Romana Exklusiv Band 311

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Ally Blake
Küsse am Great Barrier Riff

Am atemberaubend schönen Great Barrier Riff in Australien trifft Karrierefrau Siena auf James Dillon. Seine warmherzige Ausstrahlung nimmt sie sofort gefangen. Am weißen Strand erwidert sie seine zärtlichen Küsse - und muss sich bald entscheiden: für die Karriere oder für James?

Elisabeth Scott
Liebesstern über Südafrika

Joanna will in Südafrika ganz neu anfangen. Dort trifft sie auf ehemaligen Kollegen, den umschwärmten Arzt Jake O'Connor, und fühlt sich sofort zu ihm hingezogen. Doch kaum beginnt sie, ihm zu vertrauen, tauchen Gerüchte auf: Er soll ein Verhältnis mit der Frau seines Cousins haben …

Jessica Hart
Im Sturmwind der Highlands

Mallory muss ihrem neuen Ehemann Torr McIver auf seine Burg nach Schottland folgen. Wider Erwarten lernt sie den ernsten Unternehmer dort von einer ganz anderen Seite kennen: humorvoll, männlich, faszinierend! Verliebe ich mich etwa gerade in meinen eigenen Mann, fragt sich Mallory erstaunt.


  • Erscheinungstag 28.06.2019
  • Bandnummer 311
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744946
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Ally Blake, Elisabeth Scott, Jessica Hart

ROMANA EXKLUSIV BAND 311

1. KAPITEL

Siena Capuletti war auf dem Weg nach Hause.

Während sich manch andere Person an ihrer Stelle darauf gefreut hätte, zu ihren Wurzeln zurückzukehren und vertraute Gesichter zu sehen, brach Siena bei dieser Vorstellung der kalte Schweiß aus.

Nun, das klamme Gefühl hätte auch von der Tatsache herrühren können, dass sie gerade von dem ungezogenen Kind, das neben ihr im Flugzeug saß, mit einer Dose Cola begossen worden war.

Jedenfalls war ihr klamm zumute. Unbehaglich. Heiß und kalt zugleich. Und diese Empfindung beruhte eindeutig auf dem Gedanken an die Heimkehr.

Die klebrige braune Flüssigkeit breitete sich allmählich immer weiter auf ihrem cremefarbenen Tweedkostüm von Dolce & Gabbana aus – dem einzigen eleganten Outfit, das sie für den Kurztrip in ihre provinzielle Heimatstadt mitgenommen hatte.

„Na, prima“, murrte Siena vor sich hin. Während sie sich den klebrigen Stoff von der Haut zupfte, blickte sie den Gang auf und ab. Wo mochte die Stewardess stecken, nach der sie schon vor einer Weile geklingelt hatte?

Wahrscheinlich war es ihr einfach nicht bestimmt, untätig und sitzend nach Cairns zu fliegen. Vielleicht hätte sie wie üblich als Chefstewardess in ihrer Uniform, die aus einem eng anliegenden himmelblauen Kostüm mit Käppchen und cremefarbenen Highheels bestand, die Passagiere bedienen sollen.

Doch Maximillian Sned, der exzentrische siebzigjährige Gründer und Besitzer der internationalen Fluggesellschaft MaxAir, die im Moment als eine der aufstrebenden Airlines galt, hatte sie zu einer Unterredung in sein palastartiges Haus nördlich von Cairns zitiert, um mit ihr über einen „fabelhaften Karrieresprung“ zu reden. Ihr war kaum eine andere Wahl geblieben, als der Aufforderung nachzukommen, auch wenn sein Angebot Gerüchten zufolge an einen permanenten Standortwechsel nach Cairns gebunden war.

Ein harter Tritt gegen das linke Schienbein brachte Siena zurück in die höchst unangenehme Gegenwart. Sie bemühte sich, den Cola vergießenden kickboxenden Knirps zu ihrer Linken zu ignorieren, und rief sich die Anweisungen aus dem Medita­tionskurs in Erinnerung, an dem sie einmal teilgenommen hatte: Augen schließen, tief durchatmen und an eine angenehme Umgebung denken. Eine Strandhütte auf Hawaii? Ein Skiressort in der Schweiz? Das Schuhgeschäft in der Madison Avenue, das sie nie betreten konnte, ohne einen Wochenlohn dort zu lassen?

Doch leider gelang es ihr nicht, sich auf irgendeinen anderen Ort zu konzentrieren, denn neben ihr im Gang verkündete eine weibliche Stimme: „Es tut mir ja so leid, dass es so lange gedauert hat!“

Siena öffnete die Augen und erblickte eine perfekt gestylte Stewardess mit der Aufschrift „Jessica“ auf dem Namensschild.

„In der hintersten Reihe sitzt ein fantastischer Typ, der mit Getränkedosen jonglieren kann“, erklärte Jessica atemlos. „Er hat es mir gezeigt, und ich habe es fast geschafft.“ Mit einem charmanten Lächeln reichte sie Siena eine himmelblaue Packung mit feuchten Tüchern und dem frechen Knirps eine neue Dose Cola.

Sienas Hoffnung, sich mental an einen angenehmen Ort versetzen zu können, schwand endgültig dahin.

Nach sieben Jahren als Flugbegleiterin vermochte sie die Passagiere auf den ersten Blick einzuschätzen. Sie wusste auf Anhieb, wer heimlich auf der Toilette zu rauchen versuchte, wer an Flugangst litt und gleich nach dem Start einen Drink brauchte und wer alle vorbeigehenden Frauen in den Po zu kneifen versuchte und daher schleunigst auf einen Fensterplatz verbannt werden musste.

Wie hatte Jessica diesem aufgekratzten Bengel eine neue Cola geben können! Buntstifte und ein Glas heiße Milch wären da angebracht gewesen. Sie war zwar durchaus nett und hübsch anzusehen, aber trotzdem ein hoffnungsloser Fall als Stewardess.

Siena fragte sich flüchtig, ob sie Maximillian davon unterrichten sollte. Lieber nicht, entschied sie. Denn sie pflegte sich nicht einzumischen. Das hatte sie sich wegen ihres zwölf Jahre älteren Bruders abgewöhnt, der sie ihr Leben lang mit ungebetenen Ratschlägen genervt hatte.

„Guck mal, Freddy“, gurrte Jessica, „diesmal haben wir für dich einen coolen Knickstrohhalm. Damit kannst du deine Cola trinken, ohne dass auch nur ein Tropfen daneben geht.“ Sie wand sich erneut an Siena. „Das kleine Missgeschick tut mir sehr leid.“

Missgeschick? Das war alles andere!

„Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Sind wir uns schon mal begegnet?“

Siena war an ihren Bekanntheitswert gewöhnt. Seit einem Jahr lächelte ihr ebenmäßiges Gesicht mit dem klaren Teint von Plakatwänden im ganzen Land und warb für den vorzüglichen Service auf den Flügen von MaxAir. Das Shooting hatte lediglich eine Stunde in einem Fotostudio in der Nähe ihres Apartments in Melbourne erfordert, doch nun musste sie befürchten, dass er ihr ganzes Leben verändern würde.

Beabsichtigte Max tatsächlich, sie auf Vollzeitbasis zur Werbe-Ikone von MaxAir zu machen und dafür ihren permanenten Umzug nach Cairns zu fordern? Würde sie allem Vertrauten, ihrer Umgebung, ihren Freunden den Rücken kehren müssen?

„Vielleicht auf einer Betriebsfeier“, antwortete Siena auf Jessicas Frage. „Ich arbeite auch bei MaxAir. Auf den internationalen Strecken.“

„Oh! Ja, das muss es sein. Sind Sie auf Jahresurlaub, oder ist es nur ein Wochenendtrip?“

Wenn ich die Besprechung mit Maximillian erwähne, dachte Siena, spricht es sich noch vor der Landung im gesamten Betrieb herum. „Mein Bruder lebt mit seiner Familie in Cairns. Sie haben gerade ein Baby bekommen.“

„Wie schön“, bemerkte die Stewardess, doch sie war gar nicht mehr richtig bei der Sache. Vielmehr galt ihre Aufmerksamkeit wieder dem Jongleur in der letzten Reihe. Sie entschuldigte sich hastig und wankte mit hüpfendem Pferdeschwanz den schmalen Gang entlang, wobei sie sich an den Kopflehnen der Passagiere festhalten musste, um das Gleichgewicht halten zu können.

Siena blickte ihr nach und hoffte für die Airline, dass Jessica noch neu in der Branche war. Sie selbst hatte schon vor langer Zeit die Fähigkeit perfektioniert, selbst bei mäßigen Turbulenzen total freihändig auf den Highheels zu balancieren. Sie war ein Profi. Zum Fliegen geboren. Weit hinaus in die Ferne …

Sie hoffte inständig, dass Max einsah, dass sie mehr für die Fluggesellschaft sein konnte als nur ein lächelndes Gesicht auf einer Plakatwand. Sie wünschte sich sehnlichst, er würde ihr den Job in Rom anbieten.

Mit einem tiefen Seufzen schloss sie die Augen. Die Ewige Stadt war der ideale Ausgangspunkt, was die internationalen Routen von MaxAir anging, und bedeutete für Siena die Krönung. Eine Versetzung dorthin wäre ein wahrer Karrieresprung.

Als sich der Klang der Motoren änderte, wurde Siena schlagartig bewusst, dass der Sinkflug begann. Sie blickte aus dem kleinen Fenster, vorbei an weißen Wolkenfetzen, hinab auf hügeliges grünes Land, das zu weißen Sandstränden und tiefblauem Meer abfiel. Cairns. Ein tropisches Paradies. Ihr Zuhause.

Gönn dir ein paar Minuten Zeit für Atemübungen und glückliche Gedanken …

Siena löste die verkrampften Hände von den Armlehnen, machte einige Lockerungsübungen für die Finger und begab sich im Geiste auf einen sehr erfreulichen Einkaufsbummel in Hongkong.

Als die Anschnallzeichen aufleuchteten, schob sie ihre rote Designerhandtasche unter den Sitz. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Freddy hilflos auf die beiden Enden des Sicherheitsgurts in seinen Händen starrte, während er die Coladose zwischen die Knie geklemmt hielt. Er hatte einen Cola-Schnurrbart und Schweißperlen auf der Stirn. Aber die freundliche Flugbegleiterin war nirgendwo zu sehen.

Warum nur war dieser Fünfjährige ganz allein auf eine Flugreise geschickt worden? Siena erlebte immer wieder, dass Eltern die Selbstständigkeit ihrer Kinder hoffnungslos überschätzten. Dafür hatte sie überhaupt kein Verständnis, denn sie wusste aus eigener Erfahrung, wie negativ es sich auswirken konnte. Zu hohe Anforderungen an die Unabhängigkeit führten häufig dazu, dass ein Kind feindselig und fahrig wurde und mit allen Mitteln versuchte, Aufmerksamkeit zu erzielen und seine Grenzen aufgezeigt zu bekommen.

Unerwartet verspürte sie Mitgefühl. Immerhin hatte der Junge sie seit mehr als fünf Minuten weder bekleckert noch getreten, und das musste sie anerkennen. „Soll ich dir helfen?“, fragte sie spontan.

„Ja, bitte.“

Siena drehte sich zu ihm um und schnallte ihn ordnungsgemäß an.

Als Freddy leise schniefte, blickte sie ihm ins Gesicht und sah zwei feucht glänzende Spuren auf seinen Wangen. Ein ungezogenes Kind, das zu allem Überfluss in Tränen aufgelöst war! Sollte sie für irgendetwas bestraft werden?

Wiederum siegte ihr Mitgefühl. In der nächsten Viertelstunde redete sie dem Kleinen gut zu, bis Jessica mit dem hüpfenden Pferdeschwanz ihn abholen kam.

Siena wartete, bis sich das Flugzeug geleert hatte, bevor sie ihr Handgepäck und den Kleidersack, der die Uniform für den Rückflug nach Melbourne enthielt, aus dem Gepäckfach holte. Sie hatte es nicht eilig.

Als sie schließlich ausstieg, traf sie die Gluthitze im Norden von Queensland wie ein Schlag ins Gesicht. Der würzige Duft des nahe gelegenen Pazifiks lag in der Luft, die drückend heiß und feucht war. Siena spürte förmlich, wie sich ihre dunklen Locken in Sekundenschnelle kräuselten und ihre Füße in den Designerschuhen zu schwitzen begannen.

In dem glücklicherweise klimatisierten Terminal wartete ein drahtiger Mann mit silbergrauem Schnurrbart und einem Schild mit der Aufschrift „Capuletti“. Er trug einen dreiteiligen Anzug in MaxAirs Himmelblau – eine völlig unangemessene Kleidung für das tropische Klima – und dazu eine Chauffeursmütze.

Ein Chauffeur? Max schien große Geschütze aufzufahren. Obwohl es eine nette Geste war, fühlte sie sich unbehaglich. Zögernd näherte sie sich und stellte sich dem Mann vor.

Er nickte. „Rufus“, verkündete er in tiefem Bariton. „Maximillian hat mir aufgetragen, Ihnen dieses Wochenende zur Verfügung zu stehen, Ms. Capuletti.“

„Ausgezeichnet.“ Sie reihte sich in den Strom der Passagiere ein und bahnte sich einen Weg durch den rückständigen Terminal, dessen altmodischer Bodenbelag längst hätte erneuert werden sollen. Verstohlen behielt sie Rufus im Auge, der darauf bestanden hatte, ihr das Gepäck abzunehmen. Er hatte etwas Finsteres an sich, das sie an Spezialagenten denken ließ, die ohne Zögern Auftragsmorde ausführten.

„Ich muss mal telefonieren“, teilte sie ihm mit, kurz bevor sie den Ausgang erreichten.

Rufus blieb abrupt stehen. Nun erinnerte er sie an einen Polizeihund, der den Befehl „Platz“ mit bedingungslosem Gehorsam befolgt.

Siena suchte sich eine ruhige Ecke und führte das Telefonat, vor dem ihr seit Tagen graute.

„Hallo“, murmelte ihr Bruder Rick mit seiner tiefen Stimme.

Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, die Verbindung zu unterbrechen. Musste sie ihn denn überhaupt wissen lassen, dass sie wieder da war? Es war ohnehin nur eine Stippvisite. Er kannte nicht einmal ihre Handynummer und konnte daher nicht ahnen, wer ihn gerade anrief.

„Ist da jemand?“, fragte er.

„Rick, hier ist Siena.“

Nach einer langen Pause sagte er: „Na so was! Piccola. Es ist eine ganze Weile her, seit ich deine liebliche Stimme gehört habe.“

Seine sarkastische Bemerkung veranlasste sie beinahe, das Gespräch zu beenden.

„Un momento“, bat er.

Im Hintergrund hörte sie ein lautes Klirren und zorniges Gezeter von zwei kleinen Jungen.

„Michael, Leo, hört sofort auf damit!“, befahl Rick. „Setzt euch an den Tisch. Eure Mama gibt euch gleich euer Müsli.“ Schließlich sagte er ins Telefon: „Entschuldige, Piccola. Beim Frühstück geht es bei uns immer drunter und drüber. Wo steckst du heute? Paris? London?“

„In Cairns. Am Flughafen.“

Tiefe Stille folgte. Ihre Rückkehr nach all der Zeit schien ihn ebenso zu verblüffen wie sie selbst.

„Tja, was sagt man dazu! Unser Vögelchen ist also ins Nest zurückgekehrt. Bedeutet es, dass ich dich persönlich zu sehen bekomme statt nur dein hübsches Gesicht auf den Plakaten am Flughafen?“

Siena schloss die Augen. „Ich bin bis Samstagabend hier, also warum nicht? Morgen Nachmittag habe ich ein Meeting mit Maximillian, aber davon abgesehen ist dieses ‚Vögelchen‘ frei wie ein Vogel.“

„Großartig. Ich hole dich ab.“

„Nicht nötig. Ich habe einen Chauffeur“, entgegnete sie mit einem Anflug von Stolz, und schon wappnete sie sich gegen eine typische sarkastische Bemerkung von Rick.

„Aber du kommst zu uns“, entschied er ohne fragenden Unterton – und ohne Stichelei. „Tina macht dir das Gästezimmer zurecht.“

Siena dachte an das riesige Doppelbett mit der luxuriösen Satinwäsche, das sie in der Suite erwartete, die Max für sie im „Novotel Resort“ direkt am mondänen Badestrand von Palm Cove gebucht hatte. Dann malte sie sich das durchgelegene Einzelbett mit der Chintzdecke und all die Vorwürfe aus, die im Haus der Capulettis zu erwarten waren. Hm, eine schwierige Entscheidung …

„Komm zu uns“, drängte Rick. „Bitte! Ich erwarte wirklich nicht viel von dir, aber es ist höchste Zeit, dass du deine Neffen und Nichte kennenlernst.“

Siena rieb sich die Stirn. Es war das Wort Bitte, das den Ausschlag gab. Sie konnte sich nicht erinnern, es jemals aus Ricks Mund gehört zu haben. Sie war eher an Befehle von ihm gewöhnt. „Na gut.“ Ihre Kehle war wie zugeschnürt. „Aber nur für zwei Tage.“

„Zwei Tage wären wundervoll, Piccola. Hast du unsere neue Anschrift?“

Sie wusste, dass er ihr Elternhaus vor einigen Jahren verkauft hatte. Ihre Hälfte vom Erlös ruhte noch immer auf der Bank und sammelte Zinsen an. Zu ihrer Beschämung musste sie sich jedoch eingestehen, dass sie keine Ahnung hatte, wo er seither wohnte. „Gib sie mir vorsichtshalber noch mal“, sagte sie und holte ihren Organizer aus der Handtasche.

Rick nannte ihr eine Straße in einem neuen Vorort, von dem sie noch nie gehört hatte, und sie tippte die Anschrift unter seinem Namen ein.

„Tina und ich bringen die Kinder gleich zu Tinas Mutter und müssen dann beide zur Arbeit, aber wir legen dir einen Schlüssel unter die Fußmatte. Fühl dich ganz wie zu Hause.“

Zu Hause. Erneut rührte das Wort an einen wunden Punkt in ihrem Innern, während sie im Geiste ihr altes Elternhaus vor sich sah.

„Wir sehen uns also heute Abend, okay?“, fragte Rick.

„Ja, bis dann.“ Sie beendete das Telefonat und drehte sich zu Rufus um, der sie strikt im Auge behalten hatte.

Er trat schnurstracks auf sie zu und fragte: „Direkt nach Palm Cove, Ms. Capuletti?“

„Die Pläne haben sich geändert. Leider geht es nicht nach Palm Cove.“

„Aber Maximillian …“

„Ich kann mir ja ein Taxi nehmen, wenn es zu viel Mühe macht“, entgegnete sie kühl und fixierte ihn dabei mit einem herausfordernden Blick. Sie ahnte, dass er Geheimnisse hatte, von denen sie nichts wissen wollte. Aber sie war überzeugt, dass es momentan seine höchste Priorität war, dem Gast seines Bosses gefällig zu sein.

Rufus zog eine buschige silbergraue Augenbraue hoch, als wollte er fragen, ob sie sich das ganze Wochenende so halsstarrig zu geben gedachte. Sie grinste ihn an. Störrigkeit gefiel ihr gut.

Eine Stunde später vereinbarte Siena mit Rufus, dass er sie am folgenden Tag zu ihrer Unterredung mit Max abholen sollte, und er übergab ihr seine Visitenkarte für den Fall, dass sie in der Zwischenzeit seine Dienste benötigte.

Dann betrat sie Ricks Haus. Es war alles so, wie sie es erwartet hatte. Die frisch gestrichenen Wände des Neubaus beherbergten uralte Möbelstücke aus dem Familiennachlass, gemischt mit modernen Stücken aus einem skandinavischen Einrichtungshaus. Und in der Luft lag der Geruch von Pasta und Tomatensoße.

Familienfotos standen auf dem alten Piano, dessen Tasten vergilbt waren. Erinnerungen stürmten auf Siena ein – an ihre frühe Jugend, als Rick sie gezwungen hatte, jeden Abend an diesem Klavier zu üben, während sich ihre Freunde im Kino oder im Einkaufszentrum vergnügt hatten. Von dem Tag an, als er zu ihrem Vormund ernannt worden war, hatte er ihr tägliche Pflichten aufgebürdet wie einer Gefangenen, die ein furchtbares Verbrechen begangen hatte.

Sie schleppte ihre kleine Reisetasche die Treppe hinauf in das offensichtliche Gästezimmer. Dort fand sie einen Schlüsselbund und eine Notiz vor, die besagte: „Die Schlüssel sind für das grüne Auto. Dinner gibt’s um sieben.“

Nachdem sie in dünne Designerjeans und ein fleckenfreies ärmelloses Top geschlüpft war, suchte sie aus den Gelben Seiten eine chemische Reinigung heraus. Dann eilte sie mit dem beschmutzten Kostüm und den Wagenschlüsseln hinaus.

Das harmlos klingende „grüne Auto“, erwies sich als ein grandioses froschgrünes Ungetüm von einem achtzylindrigen Geländewagen, der blitzsauber war und demnach weder im Gelände noch als Transportmittel für schmutzige Gegenstände benutzt wurde.

Nachdem Siena das Monstrum gestartet hatte, nahm sie sich einige Augenblicke Zeit, um sich mit der Technik vertraut zu machen, denn sie hatte seit Monaten keinen Rechtslenker wie diesen gefahren. Dann gab sie die Adresse der Reinigung in das Navigationssystem ein und fuhr los.

Es war ein wunderschöner Tag. Heiß und sonnig, wie jeder Tag in Cairns, einem beliebten Touristenort am Rand des prachtvollen Great Barrier Reefs, das zu den sieben Weltwundern der Natur zählte. Es war wirklich paradiesisch. Für manche. Auf andere wirkte die feuchte Hitze erdrückend.

Siena schaltete die Klimaanlage ein und atmete auf, als es im Auto nicht mehr so stickig nach der Vergangenheit, sondern eher wie in einem Flugzeug roch.

Nach etwa fünf Minuten kam Siena an eine Kreuzung mit einem Antiquitätengeschäft an einer Ecke und einer altmodischen Milchbar an der anderen.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, ignorierte sie das Display des Navigationsgeräts und bog nach rechts in eine Allee ein, die von riesigen Gummibäumen beschattet wurde und ihr irgendwie bekannt vorkam. Die Beschaulichkeit des Vororts wirkte auf sie ein, während sie über die gewundene Straße fuhr, vorbei an hübschen Eigenheimen mit hölzernen Fensterläden und gepflegten Vorgärten. Es war ein Viertel wie aus dem Bilderbuch für junge Familien.

Bald wandelte sich das bisher vage Gefühl der Vertrautheit in Gewissheit. Es war ihre alte Straße, in der sie die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Das Zuhause, in dem sie als Nachzögling mit einem herrischen großen Bruder und ohne Mutter aufgewachsen war.

Im zweiten Gang schlich Siena voran. Die Klänge eines Klaviers schallten aus einem der Häuser und riefen ein Gefühl der Beklemmung hervor. Um sich von den Erinnerungen abzulenken, konzentrierte sie sich auf die Hausnummern an den Briefkästen.

Und dann fand sie es, das Haus Apple Tree Drive Nummer vierzehn. Apfelbaumallee. Sogar der Name klang so vollkommen und malerisch wie aus einem Bilderbuch. Aber sie wusste aus Erfahrung, dass das Leben hinter den Fassaden alles andere als perfekt sein konnte.

Plötzlich erhaschte sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Siena blickte von dem Briefkasten auf und sah ein Kind auf einem Fahrrad auf die Straße rasen.

Blitzschnell, mit einem lauten Fluch, riss Siena das Steuer herum und trat das Bremspedal durch. Mit aller Kraft umklammerte sie das Lenkrad, doch sie vermochte die Spur nicht zu halten.

Die Räder blockierten, brachen seitlich aus. Mit einem knirschenden Ruck wurde das Auto über die Bordsteinkante katapultiert. Es kam erst zum Stillstand, nachdem es mit quietschenden Reifen, krachendem Fahrgestell und beißendem Geruch von verbranntem Gummi gegen einen gut hundert Jahre alten Baum geprallt war.

Sienas Herz pochte heftig. Ihr Atem ging flach und schnell vor Schreck.

Was war aus dem Kind auf dem Fahrrad geworden?

Sie spähte durch die Windschutzscheibe.

Nichts.

Sie blickte aus dem Seitenfenster, reckte den Hals und schaute über die Schulter nach hinten auf die Straße.

Weder das Kind noch das Fahrrad waren zu sehen.

2. KAPITEL

James glaubte, das Quietschen von Autoreifen zu hören. Er schaltete die elektrische Schleifmaschine ab, schob sich die Schutzbrille auf die Stirn und beobachtete den Sägemehlstaub, der durch die Luft in der sonnenüberfluteten Werkstätte tanzte, lauschend.

Aber er hörte nichts als die gewöhnlichen Vorstadtgeräusche – das leise Knarren einer Wäschespinne, die sich in der tropischen Brise drehte; das Zwitschern von Vögeln, die sich um Futterreste zankten; das Klimpern eines Amateurpianisten, der ein paar Häuser weiter die Tonleiter übte …

Gerade wollte James sich die Brille wieder vor die Augen ziehen, als in seinem Vorgarten eine Autotür zugeschlagen wurde.

Er streifte sich Brille und Arbeitshandschuhe ab, ließ sie achtlos fallen und rannte zur Tür hinaus und durch den Garten.

Als Erstes erblickte er einen grünen Geländewagen, der mit der vorderen Hälfte auf dem Bürgersteig stand. Die Fahrertür war offen, die Stoßstange hatte sich um seinen Baum gewunden, und unter der Haube kräuselte sich eine feine Rauchwolke empor.

Als Zweites sah er ein Kinderfahrrad auf der Straße liegen, direkt hinter dem Wagen.

Der Anblick erschütterte ihn zutiefst. Wenn ihm Kane auch noch genommen wurde …

Angstvoll, mit angehaltenem Atem stürmte James weiter und holte erst wieder Luft, als er seinen Sohn erblickte.

Kane saß auf der Straße und lehnte an dem Auto. Er war am Leben. Er war bei Bewusstsein. Und er sprach mit einer Frau, die vor ihm hockte und ihm hektisch über die Gliedmaßen und den Kopf strich.

Es war eine zierliche Frau mit wirren braunen Locken, die bis an das Kinn reichten. Ihr durchscheinendes schwarzes Top war hochgerutscht und enthüllte einen breiten Streifen brauner Haut oberhalb der hautengen schwarzen Jeans.

James starrte auf den nackten Rücken und wurde sich völlig unerwartet bewusst, dass er diesen Teil des weiblichen Körpers schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte.

Entschieden verdrängte er diesen aufwühlenden Gedanken und blieb so abrupt stehen, dass der Kies unter seinen derben Arbeitsstiefeln knirschte.

Kane hob den Kopf. Sobald er sah, dass er nicht mehr allein mit seiner neuen Bekanntschaft war, stiegen Tränen in seine großen braunen Augen – als würde er das Ausmaß des Vorfalls nun erst begreifen, da sein Vater Zeuge dessen wurde. „Dad?“, rief er mit kläglich schriller Stimme.

„Jetzt bin ich ja hier.“ James ging weiter. Schritt für Schritt. Dieses Mantra wiederholte er dabei auch immer und immer wieder in Gedanken.

Er wusste nicht, wo er es aufgeschnappt hatte – bei einem der zahlreichen Therapeuten, beim nächtlichen Stöbern im Internet oder vielleicht sogar bei dem Fernsehpsychologen Dr. Phil, der Ratschläge für alle Lebenslagen erteilte.

In der Befürchtung, Blut oder Knochenbrüche vorzufinden, trat er zu seinem Sohn. „Kumpel, bist du okay?“

Kane nickte und stand auf, wie um zu beweisen, dass er unverletzt war. „Ich hab mir nur ein bisschen den Arm abgeschrammt, aber es tut fast gar nicht weh. Das hab ich Siena auch schon gesagt.“

James blickte zu der Frau und stellte fest, dass ihre Miene angespannt und ihre Stirn gerunzelt war, dass sie schuldbewusst die überwältigenden meergrünen Augen aufgerissen hatte.

Sie wischte sich die zitternden Hände an den Jeans ab, während sie aufstand. Ihre schlanken Beine schwankten auf feuerroten Schuhen mit lächerlich hohen Absätzen und langen Spitzen. Wie man mit solch verrückten Dingern Autofahren konnte, war ihm ein Rätsel. Er unterdrückte den Drang, ihr genau das vorzuwerfen, seine Verzweiflung herauszuschreien, den erlittenen Schrecken in Zorn umzuwandeln und ihm Luft zu machen.

Aber er erkannte, dass es nicht nötig war. Denn jeder Gedanke, der ihm in den Sinn kam, schien sich ohnehin in ihrem bemerkenswerten lebhaften Gesicht widerzuspiegeln. Er sah Beschämung, Verlegenheit, Schuldgefühle – und noch etwas anderes, das er nicht deuten konnte, das ihre Wangen flüchtig erröten ließ.

Und dann, mit einem kaum merklichen Kopfschütteln, verbannte sie diese Selbstvorwürfe. „Ich bin Siena Capuletti“, verkündete sie in melodischem Tonfall, während sie ihm eine ­schmale Hand reichte.

„James Dillon.“ Er trat zu ihr und nahm ihre Hand. Sie war warm und unmöglich zart. Es war eine Hand, die mehr Zeit bei der Maniküre als mit Arbeit zu verbringen pflegte. Zum allerersten Mal waren ihm seine Schwielen peinlich.

Rasch ließ er sie los, und genauso schnell wich Siena zurück. Sie schob die Hand in eine Gesäßtasche ihrer tief sitzenden Jeans und entblößte dadurch einen Streifen ihres gebräunten flachen Bauchs.

Hastig hob James den Blick, doch nun galt es, dem Reiz dieser Augen zu widerstehen. Es waren große grüne Augen, von den dunkelsten und längsten Wimpern umrahmt, die er je gesehen hatte. Plötzlich wusste er nicht, wohin er schauen sollte.

„Das ist mein Auto“, verkündete sie, und als er nichts dazu sagte, deutete sie zu dem grünen Geländewagen. „Vielmehr gehört es meinem Bruder Rick. Ich würde mir nicht mal ein T-Shirt in dieser Farbe kaufen und schon gar nicht ein Auto für sechzigtausend Dollar. Zum Glück bin ich ganz langsam gefahren, aber ich habe Kane erst gesehen, als er schon direkt vor mir war. Ich habe so scharf gebremst, wie ich nur konnte, und ich bin ihm ausgewichen, und deshalb habe ich ihn nicht erwischt.“ Sie drehte sich um und blickte Kane scharf an. „Bist du ganz sicher, dass ich dich nicht erwischt habe?“

Er nickte eifrig und beobachtete sie mit einem ausgeprägten Interesse. Offensichtlich war er ebenso fasziniert von ihr wie James.

„Gott sei Dank.“ Sie bekreuzigte sich überschwänglich und sprudelte ohne Punkt und Komma hervor: „Das Auto ist so verdammt groß und der Motor so stark, und ich habe bestimmt den Bordstein beschädigt und Ihren Baum verletzt und das Auto lädiert, und Rick wird mich umbringen.“ Sie holte Luft. „Aber ich werde natürlich für jeden Schaden an Ihrem Garten oder der Auffahrt aufkommen, und es tut mir aufrichtig leid.“

James brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass ihr Wortschwall beendet war. Er blickte zu Kane hinunter, der nun am Auto lehnte, seinen Ellbogen festhielt und schniefte, aber nicht mehr weinte. James war überzeugt, dass die Frau mehr in Mitleidenschaft geraten war als das Unfallopfer.

Er nahm die Entschuldigung an, und als Siena dankbar lächelte, glitzerten ihre Augen wie ein sonnenüberfluteter Ozean.

Bevor seine Fantasie mit ihm durchgehen und er sich vollends in einen schwärmerischen Poeten verwandeln konnte, hob er das verbeulte Fahrrad auf und lehnte es sich an die Beine – wie einen Schutzschild gegen die Reize der Fremden. „Wenn Kane sagt, dass Sie ihn nicht erwischt haben, dann ist es auch so. Er hätte nicht so unvorsichtig auf die Straße fahren dürfen.“

Sie schüttelte den Kopf. Die wirren Locken tanzten um ihr Gesicht. „Ich hätte besser aufpassen müssen, besonders auf einer Straße in einem Vorort.“

Siena blickte zu seinem Haus hinüber, starrte es eine Weile an. Ihre Miene wirkte übertrieben gequält angesichts der Tatsache, dass es kaum zu einem Personenschaden gekommen war.

Sie schluckte schwer, und dann schaute sie wieder zu James, und dabei blinzelte sie heftig. Er konnte nicht anders, als ihr einfach stumm ins Gesicht zu starren. Lag es daran, dass sie ihm bekannt vorkam? Vielleicht wohnte sie in der Nähe und war ihm im Supermarkt begegnet.

Aber nein. Diese Frau hatte er nie zuvor gesehen. Aber irgendetwas rührte ihn an, und es war so stark, dass er sich dem Einfluss nur mühsam entziehen konnte, indem er die Aufmerksamkeit auf seinen Sohn richtete. „Also, Kumpel, was hast du dir getan?“

Kane drehte den Ellbogen nach oben und zeigte eine hässliche blutende Abschürfung.

Der Anblick ließ James vor Schreck erstarren. Auf Geheiß sämtlicher Therapeuten, von denen Kane im letzten Jahr behandelt worden war, hatte James sein Leben auf eine Hauptmission beschränkt: seinen Sohn zu beschützen, vor jedem weiteren Schmerz abzuschirmen, sich ihm ganz und gar zu widmen. Wie hatte es trotzdem zu diesem Zwischenfall kommen können?

„Vielleicht sollten wir dich zur Unfallstation bringen, um ganz sicher zu sein.“ Sobald er ausgesprochen hatte, wusste er, dass er genau das Falsche gesagt hatte. Denn Kanes Augen wurden riesengroß und seine Wangen ganz blass.

James verfluchte sich dafür, dass ihm selbst nach über einem Jahr als alleinerziehender Vater immer noch derartige Schnitzer unterliefen. Natürlich hätte er bedenken müssen, dass dieses arme Kind seine Mutter zum letzten Mal auf dem Weg in ein Krankenhaus gesehen hatte, aus dem sie nie zurückgekehrt war.

Hastig strich er sich über die kurzen aschblonden Haare. „Was rede ich bloß für einen Unsinn!“ Er hockte sich vor Kane und legte ihm eine Hand auf den Nacken. „Etwas Salbe und ein Verband, und schon ist alles wieder in Ordnung. Es brennt vielleicht ein bisschen, aber das verkraftest du doch, oder, Kumpel?“

Kane nickte. „Na klar.“

„Ich kenne mich mit Erster Hilfe aus“, verkündete eine bescheidene Stimme aus dem Hintergrund. „Ich habe erst letzte Woche einen Auffrischungskurs absolviert.“

James drehte sich um und sah Siena von einem Highheel auf den anderen treten und betroffen die Hände ringen.

„Es ist alles ganz allein meine Schuld.“ Sie ging zu ihm, bis sie ihm so nahe war, dass er ihr Parfum riechen konnte. Dezent, teuer, lieblich. „Bitte lassen Sie es mich wiedergutmachen.“

Sie blickte ihn so flehend an, dass er prompt vergaß, wovon sie gesprochen hatte. Es war nur ein flüchtiger Augenblick und doch sehr bedeutungsvoll. Denn in diesem Moment hegte er keinerlei Erinnerung. Nicht an Trauer, nicht an Verluste, nicht an Kummer. In diesem Moment nahm er nur die exakte Schattierung ihrer Augen in sich auf.

Mit dem Handrücken strich er sich über die erhitzte Stirn. Es wunderte ihn gar nicht, Schweißperlen vorzufinden, die nichts mit dem Wetter zu tun hatten. An tropische Temperaturen war er gewöhnt, nicht aber an die Nähe einer derart reizvollen Frau.

In der Befürchtung, dass sie vor lauter Gewissensbissen und Gluthitze in seinem Vorgarten ohnmächtig werden könnte, und in dem Wissen, dass sie in dem beschädigten Wagen nicht weiter­fahren konnte, schlug er vor: „Kommen Sie mit ins Haus. Da ist es kühler. Ich rufe einen Abschleppwagen, und wir könnten wohl alle eine kalte Limonade gebrauchen.“

James streckte einen Arm aus, zog Kane an seine Seite und schob mit ihm gemeinsam das verbeulte Fahrrad die Auffahrt hinauf. Er war sich nicht ganz sicher, wie es dazu kommen konnte, dass ausgerechnet er eine Fremde in sein Haus einlud, während er seit Monaten nicht einmal seine engsten Freunde innerhalb dieser Mauern duldete.

Siena holte ihre Handtasche aus dem Auto und folgte dem Fremden und seinem Sohn in das Haus Apple Tree Drive Nummer vierzehn.

Sie musste unter Schock stehen. Das war die einzige logische Erklärung dafür, dass sie dieses Gebäude wieder betrat.

Warum wartete sie trotz ihrer wackligen Beine nicht einfach draußen beim Wagen, während der Mann ihr ein Taxi und einen Abschleppwagen rief, damit sie sich auf den Weg machen konnte? Sie hatte andere Dinge zu erledigen. Zum Beispiel ihr Designerkostüm in die Reinigung zu bringen, bevor der Cola-Fleck durch die Gluthitze im Auto unauslöschlich eingebrannt wurde. Außerdem hätte sie Rufus anrufen können, und der wäre bestimmt schneller eingetroffen als ein Taxi.

Aber nein, aus irgendeinem Grund folgte Siena dem Mann in ihr Haus – in sein Haus, um Limonade zu trinken! Dabei hätte sie einen starken Gin Tonic gebrauchen können, um ihre ernsthaft angespannten Nerven zu beruhigen.

Geflissentlich ignorierte sie den gewundenen Aufgang, den ihr Vater in dem Jahr betoniert hatte, als sie neun geworden war. Ebenso wenig beachtete sie die schwarzen Fensterläden im ersten Stock, die sie zweimal aufgebrochen hatte, um bei Stubenarrest aus dem Fenster zu steigen.

Stattdessen hielt sie den Blick auf das verstaubte schwarze T-Shirt geheftet, das sich über dem breiten Rücken des Fremden spannte, auf seine muskulösen Arme, die im Sonnenschein bronzefarben glänzten, und auf die Gesäßtaschen seiner abgetragenen Jeans, die seine muskulöse Figur eindrucksvoll betonten.

Als sie sich den Rosen näherte, die ihr Vater so sehr geliebt und die sie einmal aus Trotz sämtlicher Blüten beraubt hatte, fixierte sie James’ Hinterkopf mit starrem Blick. Sein aschblondes Haar war kurz rasiert und enthüllte einen kräftigen gebräunten Nacken, der förmlich zum Streicheln einlud.

Okay, die Situation war nicht leicht für Siena. Aber musste sie sich deshalb wirklich so angelegentlich mit einem verführerischen Nacken und hautengen Jeans beschäftigen? Schließlich war dieser Mann ein Vater und zudem das genaue Gegenteil dessen, was sie bei den Männerbekanntschaften bevorzugte, die sie während ihrer kurzen Aufenthalte in aller Herren Länder schloss.

Sie mochte Männer in Anzügen. Glatt rasierte, ledige Männer mit Zeit und Geld und ehrgeizigen Zielen, die genau wussten, was sie wollten. Männer, die ihr vom Charakter her nicht unähnlich waren.

Wenn ihr erster Eindruck zutraf, was für gewöhnlich der Fall war, dann war James ein Arbeiter. Die rauen Hände ließen auf einen Handwerker schließen.

Aber seltsamerweise war das alles, was Siena sich über ihn zusammengereimt hatte. Ob nun vorsätzlich oder rein zufällig, er schien von einer soliden Wand umgeben zu sein, die verhinderte, dass Fremde allzu weit hinter seine höfliche Fassade blicken konnten.

Dennoch konnte sie nicht außer Acht lassen, dass seine Kleidung mit Sägemehl bedeckt war, dass er viel zu artig für ihren Geschmack war und in Cairns lebte. Aus diesen Gründen war er eindeutig tabu für sie.

Als sie die Haustür erreichten, schlüpfte James aus seinen Stiefeln und enthüllte schwarze löchrige Socken. Gleichzeitig zog Kane sich auf genau dieselbe Weise seine Sneakers aus: indem er sich am Türrahmen festhielt und mit den Spitzen des einen Fußes die Hacke von der anderen Ferse streifte.

Die anrührende Szene rief ein völlig unverhofftes und neu­artiges Gefühl bei Siena hervor, das beinahe stärker war als die Scheu, das Zuhause ihrer Kindheit zu betreten.

Es kam ihr fast wie Sehnsucht vor, aber für sie, eine zielorientierte ungebundene Karrierefrau aus dem Jetset, war eine solche Regung höchst unwahrscheinlich.

Vielleicht war ihr einfach übel. Immerhin hatte sie soeben einen Autounfall erlebt. Da war es wohl nicht verwunderlich, dass sie sich ein bisschen mitgenommen fühlte, und es erklärte die weichen Knie, das ungebührliche Interesse an der Rückenansicht eines Fremden und die seltsamen Sehnsüchte.

Etwas unsicher blieb Siena im Schatten des Vordachs stehen und blickte James fragend an. Er schenkte ihr ein Lächeln, das jedoch irgendwie verhalten wirkte, kühl und reserviert statt ungezwungen und herzlich, und es erreichte nicht die schiefergrauen Augen.

Kane zupfte ihn ungeduldig am Ärmel und drängte: „Da-ad!“

James’ Lächeln wurde ein klein wenig wärmer, breitete sich etwas mehr auf seinem Gesicht aus. Selbst diese winzige Veränderung bewirkte sehr viel: Sie zauberte einen blassblauen Schimmer in seine grauen Augen und die Spur eines Grübchens in seine rechte Wange, und sie ließ Siena vergessen, was ihr Sorge bereitet hatte.

„Kommen Sie doch herein. Wir beißen nicht“, sagte er, und nun galt ihr dieser Anflug von Herzlichkeit, der eigentlich seinem Sohn zugedacht war. Dann drehte er sich um, folgte Kane ins Haus und ließ die Tür offen.

Siena machte sich bewusst, dass sie diese missliche Situation irgendwie durchstehen musste. Denn auf keinen Fall wollte sie diesen Leuten verpflichtet bleiben und sich weiterhin schuldig wegen des Unfalls fühlen.

Wenn es ihr gelang, Handys von Generaldirektoren zu konfiszieren, Ölscheiche auf ihre Sitzplätze zu verweisen und berühmten Profisportlern den Gebrauch von Spucktüten zu erklären, dann war sie dieser Lebenslage erst recht gewachsen.

Entschieden streifte sie sich die extravaganten Schuhe von Jimmy Choo ab und stellte sie fein säuberlich an den Türrahmen. Dabei betete sie zu den Modegöttern, dass keine Vorstadthausfrau mit Blick für Designerfußbekleidung vorbeikommen möge.

Unter den nackten heißen Füßen spürte sie kühle Fliesen, als sie James folgte. Sie verlangsamte den Schritt, sobald ihr klar wurde, dass ihr ehemaliges Domizil, das sie von außen auf den ersten Blick erkannt hatte, von innen ganz anders als früher aussah.

In ihrer Kindheit war es düster und bedrückend vollgestopft mit unechten römischen Statuen, alten Möbeln und schweren Teppichen gewesen. James Dillons Zuhause erinnerte dagegen an einen heiteren luftigen Sommertag. Helle Tapeten und leichte Läufer, grazile Stühle, Beistelltische und offene Regale aus poliertem Holz erweckten die Illusion von Weite und Geräumigkeit in dem Gemäuer, in dem Siena immer unter Platzangst gelitten hatte. Zwischenwände waren teilweise oder gänzlich entfernt worden, sodass man nun vom Eingang her bis in die makellos saubere, in Weiß und Holz gehaltene Küche blicken konnte. Eine Glas­veranda war an der Rückseite des Hauses angebaut worden und beherbergte eine Rattancouch mit unzähligen Sofakissen.

Weil Vater und Sohn schon vorausgeeilt waren, nutzte Siena die Gelegenheit, sich weiter umzusehen. Langsam spazierte sie zu dem glänzenden schwarzen Piano, das unheimlicherweise an derselben Stelle stand wie damals das verhasste Klavier, das sie hatte spielen müssen. Und wie damals standen gerahmte Fotos darauf.

Sie legte ihre Handtasche auf den Klavierdeckel und beugte sich vor, um die Bilder näher zu betrachten.

Während James’ Haare nun kurz geschnitten waren, lockten sie sich auf dem größten Foto um sein Gesicht. Er trug ausgefranste Shorts und ein T-Shirt und lief mit Kane auf einer Schulter über einen schneeweißen Sandstrand. Siena seufzte, als sie im Hintergrund Palm Cove erkannte – den mondänen kleinen Badeort, wo sie, wäre nicht alles anders gekommen, längst in der für sie reservierten Luxussuite residieren würde.

Fasziniert betrachtete sie andere Schnappschüsse, auf denen James angelte, Fallschirm sprang und Kane das Eislaufen beibrachte. Auf allen Aufnahmen lächelte er strahlend mit großen blitzenden Zähnen, vom Wind glühenden Wangen und leuchtenden graublauen Augen.

„Sieh mal an“, sagte sie leise zu sich selbst.

Während der artige stille James von heute mit seinem verhaltenen Lächeln schon unglaublich gut aussah, war der ausgelassene sportive James von damals ein überwältigend sinnlicher Teufelskerl.

Siena schluckte schwer. Dass sie solche Gedanken über einen Mann mit Kind hegte, hätte sie veranlassen sollen, schnurstracks das Haus zu verlassen.

Als sie nach ihrer Handtasche griff, um genau das zu tun, erblickte sie plötzlich das Foto einer Frau, das zwischen den zwei Dutzend Bildern von Kane und James verborgen war. Spontan nahm sie es zur Hand und betrachtete es.

Sonnenschein glänzte auf dichtem blonden Haar. Ein strahlendes Lächeln enthüllte ebenmäßige schneeweiße Zähne. Verführerische braune Augen blickten direkt in die Kamera.

„Siena?“, rief James von irgendwo außerhalb ihrer Sichtweite.

„Ich komme!“, erwiderte sie und stellte das Foto rasch zurück auf das Piano.

„Hier entlang!“

Sie folgte seiner Stimme in ein luftiges, ganz in Weiß gehaltenes Badezimmer, das früher einmal eine düstere Waschküche gewesen war. Kane saß auf dem geschlossenen Toilettensitz, während James auf den Fersen hockte und in einem Schränkchen kramte.

Und obwohl das Bild einer wundervollen Blondine auf seinem Piano stand und er einen Sohn hatte, obwohl Siena ganz andere Dinge zu erledigen hatte und sich nicht für ihn hätte interessieren dürfen, verglich sie James unwillkürlich mit jenen Fotos.

Okay, er wirkte immer noch faszinierend, aber längst nicht so heiter wie früher. Ein aktueller Schnappschuss von ihm hätte wohl ausgesehen, als wäre er mit Sepia-Effekt statt in farbenprächtiger Kodak-Qualität aufgenommen worden.

James schaute auf und ertappte Siena dabei, dass sie ihn versonnen musterte. Sein Blick wurde unstet, dann kniff er skeptisch die Augen zusammen.

Entschieden rief Siena sich in Erinnerung, warum sie dieses Haus betreten hatte. Etwa ein Dutzend verschiedene antiseptische Salben, Tinkturen und Wundverbände lagen auf der breiten Bank neben James. „Haben Sie sich auf einen pharmazeutischen Notstand eingerichtet?“

„Irgendwie glaube ich nicht, dass dieser Teil der Welt weit oben auf der Hitliste steht, falls es je dazu kommen sollte“, entgegnete er unerwartet sarkastisch.

Da Siena eine Schwäche für Ironie hatte, erwachte ein Gefühl der Verbundenheit. „Gut. Aber was hat es dann mit dieser Privatapotheke auf sich?“

„Ich bin eben gründlich. Gibt es daran etwas auszusetzen?“

„He, ich beklage mich ja gar nicht. Nur eine dumme Frau würde Gründlichkeit bei einem Mann ablehnen. Ich habe nur eine Feststellung getroffen.“

James zog ein wenig die Brauen zusammen. „Und was haben Sie sonst noch festgestellt?“

Aus Selbstschutz löste Siena den aufwühlenden Blickkontakt und schaute einen Moment lang zu Kane, der sie mit großen Augen treuherzig anguckte. „Na ja, ich habe gelernt, dass es immer die großen bärenstarken Kerle sind, die beim Anblick von etwas Blut umfallen. Wollen Sie den ganzen Tag so dahocken, oder rücken Sie endlich zur Seite und lassen mich ans Werk?“

Sie versetzte James einen leichten Schubs gegen die Schulter, und er richtete sich auf und setzte sich auf den Rand des ovalen Whirlpools.

Siena griff nach einer vertrauten Flasche mit brauner Tinktur, die Rick immer bei ihr angewendet hatte, wenn sie als kleiner Wildfang nach einer Rauferei mit den Nachbarsjungen weinend ins Haus gerannt war. „Ich fürchte, dass eine Alarmanlage ertönt und Wasser von der Decke strömt, wenn ich auch nur einen Tropfen auf diese perfekten weißen Fliesen vergieße.“

„Keine Panik“, wehrte James gelassen ab. „Wir haben eine Reinigungskraft.“

„Soso, haben wir das?“, hakte sie in gespielt überheblichem Ton und mit affektierter Miene nach.

Kane grinste sie an. „Er heißt Matt, und er kommt fast jeden Tag und saugt Staub und gärtnert und macht den Geschirrspüler an.“

„Den Geschirrspüler?“, hakte sie nach. „Du meine Güte! Was würden wir ohne den bloß anfangen!“ Verstohlen warf sie einen Blick zu James, sah das faszinierende verhaltene Lächeln auf seinem Gesicht und wandte sich schnell wieder ab.

„Und er holt mich von der Schule ab“, fuhr Kane fort. „Und manchmal bleibt er hier, wenn Dad einen Job fertigmachen oder Kunden besuchen muss.“

„Ich verstehe“, murmelte sie, obwohl dem keineswegs so war. Flüchtig fragte sie sich, was denn die sonnige Blondine vom Piano treiben mochte, während James einen „Job“ beendete oder Klienten aufsuchte.

Aber das ging sie eigentlich nichts an. Bisher fühlte sie sich wesentlich besser als erwartet in dem Haus, das in ihrer Jugend die Hölle für sie gewesen war. Doch sie sollte ihr Glück lieber nicht überstrapazieren und es schnellstens wieder verlassen. Sie nahm einen Tupfer zur Hand.

„Au!“ Kane wich schon zurück, als der Mull noch ein gutes Stück von seinem Ellbogen entfernt war.

„Tu nicht so, als ob ich gemein zu dir wäre, Kane.“

Er grinste zerknirscht. „Matt kann Erste Hilfe, weil er mal Krankenwagenfahrer war. Aber wieso kannst du das?“

„Ich bin Stewardess bei MaxAir. Du weißt schon, das sind die mit den himmelblauen Flugzeugen. Und ich muss mich um die Passagiere kümmern, denen es unterwegs schlecht geht. Deshalb muss ich jedes Jahr einen Kursus machen. Wusstest du, dass früher alle Stewardessen Krankenschwestern waren?“

Diese Information schien Kane nicht sonderlich zu beeindrucken.

Also versuchte sie es mit einem anderen Ansatz. „Ich habe auch noch ganz viele andere Sachen gelernt.“

Nun horchte er auf. „Was denn?“

„Wie man tropfende Wasserhähne repariert, Selbstverteidigung, Tauchen … Und ich spreche vier Sprachen.“

Seine braunen Augen wurden groß. „Vier?“

„Ja. Meine Eltern kommen beide aus Italien. Deshalb konnte ich schon Italienisch, bevor ich Englisch gelernt habe. Dann spreche ich noch Deutsch und Französisch.“ Und ich kann mit Dosen jonglieren, Spagat machen und Tango tanzen, fügte sie im Stillen hinzu, denn sie fühlte sich ein bisschen wie ein Zirkusclown. „Willst du lernen, wie man auf Italienisch zählt?“

Kane nickte eifrig.

„Also los. Uno“, sagte sie mit übertriebenen Mundbewegungen, um seinen Blick auf ihre Lippen zu fixieren, während sie die Abschürfung an seinem Arm reinigte. „Due …“ Sie träufelte antiseptische Lösung auf einen neuen Tupfer. „Tre …“ Sie desinfizierte die Wunde. „Quattro …“ Sie brachte einen Schnellverband an. „Cinque! Fertig. Kannst du dich an alle Zahlen erinnern?“

Er schüttelte den Kopf. „Sag’s mir noch mal.“

Sie tat es und ließ ihn nachsprechen. Mittendrin begann ihr Nacken zu prickeln, weil sie spürte, dass James sie immer noch beobachtete. Sie warf ihm einen Seitenblick zu. Sein verhaltenes Lächeln war nicht breiter geworden, aber ein wenig wärmer, und das vermittelte ihr eine alberne Zufriedenheit. Nur widerwillig konnte sie den Blick von ihm lösen.

„Bring mir noch eine andere Sprache bei!“, verlangte Kane und brach damit die außergewöhnliche Spannung, die sich über den Raum gelegt hatte.

„Nicht jetzt“, entgegnete James. „Ich jedenfalls brauche erst mal was zu trinken.“

Der raue Unterton in seiner Stimme ließ Siena vermuten, dass auch ihm ein Gin Tonic lieber gewesen wäre als Limonade.

„Kann ich Sie in Versuchung führen?“, fragte er.

Sie stand auf und schob die Hände in die Gesäßtaschen ihrer Jeans. Obwohl sie wusste, dass er von etwas Harmlosem sprach, dachte sie unwillkürlich an etwas Sinnliches. „Darauf können Sie wetten.“

„Cool!“, rief Kane. „Dann kann ich dir mein Zimmer zeigen.“

Wortlos schüttelte Siena den Kopf, während sie sich physisch wie mental zurückzog. Doch bevor sie aus dem Badezimmer schlüpfen konnte, nahm Kane ihre Hand und schloss die heißen und klebrigen kleinen Finger um ihre. „Aber ich habe gerade einen neuen Computer gekriegt, und der kann Spiele und Musik und so.“

Tränen schimmerten in seinen Augen. Seine Unterlippe zitterte. Mit einem trotzigen schreienden Kind kam sie zurecht. Sie selbst war früher ganz kompetent in dieser Hinsicht gewesen. Aber ein Junge mit Tränen in den großen braunen Augen? Zuerst hatte sie Mitleid mit dem Cola vergießenden Freddy empfunden, und jetzt ließ sie sich schon wieder erweichen! Anscheinend war sie doch – entgegen den Behauptungen ihrer Kollegen – auch nur ein Mensch.

„Weißt du was? Ich würde viel lieber euren Garten sehen“, erklärte sie. „Eigentlich bin ich nämlich nur durch diese Straße gefahren, weil ich früher, als ich so alt war wie du, genau in diesem Haus gewohnt habe.“

„Echt?“, hakte Kane misstrauisch nach.

„Ja. Und der Garten war mein Lieblingsplatz. Wir hatten eine Schaukel und einen Pool, und ein Zaunpfahl war lose, und ich bin immer durch das Loch geschlüpft.“

„Cool! Aber Dad hat es repariert. Gleich, als wir eingezogen sind. Welches war denn dein Zimmer?“

„Ich wage zu vermuten“, warf James ein, „dass es das Vorderzimmer war.“

Siena drehte sich zu ihm um und nickte. „Wie haben Sie das erraten?“

„Weil ich beim Renovieren eine Woche gebraucht habe, um all die Löcher von den Reißzwecken zu beseitigen.“

Sie grinste. „Ich habe für Rockbands geschwärmt und meine Liebe zu ihnen kundgetan, indem ich jeden Zentimeter der rosa Blümchentapete mit ihren Bildern zugepflastert habe.“

Er schenkte ihr dieses verhaltene Lächeln. „Und jetzt?“

„Mein Geschmack ist … erwachsener geworden.“

Er lachte, und der Klang ging ihr unter die Haut und erwärmte sie wie die Sonne an einem Sommertag. Ihr gefiel dieses erhebende Gefühl, das ein guter Flirt auslöste. Doch da war ein Kind, eine Blondine und ein wichtiger Besuch bei einer Reinigung zu berücksichtigen. Also wechselte sie das Thema. „Mein Bruder Rick hat dieses Grundstück vor etwa drei Jahren verkauft. Rick Capuletti. Haben Sie es von ihm erworben?“

„Dad hat es Mum zur Hochzeit geschenkt!“, warf Kane eifrig ein.

Siena bedachte ihn mit einem flüchtigen erstaunten Blick. Als sie James wieder anschaute, fühlte sie sich plötzlich verloren in den unergründlichen Tiefen seiner kühlen grauen Augen, die sich zu verschleiern schienen. Er wirkte so entrückt, dass sie den Drang verspürte, ihn am Arm zu packen und in die Gegenwart zurückzuholen.

Die sonnige Blondine auf dem Piano, die offensichtlich Kanes Mutter war, hatte ein ziemlich wertvolles Hochzeitsgeschenk bekommen. Spontan hakte Siena nach: „Aber wir haben das Haus doch erst …“ Vor drei Jahren verkauft, hatte sie sagen wollen, doch sie verstummte abrupt.

Das Zucken um James’ Mundwinkel verriet, dass er dennoch erraten hatte, was ihr durch den Kopf geschossen war: dass Kane etwa fünf Jahre vor der Hochzeit zur Welt gekommen und womöglich nicht James’ leiblicher Sohn war. Ihre Wangen brannten. Ausgerechnet sie, die normalerweise so unverblümt und knallhart war, errötete wie ein schüchternes Schulmädchen!

James stand von der Badewanne auf und zog Kane an sich. „Du kannst Siena ja dein neues Trampolin zeigen, während ich die Limonade organisiere.“

„Das klingt gut“, erwiderte sie hastig und dankbar, weil ihr dadurch ein Besuch der anderen Zimmer erspart bleiben würde.

3. KAPITEL

Kane nahm Siena bei der Hand, zog sie durch die Küche aus dem Haus und entschied: „Zuerst zeige ich dir Dads Schuppen.“

Er führte sie zu einem neuen, großen Nebengebäude. Ihr blieb kaum Gelegenheit, die erlesene Gartengestaltung rings um den alten nierenförmigen Pool herum zu betrachten, denn schon zog Kane sie durch die schwere Tür in den „Schuppen“, der von innen eher wie ein Atelier aussah.

Licht strömte durch hohe Fenster. Sägemehl tanzte auf den Sonnenstrahlen und bedeckte das Werkzeug, das sich in ordentlichen Reihen an der Rückseite befand. Auf einer langen Werkbank, die von Farbflecken und Kerben übersät war, lagen eine Schleifmaschine, eine Schutzbrille und Arbeitshandschuhe, als wären sie mitten bei der Arbeit hastig abgelegt worden. An einer Wand waren Baumstämme mit und ohne Rinde aufgestapelt.

„Was tut dein Dad denn hier?“, erkundige Siena sich ein wenig verwundert.

„Er macht Schränke und so.“

Sie strich über die Werkbank, spürte raues Holz unter den zarten Fingerspitzen. Als sie das Ende erreichte, sah sie etwas Großes unter einem Laken verborgen. Nur flüchtig zögerte sie, bevor sie den Stoff entfernte.

Sie rang nach Atem, als sie das wundervollste Möbelstück enthüllte, das sie je gesehen hatte.

Es war eine Wickelkommode mit fünf Schubladen auf kurzen stämmigen Beinen. Der Name „Lachlan“ war in großer sauberer Schreibschrift in die oberste Schublade geritzt, und hier und da waren Teddybären in die glänzende Oberfläche geschnitzt.

Die Liebe zum Detail und die Kunstfertigkeit wirkten überwältigend. Zu den unzähligen Kursen, die Siena in ihrer Freizeit besucht hatte, zählte auch Holzverarbeitung. Liebevoll hatte sie einen Aschenbecher geschnitzt, obwohl sie niemanden kannte, der rauchte. Sie hatte Tage dafür gebraucht, um dem Holz die gewünschte Form zu verleihen, es glatt zu polieren und ihre Initialen in den Boden zu ritzen.

Aber dieses Stück stellte eine ganz andere Dimension dar. Jeder Bestandteil war ganz sorgfältig aufgrund der besonderen Maserung ausgewählt worden, sodass die farblichen Nuancen und Astlöcher ein wunderschönes Ganzes ergaben.

Es war das exquisite Werk einer Person mit viel Geduld und Fantasie. Siena hatte James Dillon für einen einfachen Arbeiter gehalten, aber ausnahmsweise hatte der erste Eindruck sie getäuscht. Dieser Mann war ein begnadeter Künstler.

Sie blickte über die Schulter durch das große Fenster, das einen ungehinderten Blick auf den Garten und die Rückseite des zweistöckigen Hauses bot.

Der besagte Mann lief gerade mit dem Telefon am Ohr am Küchenfenster vorbei. Rief er gerade einen Abschleppwagen oder ein Taxi für sie?

Der Gedanke, so schnell wieder fortzugehen, löste Enttäuschung aus. Siena schluckte schwer und wich vom Fenster zurück, um sich von diesem unliebsamen Gefühl zu distanzieren. Dabei stieß sie gegen einen kleinen Schreibtisch. Ein verstaubter Laptop, der auf der Kante stand, drohte zu Boden zu fallen, und sie wirbelte herum und fing ihn hastig auf.

Als sie ihn zurück auf den Metalltisch stellte, sah sie, dass eine schlichte schwarze Webseite mit hellem Schriftsatz geladen war. Das Format verriet, dass es sich um ein Blog handelte. Siena kannte sich damit aus, denn die meisten ihrer Kollegen führten solch ein digitales Tagebuch, um ihre Familien über ihre Reiseabenteuer auf dem Laufenden zu halten.

Diese Seite hieß schlicht „DINAH“, und die Einträge unter dem Titel verrieten, dass sie einer Frau gewidmet waren, die gut zwölf Monate zuvor verstorben war.

Ein kalter Schauer rann Siena über den Rücken. In dem Bedürfnis, sich zu vergewissern, ob sie richtig vermutete, strich sie über das Touchpad und blätterte zu einem Eintrag, der einige Monate alt war.

Seit ein paar Tagen bin ich ein bisschen besorgt. Ich kann den Grund dafür nicht wirklich benennen, aber es hängt zum Teil damit zusammen, dass Kane sich immer wieder darüber beklagt, dass er sich nicht wohlfühlt.

Siena blickte über die Schulter. Kane spielte in einer Ecke mit Holzstücken und erzählte ihr dabei, dass er seinem Dad jeden Samstag helfen durfte und sich dadurch sein Taschengeld aufbessern konnte.

Doch schon bald hörte sie nicht mehr richtig hin, denn sie brannte darauf, weiterzulesen und mehr zu erfahren. Sie befeuchtete sich die Lippen, die sich plötzlich wie ausgedörrt anfühlten. Ihr Herz begann zu pochen bei dem Gedanken, dass ein Tagebuch eine sehr intime Sache war und es sich nicht gehörte, es zu lesen.

Aber „Blog“ setzt sich nun mal zusammen aus Web und Log, argumentierte sie im Stillen, und damit ist es schon vom Namen her im ganzen World Wide Web für jedermann einzusehen.

Beruhigt las sie weiter.

Manchmal tut ihm der Bauch weh, manchmal der Hals oder der Kopf. Vielleicht ist es wirklich ein Symptom dafür, dass er eine intensivere Behandlung braucht, wie seine Therapeuten behaupten. Aber es ist Winter, und Erkältungen grassieren, also ist meine Sorge vielleicht übertrieben.

Ehrlich gesagt glaube ich zu wissen, wie er sich fühlt.

Wie es mir nahegelegt wurde, habe ich meine Werkstatt nach Hause verlegt und verbringe kaum noch Zeit mit Freunden und Kollegen, um Kane all meine Aufmerksamkeit zu widmen. Seitdem gibt es Tage, an denen ich keinen Sinn darin sehe, morgens aufzustehen oder zu duschen. Ich will kein Frühstück essen und erst rechts keins für jemand anderen zubereiten, und der Gedanke, aus dem Haus zu gehen, lässt mir den kalten Schweiß ausbrechen.

Aber dann denke ich an das kleine traurige Gesicht mit diesen großen braunen Augen, ganz wie die seiner Mutter, und an den bedeutsamen Tag vor einem Jahr, als er mich so höflich gebeten hat, nicht mehr so weit wegzugehen zum Arbeiten. Und meine Liebe zu ihm siegt.

Für ihn kann und werde ich alles tun.

Schritt für Schritt.

Siena blinzelte.

Dinah war die schöne Blondine mit den verführerischen Augen auf dem Foto auf dem Klavier. Sie war Kanes Mutter, die zur Hochzeit ein ganzes Haus bekommen hatte. Und sie war tot.

„He, willst du meine Schaukeln sehen? Die sind viel besser als deine alte.“

Sie wirbelte herum und sah, dass Kane direkt hinter ihr stand und sie mit unschuldigen Augen anblickte. Ihr Herz pochte noch heftiger als zuvor. Ihre Handflächen wurden feucht. Ihre Wangen glühten.

Was war nur in sie gefahren, in James’ Internettagebuch zu schnüffeln? War sie verrückt geworden? Vielleicht hatte die Hitze ihr den Verstand geraubt.

„Na klar, Kane.“ Sie drehte ihn an den Schultern herum und schob ihn zur Tür. „Aber wir müssen uns beeilen, denn es wird bald Zeit für mich zu gehen.“

James stützte sich auf die Arbeitsplatte in der Küche und beobachtete, wie Kane und Siena aus seiner Werkstatt kamen und zu dem Trampolin gingen.

Ihre Füße waren nackt, ihre dichten dunklen Locken tanzten, und die Säume ihrer Jeans schleiften auf der Erde, aber das schien sie nicht zu merken oder zu kümmern.

Kane kletterte auf sein neuestes Spielzeug, und sie stemmte die Hände in die Hüften und beobachtete, wie er eifrig hüpfte und dabei unaufhaltsam plapperte.

James atmete tief durch.

Siena Capuletti war eine außergewöhnliche Frau, und wie er es auch drehte und wendete, sie hatten heftig miteinander geflirtet. Er wusste zwar nicht, wer von beiden damit angefangen hatte, aber es hatte ihm großen Spaß bereitet.

Ihm blieb keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn plötzlich kam Siena zur Hintertür herein und verkündete: „Ich habe einen Wahnsinnsdurst.“ Sie lehnte sich an den Schrank. „Es ist so heiß da draußen. Aber das ist es hier ja jeden Tag.“ Sehnsüchtig blickte sie zu dem Tablett mit Limonade und Keksen. „Darf ich?“

Er nickte und beobachtete, wie sie sich ein Glas nahm und es begierig an die Lippen führte. Während sie trank, rieb sie sich mit einer Hand den Nacken unter den Locken. Nun erst fragte er sich, ob sie sich womöglich bei dem Unfall verletzt hatte.

James runzelte die Stirn. Er hätte sich danach erkundigen sollen, gleich nachdem er sich vergewissert hatte, dass Kane nichts Schlimmes zugestoßen war. Was war nur los mit ihm in letzter Zeit? Flotte Sprüche konnte er zwar machen, aber die Fähigkeit zu logischem Denken und Handeln war ihm wohl abhanden gekommen. Hatte er verlernt, mit Erwachsenen umzugehen, weil er zu viel Zeit mit Kane verbrachte? Wie konnte er Siena nur Limonade und Kekse anbieten, als wäre sie ein Kind?

Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Locken, bis sie ihr wirr auf die Schultern fielen. Anscheinend war sie nicht verletzt, sondern strich sich nur gern durch das Haar. Das konnte er durchaus nachempfinden. Diese tanzende glänzende Pracht wirkte sehr einladend.

Als sie das Glas geleert hatte, holte sie tief Luft und leckte sich die letzte Süße der Limonade von den Lippen. „Sie haben da draußen eine hübsche Werkstatt. Ich habe einen Blick auf die Wickelkommode geworfen, an der Sie arbeiten. Sie ist hinreißend. Wirklich. Sie sind sehr talentiert.“

James quittierte das Lob mit einem Kopfnicken. „Das sagt man.“

„Was müsste man für so etwas hinblättern?“ Sie verlagerte etwas ihr Gewicht, kreuzte die Knöchel und enthüllte dabei eine sehr schmutzige Fußsohle.

Ihm fiel eine dunkle Fußspur auf den weißen Fliesen auf. Er presste die Lippen zusammen und dachte bei sich, dass Matt bei dem Anblick des Schmutzes toben würde.

Aber auf James wirkten diese Stapfen wie die ersten Fußabdrücke auf dem Mond. Sie waren der Beweis für einen richtigen erwachsenen Gast in seiner Küche, und das war ein einzigartiger Durchbruch.

„Sie müssten mehr bezahlen, als Sie denken“, erwiderte er. „Dieses Stück wurde für den künftigen Sohn eines sehr prominenten Autors in Auftrag gegeben, und ich hätte diese Bestellung sicherlich nie bekommen, wenn meine Preise nicht so hoch wären.“

„Wollen Sie mir damit auf höfliche Weise zu verstehen geben, dass ich mir Sie nicht leisten könnte?“

„Keineswegs“, entgegnete er lachend. „Aber Sie müssten Schlange stehen.“

Sie zog eine Augenbraue hoch in einer sehr überzeugenden Geste der Antipathie. Aber anstatt ihm damit einen Dämpfer aufzusetzen, machte sie ihm nur bewusst, dass ihm ihre geschwungenen Brauen fast so gut gefielen wie ihre wirren Locken.

„Zu meiner Verlegenheit muss ich zugeben, dass die Nachfrage nach dem Label Dillon durch den plötzlichen Seltenheitswert gewaltig gestiegen ist, seit ich nur noch zu Hause arbeite.“ Er lehnte sich ebenfalls an den Küchenschrank und imitierte ihre Haltung. „Mein Manager ist im siebten Himmel, denn jetzt kann er seine Preisvorstellungen verwirklichen, weil ich nur noch selten in den Ausstellungsraum komme.“

Siena machte eine abwehrende Handbewegung. „Okay. Ich habe begriffen. Ich kann Sie mir nicht leisten.“

Er lachte erneut, und es fühlte sich befreiend an, weil er es viel zu lange nicht mehr getan hatte.

„Aber macht es Sie nicht verrückt, ständig zu Hause zu sein?“

„Im Gegenteil. Es beruhigt mich. Ich habe mir ein Babyphon zugelegt und weiß dadurch immer und überall, wenn Kane mich braucht. Außerdem kann ich mir meine Arbeitszeit frei einteilen. Ich würde es nicht mehr anders haben wollen.“

Seit einigen Monaten drehte sich sein Leben so sehr um Kane, dass James dessen Nöte vermutlich auch ohne das Babyphon gespürt hätte. Aber das verriet er lieber nicht.

„Tja, ich weiß nicht“, murmelte Siena. „Ich fürchte, ich würde durchdrehen, wenn ich immer nur dieselben vier Wände anstarren müsste.“

„Sehen die Kabinen Ihrer Flugzeuge nicht auch alle gleich aus?“

Eine Sekunde dachte sie darüber nach. „Nein. Nicht mit zweihundert neuen Gesichtern pro Flug.“

„Das leuchtet mir ein. Und wie lange streben Sie schon so hoch hinaus?“, fragte James in dem Bedürfnis, diese Begegnung auszudehnen, die ihn irgendwie so gelöst machte.

Als ihre rechte Augenbraue in die Höhe schoss, befürchtete er, dass er etwas Falsches gesagt hatte. Es war so lange her, seit er zu jemandem Kontakt gesucht hatte, dass er offensichtlich aus der Übung gekommen war. Fasste sie seine Wortwahl als plumpen Annäherungsversuch auf, obwohl er einfach nur plaudern wollte?

Siena verzog den Mund, während sie seine Worte misstrauisch abwog. „Seit sieben Jahren. Warum?“

„Mir ist im wahren Leben noch nie eine echte Stewardess begegnet. Ich dachte bisher immer, ihr alle wärt gut abgerichtete Roboter, die in Max’ Hauptquartier trainiert und gelagert werden.“

Sie schaute hinab zu ihren nackten Füßen. „Sehe ich etwa wie ein Roboter aus?“

„Oh, nein, Sie sehen sehr real aus.“

Sie blickte wieder auf und schenkte ihm ein Lächeln, und tief in ihm regte sich etwas, veränderte sich etwas. Er versuchte, sich dagegen zu wehren, aber es war wohl schon zu spät.

Während James seinen inneren Kampf focht, kniff sie die Augen zusammen, als wollte sie sein Wesen ergründen. Oder vielleicht versuchte sie, ihn einzuordnen. Kannten sie sich womöglich? Vielleicht beruhte diese Regung nicht auf Faszination, sondern auf Vertrautheit. Er wollte schon fragen, ob sie sich irgendwo schon einmal begegnet waren, aber selbst er wusste, dass es wie ein dummer Spruch geklungen hätte.

„Erstens bin ich nicht nur irgendeine Flugbegleiterin. Ich bin Chef-Stewardess der ersten Klasse bei MaxAirs internationalen Fluglinien. Und zweitens stecke ich nur in diesem Outfit statt in meinem bevorzugten Kostüm, weil mich ein Kind auf dem Flug hierher mit Cola übergossen hat. Bitte sagen Sie mir, dass Kane keine Cola trinken darf!“

„Er darf keine Cola trinken“, bestätigte James gehorsam. „Matt hat ihm den Trick mit der Münze gezeigt, und seitdem hat Kane mehr Angst vor Cola als vor der Dunkelheit.“

Wie erhofft zauberten seine Worte ein Lächeln auf ihr Gesicht, und ihre Augen funkelten wie das Meer. Sie war verdammt hübsch.

„Ausgezeichnet.“ Siena nickte begeistert.

„Ausgezeichnet“, wiederholte James, und seine Stimme klang rau und träge in der Hitze des Augenblicks. War es wirklich so warm? Die Klimaanlage lief auf Hochtouren, aber ihm erschien es heiß.

Eine verlegene Stille senkte sich über den Raum, als ihnen der Gesprächsstoff ausging. Vergeblich suchte James nach einem geeigneten Thema, denn für klare Gedanken war er zu aufgewühlt und zu sehr fasziniert von Siena.

„Haben Sie einen Abschleppwagen gerufen?“, fragte sie schließlich. „Ich habe Sie vorhin telefonieren gesehen.“

„Ja. Er ist unterwegs.“

Sie atmete auf, denn sie scheute sich, Rufus zu rufen, der so wenig charmant und gesprächig war. Aber es war Zeit zu gehen.

Vor allem, weil sie durch die Lektüre von James’ Blog nun wusste, warum seine einst glücklich strahlenden Augen nun von einem kühlen Grau überschattet waren. Es rührte sie derart, dass sie lieber in dieser Vorortküche geblieben und mit ihm gewitzelt hätte, anstatt sich um ihre eigenen Belange zu kümmern. Sie brannte darauf zu erleben, wie sich sein verhaltenes Lächeln in ein echtes Strahlen verwandelte.

Aber das war ihr nicht vergönnt. Denn in zwei Tagen würde sie nach Melbourne zurückfliegen – um sich mit den Stellenangeboten in der Zeitung zu befassen oder ihre Sachen für einen Umzug nach Rom zu packen.

Plötzlich fiel ihr auf, dass sie haargenau James’ Haltung imitierte – oder umgekehrt. Jedenfalls lehnten sie beide lässig am Schrank, einander zugewandt, die Hände dicht nebeneinander aufgestützt. Ja, es war allerhöchste Zeit für sie zu gehen.

„Ich warte lieber draußen“, sagte sie, um das gespannte Schweigen zu brechen. „Ich muss aufpassen, dass der Wagen in die richtige Werkstatt geschleppt wird. Sonst bringt mein Bruder mich wirklich um.“

Sie ging in den Wohnbereich und schnappte sich die Handtasche vom Piano. An der Haustür drehte sie sich noch einmal um. James war ihr gefolgt und beobachtete sie mit diesen düsteren, aber recht hübschen Augen. Erneut spürte sie eine seltsame Sehnsucht.

Als sie hastig zurückweichen wollte, stolperte sie über einen Läufer. James packte sie am Arm und stützte sie. Siena gewann das Gleichgewicht wieder, aber seine Nähe raubte ihr den Atem. Sein Griff war stark. Ihr Handgelenk brannte unter seiner Berührung. Sie fing einen Hauch von Hobelspänen und Zedernöl auf. Für sie roch er nach Tradition und Familie und Zuhause.

Erinnerungen stiegen auf. Ihr Dad hatte immer darauf bestanden, dass der Esstisch mit Zedernöl auf Hochglanz poliert wurde. Es war eine der wenigen Aufgaben, die sie gern übernommen hatte nach dem Tod ihrer Mutter, denn die Tätigkeit hatte beruhigend gewirkt und ihr immer ein Lob von ihrem Vater beschert.

Die Erinnerung, der Geruch, das Haus, James – all das wirkte so überwältigend, dass sie ein wenig schwankte.

Er verstärkte den Griff, legte ihr die andere Hand auf die Taille. Doch anstatt ihre Verwirrung zu erhöhen, erweckte die galante Geste nur ihren Widerstand. Sie brauchte niemanden, der sie vor einem Sturz rettete. Sie war oft genug auf die Nase gefallen, um zu wissen, dass sie aus eigener Kraft wieder aufstehen konnte.

„Danke“, murmelte Siena, während sie ihm ihr Handgelenk entwand. Auf festen Beinen wirbelte sie herum, stürmte zur Tür hinaus und schnappte sich im Vorübergehen ihre Schuhe.

Als sie das grüne Ungetüm erblickte und das Ausmaß der Beschädigung erfasste, verlangsamte sie den Schritt. Die ganze Motorhaube war eingedrückt und verzogen. Der beißende Geruch von verbranntem Öl lag in der Luft. Bestimmt war es ein Totalschaden.

Geld war ihr kleinstes Problem. Mit ihrem Anteil vom Hausverkauf konnte sie es sich leisten, den Wagen reparieren zu lassen oder zehn neue Autos zu kaufen. Ihr Problem war Rick. Ihr ganzes Leben lang hatte er sie als verantwortungslos, aufsässig und allzu impulsiv bezeichnet, und kaum war sie eine halbe Stunde wieder zu Hause, bewies sie ihm, dass er recht hatte.

Sie näherte sich dem Auto und sah, dass sie weitere Schäden angerichtet hatte. Bevor sie gegen den Baum gefahren war, hatten die Räder eine Gruppe Rosen niedergewalzt. Siena hatte diese Sträucher zusammen mit ihrem Vater an einem warmen Frühlingstag gepflanzt. Im Geiste sah sie deutlich, wie er sie angelächelt hatte, als wäre sie seine Prinzessin. Die Erinnerungen, die auf sie einstürmten, wirkten regelrecht überwältigend.

„Oh, es tut mir ja so leid“, flüsterte sie betroffener, als ein paar zerquetschte Rosen gerechtfertigt hätten.

„Machen Sie sich deswegen keine Sorgen“, sagte James direkt hinter ihr.

Sie zuckte vor Schreck zusammen, drehte sich zu ihm um und beschloss, ihn in dem Glauben zu lassen, dass ihre Entschuldigung ihm allein gegolten hatte. „Ich habe vor ein paar Jahren einen Kursus in Gartenpflege besucht. Sie können die Sträucher wieder einpflanzen und brauchen sie nur zu beschneiden.“ Sie bot lieber nicht an, die Aufgabe zu übernehmen, nachdem die Behandlung von Kanes Wunde mehr Probleme aufgeworfen als beseitigt hatte. „Die wachsen wieder an, falls Sie das tröstet.“

James hockte sich nieder und zog eine Rose unter einem Reifen hervor. Der Stängel war am äußersten Ende zerquetscht, aber die Blüte war unversehrt. Es war ein wunderschönes Exemplar der Sorte „Iceberg“ – kühl, weiß, vollkommen. Er reichte ihr die Blume. „Hier. Für Sie.“

Die Geste wirkte so intim, so ungewollt romantisch, dass Siena nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte. Sie erkannte, dass James ebenfalls zögerte. Er betrachtete die Rose und dann Sienas Gesicht. In den Tiefen seiner kühlen grauen Augen spiegelte sich eine schmerzhafte Erinnerung.

Hatte sie seine Gefühle verletzt, weil sie das Ding nicht einfach angenommen hatte? Oder erinnerte er sich an einen ähnlichen Moment mit seiner Frau? So oder so, der Kummer in seinen Augen berührte sie zutiefst.

Um die unangenehme Spannung zu vertreiben, heftete sie ein breites Lächeln auf ihre Lippen und riss ihm förmlich die Blume aus der Hand. „Danke, James. Da ich sie praktisch gepflückt habe, gehört sie rechtmäßig mir.“ Sie schnupperte an den samtweichen Blütenblättern, die einen dezenten Duft verströmten. „Wundervoll.“

In diesem Augenblick hielt ein kleines rotes Auto vor dem Haus. Hastig wich James zurück, als wäre ihm nun erst bewusst geworden, wie nahe er Siena gekommen war.

Ein großer schlaksiger Mann in den Fünfzigern mit langem grauen Pferdeschwanz stieg aus. Seine Augen funkelten, und er grinste übermütig, als er zu James schlenderte und ihm auf den Rücken schlug. „Morgen, Kumpel!“

Verlegen wich James seinem Blick aus und trat von einem Fuß auf den anderen. „Hi, Matt. Kane ist auf dem Trampolin, falls du ihn begrüßen willst.“

Matt zog die buschigen grauen Augenbrauen hoch. „An einem Schultag? Schon wieder?“

Siena war gar nicht in den Sinn gekommen, dass Kane nicht zu Hause hätte sein sollen. Da sie stets im Wechsel drei Tage Dienst und zwei Tage frei hatte, wusste sie selten, ob gerade Wochenende war oder nicht.

„Er fühlt sich nicht wohl“, erklärte James.

Manchmal tut ihm der Bauch weh, manchmal der Hals oder der Kopf …

„Das erklärt natürlich, warum ihn das Trampolin so reizt“, murmelte Matt sarkastisch. Dann wandte er sich unvermittelt an Siena. „Und wer könnte diese liebliche frische Blume sein?“ Mit einem verschmitzten Grinsen blickte er zu der Rose in ihrer Hand, zu James und dann zurück zu Siena.

Ich hätte beinahe sein Kind überfahren, wollte sie entgegnen. Es missfiel ihr sehr, dass sie nicht die Einzige war, die etwas Seltsames zwischen sich und James vorgehen spürte, der überall hinschaute, nur nicht zu ihr. „Siena Capuletti“, sagte sie. „Fahrerin des grünen Monsters, das sich um den Baum dort gewickelt hat.“

„Siena hat früher mal in diesem Haus gewohnt“, erklärte James.

Matt schüttelte ihr kräftig die dargebotene Hand. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Siena. Sind Sie zufällig mit Rick Capuletti verwandt? Dem Mechaniker?“

„Er ist mein Bruder.“

„Dachte ich’s mir doch! Sagen Sie ihm, dass O’Connor ihn grüßen lässt.“

„Mach ich“, versprach sie, gerade als der Abschleppwagen eintraf.

Der massige Fahrer, der mit dem Bauch zuerst ausstieg, deutete auf den Geländewagen. „He, das ist Ricks Auto!“

Seufzend tippte sie sich auf die Brust. „Ricks Schwester.“

„Oh! Die Deserteurin.“

Sie hätte ahnen müssen, dass es unmöglich war, unbeachtet zu bleiben. Obwohl Cairns sich während ihrer Abwesenheit zu einer lebhaften Stadt entwickelt hatte, wusste stets jeder praktisch alles über jeden. Alle würden erfahren, dass sie zurück war, dass sie das Auto ihres Bruders zu Schrott gefahren und einige Zeit mit James Dillon verbracht hatte – dem Witwer.

„Wie wäre es, wenn wir das Baby hier wegbringen, bevor mein zweihundert Pfund schwerer Bruder von der Sache erfährt und in Rage gerät?“, schlug sie in dem höflich-bestimmten Ton vor, den sie als Stewardess anzuschlagen pflegte.

Sie schnippte mit den Fingern, und der Fahrer schreckte aus seiner Verwunderung auf und erinnerte sich, dass er nach der Anzahl der verrichteten Jobs bezahlt wurde. Das beflügelte seinen Schritt, als er zu dem Wagen ging.

Siena wandte sich an Matt und James und erklärte: „Ich bin hier aufgewachsen, aber vor einigen Jahren weggezogen und jetzt zum ersten Mal wieder hier, und mein großer Bruder ist eine Nervensäge und mischt sich in alles ein.“

„Ja, ja, die liebe Familie“, meinte Matt. „Man kommt einfach nicht mit ihr aus.“

Siena grinste. „Das ist das Motto meines Lebens.“

„Also wohnen Sie nicht mehr hier in dieser Gegend?“, hakte James nach.

„Nein. In Melbourne. Überwiegend.“

Autor

Jessica Hart
Bisher hat die britische Autorin Jessica Hart insgesamt 60 Romances veröffentlicht. Mit ihren romantischen Romanen gewann sie bereits den US-amerikanischen RITA Award sowie in Großbritannien den RoNa Award. Ihren Abschluss in Französisch machte sie an der University of Edinburgh in Schottland. Seitdem reiste sie durch zahlreiche Länder, da sie sich...
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