mich vorhin beobachtet haben“, fuhr er fort.

„Ja.“

„Woher?“

„Ich musste etwas über die Frau erfahren, deretwegen James mich verlassen hat. Also habe ich im Internet nach ihr gesucht und bin dabei auch auf Sie gestoßen.“

„Das verstehe ich. Mir ging es genauso, nur hatte ich keinerlei Anhaltspunkt. Ich wusste nur seinen Namen, aber der brachte mich nicht weiter. Können Sie sich vorstellen, wie das für mich ist? Sie haben Antworten auf einige Ihrer Fragen erhalten, ich kenne keine einzige. Hier drinnen“, er deutete auf seine Stirn, „ist ein schwarzes Loch, mit dem ich seit einem Jahr lebe.“

„Glauben Sie mir, das Gefühl ist mir vertraut!“

„Das kann nicht sein! Ursache meiner Qualen ist die Ungewissheit. Sie wissen bereits eine ganze Menge – ich dagegen weiß nichts, und das macht mich noch verrückt.“ Er schauderte, dann fasste er sich wieder. „Sie sind der einzige Mensch, der mir weiterhelfen kann. Wenn Sie also glauben, ich ließe Sie ziehen, ohne … ohne …“

Seine harsche Art war einschüchternd, aber Alysa spürte die Verzweiflung und Angst unter seiner harten Schale, und ihr Ärger verflog schlagartig. Dass er sich schlecht benahm, war jetzt nicht wichtig. Er sah seine letzte Hoffnung schwinden und setzte alles daran, das zu verhindern.

Er lockerte den Griff um ihren Arm. „Bitte! Wir müssen miteinander reden. Das wissen Sie doch auch!“

Sie wollte widersprechen, aber seinem Flehen konnte sie nichts entgegensetzen.

„Ja, das müssen wir“, gab sie zögernd nach.

Warum sollte sie auch fliehen? Sicherheit gab es nirgends, und tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie hierhergekommen war, um diesen Mann zu treffen und von ihm all das zu erfahren, was sie nicht wirklich wissen wollte.

„Dann lassen Sie uns gehen.“

„Erst wenn Sie mich loslassen. Ich komme nur mit, wenn Sie mich nicht wieder bedrängen.“

Langsam gab er sie frei, behielt sie aber fest im Auge. Seine Nervosität rührte sie sehr, denn er schien ebenso verzweifelt wie sie selbst.

Als Drago und Alysa wenig später auf seine Limousine zusteuerten, wurden sie dort von Tina und ihrer Großmutter erwartet.

Drago bot seiner Schwiegermutter den Beifahrersitz an, er selbst stieg mit Alysa und dem Kind hinten ein.

„Wir brauchen circa eine Stunde“, erklärte er. „Wir leben etwas außerhalb von Florenz. Wo wohnen Sie?“

Sie nannte ihm ihr Hotel in der Innenstadt, und er nickte. „Das kenne ich. Ich werde Sie später hinbringen.“

Den größten Teil der Fahrt sah sie schweigend aus dem Fenster. Die Strecke führte zwischen sanften Hügeln hindurch, vorbei an vielen bekannten malerischen Weinorten, die wie an einer Perlenkette aufgereiht zu beiden Seiten der Straße lagen. Dann wurde die Gegend flacher, und Florenz kam in Sicht.

Einmal sah sie zu Drago hinüber, doch er hatte nur Augen für seine Tochter, die sich zufrieden an ihn schmiegte. Bereitet ihm Tinas große Ähnlichkeit mit der Mutter Probleme? fragte sie sich.

Dann durchquerten sie Florenz. Über idyllische Landstraßen ging es weiter, bis sie kurz vor einem Dorf in eine von Pappeln gesäumte Allee bogen. Nach etwa fünfhundert Metern tauchte vor ihnen eine große dreistöckige Villa in einem gepflegten Park auf.

Ohne viel von italienischer Architektur zu verstehen, erkannte Alysa doch den ausgezeichneten Zustand, in dem sich das einige Jahrhunderte alte Gebäude befand – der Bauherr und Restaurator kümmerte sich demzufolge gründlich um sein Heim.

Der Chauffeur setzte sie vor dem großen Eingangsportal ab. Dann gingen sie in eine große Halle mit Gewölbedecke, Deckenmalereien und bunten Mosaiken an den Wänden – alles war sehr beeindruckend, aber auch kalt. Die daran anschließenden Räume wirkten umso freundlicher, und als sie schließlich den Salon betraten, staunte Alysa.

Wohin ihr Blick fiel, begegnete ihr Carlottas Gesicht. Auf einem Tisch stand ein großes Bild von ihr allein, ein anderes zeigte sie mit Tina auf dem Arm, ein weiteres mit der ganzen Familie. Überall im ganzen Raum waren Fotos von ihr verteilt, dazu Erinnerungsstücke, die das Kind sofort ausführlich erläuterte.

Die Kleine verhielt sich wie eine perfekte Gastgeberin, war freundlich und erwies sich als ausgesprochen intelligent. Unter anderen Umständen wäre Alysa entzückt von ihr gewesen. Als schließlich das Essen serviert wurde, forderte das Mädchen Alysa auf, sich neben sie zu setzen.

„Woher sprichst du so gut Englisch?“, erkundigte Alysa sich.

„Meine Mutter hat es mir beigebracht. Sie war zwei…“

„Zweisprachig“, vollendete Drago den Satz für sie. „Sie hatte viele englische Kunden, genau wie ich. Daher beherrschen wir beide Sprachen, und Tina lernt sie gleichzeitig.“

„Kannst du Italienisch?“, wollte das Mädchen jetzt wissen.

„Kaum.“ Alysa hielt den Blick fest auf ihren Teller gerichtet, um sie nicht ansehen zu müssen. „Ich habe bei meinen Nachforschungen über eine Person im Internet ein paar Worte gelernt.“

„Eine italienische?“

„Ja.“

„Ging es dabei um eine von heute?“

„Tina“, unterbrach Drago sie freundlich, „sei nicht so neugierig. Das ist unhöflich.“

Die Kleine entschuldigte sich zwar, aber Alysa erkannte, dass sie noch nicht zufrieden war. Nur zu gut verstand sie jetzt, warum Drago so fest entschlossen war, sie unbedingt zu beschützen.

So würde ich auch für mein Kind kämpfen, dachte sie. Dann konzentrierte sie sich auf den Nachtisch, der gerade serviert wurde.

2. KAPITEL

Im Verlauf des Dinners waren Alysa die enormen Spannungen aufgefallen, die zwischen Drago und seiner Schwiegermutter herrschten. Elena beachtete ihn so wenig wie möglich und erzählte die ganze Zeit von Carlotta, die anscheinend eine perfekte Tochter, Mutter und Ehefrau gewesen war. Offenbar hatte sie keine Ahnung von der Wahrheit, oder sie verdrängte sie zugunsten einer erträglicheren Version.

„Die Mandanten meiner Tochter waren so rücksichtslos, Signorina Dennis. Wenn sie nicht auf ihren Besuch gedrängt hätten, wäre sie heute noch am Leben.“

„Könnten wir bitte das Thema wechseln“, unterbrach Drago sie unvermittelt. „Mir wäre es lieber, wenn Tina jetzt nicht mehr daran denkt.“

„Das wirst du kaum verhindern können. Schließlich waren wir heute am Unglücksort. Und morgen findet der Gedenkgottesdienst auf dem Friedhof statt …“

Alysa bemerkte, wie Tina die Lippen fest zusammenpresste, um nicht zu weinen. Schnell streckte sie die Hand aus. Das Mädchen griff danach und schenkte ihr ein zittriges Lächeln, das Alysa erwiderte – ebenso zittrig, wie sie fürchtete. Das Ganze wurde schwerer, als sie gedacht hatte, und der schlimmste Teil des Abends stand ihr noch bevor.

Nach dem Kaffee, der im Salon serviert wurde, wandte Elena sich an das Kind. „Du siehst müde aus, und morgen wird ein anstrengender Tag. Zeit fürs Bett.“

Sie reichte ihr die Hand, und Tina ergriff sie gehorsam, fragte aber gleichzeitig ihren Vater: „Kommst du mir Gute Nacht sagen, papà?“ Sie sah ihn bittend an.

„Heute nicht, dein papà ist beschäftigt“, wies ihre Großmutter sie zurecht.

Doch Drago widersprach. „Ich komme jetzt gleich mit nach oben.“

„Das ist nicht nötig, ich habe alles im Griff. Du solltest dich um deinen Gast kümmern.“

„Ich kann mich gut eine Weile selbst beschäftigen“, erklärte Alysa. „Gehen Sie nur mit Tina.“

Drago warf ihr einen dankbaren Blick zu und verließ den Salon mit den anderen.

Als er verschwunden war, betrachtete sie die vielen Fotos im Salon eingehend. Auf einem Bild lächelte Carlotta strahlend, und Alysa fragte sich, ob James sich in dieses Lächeln verliebt hatte.

Dann hörte sie Schritte, und einen Moment später war Drago wieder bei ihr.

„Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Dort muss ich nicht ständig Carlottas Konterfei ansehen.“

Sein Büro war streng, ordentlich und funktionell eingerichtet. Auf einem modernen Schreibtisch standen verschiedene Geräte, eins davon ein Computer, andere kannte Alysa nicht, aber alle entsprachen offensichtlich dem letzten Stand der Technik.

Schweigend schenkte er in zwei Gläser Wein ein, reichte ihr ein Glas und bedeutete ihr, Platz zu nehmen. Alysa konnte sein Unbehagen spüren.

„Es tut mir leid, dass Sie warten mussten“, begann er endlich.

„Es war richtig, dass Sie mitgegangen sind. Ich habe das Gefühl, Tinas Großmutter ist etwas zu besitzergreifend.“

„Sogar sehr! Ich kann es ihr allerdings nicht verdenken. Sie ist einsam. Ihre andere Tochter lebt in Rom, und sie sehen sich nicht oft. Carlotta war ihr Liebling, und ihr Tod traf Elena schwer. Vermutlich würde sie am liebsten hier einziehen, aber ihr kranker Ehemann braucht sie. Also besucht sie uns, sooft sie kann.“

„Und wenn sie hier wohnen würde?“

„Das wäre schrecklich! Sie tut mir leid, wir kommen jedoch nicht gut miteinander aus. Na ja, sie wird sich schon wieder fangen.“

„Sicher?“

„Was meinen Sie damit?“

„Sie wollte nicht, dass Sie mit nach oben kamen, obwohl Tina Sie brauchte. Fürchten Sie nicht, dass Elena versuchen könnte, Ihnen das Kind wegzunehmen?“

Er sah sie entsetzt an. „Nein, sie würde nicht …“ Dann verstummte er. „Oh nein!“

„Vielleicht bin ich auch zu argwöhnisch. Beim Essen ist mir nur mehrmals aufgefallen, dass sie an Tinas Stelle geantwortet hat, obwohl Ihre Tochter ausgezeichnet in der Lage ist, für sich zu sprechen. Sie ist sehr intelligent.“

„Das ist sie“, sagte er stolz. „Mir ist Elenas Einmischung auch schon aufgefallen, ich habe dem bis jetzt keine Bedeutung beigemessen. Dabei hält sie mir die ganze Zeit vor, wie wichtig der Einfluss einer Frau bei der Kindererziehung ist. Ich habe das für eine nicht ernst zu nehmende Bemerkung gehalten, aber … Danke für den Hinweis!“

„Lassen Sie sich Tina nicht wegnehmen.“

„Niemals! Allerdings fällt es mir schwer, mich gegen Elena zu behaupten. Mit allen anderen komme ich zurecht, ihr gegenüber habe ich jedoch Skrupel. Schließlich ist sie Tinas Großmutter – und sie konnte mich noch nie leiden.“

„Warum?“

„Ich war ihr nicht gut genug. Sie wollte einen adligen Ehemann für Carlotta, mein Vater war aber nur ein Bauunternehmer. Reich zwar, aber eben ein Bürgerlicher. Wie ich auch. Er ist früh gestorben, und ich habe sein Geschäft übernommen und noch erweitert. Doch in ihren Augen bin ich lediglich ein Emporkömmling.“

„Das hört sich an wie ein Drama aus dem neunzehnten Jahrhundert. Sie mussten also um Carlotta kämpfen?“

„Ja, aber vom ersten Moment an war klar, dass sie zu mir gehört.“

„Wo haben Sie sich kennengelernt?“

„Bei Gericht. Ich war Zeuge in einem ihrer ersten Fälle. Nach der Vernehmung habe ich auf sie gewartet, was sie nicht überrascht hat.“

„War es Liebe auf den ersten Blick?“

„Absolut. Sie war so schön, lustig und strahlend – alles, was ich mir wünschte, ohne mir dessen bis dahin bewusst gewesen zu sein. Und als ihre Mutter sich querstellte, brannten wir miteinander durch.“

„Gut gemacht!“

„Es war eigentlich Carlottas Idee, aber Elena hat mir niemals verziehen. Sie hat ihre Tochter nie wirklich verstanden, ihre Abenteuerlust, den Eigensinn …“

Plötzlich wurde er blass.

„Wie sind Sie durchgebrannt?“, fragte Alysa, um sein Schweigen zu brechen.

„Ich besaß eine kleine Villa in den Bergen. Wir fuhren dorthin, heirateten in der nahen Dorfkapelle und verbrachten zusammen zwei herrliche Wochen. Dann kehrten wir nach Hause zurück und informierten Elena.“

„War sie nicht misstrauisch geworden?“

„Nein, sie glaubte, Carlotta sei auf Dienstreise. Jeden Abend haben sie über Handy miteinander telefoniert.“

Carlotta war schon damals eine gerissene Schwindlerin, dachte Alysa. Sie hatte sich nicht nur eine Lüge ausgedacht, sondern auch noch täglich Theater gespielt. Damals war er offensichtlich zu glücklich gewesen, um die ersten Hinweise auf ihr Doppelleben zu bemerken.

Drago war inzwischen zum Fenster gegangen und blickte starr nach draußen in die Dunkelheit. Dann drehte er sich um, schlenderte zum Schreibtisch, öffnete eine Schublade und zog ein großes Buch hervor, das er Alysa reichte.

Es war ein Fotoalbum von der Hochzeit und enthielt Bilder der winzigen Kirche und von dem überglücklichen, strahlenden Brautpaar.

Carlotta sah umwerfend aus. Alysa konnte nur zu gut verstehen, dass Drago sich auf den ersten Blick in sie verliebt hatte. Und James? War es ihm ebenso ergangen?

Kreidebleich schlug sie das Album zu und presste es sich fest an die Brust, während sie auf ihrem Stuhl hin- und herrutschte, um den Aufruhr in ihrem Herzen zu beruhigen. Das alles konnte ihr doch nichts mehr anhaben! Schließlich hatte sie die Vergangenheit hinter sich gelassen.

Auf einmal fühlte sie Dragos Hände auf ihren Schultern.

„Es tut mir leid, das hätte ich nicht tun sollen“, entschuldigte er sich.

„Warum nicht? Das ist alles vorüber.“

„Nicht für uns“, widersprach er sanft. Sie wandte sich ab, aber er schüttelte sie sanft. „Sehen Sie mich an.“

Zögernd gehorchte sie, als er die Fingerspitzen zart über ihre Wangen gleiten ließ.

„Es war gedankenlos von mir. Jetzt habe ich Sie beinah zu Tränen gerührt.“

„Ich weine nicht, das tue ich nie!“

„Sie sagen das, als wären Sie stolz darauf.“

„Warum auch nicht? Ich schaue nach vorn und lebe nicht in der Vergangenheit. Bei Ihnen ist das anders, Sie haben ja Tina und das Haus, in dem Sie mit Ihrer Frau gelebt haben. Sie können den Erinnerungen nicht entfliehen wie ich.“

Er trat einen Schritt zurück.

„Möglicherweise ist Ihnen das gelungen. Doch war das klug?“

„Was, zum Teufel, wollen Sie damit sagen?“

„‚Teufel‘ ist das richtige Wort! Vermutlich hat der Ihnen eingeredet, Sie könnten nur überleben, wenn Sie vergessen, dass Sie eine Frau sind.“

„Wie bitte?“

„Sie tragen Ihr Haar kurz, kleiden sich wie ein Mann …“

Wütend sprang sie auf und stellte sich vor ihn hin.

„Und Sie werfen Elena vor, im neunzehnten Jahrhundert zu leben! Vielleicht ist es Ihnen entgangen, aber Frauen tragen schon seit Jahren Hosen!“

„Selbstverständlich. Sie kämpfen jedoch nicht um Unabhängigkeit, sondern versuchen, sich in ein Neutrum zu verwandeln, das nicht mehr wie ein weibliches Wesen denkt und fühlt.“

„Was erlauben Sie sich!“ Aufgeregt lief sie hin und her, die Hände zu Fäusten geballt.

„Vielleicht können Sie nur auf diese Weise mit der Tragödie umgehen. Jeder hat schließlich seine eigene Methode. Fürchten Sie nicht, sich damit selbst zu schaden?“

„Sie irren sich gründlich. Einzig und allein Selbstkontrolle hilft mir, sonst wäre ich schon längst zusammengebrochen. Das darf jedoch nicht passieren. Also weine ich nicht. Tun Sie es etwa?“

„Nicht mehr so viel wie am Anfang.“

Verblüfft blieb sie stehen. Diese Antwort hatte sie nicht erwartet.

„Auch Männer haben Gefühle!“

„Sie können sich vielleicht erlauben, ihnen nachzugeben. Ich vermag es nicht. Doch meine Taktik funktioniert. Ich habe das ganze Drama endgültig für mich abgehakt!“

„Ist Ihnen eigentlich bewusst, wie oft Sie das beteuern?“, fragte er aufgebracht. „Ein bisschen zu oft!“

„Und das heißt?“

„Sie versuchen, sich selbst zu überzeugen. Und wenn Sie es nur oft genug wiederholen, glauben Sie vielleicht bald selbst daran.“

„Stimmt!“

„Warum waren Sie dann heute beim Wasserfall?“

„Okay, es gibt noch ein paar Punkte, die ich klären möchte. Ich muss einige Details wissen, bevor das Kapitel für mich ganz abgeschlossen ist. Diese Fragen sind lästig, aber sie beherrschen mich nicht. Ich lasse nicht zu, dass sie mich zerstören!“

Doch selbst ihr fiel der schrille Klang ihrer Stimme auf, und sie erkannte, dass sie seinen Verdacht nur bestätigte. Jetzt sah er sie auch noch mitleidig an, was einfach unerträglich war!

„Bleiben Sie doch endlich stehen.“ Überraschend sanft hielt er sie fest. „Sonst fallen Sie noch und verletzen sich.“

Schwer atmend gehorchte sie und versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. Ihr fehlte die Kraft, seine großen, kräftigen Hände abzuschütteln, die sie außerdem auf ihrem Arm als beruhigend empfand.

„Sie zittern ja. Setzen Sie sich“, sagte er und führte sie zu ihrem Stuhl zurück.

Nach einigen tiefen Atemzügen konnte sie wieder sprechen. „Jetzt sind wir aber vom Thema abgekommen. Eigentlich bin ich hier, um Ihre Wissenslücken zu füllen. Das werde ich tun, doch meine Gefühle gehen Sie nichts an. Verstehen Sie?“

Er nickte und lächelte schwach. „Natürlich. Elena hält mich für einen ungehobelten Klotz ohne Raffinesse und Manieren, der wie eine Dampfwalze über alles hinwegrollt. Vermutlich stimmen Sie mit ihr überein.“

Alysa zuckte die Schultern. „Eigentlich nicht. Das ist Ihre Art, mit allem fertig zu werden, und solange es klappt …“

„Das ist auch nicht besser als Ihre Methode. Doch vielleicht kann ich mit Ihrer Hilfe ein wenig Seelenfrieden finden.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. „Ich muss mich für mein schlechtes Benehmen entschuldigen.“

„Sprechen Sie davon, wie Sie mich am Wasserfall entführt haben?“

„Ja. Allerdings ist es leicht, sich zu entschuldigen, wenn man seinen Willen durchgesetzt hat. So bin ich nun einmal, und es ist zu spät, mich zu ändern. Wenn Sie mir tatsächlich etwas erzählen können …“

„Sind Sie sicher, dass Sie Einzelheiten erfahren wollen? Sie könnten schmerzlich sein.“

„Trotzdem. Ich muss so viel wie möglich wissen, das verstehen Sie bestimmt.“

„Und Sie haben keine Idee, wer James war?“

„Nein. Ich weiß nur, dass Carlotta in Florenz ein kleines Apartment gemietet hatte, wo sie sich wohl mit ihm traf. Als ich später dort war, fand ich auf einem Briefumschlag seinen Namen, mehr nicht.“

„Keine Anschrift?“

„Nur eine in London, doch da war er bereits weggezogen.“

„Wann begann der Mietvertrag?“

„Im September.“

„Also sofort, nachdem sie sich kennengelernt hatten“, überlegte sie laut.

„Ganz genau. Sie haben sich sofort ein Liebesnest gesucht. Es war übrigens ziemlich nüchtern, wie ein Hotelzimmer, fast ohne persönliche Dinge. Wahrscheinlich haben die beiden sowieso die meiste Zeit miteinander im Bett verbracht.“

„Vermutlich.“ Ihre Stimme klang rau. „Aber er muss doch einiges aus seiner Wohnung in England mitgebracht haben?“

„Das Apartment war winzig. Bestimmt haben sie nach einem größeren gesucht.“

„Und er hat seine Sachen in England eingelagert, bis er sie sich hätte nachschicken lassen können. Doch dazu kam es nie. Was wohl daraus geworden ist?“ Sie seufzte.

„Ich habe im Internet nichts über ihn herausgefunden. Was war er von Beruf?“

„Er hat für eine öffentliche Einrichtung in London gearbeitet. Nach einer Erbschaft hatte er vor, seiner wahren Leidenschaft, dem Fotografieren, nachzugehen. Er hat den Job gekündigt, sich eine teure Ausrüstung gekauft und Aufnahmen gemacht, wo immer er war, oft auch auf Reisen im Ausland. Er wollte mich mitnehmen, zum Beispiel nach Florenz, allerdings passte es mir nie – meine Arbeit ging vor.“

„Sie war Ihnen wichtiger als Ihr Freund?“ Drago wartete gespannt auf ihre Antwort.

„Das hat er auch gefragt. Er war wütend, weil ich nicht einmal ein paar Tage für ihn freinehmen wollte. Mir war meine Karriere sehr wichtig, und ich hielt unsere Beziehung für unverwundbar.“

Er schwieg taktvoll, und die Stille lastete schwer auf den beiden.

„Ich hätte mit ihm fahren sollen“, fuhr sie nach einer Weile fort. „Vermutlich ist keine Liebe unzerbrechlich. Er reiste also ohne mich nach Florenz, wo er Carlotta traf.“

Nur zu gut erinnerte sie sich, wie sie James bei seiner Rückkehr nach England vom Flughafen abgeholt hatte – entgegen seiner Versicherung, es sei nicht nötig – und von dem Zeitpunkt an bemerkte sie Dinge, die ihr bisher entgangen waren: Weder war er wirklich erfreut über ihr Erscheinen noch über ihre Begleitung zu seinem Apartment gewesen, obwohl er sich sehr bemüht hatte, sie das nicht spüren zu lassen.

„Natürlich war er nicht glücklich, mich am Terminal zu entdecken, denn er hatte gerade Carlotta kennengelernt und war mit seinen Gedanken bei ihr. Ich war wirklich der letzte Mensch, den er damals zu sehen wünschte. Er wollte mich auch nicht mit nach Hause nehmen.“

„Sind Sie trotzdem mitgegangen?“, wollte Drago wissen.

„Oh ja, ich war so dumm! Ich versuchte, ihn ins Bett zu locken, aber er schob Müdigkeit vor. Und selbst als ich ihm beim Auspacken nicht helfen durfte, habe ich nichts kapiert.“

„Wir sehen nur das, was wir aufnehmen wollen. Vielleicht kämpfen wir auch gegen Veränderungen an, weil sie uns aus den gewohnten Bahnen zu werfen drohen.“

„Ja“, flüsterte sie. „Ja.“

James hatte behauptet, er würde später die Koffer auspacken. Sie sollte sich um nichts kümmern. Als sie jedoch die Tasche mit den Kameras bemerkte, hatte sie gesagt: „Ich kann es nicht erwarten, deine Fotos zu sehen“, und einen der Apparate geöffnet, um den Speicherchip herauszunehmen. Er war jedoch nicht da.

„Ich habe die Chips alle herausgenommen“, lautete seine Ausrede. „Falls während der Reise etwas mit den Kameras passiert, habe ich wenigstens noch die Bilder.“

Natürlich waren die Dateien voll mit Fotos von Carlotta gewesen. Er hatte sichergestellt, dass Alysa sie nicht fand.

Dann war aus der Kameratasche ein kleines, seltsames Vorhängeschloss gefallen. Sie hatte es sich interessiert angesehen, denn es war reich verziert und mit winzigen Bildern geschmückt. Auf der einen Seite prangte ein Herz, auf der anderen befanden sich zwei ineinander verschränkte Hände. Die Umrisse waren mit kleinen glitzernden Steinen besetzt, die wie Diamanten aussahen.

„Ist das für mich?“

„Natürlich.“

Dann hatte sie in der Tasche nach dem Schlüssel gesucht. „Ich werde dich in meinem Herzen einschließen. Einverstanden?“

Doch der Schlüssel hatte nicht gepasst.

„Es tut mir leid, das ist wohl nicht der richtige. Ich suche ihn dir später raus.“ Dann hatte er sie auf die Wange geküsst und sich entschuldigt: „Ich bin todmüde. Morgen früh rufe ich dich an.“

Diese Episode teilte sie Drago nicht mit, denn sie gab ihr ein Rätsel auf, das sie nicht zu lösen vermochte. James hatte ihr nie den richtigen Schlüssel gegeben und schließlich das Schloss wieder an sich genommen.

„Wann ist er zurückgekommen?“, fragte Drago.

„Im September.“

Er nickte. „Ich erinnere mich, dass Carlotta auf einmal viel Zeit auswärts verbracht hat. In dem Monat war sie sieben Tage weg, dann ein paar Wochenenden wieder zu Hause, schließlich verschwand sie für einige Zeit im November. Später habe ich herausgefunden, dass sie in England gewesen ist.“

„Vom Zehnten bis zum Siebzehnten?“ Alysa war wie betäubt. „James erzählte mir, er würde in den Norden fahren und dort Landschaftsaufnahmen machen. Er wollte ganz ungestört sein und nicht einmal mit mir telefonieren. Einmal habe ich versucht, ihn zu erreichen, aber sein Handy war ausgeschaltet. Dann hat ein Bekannter behauptet, er habe ihn in der Nähe seiner Wohnung gesehen. Ich habe geglaubt, er täuscht sich. Wahrscheinlich war er jedoch die ganze Woche zu Hause – mit ihr.“

„Sie war noch gerissener als er und hat die ganze Zeit das Handy empfangsbereit gelassen. Wir haben jeden Tag miteinander gesprochen.“ Er atmete plötzlich scharf ein.

Alysa verstand, was in ihm vorging. „Wie damals, als Sie zusammen durchgebrannt sind und Carlotta auf die gleiche Weise mit ihrer Mutter kommuniziert hat.“

„Ja, genauso. Im Nachhinein ist alles sonnenklar.“

„Hatten Sie nie einen Verdacht?“

„Nein, ich habe ihr völlig vertraut. Bis zu dem Moment, als sie mir mitteilte, dass sie einen anderen liebt und mich verlässt. Und wissen Sie, was komisch ist? Ich habe ihr nicht geglaubt. Ich hielt es für unmöglich! Nicht meine Carlotta, die mir so nahestand und meine Seelenverwandte war. Doch ich habe mich gründlich getäuscht. Sie war nicht wie mein zweites Ich. Die ganze Zeit über war ich allein, ohne es zu wissen.“

„Das haben Sie auch so empfunden?“, fragte Alysa sofort. „Mir ging es ähnlich – als hätte ich mir alles nur eingebildet.“

„Und man glaubt, man wird verrückt“, bestätigte er. „Gewissermaßen sind Sie meine Seelenverwandte. Ich kann Ihnen Dinge erzählen, die ich sonst niemandem sage, und weiß, Sie verstehen mich.“

„Teilweise ist es, als könnten wir gegenseitig unsere Gedanken lesen! Das ist ein bisschen beängstigend. Für mich jedenfalls.“

„Glauben Sie, für mich nicht?“, fragte er. „Kann ich es verbergen?“

„Nein, nicht wirklich. Zumindest nicht mir gegenüber.“

„Genau das meine ich“, sagte er ruhig.

Alysa hatte plötzlich das Gefühl, in etwas hineingeraten zu sein, dem sie nichts entgegenzusetzen hatte. Sie hatte keine Verbindung mit Drago gesucht oder gewollt, aber sie konnte sich ihr nicht entziehen.

3. KAPITEL

„Wann haben Sie von dem Verhältnis der beiden erfahren?“, fragte Drago.

„Erste Hinweise gab es bereits um Weihnachten, aber ich habe sie nicht erkannt. Wir wollten die Feiertage zusammen verbringen, doch dann hat James angerufen, um abzusagen. Einem Freund war angeblich etwas Schlimmes zugestoßen, er war selbstmordgefährdet, und James wollte ihn nicht allein lassen. Im Nachhinein klingt die Geschichte ziemlich weit hergeholt, trotzdem hätte sie auch stimmen können. Ich habe James vertraut. Wahrscheinlich halten Sie mich jetzt für naiv.“ Alysa seufzte.

Drago schüttelte den Kopf. „Ich wundere mich über meine eigene Gutgläubigkeit. Solange wir etwas wirklich für bare Münze nehmen wollen, glauben wir auch das Unmögliche!“

Von dem verlorenen Baby zu sprechen brachte sie auch jetzt nicht übers Herz, dennoch legte sie sich unwillkürlich eine Hand auf den Bauch. Drago bemerkte es und runzelte kurz die Stirn.

„Wie lange blieb er fort?“

„Bis Ende der ersten Januarwoche. Vermutlich kam er hierher und verbrachte die Tage mit Carlotta. Weihnachten können sich die beiden aber nicht getroffen haben, oder?“

„Nein, das Fest über war sie bei uns, die übrige Zeit war sie jedoch viel unterwegs. In Italien gibt es noch einen weiteren wichtigen Feiertag am sechsten Januar: Dreikönige, die Ankunft der drei Weisen aus dem Morgenland. Den feierte Carlotta mit uns, ganz die liebende Mutter und Ehefrau …“ Er verstummte unvermittelt.

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Sie hat ihre Rolle ausgezeichnet gespielt. Am nächsten Tag fuhr Tina mit ihrer Großmutter nach Rom, um Carlottas Schwester zu besuchen. Elena wünschte, dass Carlotta mitkäme, aber sie behauptete, lieber bei mir bleiben zu wollen. Das war einer der schönsten Momente in meinem Leben. In den vergangenen Monaten hatten wir so wenig Zeit für uns gehabt. Ich war überglücklich über ihren Entschluss. Sobald wir jedoch allein waren, teilte sie mir mit, sie wolle mich wegen eines anderen Mannes verlassen, und Diskussionen seien zwecklos. Sie sprach mit mir wie die knallharte Anwältin, die sie ja war. Ich gab zu bedenken, dass ich mir Tina nicht wegnehmen lasse. Doch sie wusste genau, was sie wollte, und ihre Tochter hatte ohnehin keinen Platz in diesen Plänen.“

„Hätten Sie sie gegebenenfalls zurückgenommen, trotz ihrer Untreue?“, fragte Alysa neugierig.

„Ja, Tina zuliebe. Zwischen uns hätte es allerdings niemals wieder wie vorher sein können.“

Eine Weile schwiegen beide. Drago stand auf, schenkte Wein nach und setzte sich wieder.

„Allmählich wurde mir klar, dass ich sie nie wirklich gekannt hatte. Sie schien nicht zu verstehen, was sie uns antat, oder es war ihr egal. Ständig wiederholte sie: ‚Wir hatten doch ein schönes Dreikönigsfest, daran kann sich Tina immer erinnern.‘“

„Sie dachte wirklich, das genügt?“ Alysa konnte es nicht fassen.

„Anscheinend. Sie versprach, Tina gelegentlich zu besuchen. Als ob das alles wiedergutmachen könnte! Dann ging sie. Als Tina aus Rom zurückkam, behauptete ich, ihre Mutter sei auf Geschäftsreise. Ich hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Carlotta es sich wieder anders überlegen würde. Dann hätte Tina die Wahrheit nie erfahren müssen. Als Carlotta jedoch starb – was hätte ich ihr da erzählen sollen?“

„Unmöglich die Wahrheit! Nur, immer können Sie sie ihr nicht verheimlichen. Was ist, wenn sie von anderen davon erfährt?“

„Ich weiß! Aber noch ist sie zu jung.“

„Wie kann man sein Kind nur verlassen?“

„Das verstehe ich auch nicht. Carlotta betonte, dass wir realistisch sein müssten … Was ist mit Ihnen?“

Alysa sah ihn entsetzt an. „‚Realistisch‘ – das Wort hat James auch ständig benutzt.“ Sie lachte bitter. „Als er im Januar wiederkam, trafen wir uns auf seine Bitte hin in einem Restaurant. Er machte es kurz und erzählte, er habe jemanden kennengelernt. Wir müssten ‚realistisch‘ sein, schließlich habe es mit uns beiden sowieso nicht richtig funktioniert. Dann zahlte er, verabschiedete sich und ging. Ich habe ihn nie wieder gesehen.“

„Er hat sich nicht mehr gemeldet? Keine Ansichtskarte geschickt, nicht angerufen, ob es Ihnen gut geht?“

„Nur über seinen Anwalt ist er mit mir in Kontakt getreten. James wollte ein paar Dinge wiederhaben. Ich habe sie in eine Kiste gepackt und einem Angestellten des Justiziars übergeben.“

Drago fluchte in einem italienischen Dialekt, den sie noch nie gehört hatte.

„Ich habe zwar kein Wort verstanden, aber das, was ich in jener Zeit gesagt habe, klang ähnlich.“

„So sprechen die Leute in der Toskana. Sie haben Tina erzählt, Sie hätten bei Internetrecherchen auch etwas Italienisch gelernt. War das …?“

„Ich fand viele Zeitungsberichte über Carlotta, die ich nur sehr schlecht verstanden habe. Deshalb habe ich mir ein Lexikon gekauft und die Wörter nachgeschlagen, bis ich fast verrückt wurde.“ Sie lachte bitter und drehte sich zu dem Spiegel um, der an einer Wand hing. „Sehen Sie selbst!“

In dem gedämpften Licht wirkten ihre Augen in dem zarten Gesicht größer als sonst. Sie hatten einen gequälten Ausdruck.

„Hören Sie auf!“, versuchte er sie aus ihrer finsteren Stimmung zu reißen. „Machen Sie sich nicht selbst fertig!“

„Zu spät.“

„Sie müssen stark sein!“

„Warum?“, schrie sie. „Manchmal bin ich es schrecklich leid, stark sein zu müssen. Das ganze letzte Jahr über habe ich versucht, meine Gefühle zu verbergen.“

„Und was empfinden Sie jetzt?“

„Nichts. Und das ist gut so. Mit ‚nichts‘ komme ich klar. Sie dürfen mich deswegen nicht verurteilen, schließlich kennen Sie mich nicht.“

„Ich weiß nur, dass Sie eine erfolgreiche Anlageberaterin sind und Ihr Privatleben auf ein Minimum reduziert haben, weil Sie das für sicherer halten. Das bringt jedoch nichts – sondern ist nur eine andere Art von Hölle.“

„Hören Sie, ich bin hier, um Ihnen zu helfen!“

„Brauchen auch Sie vielleicht Hilfe?“

„Nein!“

Anstatt sich weiter mit ihr auseinanderzusetzen, zuckte er die Schultern und sagte: „Lassen Sie uns einen Kaffee trinken.“

Die Küche war ein Wunderwerk modernster Technik. Im Handumdrehen hatte er den Kaffee bereitet und die Kanne zusammen mit einem Teller Kekse auf den Küchentisch gestellt. Während Alysa es sich schmecken ließ, beruhigte sie sich allmählich.

Als er ihre Tasse nachfüllte, bedankte sie sich und erklärte: „Normalerweise verliere ich nicht so schnell die Fassung.“

„Der heutige Tag war sehr anstrengend. Ich hätte Sie nicht so bedrängen sollen, aber ich klammere mich an jeden Strohhalm.“

„Wir tun eben alles, um zu überleben.“

„Sie sind sehr stark, und das bewundere ich.“

„Haben Sie Ihre Bemerkung über das Weinen ernst gemeint?“, erkundigte sie sich.

„Ja. Und Sie? Sie sagten, Sie weinen nie.“

„Ich kann es nicht. Und selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun.“

„Woher haben Sie diese Kraft?“

„Mein Vater hat uns verlassen, als ich fünfzehn war. Davon hat sich meine Mutter nie erholt. Drei Jahre später war sie tot. Ihr Mann war ihr Ein und Alles gewesen, ihm hatte sie ihre Karriere als Schauspielerin geopfert, und er hat sie mittellos zurückgelassen. So wollte ich nie enden! Ich habe zwar James verloren, aber nichts sonst.“

Er warf ihr einen fragenden Blick zu, schwieg jedoch und schenkte lediglich noch mal Kaffee nach.

„Nach dem Tod meiner Mutter meldete sich mein Vater wieder, aber ich wies ihm die Tür. Ich konnte ihm nicht vergeben, was er meiner Mutter angetan hatte.“

Drago nickte verständnisvoll. „Sonst haben Sie keine Verwandte?“

„Meine Mutter hatte ein paar Schwestern, die haben sie mehr oder weniger im Stich gelassen, als es ihr schlecht ging. Sie konnten nicht mit ihren Depressionen umgehen.“

„Wahrscheinlich hätten sie ihr nicht viel helfen können. Manchmal kann das nur eine ganz bestimmte Person, und wenn man Pech hat, begegnet man ihr nie.“

„Das hört sich an, als hätten Sie, was das anbetrifft, schlechte Erfahrungen gemacht.“

„Ja. Es war allerdings nicht ihre Schuld. Sie versuchten, mich über Carlottas Tod hinwegzutrösten, und wussten nicht, dass der Kummer anderswo herrührte.“

„Wie haben Sie erfahren, dass sie verunglückt war?“

„Ein Reporter erkannte sie und rief mich an. Ich kann mich nicht genau erinnern, was ich ihm antwortete, aber ich glaube, ich erzählte ihm die Geschichte vom Besuch bei Mandanten. Dann begannen die Presseleute, hier herumzuschnüffeln.“

„Wie grauenhaft!“

„Ich bin durchgedreht und habe getobt. Ich kann wirklich unangenehm werden.“ Er lächelte voll Selbstironie.

„Haben Sie auch jemanden geschlagen?“

„Einmal stand ich kurz davor. Dann drohte ich dem Mann doch lieber an, seinen Zeitungsverlag schließen zu lassen, sollte er den Namen meiner Frau durch den Dreck ziehen.“

„Hätten Sie das tatsächlich veranlassen können?“ Alysa dachte an die Worte des Reporters.

„Keine Ahnung. Er hat es jedenfalls geglaubt. Sind Sie jetzt schockiert?“

„Nein. Ich habe mich ähnlich verhalten und versucht, mich vor anderen stärker zu geben, als ich war. Mussten Sie noch einmal rabiat werden?“

„Nein, der Vorfall hatte sich herumgesprochen. Danach hat kein Journalist mehr gewagt, mich herauszufordern.“ Er betrachtete sie amüsiert. „Und wie ist es Ihnen ergangen?“

„Ich werde vermutlich bald Teilhaberin in meiner Firma. Sie sehen, es kann sich lohnen, auf weibliche Attribute zu verzichten.“ Auch sie konnte selbstironisch sein.

„Es tut mir leid, das war nicht nett. Bitte vergessen Sie die Bemerkung.“

„Natürlich.“ Doch der Stachel saß tief, und Alysa wusste, sie würde sich noch lange daran erinnern.

„Und wie haben Sie von dem Unglück erfahren?“

„Erst aus der Zeitung und dann durch Mr. Hoskins, James’ Anwalt. Er berichtete auch von einem anonymen Anrufer, der sich nach seinem Mandanten erkundigt hatte.“

„Das war ich. In dem Apartment der beiden fand ich einen Brief von Hoskins. Ich rief ihn an, erhielt aber keine Informationen. Daraufhin gab ich seine Nummer an den Bestatter weiter.“

„Anscheinend hat der wieder mit dem Rechtsanwalt Kontakt aufgenommen, der ihn daraufhin an mich verwiesen hat. Der Mann wollte Instruktionen von mir, da James keine Familie hatte. Ich war jedoch in einem schrecklichen Zustand und habe geleugnet, James zu kennen, und den Hörer aufgelegt. Er hat sich nie mehr gemeldet. Bis heute weiß ich nicht, was mit James’ Leiche passiert ist.“

„Das kann ich Ihnen sagen. Er ist auf demselben Friedhof beerdigt wie Carlotta. Morgen findet dort ein Gedächtnisgottesdienst statt.“

„Das habe ich nicht gewusst. Auf die heutige Andacht bin ich auch nur durch Zufall gestoßen. Besuchen Sie den Friedhof oft?“

„Ich bringe Tina oft dahin, manchmal gehe ich auch allein.“

„Trotz allem, was sie Ihnen angetan hat?“

„Ich muss es tun, auch wenn ich keine Ahnung habe, warum. Dann gehe ich auch immer an seinem Grab vorbei und sage ihm, wie sehr ich ihn hasse. Das tut mir gut. Ich wüsste zu gern, wie er aussah und was Carlotta an ihm fand. War er attraktiv?“

Zögernd und vorsichtig, da Drago aufgewühlt schien, antwortete sie: „Er sah sehr gut aus. Wollen Sie ein Foto von ihm sehen?“

Jetzt war er verblüfft. „Tragen Sie sein Bild noch immer ständig mit sich herum?“

„Nein. Ich bin seinetwegen hierhergekommen, da wollte ich ihn bei mir haben. Hört sich das verrückt an?“

Er schüttelte den Kopf. Schnell öffnete sie ihre Handtasche, holte die Aufnahme hervor und reichte sie ihm.

Zu ihrer Überraschung zögerte er zunächst, sie zu nehmen, als hätte er Angst, den Mann zu sehen, den seine Frau geliebt hatte. Doch schließlich griff er danach und studierte das Foto gründlich, die Lippen zusammengepresst.

Dann zuckte er verächtlich die Schultern. „Ein hübscher Junge.“

„Das war er. Wenn wir zusammen ausgingen, haben andere Frauen oft versucht, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, trotzdem hatte er nur Augen für mich. Das machte einen Teil seines Charmes aus. Außerdem hatte er ausgezeichnete Manieren. Vielleicht habe ich deswegen überhaupt nichts geahnt.“

„Morgen zeige ich Ihnen, wo er beerdigt wurde. Vermutlich brauchen Sie jedoch kein Grab, um ihm zu sagen, dass Sie ihn hassen.“

„Ich hasse ihn nicht mehr.“

„Sie Glückliche – wenn es denn stimmt!“

Früher hätte sie auf ihrer Meinung beharrt, aber die Ereignisse des Abends hatten sie erschüttert. Sie war am Ende ihrer Kraft, zu schwach für eine Diskussion, und sie wollte das Ganze nur noch abhaken. Wenn sie jetzt zusammenbräche, dann wegen Drago di Luca, der ihr mit seiner Unbarmherzigkeit und Verletzbarkeit zusetzte.

„Es ist schon spät. Ich sollte gehen.“

„Ich fahre Sie. Wir müssen morgen Punkt zwölf Uhr auf dem Friedhof sein. Mein Chauffeur holt sie um elf ab.“

„Danke, nein, ich komme nicht. Der heutige Tag hat mir gereicht.“

„Denken Sie darüber nach. Ich rufe Sie morgen früh an.“

Als sie nichts erwiderte, führte er sie in die Halle und sagte ihr dort, dass er den Wagen aus der Garage holen wolle. Alysa war so in Gedanken versunken, dass sie die kleine Gestalt erst bemerkte, als sie die Treppe heruntergekommen war und sie ansprach.

„Geht es papà gut?“, fragte Tina.

„Ja, natürlich. Warum willst du das wissen?“

„Er war den ganzen Tag über so traurig.“

„Na ja, deine Mutter …“

„Ja, aber heute war er so nervös. Ich glaube, das ist wegen nonna.“

„Wegen deiner Großmutter?“

„Sie war nicht nett zu ihm.“

Alysa staunte. Die Kleine versuchte anscheinend, den Vater ebenso sehr zu beschützen wie er sie.

In dem Moment kam Drago wieder in die Halle.

„Was machst du denn hier?“, fragte er streng und zärtlich zugleich.

„Ich wollte nur sehen, wie es dir geht.“

„Ich bringe jetzt die Signorina nach Hause, dann komme ich wieder. Geh schnell ins Bett, bevor deine Großmutter dich hier findet, sonst kriege ich riesigen Ärger.“

Zu spät – Elena rief bereits aus dem Obergeschoss nach ihrer Enkelin.

Tina reagierte blitzschnell. Sie flüsterte Alysa ins Ohr: „Pass auf ihn auf!“, und sprang dann schnell die Treppe hinauf. Im nächsten Augenblick beruhigte sie ihre nonna. „Hier bin ich. Ich habe schlecht geträumt und nach dir gesucht.“

„Sie ist nie um Worte verlegen. Das hat sie von ihrer Mutter“, erklärte Drago.

„Sie ist wunderbar.“

„Was hat sie zu Ihnen gesagt?“

„Ich soll auf Sie aufpassen. Doch das hätte ich Ihnen nicht verraten dürfen.“

„Ich erzähle nichts weiter. Warum sollen Sie das tun?“

„Weil Elena nicht nett zu Ihnen ist.“

Jetzt war er sprachlos, wie Alysa erstaunt feststellte. Dann führte er sie zum Auto, half ihr beim Einsteigen und setzte sich ans Steuer.

Als sie nach Florenz kamen, schien die Innenstadt wie ausgestorben. Es war schon fast ein Uhr morgens. In den letzten Stunden, die wie im Flug vergangen waren, war so viel geschehen.

„Das ist nicht der Weg zum Hotel! Es liegt am anderen Ufer des Flusses“, sagte Alysa nach einiger Zeit.

„Ich möchte Ihnen noch etwas zeigen, das Sie interessieren könnte. Wir sind gleich da.“

Kurz darauf hielt Drago den Wagen vor einem reich verzierten, jahrhundertealten Gebäude an, das nun zahlreiche Apartments beherbergte.

„Hier haben sie gewohnt“, erklärte er, nachdem sie ausgestiegen waren und auf dem Bürgersteig standen. „Genau da.“ Er wies auf einige Fenster in der ersten Etage.

Das historische Haus schien wie geschaffen für ein Liebesnest. Alysa sah sich neugierig um, dann folgte sie einem kurzen, schmalen Weg neben dem Gebäude, bis sie plötzlich den Arno erblickte. An seinem Ufer glitzerten die Lichter von Hunderten Straßenlaternen, die vom Wasser reflektiert wurden. In der Ferne spannte sich die Ponte Vecchio über den Fluss, jene wunderschöne, weltberühmte Brücke, das Wahrzeichen der Stadt.

Hier hatte James seine Geliebte im Arm gehalten, hier hatten sie sich geküsst, geneckt, geliebt – während sie in England ihr Baby verloren hatte.

„Einmal habe ich Carlotta an diesem Fenster gesehen“, gestand Drago.

„Sie haben sie beobachtet?“

„Ja, heimlich. Ich bin herumgeschlichen wie ein verliebter Teenager, und wenn Carlotta kam, habe ich mich versteckt.“ Er machte eine kleine Pause. „Und wenn Sie das weitererzählen, werde ich alles abstreiten und Sie verklagen.“

„Keine Angst, ich habe Ähnliches gemacht. Ich bin grundlos an James’ Wohnung vorbeigefahren, allerdings ohne ihn je zu sehen. Bestimmt war er dann schon hier.“

„Immer wieder bin ich hierhergekommen und habe mir ausgemalt, wie sie am Fluss spazieren gehen, die Lichter auf dem Wasser betrachten und sich, wie andere Paare auch, verliebten Unsinn ins Ohr flüstern.“

„Es ist wirklich idyllisch hier“, stimmte Alysa zu und sah zur Ponte Vecchio hinüber. „Wegen solcher Orte schwärmen Touristen aus aller Welt vom romantischen Italien.“

„Es kann sehr malerisch sein, aber ebenso nüchtern, geschäftig und deprimierend normal. Romantik ist keine Frage der Nationalität oder der Umgebung. Sie entsteht in dem Moment, in dem sich die Blicke zweier Liebender treffen und niemand mehr existiert außer ihnen.“

Sie gingen einige Schritte weiter. Im Schein einer Laterne konnte Alysa seine markanten Züge deutlich erkennen. Er war zwar nicht im üblichen Sinn schön, aber dennoch höchst attraktiv.

James hatte sehr gut ausgesehen, auf jungenhafte Weise. Drago dagegen war von Kopf bis Fuß ein Mann: unbeugsam und willensstark. Er strahlte Präsenz aus. Betrat er einen Raum, zog er unweigerlich alle Blicke auf sich, nicht nur aufgrund seiner Größe, sondern auch durch sein enormes Selbstvertrauen.

Auf einmal konnte selbst Alysa, die leidenschaftlich in James verliebt gewesen war, nicht verstehen, wie Carlotta den faszinierenden Drago di Luca gegen einen anderen Mann hatte eintauschen können. Würde sie sich noch für Männer interessieren, hätte er sie vielleicht auch fesseln können.

Drago ließ den Blick in die Ferne schweifen. Dann senkte er den Kopf, als könnte er die Last, die ihn niederdrückte, nicht länger tragen.

Alysa berührte seinen Arm. „Ich weiß“, flüsterte sie. „Ich weiß.“

Vom Fluss her wehte ein kühler Wind, und sie fröstelte. In diesem Moment richtete sich Drago schweigend auf und zog sie fest an sich. Es war eine freundschaftliche Umarmung, nicht die eines Liebhabers, eine dankbare Geste für ihr Mitgefühl. Alysa spürte, dass er ihr Trost vermitteln wollte. Seine Warmherzigkeit tat ihr gut.

„Alles in Ordnung?“, fragte er nach einer Weile.

„Ja – trotzdem möchte ich nicht länger hierbleiben.“

Arm in Arm kehrten sie daraufhin zum Auto zurück und fuhren schweigend zum Hotel. Dort reichte er ihr seine Visitenkarte.

„So können Sie mich erreichen, sollten Sie es wünschen. Ich hoffe, wir sehen uns morgen. Falls nicht – danke ich Ihnen für alles, was Sie für mich getan haben.“

Dann beugte er sich zu ihr hinüber und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Ciao.“

„Ich weiß nicht, ob … Auf Wiedersehen“, erwiderte sie und eilte, ohne sich umzudrehen, ins Hotel.

In dieser Nacht träumte Alysa nach langer Zeit zum ersten Mal wieder von James. Er stand mit Carlotta an einem Fenster des Apartments und lachte. Alysa rief um Hilfe, und einen Moment lang meinte sie, Dragos Gegenwart zu spüren. Dann war er verschwunden, und sie war wieder allein.

4. KAPITEL

Am nächsten Morgen fühlte Alysa sich wie erschlagen, und der Gedanke an die Andacht auf dem Friedhof war mehr, als sie ertragen konnte. Soll ich vorzeitig abreisen, um mir eine weitere Begegnung mit Drago zu ersparen? überlegte sie.

Doch noch während sie darüber nachdachte, wählte sie einen dunkelblauen, klassischen Hosenanzug aus, der einer Trauerfeier angemessen war. Ich besitze tatsächlich kaum Röcke, dachte sie, und ich habe keinen einzigen dabei. Drago hatte sie in der Tat genau erfasst.

Dann schlüpfte sie in das elegante Kleidungsstück.

Wie oft hatte James sie wegen ihres Perfektionismus geneckt!

„Warum muss bei dir immer alles so akkurat aussehen?“, hatte er sie teils zärtlich, teils ärgerlich gefragt.

„Weil ich mich anpassen muss!“

„Weshalb?“

„In Shorts und knappem Top kann ich keine Geldanlageberatung erteilen. Und meine Vorgesetzten würden mich nicht für die richtige Geschäftspartnerin halten.“ Dann hatte sie die Arme um ihn gelegt. „Am wichtigsten ist mir jedoch, dass ich zu dir passe.“

„Dann musst du aber das enge Top und die Shorts tragen!“

Während sie sich jetzt für den Besuch an seinem Grab ankleidete, versuchte sie, die Erinnerung an die auf das Gespräch folgende Stunde voller Leidenschaft zu verdrängen.

Wenig später rief sie sich ein Taxi und traf sehr früh am noch fast menschenleeren Friedhof ein. Ungestört wanderte sie herum und studierte die Inschriften auf den verschiedenen Steinen. Es gab viele sorgfältig gepflegte und mit Blumen dekorierte Familiengräber. Eine besonders liebevoll geschmückte Ruhestätte erregte ihre Aufmerksamkeit.

Sie war über und über mit roten Rosen bedeckt. Der Stein war mit wunderschönen Gravuren und zwei prächtigen Haltern mit brennenden Kerzen versehen, die das Bild der Frau beleuchteten, die hier ruhte.

Bei näherem Hinsehen erkannte Alysa, dass es Carlotta di Luca darstellte.

Verwundert blieb sie stehen. Der aufwendige Blumenschmuck übertraf alle ihre Erwartungen.

„Ciao, signorina.“ Ein älterer Priester mit freundlich blickenden Augen war neben Alysa aufgetaucht.

„Sono Inglese“, erklärte sie sogleich.

„Sind Sie mit der Familie befreundet?“, fragte er in recht gutem Englisch.

„Nein, aber die vielen Rosen zu dieser Jahreszeit haben mich überrascht.“

„Der Witwer hat eine Firma beauftragte, jede Woche welche zu besorgen. An gewöhnlichen Tagen sind es aber nicht ganz so viele.“

Jede Woche, seit einem Jahr!

Alysa konnte nicht glauben, dass es nur Tina zuliebe geschah. Schließlich handelte es sich nicht um irgendwelche Blumen, sondern um rote Rosen. Das war wie eine Liebeserklärung! Drago liebte seine Frau anscheinend immer noch leidenschaftlich, obwohl sie ihn betrogen und verlassen hatte.

„Stehen auf anderen Gräbern auch Rosen?“, erkundigte sie sich.

„Oh nein, manche werden noch nicht einmal von jemandem besucht, was wirklich traurig ist.“

„Also nur dieses“, murmelte sie vor sich hin.

„Es ist schön, wenn ein Mann seiner Frau so treu ergeben ist. Ich fürchte jedoch, die Erinnerungen quälen ihn. Er hat noch einen weiten Weg vor sich, bis er Frieden findet.“

„Sind alle Opfer des Unglücks hier beerdigt?“

„Nein. Einige sind in ihre Heimat überführt worden. Ein Engländer liegt hier allerdings auch. Außer seinem Namen wusste man nichts über ihn. Anscheinend hatte er keine Angehörigen. Kommen Sie.“

Der Priester führte sie zu einer abgeschiedenen Ecke des Friedhofs, wo eine Reihe schmaler, unscheinbarer Gräber dicht nebeneinander angeordnet war. James’ Ruhestätte befand sich am äußersten Ende.

„Hier ist es so einsam!“

„Ja, dieser Platz ist trist. Wir haben versucht, Kontakt zu seiner Familie in England herzustellen, fanden aber niemanden. Nur eine Frau, die ihn angeblich gekannt haben sollte, es aber leugnete.“

„Das hätte sie nicht tun dürfen.“

„Vielleicht. Wir wissen jedoch nicht, was sie durchgemacht hat. Ah, ich werde gerufen, bitte entschuldigen Sie mich.“

Alysa bemerkte kaum, dass der Mann ging. Sie blickte starr auf die Namensplakette, die das Grab kennzeichnete.

„Wohin habe ich dich nur verbannt!“, flüsterte sie.

Nie zuvor hatte sie James bedauert. Jetzt musste sie jedoch daran denken, wie er früher gewesen war: jung, fröhlich, lebenslustig. Er war in ihr streng geregeltes Leben eingebrochen, hatte es auf den Kopf gestellt und ihr beigebracht, Spaß zu haben. Und kaum hatte er selbst die wahre Freude gefunden, musste er sterben. Zum ersten Mal begriff sie das Ausmaß seiner persönlichen Tragödie.

Immer mehr Menschen strömten nun auf den Friedhof. Auch Drago erschien, begleitet von Tina und Elena sowie einigen weiteren Erwachsenen und Kindern. Alysa versteckte sich hinter einer Hecke und beobachtete, wie die Gruppe die Kirche betrat. Sie folgte ihr und nahm in einer der hintersten Bankreihen Platz, um an der Andacht teilzunehmen. Nach deren Ende schlüpfte sie als eine der Ersten aus der Kirche und kehrte zu James’ Grab zurück. Von hier aus beobachtete sie, wie die Familien vor die Ruhestätten ihrer Verstorbenen traten. Nur zu James kam niemand.

„Sie haben dich hierher verbannt, damit du das Bild der perfekten Ehefrau und Mutter nicht zerstörst“, sagte sie traurig, während sie den armseligen Erdhügel betrachtete.

Plötzlich hörte sie Schritte. Sie drehte sich um und erblickte Drago, der verhärmt und müde aussah.

„Ich habe den Wagen zum Hotel geschickt, aber Sie waren schon fort. Trotzdem hoffte ich, Sie hier zu treffen.“

„Sie kennen mich besser als ich mich selbst.“

„Dann geht es Ihnen mit mir wie mir mit Ihnen. Wie fühlen Sie sich?“

„Gut. Sie sehen aus, als hätten Sie nicht gut geschlafen.“

„Überhaupt nicht.“

„War der gestrige Abend so schlimm für Sie?“

„Eigentlich nicht. Der Gedanke an heute hat mich wach gehalten. Carlottas Schwester ist hier, mit Mann und Kindern.“

„Und auch sie kennen die Wahrheit nicht, sodass Sie weiter schauspielern müssen.“

„Genau. Morgen reisen sie ab. Könnten wir uns dann noch einmal unterhalten?“

Einen Augenblick zögerte Alysa. Wäre es gut, noch einmal offen über alles sprechen zu können, oder gefährlich?

Drago di Luca verwirrte sie. Zielstrebig, ungeduldig und dominant, wie er war, hätte sie ihn unter anderen Umständen vermutlich nicht leiden können. Doch ihr gegenüber wirkte er oft hilflos, und das fand sie so anziehend, dass sie sich zur Vorsicht mahnen musste. Sie hatte sich bisher bemüht, jegliche Gefühlsregung in sich zu ersticken – jetzt bedrohte er ihr inneres Gleichgewicht.

„Das halte ich für keine gute Idee“, lehnte sie daher ab.

Drago warf einen Blick auf James’ Grab.

„Seinetwegen? Was bedeutet er Ihnen noch?“

„Er hat sonst niemanden.“

„Und wen haben Sie? Vergessen Sie ihn, und leben Sie Ihr eigenes Leben! Als Carlotta mich betrogen hat, habe ich sie aus meinem Herzen verbannt.“

„Und das Meer aus roten Rosen?“

„Das ist wegen Tina. Sie soll glauben, ich trauere.“

„Sie belügen sich selbst und spielen Ihrer Tochter eine heile Welt vor, die nicht existiert.“

„Zu ihrem Besten!“

„Ist es wirklich nur zu Tinas Wohl?“

Darauf blieb er die Antwort schuldig.

„Wir müssen noch einmal miteinander sprechen“, sagte er dann nach kurzem Schweigen. „Ich rufe Sie an, wenn meine Familie fort ist.“

„Nein, Drago, besser nicht. Gestern haben wir so vieles geklärt. Irgendwann muss Schluss sein.“

In diesem Moment rief Tina nach ihrem Vater, der Alysa bat: „Gehen Sie bitte nicht, ich bin gleich wieder da.“

Dann eilte er zu seiner Tochter. In dem Augenblick, in dem er seine Verwandten erreichte, war er wie ausgewechselt. Er wirkte ausgeglichen und höflich, wie sie es von ihm erwarteten.

Langsam entfernte Alysa sich. Einerseits hätte sie gern seiner Bitte nach einem weiteren Gespräch nachgegeben, andererseits trieb sie ihr Selbsterhaltungstrieb, sich in Sicherheit zu bringen. Deshalb eilte sie vom Friedhof auf die Straße.

Den Rest des Tages lief Alysa ziellos durch Florenz und sah sich die zahlreichen Sehenswürdigkeiten an, ohne viel davon wahrzunehmen. Auf Schritt und Tritt verfolgte sie der Gedanke an Carlotta und James, die mit Sicherheit dieselben Straßen entlanggegangen waren und sich in den Schatten der Häuser geküsst hatten.

Als die Dämmerung anbrach, erhellten antike Straßenlaternen die mittelalterlichen Straßen. Ohne nachzudenken, lenkte sie ihre Schritte zur Ponte Vecchio, der herrlichen Brücke über den Arno, die sie am Vortag aus der Ferne gesehen hatte. Dort schmiegten sich kleine Läden lückenlos aneinander, meist von Juwelieren und Goldschmieden. In einem der Geschäfte wurden hübsch verzierte kleine Vorhängeschlösser verkauft.

Die Auslage des Geschäfts war liebevoll gestaltet. Unzählige Schlösser verschiedenster Machart lagen sorgfältig angeordnet auf Regalen oder hingen an zarten Ketten von der Decke. Bei näherem Hinsehen erkannte Alysa, dass etliche mit kleinen Bildern geschmückt waren.

Genau wie das von James!

Unter den Exponaten fand sich tatsächlich das Gegenstück zu dem Schloss, das er mitgebracht und ihr dann heimlich wieder weggenommen hatte.

Sie sah noch einmal hin, blinzelte, in der Hoffnung, sich geirrt zu haben, doch es war das gleiche Schloss.

„Das verstehe ich nicht!“, murmelte sie vor sich hin.

Sie musste laut gesprochen haben, denn ein Mann, der neben ihr stand, anscheinend der Inhaber, lächelte breit und begann, fröhlich auf sie einzureden.

„Gefallen Ihnen meine Schlösser? Hier finden Sie die schönsten in ganz Florenz.“

„Das sehe ich. Haben sie eine besondere Bewandtnis?“

„Wissen Sie denn nichts von Cellini?“

„Nur, dass er ein berühmter Goldschmied und Bildhauer im Florenz des sechzehnten Jahrhunderts war.“

Autor

Teresa Southwick
Teresa Southwick hat mehr als 40 Liebesromane geschrieben. Wie beliebt ihre Bücher sind, lässt sich an der Liste ihrer Auszeichnungen ablesen. So war sie z.B. zwei Mal für den Romantic Times Reviewer’s Choice Award nominiert, bevor sie ihn 2006 mit ihrem Titel „In Good Company“ gewann. 2003 war die Autorin...
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