Romana Exklusiv Band 302

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Nie hat Carrie den attraktiven Andreas Stillanos vergessen! Jetzt bringt die Sorge um ein kleines Mädchen sie zurück auf seine griechische Insel. Und plötzlich ist Carrie ihrem Glück so nah wie in jenem Sommer. Doch kann sie daran glauben?

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  • Erscheinungstag 19.10.2018
  • Bandnummer 302
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744557
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kathryn Ross, Jacqueline Baird, Catherine Spencer

ROMANA EXKLUSIV BAND 302

1. KAPITEL

Standhaft hatte Carrie sich bisher gegen das Rendezvous mit einem Unbekannten gewehrt. Seit dem zweiten Urlaubstag lag ihre Freundin Jo ihr in den Ohren, sie müsse unbedingt Theos älteren Bruder kennenlernen.

„Er ist unglaublich attraktiv“, schwärmte Jo. „Wenn ich mich nicht in Theo verliebt hätte, wäre ich selbst an Andreas interessiert. Er sieht nicht nur gut aus und ist sexy, er ist auch ein richtig netter Mann.“

„Ach Jo, ich bin aber ganz froh, mal für mich zu sein und richtig entspannen zu können. In den letzten Monaten habe ich ja nur fürs Examen gebüffelt. Ich möchte einfach in der Sonne liegen und …“

„Ich weiß, Carrie. Aber du musst ihn einfach kennenlernen. Er ist ein richtiger griechischer Adonis. Tu mir doch den Gefallen. Wir könnten uns zu viert zum Abendessen treffen. Den Aperitif nehmen wir in der romantischen kleinen Taverne am Strand. Und wenn du dich mit Andreas gut verstehst, bleibst du zum Abendessen. Wenn nicht, verabschiedest du dich eben unter einem Vorwand. Aber er wird dir ganz bestimmt gefallen!“

Am vierten Tag waren Carrie die Argumente ausgegangen. Daher saß sie jetzt allein in der Taverne und wartete auf die anderen. Jo und ihr neuer Freund hatten sich verspätet, und dieser ominöse Andreas hatte sich auch noch nicht blicken lassen. Wahrscheinlich hielt er auch nicht viel von einem Blind Date.

Worauf habe ich mich da nur eingelassen?, dachte Carrie, der die Angelegenheit sehr unangenehm war.

Wenigstens befand sie sich an einem idyllischen Ort. Die Sonne ging gerade wie ein roter Ball unter und verlieh dem Meer einen rötlichen Schimmer. Wieder neigte sich ein heißer Tag auf der kleinen griechischen Insel Pyrena dem Ende zu.

Carrie genoss die laue Abendluft, die nach Jasmin und Meer duftete, und entspannte sich. Mit etwas Glück würde Theos Bruder gar nicht auftauchen, und sie könnte sich schnell verabschieden, damit Jo und Theo einen romantischen Abend verbringen konnten. Schließlich lagen nur noch zehn Tage vor ihnen, bevor Jo und Carrie den Heimflug nach London antreten würden. So verliebt hatte sie Jo noch nie erlebt, und auch Theo hatte es offensichtlich schwer erwischt. Man hatte den Eindruck, die beiden wären schon immer zusammen gewesen.

Ob das die wahre Liebe ist?, überlegte Carrie.

Als die Dunkelheit hereinbrach, zündete ein Kellner Kerzen auf den umliegenden Tischen an. Bisher war nur ein weiterer Tisch am anderen Ende der Taverne besetzt. Bei einem Blick auf ihre Armbanduhr stellte Carrie fest, dass Jo bereits zehn Minuten Verspätung hatte. Noch zehn Minuten, dann verschwinde ich, dachte sie. Viel lieber hätte sie ihr Buch weitergelesen. Sie hatte gar keine Lust, jemanden kennenzulernen.

„Erwarten Sie jemanden?“

Carrie sah auf und spürte, wie ein Prickeln ihren Körper durchlief.

Wenn das Andreas war, dann hatte Jo nicht übertrieben! Er war einfach hinreißend – wahrscheinlich der bestaussehende Mann, dem Carrie je begegnet war.

Er war groß und durchtrainiert und trug einen teuer wirkenden dunklen Anzug mit einer angeborenen Lässigkeit, die wohl nur Südeuropäer ausstrahlten. Der offene Kragen seines blauen Hemdes gab den Blick auf einen kräftigen Hals frei. Das dichte dunkle Haar war kurz geschnitten und betonte das ausdrucksvolle Gesicht mit dem markanten Kinn. Am beeindruckendsten aber waren die dunklen Augen, mit denen er sie intensiv und fast arrogant musterte.

Carrie riss sich zusammen, als ihr bewusst wurde, dass sie seine Frage noch nicht beantwortet hatte. „Ja, ich bin hier mit Freunden verabredet.“

„Dann müssen Sie Carrie sein.“

Bejahend nickte sie. Bildete sie sich das ein, oder knisterte es tatsächlich zwischen ihnen? Gebannt schauten sie einander an, bis er den Blick abwandte und ihn ungeniert über das lange blonde Haar, das herzförmige Gesicht und die kurvige Figur im hellblauen Sommerkleid gleiten ließ.

Ihr wurde heiß unter dem sexy Blick.

„Andreas Stillanos.“ Er schüttelte ihre Hand. Diese leichte Berührung erregte sie noch mehr. Sehr zu ihrem Erstaunen fand sie einfach alles an ihm attraktiv.

Das ist verrückt, dachte sie. Noch nie hatte ein Mann so eine starke Anziehungskraft auf sie ausgeübt. Natürlich sah er gut aus, aber sie kannte ihn doch gar nicht. Wieso entfesselte er so heiße Gefühle in ihr?

Carrie konnte sich das nicht erklären, ahnte jedoch, dass ein Urinstinkt in ihr geweckt war. Und das erschreckte sie fast zu Tode. Von Natur aus ein vernunftbetonter, mit beiden Beinen auf der Erde stehender Mensch, konnte und wollte sie ihre heftigen Gefühle nicht wahrhaben.

Schweigend beobachtete sie, wie Andreas ihr gegenüber am Tisch Platz nahm. Einen Moment lang lauschten sie beide dem Zischen der Gischt über den Kiesstrand neben sich, was gut zu ihrer aufgewühlten Stimmung passte.

„Jo und Theo sind noch nicht da“, sagte Carrie.

„Das sehe ich.“ Er lächelte amüsiert.

Sie versuchte sich zu konzentrieren, damit ihr keine weiteren überflüssigen Bemerkungen entschlüpften, fand das aber schwierig, weil Andreas ihr tief in die Augen schaute.

Ein Kellner kam an den Tisch, und Andreas sprach Griechisch mit ihm. Diese tiefe erotische Stimme schlug Carrie noch mehr in seinen Bann.

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken bestellen, Carrie?“, fragte er dann in perfektem Englisch.

„Danke, ich habe noch.“ Sie zeigte auf ein noch fast volles Glas Wein.

„Wahrscheinlich hat die Verspätung etwas mit Theos Tauchschule zu tun“, vermutete Carrie. Sie musste sich unbedingt von ihren verstörenden Gefühlen ablenken, die Andreas in ihr auslöste. „Ich glaube, er wollte einigen Kunden vor ihrer Abreise nach England noch einen Tauchgang ermöglichen.“

Andreas musterte sie. „Ich denke, es steckt was anderes dahinter. Wahrscheinlich sollen wir Gelegenheit haben, uns ungestört zu unterhalten“, bemerkte er leicht ironisch.

„Ach, Sie meinen, das ist eine abgekartete Sache?“, fragte sie pikiert. „Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Das wäre ihr schrecklich peinlich gewesen.

„Wirklich nicht?“ Er betrachtete sie forschend. Ihre Verlegenheit war ihm nicht entgangen.

Carrie wandte sich ein wenig ab, um zu verbergen, dass sie tief errötet war. „Jo hat mich vorhin angerufen, um sich für die Verspätung zu entschuldigen. Es war ihr sehr unangenehm, weil sie sonst immer pünktlich ist.“

„Sie fühlten sich nicht verpflichtet, mich kennenzulernen, oder?“ Neckend zog er eine Augenbraue hoch. „Seit Tagen schwärmt Theo mir nämlich von Ihnen vor.“

„Ach? Dann haben Sie sich also nur auf dieses Treffen eingelassen, um endlich Ihre Ruhe zu haben?“ Am liebsten wäre sie vor Scham im Boden versunken. „Schon gut, Jo hat die gleiche Masche bei mir abgezogen. Offensichtlich hat sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ständig mit Theo zusammen ist und mich alleinlässt. Keine Ahnung, wie oft ich ihr in den letzten Tagen gesagt habe, dass mir das sogar ganz recht ist.“

„Sie haben sich ineinander verliebt und möchten, dass alle Welt ihnen nacheifert“, bemerkte Andreas trocken.

Der Kellner servierte, was Andreas bestellt hatte. Carrie freute sich über diese Störung. Es war Andreas anzumerken, wie wenig er von diesem Blind Date hielt. Das wurde auch von der Tatsache unterstrichen, dass er Kaffee geordert hatte – ein Getränk, das man kaum als Aperitif werten konnte. Vermutlich würde er sich gleich verabschieden.

Ihre Blicke begegneten sich. „Leider habe ich morgen in aller Frühe eine geschäftliche Besprechung in Athen. Ich kann also nicht lange bleiben“, sagte er entschuldigend.

„Das trifft sich gut. Ich muss auch gleich wieder los. Kurz bevor Sie hier auftauchten, habe ich nämlich beschlossen, Jo und Theo ihrem Glück zu überlassen und ihnen Gelegenheit zu einem romantischen Abend zu zweit zu geben.“

„Gute Idee.“ Andreas betrachtete sie und sagte dann mit leicht ironischem Tonfall: „Aber ich bin sicher, dass sie gerade schon ihre Zeit nutzen.“

Was soll das denn heißen?, überlegte sie verstimmt. Meint er vielleicht, im Gegensatz zu uns?

„Gefällt es Ihnen auf Pyrena?“, fragte Andreas und lehnte sich zurück.

Jetzt bemühte er sich um höflichen Small Talk. Das war unerträglich!

Carrie ließ sich jedoch nichts anmerken und rang sich ein Lächeln ab. „Ja, sehr gut so gar. Es ist eine wunderschöne Insel.“

„Waren Sie schon am Korallenriff?“

„Nein. Theo und Jo haben mich gestern eingeladen mitzukommen, aber ich tauche nicht.“

„Sie könnten schnorcheln.“

„Ich bin keine gute Schwimmerin und traue mir das nicht zu.“

„Auch nicht, wenn ein erfahrener Schwimmer bei Ihnen ist? Sie sollten sich das nicht entgehen lassen, es ist wunderschön da draußen.“ Sein Handy klingelte. „Entschuldigung, Carrie“, sagte er höflich und nahm den Anruf entgegen.

Offensichtlich geschäftlich, dachte sie, als sie seine ernste Miene bemerkte.

Er ist viel zu attraktiv, befand Carrie, die ihn nun unauffällig betrachtete. Und eine echte Gefahr. Wie es wohl wäre, diese sinnlichen Lippen auf ihren zu spüren? Die schönen Hände auf ihrem Körper?

Er beendete den Anruf und widmete sich wieder ganz ihr. „Tut mir leid, aber das Gespräch war wichtig.“

„Kein Problem.“ Sie wandte den Blick ab und trank einen Schluck Wein. Wie kam sie eigentlich dazu, sich vorzustellen, wie er sie küsste? Der Mann interessierte sich nicht einmal für sie! „Übrigens können Sie gern gehen. Ich will Sie nicht aufhalten. Ich werde Sie bei Jo und Theo entschuldigen und mich dann auch verabschieden.“

„Nicht nötig. Sie kommen gerade.“

Als Carrie seinem Blick folgte, sah sie Theo und Jo aus einem schwarzen Sportwagen klettern. Theo wartete auf Jo und nahm ihre Hand, bevor sie die Straße überquerten.

Jo sah ihn so verliebt an, dass es Carrie warm ums Herz wurde.

„Die beiden scheinen wie füreinander geschaffen“, sagte sie andächtig.

„Ja, ich glaube es ist etwas Ernstes.“

Er hat recht, dachte Carrie.

Was soll nur werden, wenn Jos Urlaub vorbei ist?, überlegte sie. Jo verdient es, endlich glücklich zu sein, nach allem, was sie durchgemacht hat. Carrie konnte das beurteilen, weil sie beide bei derselben Pflegefamilie aufgewachsen waren. Nach außen spielte Jo die starke unnachgiebige Frau, in Wirklichkeit hatte sie ein Herz aus Gold.

Wie hübsch sie aussieht, dachte Carrie. Ihre Freundin trug ein figurbetontes schwarzes Kleid, ihre langen blonden Locken umspielten das strahlende Gesicht.

„Bitte entschuldigt die Verspätung“, sagte Jo zerknirscht und betrachtete Carrie und Andreas forschend.

„Es war ganz allein meine Schuld“, behauptete Theo und küsste Carrie zur Begrüßung auf beide Wangen. „Schön, dich zu sehen, Carrie! Tut mir wirklich leid, dass wir so spät dran sind, aber wir wussten, ihr würdet euch gut verstehen.“

Carrie wünschte, Andreas hätte sie nicht ausgerechnet in diesem Moment angeschaut. Offensichtlich amüsierte er sich sehr, was sie sichtlich irritierte.

„Keine Sorge“, sagte er lässig. „Carrie und ich haben uns gefreut, einander kennenzulernen.“

„Das ist ja wunderbar!“ Jo strahlte und zwinkerte Carrie vielsagend zu.

Die ließ sich nichts anmerken, wunderte sich jedoch, wie blind Jo sein musste. Sonst hätte sie bemerkt, wie ungern Andreas ihrer Einladung nachgekommen war.

„Dann ist also alles in Ordnung?“, fragte Jo leise, als sie sich zu Carrie setzte.

„Klar.“ Sie beobachtete die Begrüßung der Brüder. Die beiden sahen einander sehr ähnlich, allerdings hatte Andreas markantere Gesichtszüge.

Theo und Andreas waren nicht nur Brüder, sondern auch gute Freunde. Sie unterhielten sich kurz über ein neues Gerät, dass Theo für seine Tauchschule anschaffen wollte.

„Am liebsten würden sie sich Tag und Nacht übers Geschäft unterhalten“, sagte Jo lächelnd.

„Ich lasse mich eben gern beraten“, erklärte Theo gutmütig, als er Jos Bemerkung aufschnappte. „Besonders von einem Bruder, der ein untrügliches Gespür für ein gutes Geschäft hat. Keine Ahnung, was ich ohne ihn anfangen würde.“

„Du machst das sehr gut, Theo. Deine Schule läuft doch bestens“, lobte Andreas ihn.

„Ja, mit deiner Hilfe.“ Suchend sah Theo sich nach dem Kellner um. „Sollen wir uns die Speisekarten bringen lassen? Ich habe einen Bärenhunger.“

„Leider muss ich gleich gehen.“ Andreas warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Ich muss nach Athen. Der Termin morgen in aller Frühe ließ sich nicht verschieben.“

„Das ist aber schade. Kannst du nicht noch etwas länger bleiben?“ Jo konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen.

„Ich fürchte, nein.“ Andreas sah Carrie an. „Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Carrie.“

Das ist nur eine Floskel, dachte sie. „Hat mich auch gefreut“, antwortete sie und lächelte höflich.

Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke.

Andreas bemerkte ein rebellisches Glitzern in ihren Augen. Offensichtlich hatte sie sich ebenso unwohl gefühlt wie er.

Wie wunderschön sie ist, dachte er. Theo hatte nicht übertrieben. Sie erschien ihm ungewöhnlich zerbrechlich und reserviert. Die meisten jungen Frauen hätten offen mit ihm geflirtet, doch sie hatte nicht einmal versucht, sein Interesse für sie zu wecken. In ihrem ganzen Auftreten lag ein gewisser Stolz. Und ihr Lächeln war einfach umwerfend.

Leider hatte er momentan keine Zeit für einen Flirt, weil er sich inmitten schwieriger Verhandlungen befand, die ihm volle Konzentration abverlangten. Außerdem war die Situation mit Vorsicht zu genießen. Theo war schwer verliebt in Carries beste Freundin, wohingegen er selbst sich niemals auf eine Beziehung einlassen würde. Daher war es am besten, von vornherein die Finger von Carrie zu lassen.

„Macht euch einen schönen Abend“, sagte er und stand auf.

„Verflixt!“ Wütend sah Jo ihm nach. „Tut mir schrecklich leid, Carrie. Ich dachte wirklich, ihr würdet euch gut verstehen.“

„Das haben wir ja. Mach dir keine unnötigen Gedanken.“

„Andreas steckt augenblicklich in schwierigen Verhandlungen. Es geht um eine Firmenübernahme“, erklärte Theo. „Er hat gerade seinen Verlag verkauft und möchte nun Anteile an einem Zeitungsverlag erwerben. Es steht einiges auf dem Spiel. Wenn der Termin morgen schon so früh ist, muss er die Abendfähre nach Athen nehmen und in seiner Wohnung dort übernachten.“

„Schon gut, Theo. So genau wollte ich das gar nicht wissen“, behauptete Carrie. Es war ihr unangenehm, dass die beiden sich so über das geplatzte Date aufregten. „Andreas und ich haben uns gut unterhalten. Ich habe mich in seiner Gesellschaft sehr wohlgefühlt. Und wir waren uns einig, dass ihr Zeit für euch braucht. Darum möchte ich mich jetzt auch gern verabschieden. Ich will heute mal früh ins Bett.“

„Das kommt überhaupt nicht infrage!“ Jo sah sie streng an. „Du isst mit uns zu Abend. Wir bestehen darauf!“

„Aber ich würde viel lieber …“

„Ich an deiner Stelle würde nachgeben“, riet Theo breit lächelnd. „Vorher wird sie nämlich nicht lockerlassen.“

2. KAPITEL

Carrie hatte es sich mit einem Buch auf einem Liegestuhl am Pool gemütlich gemacht und trank einen Schluck Wasser. So lässt sich das Leben aushalten, dachte sie, als sie das Glas wieder abstellte. Langsam kam die Sonne herum. Es wäre wohl besser, die Liege wieder in den Schatten zu rücken.

London erschien ihr unendlich weit entfernt von dieser idyllischen Ruhe in der gepflegten Apartmentanlage.

Jo hatte sich gerade verabschiedet, weil sie rechtzeitig zu Theos Kaffeepause in der Tauchschule sein wollte. Carrie war ganz froh, wieder allein zu sein. Das Blind Date mit Andreas war ihr noch immer ausgesprochen unangenehm. So unwohl wie während der halben Stunde hatte sie sich wohl noch nie gefühlt.

Allerdings sah er tatsächlich unglaublich gut aus. Diese dunklen Augen, mit denen er sie so intensiv angeschaut hatte … Es war verrückt, aber sie hatte sich tatsächlich danach gesehnt, ihn zu küssen. Da musste sie zweiundzwanzig Jahre alt werden, um so ein wildes Verlangen nach einem Mann zu empfinden.

Keiner der Männer, die sich bisher für sie interessiert hatten, die sie geküsst und mit ihr geflirtet hatten, hatte so eine Reaktion bei ihr hervorgerufen. Sie hatte sich sogar schon gefragt, ob sie überhaupt zu leidenschaftlichen Gefühlen fähig war. Eigentlich analysierte sie ja jede Beziehung und war ein eher vernunftbetonter Mensch.

Jo behauptete, sie wäre Männern gegenüber einfach zu misstrauisch, und insgeheim musste Carrie ihr recht geben. Vermutlich lag es daran, dass ihr Vater sie im Stich gelassen hatte, als sie noch klein war.

Und dann plötzlich genügte ein Blick von Andreas, und sie fühlte sich lebendig wie nie und ausgesprochen erregt!

Das liegt wohl an der Sonne und der Ferienstimmung, dachte sie und widmete sich wieder ihrer Lektüre. Andreas interessierte sich nicht für sie und sie sich auch nicht für ihn. Basta!

Ihr Handy klingelte. Wahrscheinlich Jo, die sie überreden wollte, auch zur Tauchschule zu kommen.

„Hallo, Jo! Nun mach doch nicht so einen Wirbel! Es macht mir großen Spaß, am Pool zu faulenzen“, sagte sie betont fröhlich.

„Das freut mich.“ Beim Klang der amüsierten Männerstimme wäre ihr vor Schreck fast das Handy runtergefallen. Natürlich hatte sie diese tiefe sinnliche Stimme sofort erkannt. Wie seltsam, dass er ausgerechnet in dem Moment anrief, als sie gerade an ihn gedacht hatte. Welche dunkle Macht hatte hier ihre Finger im Spiel?

Verzweifelt bemühte Carrie sich um Fassung und setzte sich auf. Dabei fiel das Buch zu Boden. „Woher haben Sie meine Handynummer, Andreas?“, fragte sie verwirrt.

„Zweimal dürfen Sie raten“, antwortete er amüsiert. „Aber ich gebe Ihnen einen Tipp: Ich war gerade bei Theo, er wollte meine Meinung zu dem Gerät hören, das er sich anschaffen will.“

„Und Sie haben sich breitschlagen lassen, mich anzurufen. Ich weiß ja, wie sehr Sie an Ihrem Bruder hängen, aber das geht nun wirklich zu weit.“

„He, nun mal langsam“, bat er energisch. „Theo hat Sie nicht einmal erwähnt. Ich habe ihn um die Nummer gebeten.“

Im ersten Moment glaubte Carrie, sich verhört zu haben. „Wozu?“

„Weil ich heute Nachmittag etwas Zeit habe und Sie fragen möchte, ob Sie Lust haben, mich zum Korallenriff zu begleiten.“

Obwohl die Einladung sehr verlockend war, lehnte Carrie ab. Sie musste vernünftig sein. „Danke, das ist sehr nett, aber ich bin beschäftigt.“

„Ach? Hatten Sie nicht gerade gesagt, dass Sie faulenzen?“, fragte er amüsiert.

„Ja, ich bin mit Nichtstun beschäftigt, und das gefällt mir richtig gut.“

„Es würde Ihnen bestimmt noch besser gefallen, etwas mit mir zu unternehmen.“

Diese zweideutige Bemerkung setzte ihr Blut in Wallung.

„Ich hole Sie in ungefähr zehn Minuten ab.“

„Wie bitte? Ich dachte, Sie sind heute in Athen.“

„Ja, aber nach der Besprechung am frühen Morgen bin ich mit der nächsten Fähre zurückgekommen. Ich befinde mich in unmittelbarer Nähe Ihrer Anlage. Ich sagte doch gerade, dass ich Theo besucht habe.“

„Ach ja, natürlich. Aber ich brauche etwas mehr Zeit, Andreas.“

„Okay, dann warte ich. Beeilen Sie sich bitte.“

Damit war das Gespräch beendet. Verärgert stellte Carrie das Handy wieder aus. Was fiel ihm eigentlich ein, sie so zu überrumpeln und ihre Zusage vorauszusetzen? Bildete er sich etwa ein, sie hätte männliche Gesellschaft so nötig? Na, der kann was erleben, dachte sie wütend. Es kam überhaupt nicht infrage, dass sie seine Einladung annahm. Sollte er doch hier auftauchen. Sie jedenfalls würde sich keinen Zentimeter von der Liege bewegen.

Entschlossen hob sie das Buch auf, zog sich den Sonnenhut tiefer in die Stirn und versuchte sich der Lektüre zu widmen.

Doch sie konnte sich nicht konzentrieren, weil sie ununterbrochen an Andreas denken musste. Wieso meldete er sich aus heiterem Himmel? Sie hatte nicht damit gerechnet, je wieder von ihm zu hören.

Sollte sie ihren Stolz vergessen und mit ihm ausgehen? Vielleicht könnte sie dabei herausfinden, was es mit den Gefühlen auf sich hatte, die er gestern Abend in ihr entfesselt hatte.

Wütend auf sich selbst, weil sie schwach zu werden drohte, starrte sie auf die aufgeschlagene Seite. Bei dem Treffen hatte Andreas ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er nichts von ihr wollte. Woher der plötzliche Sinneswandel? Wahrscheinlich wollte er damit seinen Bruder besänftigen, denn Theo hatte sich ja auch aufgeregt, als Andreas sich so schnell verabschiedet hatte.

Carrie sah auf, als sie hörte, wie in der Nähe ein Wagen anhielt. Kurz darauf schlenderte Andreas heran. Er sah umwerfend aus. Auch in einem weißen Leinenhemd und einer hellbeigefarbenen Hose machte er eine ausgezeichnete Figur und wirkte weltmännisch und stilvoll. Vielleicht lag es auch gar nicht an der Kleidung, sondern an seinem selbstsicheren Auftreten.

Jetzt wünschte Carrie sich, sie wäre schnell in ihr Apartment gelaufen, um sich umzuziehen. Nun war es zu spät, denn Andreas hatte sie bereits entdeckt.

„Ach, hier sind Sie.“ Quer über den Rasen kam er auf sie zu – verfolgt von interessierten Frauenblicken.

Sie tat, als wäre sie völlig in ihr Buch vertieft und blickte nur lässig auf, als er neben dem Liegestuhl stehen blieb. Warum sollte sie ihm zeigen, dass auch sie kaum den Blick von ihm abwenden konnte?

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie nur einen winzigen Bikini trug. Verlegen setzte sie sich auf und zog die Knie hoch, um sich vor Andreas’ Blick zu schützen. Das funktionierte jedoch nicht, denn er ließ ihn bewundernd über ihre langen Beine gleiten.

„Ich weiß gar nicht, was Sie hier wollen, Andreas“, sagte sie leise.

„Wieso nicht?“ Er lächelte so sexy, dass ihr Herz sofort schneller pochte. Dann zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Carrie. „Ich hatte Ihnen doch gerade telefonisch mitgeteilt, dass ich Sie abhole.“

„Und ich dachte, wir hätten die Angelegenheit gestern Abend geklärt. Theo und Jo meinen es sicher gut, aber wir sollten uns nicht verpflichtet fühlen, uns zu treffen, um ihnen eine Freude zu machen.“

„So sehen Sie das, Carrie?“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Ich kann Ihnen versichern, dass ich nie etwas gegen meinen Willen tue.“

„Immerhin sind Sie gestern Abend aufgetaucht“, gab sie zu bedenken.

„Ja. Ich war neugierig.“ Andreas lächelte. „Sie haben recht: Ich halte sehr viel von meinem Bruder. Aber ich würde mich niemals auf eine Verabredung einlassen, um ihm eine Freude zu machen. Das ist nun wirklich nicht mein Stil.“

„Mir geht es ähnlich mit Jo. Also lassen wir die Sache auf sich beruhen.“ Stolz hob sie das Kinn.

„Gut, das wäre geklärt. Dann können wir ja jetzt Freunde werden, oder?“

Bei seinem charmant-frechen Blick schmolz sie förmlich dahin. Kann eine Frau mit so einem unwiderstehlichen Mann nur befreundet sein?, fragte Carrie sich.

„Ich kann sowieso keine feste Beziehung gebrauchen“, fügte er hinzu. „Jedenfalls nicht jetzt.“

„Ich auch nicht“, behauptete sie. „Ich mache hier Urlaub, um mich von der anstrengenden Paukerei fürs Examen zu erholen. In neun Tagen trete ich dann meinen Job bei einer Londoner Bank an.“

„Dann können Sie vorher ja noch etwas Spaß vertragen.“

Die Frage, an welche Art von Spaß er dachte, kam ihr plötzlich zu gefährlich vor.

„Sie haben also einen freien Nachmittag und wissen nichts mit sich anzufangen“, schloss sie haarscharf.

Andreas lachte herzlich. „Vielleicht.“

„Na ja, dann werde ich mal sehen, ob ich Zeit für Sie habe. Ich bin nämlich wirklich ziemlich beschäftigt.“

Ihm gefiel das vergnügte Glitzern in ihren blauen Augen.

„Das sehe ich.“ Er warf einen Blick auf das Buch in ihrer Hand und nahm es ihr ab. Dann drehte er es um und gab es ihr zurück.

Sie hatte es die ganze Zeit verkehrt herum gehalten! Wie peinlich!

„Es war mir gerade aus der Hand gefallen.“

Er nickte verständnisvoll. „Muss ja sehr spannend sein.“

„Das ist es, aber vielleicht könnte ich es für einige Stunden aus der Hand legen. Allerdings bin ich nicht sicher, ob ich am Riff schnorcheln möchte. Wie ich gestern ja bereits erwähnt habe, bin ich keine gute Schwimmerin.“

„Okay, dann schlage ich vor, wir segeln dorthin, ich mache mir ein Bild von Ihren Schwimmkünsten, und dann sehen wir weiter. Einverstanden?“

„Klingt gut.“

„Prima. Und wenn Sie wirklich nicht ins Wasser wollen, können Sie ja aufs Boot aufpassen, während ich tauche.“

„Aha. Ich soll wohl nach Haien Ausschau halten.“

„Nein, mit sofortiger Wirkung ernenne ich Sie zur Managerin der Schiffsbar.“

„Das war schon immer mein Traumjob.“ Carrie lachte. „Geben Sie mir eine Minute, damit ich mich schnell umziehen kann.“

„Sie brauchen sich nicht umzuziehen.“ Sie trug einen sexy roten Bikini, der ihre Traumfigur perfekt zur Geltung brachte: hohe, wohlgeformte Brüste, Wespentaille und schmale Hüften. „Schlüpfen Sie in Shorts und T-Shirt, dann geht’s los.“ Er reichte ihr die Kleidungsstücke, die am Fußende des Liegestuhls lagen.

„Aber mein Geld ist im Zimmersafe.“

„Sie brauchen kein Geld, Carrie.“ Er sah zu, wie sie den Strohhut abnahm und das goldblonde Haar bis zur Taille fiel.

Wie unglaublich schön sie war! Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Als sie die Arme in die Luft streckte, um das T-Shirt anzuziehen, sah er, wie flach ihr Bauch war. Am liebsten hätte er sie berührt, die Hände über den seidigen Körper gleiten lassen. Jetzt stand sie auf, um in die Shorts zu steigen und warf ihm einen schüchternen Blick zu. Andreas hatte aber auch das lodernde Feuer bemerkt, das sich dahinter verbarg. Dieser Blick hatte ihn gestern schon fasziniert.

Es gab nur wenige Frauen, die so eine Wirkung auf ihn hatten. Im Laufe der Jahre hatte es ihm nicht an schönen Frauen gemangelt. Die meisten hatten es ihm leicht gemacht, sie in sein Bett zu bekommen. Er hatte aber auch nie einen Hehl daraus gemacht, dass er keinen Wert auf eine feste Beziehung legte. Offenbar machte ihn das erst recht interessant. Doch sowie aus einer Affäre etwas Ernstes zu werden drohte, zog er sich zurück. Nie wieder wollte er sich binden.

Derzeit gab es keine Frau in seinem Leben, denn er musste sich voll und ganz auf die schwierigen Übernahmeverhandlungen konzentrieren.

Bis heute Morgen war ihm das auch gelungen. Doch plötzlich musste er während einer Vorstandssitzung an Carrie denken.

Nach ihrem Treffen hatte er die ganze Nacht lang an sie gedacht. Und an den fast herausfordernden Blick ihrer klaren blauen Augen. Wie leicht sie errötete, wie verletzlich sie war. Sie war eine bezaubernde Mischung aus Unschuld und unterschwelliger Leidenschaft. Er musste sie einfach wiedersehen.

Eigentlich hätte er jetzt eine Besprechung mit seinen Steuerberatern gehabt, stattdessen würde er die nächsten Stunden mit Carrie verbringen. Aber schließlich verdiente jeder Mensch mal einen freien Nachmittag. Und morgen konnte er sich dann wieder ganz aufs Geschäft konzentrieren.

Andreas empfahl Carrie, das T-Shirt beim Schnorcheln anzubehalten, damit sie sich keinen Sonnenbrand holte. Er hingegen trug nur eine Badehose. Vom Bootsheck aus beobachtete sie, wie er einen eleganten Kopfsprung ins türkisblau schimmernde Wasser machte. Er könnte glatt als Olympiateilnehmer durchgehen, dachte sie bewundernd, als sie den Blick über den makellosen sonnengebräunten Körper gleiten ließ. Als er wieder auftauchte, rief er ihr zu: „Jetzt sind Sie dran!“

„Sehr witzig. So ein Kopfsprung gelingt mir nie im Leben.“

„Okay, dann lassen Sie sich von der Plattform aus ins Meer gleiten. Keine Sorge, ich fange Sie schon auf.“

Bei der Vorstellung, von seinen starken Armen gehalten zu werden, pochte sofort ihr Herz wieder schneller. Vielleicht hatte sie aber auch nur Angst vor den unendlichen Tiefen des Meeres.

„Worauf warten Sie? Es ist herrlich im Wasser!“

Sie atmete tief durch, kletterte die Leiter zur Plattform hinunter und ließ sich ins Wasser gleiten. Erschrocken schnappte sie nach Luft.

„Huch, ist das kalt!“

Andreas lachte und war mit wenigen Schwimmzügen bei ihr. „Das Wasser ist überhaupt nicht kalt. Aber du bist heiß.“ Er lächelte sexy. „In mehr als einer Hinsicht.“

Unglaublich, aber sein vielsagender Blick entfesselte selbst jetzt feuriges Verlangen in ihr. Hingerissen entdeckte sie goldene Punkte in seinen dunklen Augen, bemerkte, wie dicht die schwarzen Wimpern waren und wie sinnlich und kussbereit die schön geschwungenen Lippen.

Am liebsten hätte sie ihn berührt, doch sie widerstand dem Impuls und schwamm einige Züge. „Wo ist denn nun das Korallenriff?“

„Es liegt weiter draußen.“ Andreas nahm die Taucherbrillen von der Plattform und folgte ihr.

Diesen Nachmittag mit Andreas in den weiten Fluten des Meeres würde sie niemals vergessen. Die See war spiegelglatt und klar und recht warm, wenn man sich erst mal dran gewöhnt hatte. Andreas zeigte ihr, wie man die Schnorchelbrillen benutzte, und wich nicht von ihrer Seite, bis Carrie mutiger wurde. Bald hatte sie alles um sich her vergessen und nur noch Augen für die faszinierende Unterwasserwelt.

Das Riff bot einen spektakulären Anblick. Es glich einer riesigen Stadt aus sich im Wasser wiegenden Tentakeln und Blumenformen, die von Schwärmen bunter Fische bewegt wurden.

Sie genoss dieses wunderbare Schauspiel in vollen Zügen und war enttäuscht, als Andreas ihr schließlich ein Zeichen machte, zum Boot zurückzukehren.

„Das war fantastisch!“ Glücklich lächelte sie zu ihm hinauf, als er die Hand ausstreckte, um Carrie auf die Plattform zu ziehen.

„Dann hat es dir also gefallen?“

„Ja, sehr sogar. Ich bin froh, dass du mich überredet hast, mitzukommen.“

„Du scheinst dich da unten sehr wohlgefühlt zu haben. Mit deinem taillenlangen Haar sahst du aus wie eine Nixe.“

Carrie lachte. „Wenn das T-Shirt nicht schnell trocknet, sehe ich wohl eher wie ein gestrandeter Fisch aus, wenn ich nach Hause komme.“

„Ich leihe dir gern eins von meinen Hemden.“ Er geleitete sie an Deck. „Obwohl mir dein Look sehr gut gefällt.“

Sein lässiges Flirten lenkte sie so ab, dass sie ausrutschte.

Andreas fing sie sofort auf. Einen kurzen Moment lang lag sie an seiner breiten Brust.

Dann ließ er sie wieder los.

„Ich bin ausgerutscht. Tut mir leid.“ Sie rang sich ein Lächeln ab, um zu überspielen, wie sehr sie der Körperkontakt erregt hatte.

Beunruhigt wandte sie sich ab. „Wir sollten uns langsam auf den Rückweg machen.“

„Ja. Ich habe noch zu arbeiten.“ Andreas ließ seinen Blick über die schöne Meerjungfrau gleiten. Unter dem nassen T-Shirt zeichnete sich ihre sexy Figur ab. Am liebsten hätte er es ihr ausgezogen, den Bikini abgestreift und die verführerischen Kurven mit Lippen und Zunge erforscht.

Als er wieder aufsah und Carries Blick begegnete, brannte die Luft zwischen ihnen. Carrie wurde von schier unbändigem Verlangen überwältigt.

Was passierte hier mit ihr? Ein Blick, eine Berührung von Andreas entfesselte dieses heiße Begehren in ihr?

Panisch wollte sie sich abwenden, doch er hielt sie fest und zog sie an sich. Im nächsten Moment lag sie in seinen Armen, und er küsste wild und leidenschaftlich ihren Mund.

So fordernd war sie noch nie geküsst worden. Einen kurzen Augenblick lang war sie schockiert, doch dann überwog das Verlangen. Sehnsüchtig schmiegte sie sich an ihn. Es fühlte sich so gut an. Er schien sie ganz tief in ihrem Innern zu berühren …

Hingerissen erwiderte sie den Kuss, legte ihm die Arme um den Nacken, während Andreas die Hände unter ihr T-Shirt geschoben hatte und gerade begann, sie zu streicheln.

Das war so unglaublich erregend, dass sie sich nach mehr sehnte. Sie wollte die störenden Kleidungsstücke loswerden und Andreas nackten Körper an ihrem spüren. Die Sehnsucht nach ihm war überwältigend. So intensiv und groß, dass sie sich wünschte, er würde sie nie wieder loslassen.

„Danach habe ich mich gesehnt, seit ich dich vorhin wiedergesehen habe“, flüsterte er an ihrem Ohr, während er ihren Po streichelte und sie so eng an sich zog, dass sie seine harte Erregung an ihren Schenkeln spürte.

„Dabei wollten wir doch nur gute Freunde sein.“

„Ja, das auch. Ich will alles“, sagte er leise und strich ihr erregend über Po und Hüften. „Alles, was du zu geben bereit bist.“ Er ließ seine Hand über ihren Oberschenkel gleiten und streichelte sie durch den Stoff des Bikinihöschens an ihrer empfindsamsten Stelle.

Carrie stöhnte vor Lust, als er sie wieder küsste. Sie wollte auch alles von ihm. Am liebsten sofort, denn ein so überwältigendes Verlangen hatte sie noch nie zuvor empfunden.

Dabei kannte sie den Mann kaum. Sie sollte vorsichtig sein. Dies war ja nur ein Urlaubsflirt. Sollte ihr erstes Mal wirklich so „im Vorübergehen“ stattfinden? Ja, schrie ihr sehnsuchtsvoller Körper.

„Lass uns in die Kabine gehen“, schlug Andreas vor und streichelte sie weiter erregend.

Carrie antwortete nicht, legte nur den Kopf in den Nacken, als Andreas begann, ihren Hals zu küssen. Verlangend drängte sie sich an ihn, er schob ein Knie zwischen ihre Schenkel und hätte sie wohl im nächsten Moment genommen, wenn sie nicht plötzlich vor Schreck erstarrt wäre. Sofort löste Andreas sich von ihr.

„Was ist los?“, fragte er abwesend und streichelte ihre Taille, bevor er Carrie prüfend in die Augen sah. Da wusste er Bescheid. „Es ist dein erstes Mal, oder?“

Als sie nur scheu den Blick senkte, wurde ihm bewusst, dass er es die ganze Zeit geahnt hatte. Sie errötete leicht, sie wirkte verletzlich, und sie hatte zunächst gezögert, bevor sie seinen ersten Kuss erwiderte.

„Du bist noch Jungfrau.“ Leise fügte er etwas auf Griechisch hinzu, dann zog er ihr das T-Shirt über Brüste und Hüften, um ihre Blößen zu bedecken.

„Andreas?“ Fragend schaute sie ihn an. Ihr wurde plötzlich eiskalt, als er zurückwich.

„Das ändert alles, Carrie“, sagte er langsam. Offensichtlich versuchte er, seine Erregung in den Griff zu bekommen.

Carrie runzelte die Stirn. Sie wollte sich jetzt nicht mit ihm unterhalten. Er sollte sie wieder in die Arme nehmen. „Wieso?“

Er raufte sich das dunkle Haar. „Weil du jung und wunderschön bist und offensichtlich bewusst noch unberührt.“

„Ja, schon.“ Sie hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte.

„Das heißt, du bist nicht an einer Affäre interessiert. Aber etwas anderes kann ich dir nicht bieten.“

Als er bemerkte, wie sie errötete, fügte er mit sanfter Stimme hinzu: „Ich möchte dir nicht wehtun.“

„Nein, ich weiß. Du hast recht, es wäre ein Fehler gewesen.“ Ihr Verstand hatte sich wieder eingeschaltet, und sie war fassungslos darüber, was beinahe geschehen wäre. Ein flüchtiges Abenteuer! Das war nun wirklich nicht ihr Stil! Sie wollte auf die wahre Liebe warten. Sie wusste ja nur zu genau, wie verheerend es sein konnte, sich in den Falschen zu verlieben.

Ihr Stolz gewann die Oberhand. „Aber ich hätte es gar nicht so weit kommen lassen. Ich wollte nur ein wenig harmlosen Spaß haben.“

„Ach ja?“, fragte er amüsiert.

Ihr wurde heiß, als ihr einfiel, wie bereitwillig sie seine Liebkosungen erwidert hatte. „Ich weiß gar nicht, was ich mir dabei gedacht habe“, fügte sie zerknirscht hinzu.

„Im Gegensatz zu mir“, antwortete er rau und betrachtete sehnsüchtig ihren Mund. Dann kam er näher und strich Carrie eine vorwitzige Strähne aus der Stirn.

„Bitte nicht, Andreas.“ Sie wich zurück. „Lass uns dieses verrückte kleine Intermezzo vergessen, ja?“

Enttäuscht verzog er das Gesicht. Er wollte gar nichts vergessen! Aber guten Gewissens da weitermachen, wo sie gerade aufgehört hatten, konnte er nun schließlich auch nicht.

„Wollten wir nicht zurück an Land?“, fragte Carrie schnell, als sie seinen Blick auffing.

„Klar. Geht gleich los.“ Er wandte sich ab und lichtete den Anker.

Hände weg von Carrie, dachte Andreas. Und damit basta!

3. KAPITEL

Carrie graute vor der Rückfahrt zum Hotel. Bestimmt würden Andreas und sie kein Wort miteinander wechseln.

Doch sowie sie im Auto saßen, schaltete Andreas das Handy an und nahm über die Freisprechanlage ein Gespräch nach dem nächsten an, während er langsam die Küstenstraße entlangfuhr.

Carrie verstand kein Wort, war sich jedoch sicher, dass es sich um geschäftliche Angelegenheiten handelte.

„Entschuldige, Carrie. Das sind meine Steuerberater. Offensichtlich sind sie nicht in der Lage, Entscheidungen zu treffen, ohne mich vorher zu konsultieren“, sagte er ungehalten zwischen zwei Anrufen.

„Kein Problem.“ Sie schaute aus dem Fenster und konnte kaum erwarten, endlich wieder allein zu sein. Dann könnte sie sich einreden, sie hätte den ganzen Nachmittag in ihrem Buch gelesen.

Als Andreas das nächste Gespräch beendete, waren sie auch schon an der Apartmentanlage angekommen. Er hielt vor dem Eingangstor an.

„Ich hoffe, die Übernahme läuft zu deiner Zufriedenheit“, sagte Carrie und rang sich ein Lächeln ab. „Bis dann.“ Sie war stolz auf ihren lässigen Tonfall.

Gerade wollte sie aussteigen, als Andreas fragte: „Hast du nicht etwas vergessen?“

Erstaunt sah sie ihn an. „Was denn?“

„Beispielsweise mich auf einen Kaffee einzuladen.“

Sie war hin und her gerissen. Einerseits freute sie sich, dass er mit zu ihr kommen wollte, andererseits fragte sie sich, ob das so eine gute Idee wäre. Denn noch immer sehnte sie sich nach ihm …

„Das ist keine gute Idee.“

„Es wäre aber sehr höflich.“ Er lächelte. „Wir wollen nicht so auseinandergehen, Carrie. Ich bin vierunddreißig und ein Mann von Welt. Du bist zweiundzwanzig und Jungfrau. Ich respektiere das.“

Verlegen schaute sie in an.

„Außerdem hätte ich gern mein Hemd wieder.“ Amüsiert betrachtete er sie in dem viel zu großen Oberhemd. Selbst in diesem Outfit wirkte sie unglaublich sexy.

„Ich gebe es in die Reinigung und bringe es zu Theo. Dort kannst du es dann abholen.“

„Das ist viel zu umständlich. Du kannst es mir jetzt zurückgeben.“ Es machte ihm Spaß, sie zu necken. Entzückt bemerkte er ihre Verwirrung. Und in ihren wunderschönen Augen brannte ein wildes Feuer.

Carrie stieg aus. „Also gut, dann musst du eben mit hineinkommen.“

Gewonnen, dachte er erleichtert, griff nach dem Handy und folgte ihr.

Das Apartment war spärlich, doch geschmackvoll eingerichtet. Von einem Barhocker am Frühstückstresen konnte er ins Schlafzimmer sehen, wo sich zwei Einzelbetten befanden.

Carrie setzte gerade Wasser auf. Ihr Haar war inzwischen getrocknet und fiel ihr in großen Locken bis zur Taille. So jung, so unglaublich zerbrechlich – sie erinnerte ihn an ein Gemälde aus der Romantik.

„Entschuldige mich, Andreas, ich ziehe mich schnell um.“

„Okay.“ Er sah ihr nach, bis sie die Schlafzimmertür hinter sich schloss, und nahm sich vor, gleich nach dem Kaffee zu verschwinden. Was war eigentlich in ihn gefahren, eine Jungfrau zu verführen? Zur Ehe war er nicht geschaffen, und instinktiv spürte er, dass für Carrie nichts anderes infrage kommen würde.

Wenige Minuten später kehrte sie mit blauem T-Shirt und Jeans bekleidet und seinem Hemd über dem Arm zurück. „Vielen Dank fürs Leihen“, sagte sie höflich, als sie es vor ihm auf den Tisch legte.

„War mir ein Vergnügen!“ Lächelnd beobachtete er, wie sie den Kaffee zubereitete.

Auch in Jeans machte sie eine fantastische Figur. Ihr runder kleiner Po kam hervorragend zur Geltung.

Ärgerlich über sich selbst wandte Andreas den Blick ab. Er begehrte sie noch immer. Andere Frauen hatten auch eine fabelhafte Figur. Warum musste er sich ausgerechnet nach der unschuldigen Carrie sehnen? Ich muss wieder an die Arbeit, dachte er. Die würde ihn hoffentlich ablenken.

Und doch verharrte er in der kleinen Küche, denn Carrie faszinierte ihn einfach.

Sie stellte ihm gerade den Kaffeebecher hin, als erneut das Handy klingelte. Ungehalten nahm Andreas den Anruf entgegen.

„Jetzt weißt du, warum ich einen Ausflug zum Riff vorgeschlagen habe“, sagte er lächelnd, als er das Gespräch kurz darauf beendet hatte.

„Theo hat erzählt, dass du nur deine Arbeit im Kopf hast“, entgegnete sie und setzte sich ihm gegenüber. „Sie scheint dir Spaß zu machen.“

„Ja, sie ist sozusagen mein Lebensinhalt. Theo und ich sind in Athen in einem Armenviertel aufgewachsen. Und ich hatte mir geschworen, nicht eher zu ruhen, als bis wir da heraus waren.“

Carrie erwiderte seinen Blick. „Ich würde sagen, das hast du geschafft!“

Diese schlichte Bemerkung brachte ihn zum Lachen. „Ja, aber je mehr man sich geschäftlich engagiert, desto größer wird auch die Verantwortung.“ Er erwähnte nicht, wie viele Mitarbeiter er hatte, dass er Theo bei dessen Geschäftserweiterung unterstützte oder dass er seinem Vater auf Mykonos ein Haus gekauft hatte.

„Du meinst, es macht süchtig.“

„Nein, so weit würde ich nicht gehen, aber ich muss zugeben, dass ich die Herausforderung liebe.“

„Ja, das kann ich verstehen. Wenn man ungebunden ist und keine Kinder hat, kann man natürlich größere Risiken eingehen.“

„Da ist was dran.“ Carries analytischer Verstand erstaunte ihn.

„Mein Vater war ein gerissener Geschäftemacher. Allerdings hat er dabei niemals einen Gedanken daran verschwendet, dass er auch Verantwortung für andere trug.“ Sie verzog das Gesicht, als sie an ihre Kindheit dachte. „Ihm ging es immer nur ums nächste große Geschäft.“

„War er denn erfolgreich?“

„Zunächst ja, aber leider wusste er nicht, wann es Zeit war aufzuhören. Er war nie zufrieden und liebte das Risiko.“

„Er ist also in Konkurs gegangen?“

„Ja. Er hat zu viel riskiert und alles verloren.“ Nachdenklich erinnerte sie sich an diese Zeit. Ihr Vater war nicht nur finanziell ruiniert gewesen, er hatte auch die Gesundheit ihrer Mutter auf dem Gewissen. Die Ehe war schließlich zerbrochen. Damals war Carrie zehn Jahre alt gewesen, und noch immer quälte sie die traumatische Erfahrung und die Hilflosigkeit, die sie damals empfunden hatte.

Sie schob sich das Haar aus dem Gesicht und sah auf. „Sein Optimismus war unverwüstlich. Wahrscheinlich ist er gerade in diesem Moment auf der Jagd nach dem ganz großen Geschäft.“

Andreas musterte sie erstaunt. „Ich dachte, deine Eltern sind tot. Jo hat mir erzählt, dass ihr in einer Pflegefamilie aufgewachsen seid.“

„Ja, das stimmt. Jo ist Vollwaise. Meine Mutter ist tot, aber mein Vater lebt meines Wissens noch. Ich war zehn, als er mich dem Jugendamt übergeben hat. Offensichtlich betrachtete er mich als Handicap für seine Unternehmungen.“

Sie zuckte nur die Schultern, als sie Andreas’ schockierten Gesichtsausdruck bemerkte. „Manche Menschen eignen sich eben nicht als Eltern. Wahrscheinlich hat er mir sogar einen Gefallen getan, als er mich damals im Stich ließ.“

Andreas spürte ihre unterschwellige Traurigkeit und fragte vorsichtig: „Weißt du denn, wo er jetzt steckt?“

„Ich glaube, er hält sich in den USA auf. Vor einigen Jahren habe ich versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Damals lebte er in Chicago und war wieder verheiratet. Ich habe meine Adresse und meine Telefonnummer hinterlassen, aber er hat sich nie bei mir gemeldet.“

„Manche Männer verdienen es nicht, Familie zu haben“, sagte Andreas ungehalten.

„Wohl wahr. Aber ich habe es eigentlich ganz gut getroffen: Schließlich habe ich Jo kennengelernt. Wir waren vom ersten Augenblick an unzertrennlich. Sie ist die Schwester, die ich mir immer gewünscht habe.“

Andreas lächelte und stöhnte dann ärgerlich, als das Handy schon wieder klingelte.

Carrie trank ihren Kaffee aus und wunderte sich, dass sie Andreas von ihren Eltern erzählt hatte. Diese traurige Geschichte hatte sie bisher für sich behalten. Doch Andreas, den sie kaum kannte, hatte sie sich anvertraut. Seltsam.

Er beendete das Gespräch und sah auf. „Ich muss jetzt leider gehen.“

„Ja, natürlich.“ Es fiel ihr schwer, ihre Enttäuschung zu verbergen. Aber es war wohl besser, dass er sich verabschiedete, bevor die Leidenschaft sie erneut überwältigte. Carrie hatte keine Lust auf eine kurze Affäre.

Wenigstens hatten sie noch einen Kaffee zusammen getrunken und sich ganz freundschaftlich unterhalten. Es wäre also halb so schlimm, wieder aufeinanderzutreffen. Denn das würde unweigerlich geschehen, wenn Jo mit Theo zusammenbliebe. Und davon konnte man wohl ausgehen.

Carrie stand auf und begleitete Andreas zur Tür. „Vielen Dank für einen … interessanten Nachmittag.“

„Vielleicht können wir mal wieder etwas zusammen unternehmen.“

„Wer weiß?“ Sie bemühte sich um einen lässigen Tonfall. „Wenn du zufällig in der Nähe bist und ich nichts anderes zu tun habe, können wir zwischen deinen Telefongesprächen gern mal wieder einen Kaffee zusammen trinken.“

„Gern. Dann bis bald, Carrie.“

Und damit verschwand er, ohne sich noch einmal umzublicken.

So ein arroganter Kerl, dachte sie wütend, musste jedoch zugeben, dass sie ihn trotzdem unwiderstehlich fand.

4. KAPITEL

Carrie stieß die blauen Fensterläden auf und ließ die Sonne ins kühle Apartment.

Es war Sonntagmorgen, ihr letzter Urlaubstag und Zeit für den Heimflug. Die Glocke der Dorfkirche begann zu läuten. Der Klang hallte in den engen gepflasterten Straßen wider. Carrie lehnte sich aus dem Fenster und genoss die warme friedliche Atmosphäre.

Eigentlich hatte sie gestern Abend mit Andreas’ Besuch gerechnet, doch er hatte sich nicht bei ihr gemeldet. Dabei hatte sie sich schon auf den letzten gemeinsamen Abend gefreut. Nun war es nicht so, dass sie ihn seit dem Ausflug zum Korallenriff gar nicht mehr gesehen hatte. Zwei Tage später hatte er sie zum Abendessen eingeladen. Weitere Einladungen waren gefolgt. Sie hatte sie alle angenommen, denn sie fühlte sich stark zu ihm hingezogen und nutzte gern jede Gelegenheit, ihn näher kennenzulernen.

Jetzt war er ihrer offensichtlich überdrüssig geworden. Sollte sie darüber traurig oder wütend sein? Wenigstens telefonisch hätte er sich ja von ihr verabschieden können.

Aber was kann man schon erwarten?, fragte sie sich zornig. Für ihn war sie nur ein Urlaubsflirt, und er war ein viel beschäftigter Mann.

Carrie schob sich das Haar aus dem Gesicht und ließ die Ereignisse ihres Urlaubs Revue passieren. Es war einiges passiert. Der Höhepunkt war Jos und Theos Verlobung. Jo hatte beschlossen, in Griechenland zu bleiben.

Zu viert hatten sie vor zwei Tagen Verlobung gefeiert. Carrie freute sich für Jo, würde sie aber schrecklich vermissen.

Andreas hatte sie zuletzt auf der Feier gesehen.

Fast wünschte sie, ihm nie begegnet zu sein. Wieso hatte sie sich nur eingebildet, er könnte sich etwas aus ihr machen? Schließlich hatte er von vornherein keinen Zweifel daran gelassen, dass er nicht auf eine feste Beziehung aus war.

Wenigstens hatte sie nicht mit ihm geschlafen! Dabei sehnte sie sich mit ihrem ganzen Körper nach ihm. Und das wusste Andreas auch ganz genau. Als er sie nach den gemeinsamen Abenden nach Hause brachte und zum Abschied küsste, hätte sie ihn am liebsten gebeten, ihr Verlangen zu stillen.

Nach einem letzten Blick über die roten Dächer und das schimmernde Meer im Hintergrund wandte sie sich ab. Hätte er sie gestern besucht, wäre sie vielleicht übermütig geworden und hätte etwas getan, was sie bedauern würde.

Ich bin gerade noch mal mit einem blauen Auge davongekommen, dachte sie. Dann machte sie sich daran, ihren Koffer zu packen. Jo hatte versprochen, sie zur Fähre zu fahren. Bis dahin blieb Carrie noch eine Stunde.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, ohne ihre Freundin zurückzufliegen. Aber Jo hatte die richtige Entscheidung getroffen. Theo war ein netter zuverlässiger Mann, den man einfach gernhaben musste.

Andreas dagegen dachte gar nicht daran, sich zu binden. Er schien nichts von Liebe und einer festen Beziehung zu halten. Wie viele Herzen er wohl schon gebrochen hatte?

Für seinen Bruder und Jo hatte er sich allerdings sehr gefreut.

Irgendwie passte das alles nicht zusammen.

Aber das ist nicht mein Problem, dachte Carrie entschlossen. Für sie und Andreas war es sowieso der falsche Zeitpunkt, etwas miteinander anzufangen, denn er musste sich voll und ganz auf die Übernahmeverhandlungen konzentrieren, und auf sie wartete in London ein Traumjob.

Trotzdem hatte sie gestern Abend verzweifelt auf seinen Anruf gewartet.

In den vergangenen Tagen hatte sie ein Wechselbad der Gefühle erlebt. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Das war ihr noch nie passiert. Vielleicht lag es an der wunderschönen Umgebung und an den romantischen Abendessen mit Andreas. Vielleicht hatte sie sich auch von Jos und Theos romantischer Stimmung einfangen lassen.

Nachdenklich faltete Carrie T-Shirts und Shorts und packte sie in den Koffer.

Und dann dachte sie daran, wie Andreas sie geküsst hatte. Im tiefsten Innern wusste sie, dass ihre Gefühle nichts mit der Umgebung, Andreas’ Großzügigkeit oder Theos und Jos Liebe zueinander zu tun hatten, sondern nur mit Andreas selbst. Wenn er sie nur ansah, lief ihr ein wohliger Schauer über den Rücken. Ein Kuss von ihm genügte, schon wurde sie von heißen Wogen des Verlangens durchflutet.

Diese überwältigenden Gefühle waren völliges Neuland für sie.

Natürlich war ihr durchaus bewusst, dass sich hinter Andreas’ charmantem Äußeren ein Raubtiercharakter verbarg.

Normalerweise hätte sie sich niemals mit so einem Mann eingelassen, doch Andreas hatte sie schon auf den ersten Blick in seinen Bann geschlagen. Dieser Mann war einfach faszinierend und unwiderstehlich.

Er hatte sie nie bedrängt und behandelte sie stets mit Respekt, sodass sie sich dummerweise schon eingebildet hatte, sie würde ihm doch etwas bedeuten. Ha!

Wütend warf sie die letzten Kleidungsstücke achtlos in den Koffer. Je eher sie die Insel verließ und wieder in der Realität ankam, desto besser.

Es klopfte. Carrie sah auf die Uhr. Jo war viel zu früh dran. Die Erkenntnis, sich von ihrer besten Freundin verabschieden zu müssen, versetzte ihr einen schmerzlichen Stich.

„Ich habe dich erst in einer knappen Stunde erwartet …“ Carrie verstummte, nachdem sie die Tür geöffnet hatte und sah, wer vor ihr stand. Angenehm überrascht schaute sie Andreas an. „Ach, du bist es!“

Hastig versuchte sie sich zusammenzureißen. Das war schwierig, denn er war wirklich einfach unwiderstehlich. Diese dunklen Samtaugen, dieses sexy Lächeln …

Das blaue Hemd unter dem eleganten Anzug war am Kragen aufgeknöpft. Andreas schien direkt von einem Geschäftstermin gekommen zu sein. Und sie trug nur einen Morgenmantel!

„Dich hatte ich nicht erwartet!“ Mit bebenden Händen zog sie den Gürtel des blauen Morgenmantels fester. „Ich dachte, es wäre Jo.“

„Bist du nun enttäuscht?“, fragte er neckend.

Er ist wirklich sehr von sich überzeugt, dachte sie wütend. „Nein, nur überrascht.“ Sie bat ihn herein. „Als du dich gestern nicht gemeldet hast, dachte ich, du hättest wahrscheinlich vergessen, dass ich heute abreise.“

„Nein, das habe ich nicht vergessen. Ich konnte nur nicht eher weg aus Athen.“

Nicht mal der Versuch einer Entschuldigung! Dabei hatte er versprochen anzurufen.

Andreas bemerkte den gepackten Koffer auf dem Bett.

„Du hast Glück, mich hier noch anzutreffen. In einer Stunde bin ich weg“, sagte Carrie betont lässig.

Ihre Blicke trafen sich, und sofort lag eine deutliche Spannung in der Luft. Es knisterte förmlich. Wie von unsichtbarer Hand fühlte sie sich zu Andreas hingezogen.

Nur mit äußerster Selbstbeherrschung gelang es ihr, diesem starken Impuls zu widerstehen.

Sie hatte ihren Stolz, und Andreas war vermutlich nur gekommen, um ihr eine gute Heimreise zu wünschen. „Wie laufen die Verhandlungen?“, fragte sie, nur um etwas zu sagen und das überwältigende Verlangen nach Andreas zu überspielen.

„Das kann ich noch gar nicht genau sagen. Wir stehen ja erst am Anfang.“

„Theo hat erzählt, dass es jetzt wohl in die entscheidende Phase geht.“

„Tatsächlich?“ Andreas zuckte lässig die Schultern.

„Ich hoffe, dass die Übernahme zu deiner Zufriedenheit abgeschlossen wird“, sagte sie leise. „Aber du weißt ja, was ich von Hochrisikogeschäften halte.“

Er lächelte amüsiert. „Na ja, zum Glück bin ich ja nicht hier, um meine Verhandlungsstrategie mit dir zu diskutieren, Carrie.“

„Nein?“ Sie musterte ihn herausfordernd. „Und was führt dich dann her?“, fragte sie angriffslustig.

Zu ihrer Überraschung kam er näher und zog sie an sich. „Das“, sagte er und begann sie mit ungezügelter Leidenschaft zu küssen. Im ersten Moment versuchte sie, standhaft zu bleiben. Seine Arroganz ärgerte sie. Unerhört, sich einfach zwei Tage lang nicht zu melden! Doch dann gab sie nach, denn seine Küsse waren unwiderstehlich, und sie sehnte sich so sehr nach ihm.

Voller Verlangen erwiderte sie seine Küsse und schmiegte sich an ihn.

„Schon besser“, wisperte er zufrieden und schob eine Hand unter den Seidenmantel, die er zu Carries Brüsten gleiten ließ. „Dies ist unser unerledigtes Geschäft. Alles andere spielt keine Rolle.“

Eine Woge der Erregung durchflutete sie, als sie Andreas’ zärtliche Hände auf ihrem Körper spürte. Doch ganz konnte sie sich dem heißen Verlangen nicht hingeben. Alles andere spielte sehr wohl eine Rolle. Sosehr sie sich auch danach sehnte, eins mit Andreas zu werden, sie durfte die Realität nicht aus den Augen verlieren. Er hatte sie zwei Tage lang einfach ignoriert, und ihr Heimflug stand kurz bevor.

Das brachte sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie löste sich von Andreas und zog den Morgenmantel fester um ihren nackten Körper. „In einer knappen Stunde bin ich fort, Andreas.“

„Ja, ich weiß. Aber wie ich bereits sagte, zwischen uns gibt es noch etwas Unerledigtes.“ Nachdenklich blickte er sie an. Zwei Tage lang hatte er sich bewusst nicht bei ihr gemeldet und sich eingeredet, dass es nur zu ihrem Wohle wäre. Sie war so jung, hatte das ganze Leben noch vor sich, und wenn sie bei ihm bliebe und sich mit ihm einließe, würde sie über kurz oder lang eine feste Beziehung wollen. Und darauf konnte und wollte er sich nicht einlassen.

Er hatte sich einmal an eine Frau gebunden, und das war ein riesiger Fehler gewesen. Den wollte er kein zweites Mal begehen.

„Andreas, hörst du mir überhaupt zu? Ich reise in einer Stunde nach England ab.“ Mit großen Augen, in denen sich die widersprüchlichsten Empfindungen spiegelten, schaute sie ihn an.

Und plötzlich wusste er, dass er sie nicht gehen lassen konnte, so egoistisch dies auch war. „Warum stornierst du den Flug nicht und bleibst hier?“

Sprachlos sah sie ihn an. Seine Worte stürzten sie in ein großes Gefühlschaos. Natürlich hatte sie sich gewünscht, dass er ihr diese Frage stellte. Aber was genau würde es bedeuten, wenn sie bliebe? Andreas hatte betont, er wollte sich nicht binden und die Geschäfte hätten absoluten Vorrang. Dann soll ich wohl die zweite Geige spielen, dachte Carrie. „Wieso sollte ich das tun?“, fragte sie schließlich. „Was erwartest du von mir?“

„Das liegt doch klar auf der Hand. Ich begehre dich, Carrie“, sagte er fast kühl, doch sein feuriger Blick sprach eine andere Sprache. „Ich möchte mit dir schlafen, dir alles über die körperliche Liebe beibringen – jeden Morgen, Mittag, Abend. Beantwortet das deine Frage?“

Dieser verlangende Blick … Natürlich empfand sie das gleiche Verlangen für ihn. Aber sie sehnte sich auch nach Liebe. Und davon hatte er kein Wort gesagt. Und dafür sollte sie ihren Traumjob in London sausen lassen?

Carrie atmete tief durch. „Es tut mir sehr leid, Andreas, aber ich sollte wirklich lieber nach London zurückfliegen.“ Natürlich fiel es ihr schwer, ihn zurückzuweisen, aber es kam nicht infrage, dass sie alles für einen Mann aufgab, für den sie erst an zweiter Stelle kam und der riskante Geschäfte tätigte. Unter so einem Mann hatte sie während ihrer Kindheit gelitten. Das war ihr für alle Zeit eine Lehre.

Sie bemerkte seinen überraschten Gesichtsausdruck. Offensichtlich hatte Andreas erwartet, sie wäre Feuer und Flamme für sein Angebot. Diese Arroganz war wirklich nicht zu übertreffen.

„Ich bin nicht so risikofreudig wie du“, erklärte sie. „In London wartet ein Traumjob auf mich, den ich mir hart erkämpft habe. Ich werde die Stelle auf alle Fälle antreten, auch wenn ich es mir nach einiger Zeit vielleicht anders überlegen sollte. Für uns beide ist es wahrscheinlich besser, wenn wir etwas Abstand voneinander haben. Dann können wir ungestört darüber nachdenken, was wir wirklich wollen.“ Sie zog den Gürtel fester. „Momentan bist du sowieso viel zu beschäftigt mit der Übernahme. Wer weiß, wie wir in, sagen wir, sechs Monaten zueinander stehen.“

„Das hast du dir wohl so gedacht, Carrie.“ Wütend funkelte er sie an. „Du willst dir ja nur alle Optionen offenhalten.“

„So habe ich das nicht gemeint.“ Jetzt wurde auch sie zornig. „Dass ausgerechnet du mir das vorwirfst, Andreas! Du konzentrierst dich voll und ganz aufs Geschäft, du hast selbst gesagt, dass du keine feste Beziehung willst. Du willst nur mit mir schlafen, weil …“ Sie verstummte verlegen.

„Weil du noch Jungfrau bist. Genau. Natürlich weiß ich das sehr zu schätzen, und du hast meinen Respekt.“ Er umfasste ihr Kinn und schaute ihr tief in die Augen.

Schweigend blickten sie einander an.

„Aber das weißt du nur zu gut, Carrie. Und diese Tatsache hast du zu deinem Vorteil genutzt.“

„Was soll das denn heißen?“

„Das will ich dir sagen: Wenn du darauf wartest, dass ich dir einen Heiratsantrag mache, dann muss ich dich enttäuschen. Zur Ehe bin ich nicht geschaffen.“

Außer sich vor Wut riss sie sich von ihm los. „Was bildest du dir eigentlich ein, wer du bist? Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, ich hätte deinen Antrag angenommen?“ Sie lachte abfällig. „Für wie naiv hältst du mich denn?“

„Okay, wir sind uns also einig: Geheiratet wird nicht.“ Begehrlich ließ er den Blick über sie gleiten. Vor Erregung hoben und senkten sich ihre Brüste. Carrie befeuchtete sich die Lippen, als sie seinen Blick bemerkte. „Und ich halte dich nicht für naiv, sondern für eine sehr intelligente Frau, die mich begehrt“, fügte er rau hinzu.

Natürlich bin ich verrückt nach ihm, dachte sie. Am liebsten hätte sie alle Bedenken über Bord geworfen und wäre bei ihm geblieben. Auf eine Ehe war sie nicht aus, aber Andreas musste ihr schon etwas mehr bieten als nur Spaß im Bett. Wenn ich bleibe, dann ende ich hier als Frau, die ausgehalten wird, dachte sie.

Sie wäre völlig von Andreas abhängig, denn wer würde ihr hier einen Job geben? Schließlich besaß sie nicht einmal Griechischkenntnisse.

Und wenn er ihrer überdrüssig war, servierte er sie wahrscheinlich eiskalt lächelnd ab. Was dann? Sie müsste noch einmal ganz von vorn anfangen, denn den Traumjob wäre sie ja los.

Carrie atmete tief durch.

„Es ist einfach der falsche Zeitpunkt für uns, Andreas. Das muss dir doch auch klar sein.“

Die Tatsache, dass sie ihn so sehnsüchtig anschauen und gleichzeitig eiskalt zurückweisen konnte, machte ihn wütend.

Es war ein Fehler gewesen, hier aufzukreuzen. Was für eine verrückte Idee, Carrie zu bitten, bei ihm zu bleiben. Das konnte ja nicht gut gehen. Verflixt, er hätte sich schon vor Tagen von ihr trennen sollen. Er musste sie vergessen.

„Und wann ist der richtige Zeitpunkt, Carrie?“, fragte er wütend. „Wenn ich die Übernahme erfolgreich abgeschlossen habe? Sparst du dir deine Jungfräulichkeit für den Meistbietenden auf?“

„Pass auf, was du sagst, Andreas!“

Ohne Reue betrachtete er ihre vor Zorn blitzenden Augen. Er musste ihr wehtun, damit sie ihn auch vergessen konnte.

„Keine Sorge, Carrie, wir hatten unseren Spaß. Du hast recht, deine Unschuld hat mich fasziniert. Ich gebe zu, dass ich dich begehrt habe. Und ich weiß, dass du mich begehrt hast, auch wenn du jetzt etwas anderes behauptest.“

Carrie zuckte zurück, als hätte er sie geschlagen. „Endlich zeigst du dein wahres Gesicht, Andreas! Du hast doch nicht allen Ernstes geglaubt, ich würde mich an jemanden wie dich verschwenden, oder?“ Sie bebte förmlich vor Zorn.

Andreas lächelte. „Mach dir nichts vor, Carrie. Wenn ich gewollt hätte, wärst du nur zu willig in mein Bett gekommen.“

Im nächsten Moment war er verschwunden und ließ eine wutentbrannte Carrie zurück.

5. KAPITEL

Zwei Jahre später

Carrie stand an der Reling der Schnellfähre, die über das blaue Meer hüpfte. Von Weitem konnte sie die kleine griechische Insel Pyrena erkennen, die im Sonnenlicht vor ihr auftauchte. Schmerzliche Erinnerungen wurden in ihr wach.

Vor zwei Jahren hatte sie hier mit Jo einen wunderschönen Sommerurlaub verbracht. Sie erinnerte sich noch lebhaft an jedes Detail, so als wäre seitdem kein Tag vergangen.

Es war schwer vorstellbar, dass Jo nicht am Anleger auf sie wartete.

Obwohl sie sich während der letzten beiden Jahre nur selten gesehen hatten, war das starke Band der Freundschaft zwischen ihnen nie zerrissen. Sie hatten oft miteinander telefoniert und E-Mails geschickt.

Dreimal hatte Carrie sie auf der Insel besucht, und jedes Mal hatte Jo am Pier auf sie gewartet.

Und nun war sie tot. Carrie konnte es kaum ertragen.

Pyrena war deutlich zu sehen. Carrie betrachtete die vertrauten violetten Berge, die geschützten Buchten mit feinen Sandstränden und wurde unweigerlich an Andreas erinnert und die Zeit, die sie miteinander verbracht hatten.

Schnell schob Carrie jeden Gedanken an ihn von sich. Sie wollte nicht an ihn denken, weil sie das immer sehr aufwühlte. Fragte sich nur, wieso, schließlich hatte sie nur ein kleiner Urlaubsflirt verbunden, wohingegen Jo und Theo einander wirklich geliebt hatten.

Zuletzt hatte Carrie der Insel vor sechs Monaten einen Besuch abgestattet, als Jo ihre Tochter Lilly zur Welt gebracht hatte. Das junge Paar war völlig aus dem Häuschen gewesen vor Glück und verliebter ineinander denn je zuvor.

Vor drei Wochen war Lilly getauft worden.

Leider hatte Carrie diese Zeremonie mit anschließender Feier versäumt, weil sie an einem ausgesprochen wichtigen Projekt arbeitete und ihr Boss sich geweigert hatte, ihr Urlaub zu geben. Stattdessen hatte er sie nach Hongkong geschickt, um die Angelegenheit für ihn zu regeln.

Trotzdem war sie Lillys Patentante, darauf hatte Jo bestanden.

„Ich könnte mir niemand anderen als dich vorstellen, der mit auf meinen kleinen Schatz achtgibt“, hatte sie Carrie bei ihrem letzten Gespräch versichert. „Wir sind zwar nicht blutsverwandt, aber du bist ein Teil meiner Familie, und es ist mir sehr wichtig, dass du die Patenschaft übernimmst.“

Natürlich war es Carrie eine Ehre gewesen, diese schöne Aufgabe zu übernehmen.

Immer wieder musste sie nun an Jos Worte denken. Bei ihrer Rückkehr von Hongkong nach London hatte sie einen Brief vorgefunden, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass Jo und Theo bei einem Autounfall ums Leben gekommen seien. Beide waren noch an der Unfallstelle gestorben. Der Brief war nur vier Tage nach der Taufe aufgegeben worden.

Mit tränenverschleiertem Blick betrachtete sie die Insel. Energisch trocknete sie die Tränen. Seit sie die Nachricht von Jos Anwalt erhalten hatte, weinte sie sich die Augen aus dem Kopf. Natürlich half das auch nichts. Sie musste sich jetzt zusammenreißen – Lilly zuliebe.

Außer Andreas hatten Jo und Theo keine Verwandten. Momentan befand Lilly sich in seiner Obhut. Das bereitete Carrie Sorgen, denn sie wusste ja nur zu gut, dass Andreas kein Familienmensch war. Ein sechs Monate altes Baby passte nicht in sein Junggesellenleben.

Außerdem war er beruflich offenbar noch immer so eingespannt wie eh und je. Bei jedem ihrer Besuche auf der Insel hatte er durch Abwesenheit geglänzt, weil er irgendwo wichtige Verhandlungen führte.

Was sollte also aus der kleinen Lilly werden – verwaist und allein?

Tag und Nacht zerbrach Carrie sich darüber den Kopf. In ihrer Verzweiflung hatte sie sich von dem Anwalt sogar Andreas’ Telefonnummer geben lassen. Sie wollte ihn fragen, ob er eine Lösung wisse.

Es war der erste Kontakt seit zwei Jahren gewesen. Das Gespräch war sehr gezwungen abgelaufen. Andreas’ lässige Art machte sie noch immer wütend.

Zunächst hatten sie sich kurz über Lilly und ihre Eltern unterhalten. Als Andreas den Namen seines Bruders erwähnte, versagte ihm fast die Stimme, und Carrie kamen die Tränen. Doch als sie ihm ihr Mitgefühl aussprechen wollte, fuhr er ihr einfach über den Mund. Abweisend teilte er ihr mit, dass es keinen Sinn hätte, nach Pyrena zu kommen, und Lilly ginge sie sowieso nichts an.

Die Fähre verlangsamte das Tempo, als sie in den Hafen einfuhr. Die erfrischende Seebrise wurde von bleierner Hitze abgelöst.

Wenn Andreas denkt, er könne mich überreden, Pyrena fernzubleiben, dann hat er sich geschnitten, dachte sie wütend. Lilly war ihr sehr wichtig, und sie wollte sich persönlich davon überzeugen, dass es der Kleinen gut ging.

Sie hatte zwar keine Ahnung, was das mit sich bringen würde, aber sie würde ihr Bestes geben. Allerdings war sie keine Blutsverwandte und hatte somit keine Rechte, im Gegensatz zu Andreas, der als Lillys Onkel wahrscheinlich zum Vormund berufen wurde. Dabei war Carrie sicher, dass Jo viel lieber sie mit dieser Aufgabe betraut hätte. Deshalb war sie jetzt hier.

Sie hatte in der Nähe von Andreas’ Wohnung ein Zimmer in einer Taverne gebucht. Sie wollte sich einen Überblick über die Lage verschaffen und dann entscheiden, wie sie vorgehen sollte.

Der Motorenlärm beim Anlegen der Fähre war ohrenbetäubend. Männer am Pier fingen die Taue auf und machten das Boot an der Kaimauer fest.

Dann wurde die Heckklappe hinuntergelassen, und die Autos fuhren an Land. Carrie griff nach ihrem Koffer und folgte dem Strom der nicht motorisierten Passagiere über die Gangway.

Tiefe Traurigkeit ergriff sie, als sie den ersten Schritt auf die Insel setzte. Es war wie eine Reise in die Vergangenheit. Jedes Mal hatte Jo Carries Ankunft ungeduldig erwartet und ihr aufgeregt zugewinkt, wenn sie von Bord ging. Schnell verdrängte Carrie diesen Gedanken. Das tat einfach zu weh.

Stattdessen konzentrierte sie sich auf Dinge, die sich nicht verändert hatten. Die Fischerboote lagen noch immer vertäut an der Kaimauer. Die alten Fischer saßen daneben und flickten ihre Netze. Auf der anderen Straßenseite befanden sich einige weiß getünchte Häuser gegenüber dem Anleger. Die Felder, die in der nahezu unerträglichen Hitze fast verdorrt waren, zogen sich kreuz und quer über die Insel, bis hinauf zu den Bergen.

Suchend sah Carrie sich nach einem Taxi um, konnte jedoch weit und breit keins entdecken.

Mit den hochhackigen Schuhen war es kein Vergnügen, auf dem unregelmäßigen Kopfsteinpflaster zu Fuß zu gehen. Da sie heute Morgen direkt von einem Geschäftstermin zum Flughafen gefahren war, hatte sie keine Zeit mehr gehabt, sich umzuziehen. Außerdem war sie am Abend zuvor erst sehr spät aus Edinburgh zurückgekehrt und hatte vor lauter Erschöpfung nur ziemlich wahllos einige Kleidungsstücke in den Koffer geworfen.

Am anderen Ende des Piers stand ein Bus. Also fragte sie den Fahrer: „Fahren Sie nach Phiorioous?“

Leider konnte er kein Englisch und sah sie nur verständnislos an. Auch eine alte Frau, die hinter ihm saß und einen Korb gackernder Hühner auf dem Schoß hatte, konnte ihr nicht helfen.

Carrie stellte den Koffer ab und blickte um sich. In Windeseile waren die anderen Passagiere der Fähre verschwunden, und das Boot legte bereits wieder ab.

Ein Taxi war noch immer nicht in Sicht. Daher versuchte Carrie noch einmal, dem Busfahrer zu entlocken, wohin er fuhr.

Mit Händen und Füßen versuchte sie sich verständlich zu machen, als Andreas sie entdeckte.

Einen Augenblick lang beobachtete er sie, ohne näher zu kommen. Unglaublich, wie sie sich seit ihrer letzten Begegnung verändert hatte.

Die Carrie, die er vor zwei Jahren kennengelernt hatte, lief in Shorts und T-Shirt herum. Sie hatte eine natürliche Ausstrahlung und wirkte unerhört sexy mit ihren langen Beinen und dem taillenlangen Haar. Die Carrie von heute wirkte so elegant und kultiviert, dass er sie auf den ersten Blick nicht erkannt hatte. Doch die Dame, die mit dem Busfahrer verhandelte, war so attraktiv, dass er ein zweites Mal hingeschaut hatte.

Das blonde Haar war nur noch schulterlang. Statt Shorts und T-Shirt trug sie einen engen Leinenrock und eine weiße Bluse. Die Schuhe mit mörderisch hohen Absätzen betonten ihre langen Beine.

„Fahren Sie nach Phiorioous?“, fragte sie ganz langsam. Doch der Fahrer blickte sie nur verständnislos an.

„Ich glaube nicht, dass das auf seiner Strecke liegt“, sagte Andreas lässig. „Außerdem musst du nach Persephone.“

Ganz langsam wandte sie sich um.

Es war so überraschend, ihm wieder in die ausdrucksvollen dunklen Augen zu blicken, dass Carrie im ersten Moment wie gelähmt war.

Sie fragte sich, was sie so erschütterte – ihn nach zwei Jahren wiederzusehen oder die Tatsache, dass es ihm noch immer gelang, sie aus der Fassung zu bringen.

Als sie sich von dem ersten Schock erholt hatte, stellte sie fest, dass Andreas sich überhaupt nicht verändert hatte. Er sah noch immer fantastisch aus.

Ihr Körper reagierte sofort auf ihn, ihr wurde schwindlig vor Verlangen. Andreas war noch immer der bestaussehende Mann, der ihr je begegnet war.

Sein leichter Sommeranzug saß perfekt und betonte die breiten Schultern. An seinem pechschwarzen Haar und den sexy dunklen Augen hatte sich nichts geändert. Bei näherer Betrachtung entdeckte sie allerdings feine Linien in seinem Gesicht. Theos Tod musste ihn sehr erschüttert haben.

„Hallo, Andreas“, sagte sie schließlich, als sie sich wieder gefangen hatte. „Was machst du denn hier?“

„Ich hole dich ab“, antwortete er in dem neckenden Tonfall, der ihr so schmerzlich vertraut war.

„Wirklich?“ Das hatte sie nach der Abfuhr am Telefon nicht erwartet. Aber vielleicht war auch Andreas inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass Lillys Wohlergehen wichtiger war als alles andere. Carrie lächelte verhalten. „Das ist sehr nett von dir. Damit habe ich gar nicht gerechnet.“

Wie gut er dieses Lächeln kannte! Es ärgerte ihn, dass er noch immer etwas für sie empfand. „Warum hast du mir dann nachdrücklich erzählt, wann dein Flieger in Athen landet?“, fragte er unwirsch. „Da ich wusste, dass du mit dieser Fähre eintreffen würdest, habe ich mich wider besseres Wissen entschlossen, den Kavalier zu spielen.“

„Ich habe gar nichts nachdrücklich gesagt. Das musst du missverstanden haben.“ Sie hatte ihn in dem angespannten Telefongespräch lediglich vermitteln wollen, dass sie tatsächlich kommen würde. „Sag mal, was soll das eigentlich heißen: wider besseres Wissen?“ Herausfordernd musterte sie ihn.

Andreas lächelte amüsiert. „Das kann ich dir genau sagen: Sowie wir aufeinandertreffen, sprühen die Funken.“

Carrie wurde es heiß. Meinte er die erotische Anziehungskraft zwischen ihnen, die sie beide so verzweifelt zu unterdrücken versucht hatten, oder die Auseinandersetzung bei ihrer letzten Begegnung vor zwei Jahren?

Eigentlich wollte sie das gar nicht so genau wissen. Es war viel zu beunruhigend. „Keine Sorge, Andreas, was uns mal verbunden hat, ist längst vergessen“, behauptete sie mit rauer Stimme.

Autor

Catherine Spencer
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