Romana Exklusiv Band 318

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SINNLICHE VERSUCHUNG IN ITALIEN von REBECCA WINTERS
Annabelle kann ihr Glück kaum fassen: Sie ist das neue Model für eine Kampagne, die an der wunderschönen Amalfi-Küste fotografiert wird. Doch ihre Villa muss sie mit Lucca Cavezzali teilen. Ein italienischer Traummann, dem leider "Vorsicht, nicht verlieben!" ins Gesicht geschrieben steht …

SÜSSE EROBERUNG AM MITTELMEER von LEANNE BANKS
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VERFÜHRT VON EINEM SPANISCHEN MILLIONÄR von DANIELLE STEVENS
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  • Erscheinungstag 10.01.2020
  • Bandnummer 318
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748845
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Rebecca Winters, Leanne Banks, Danielle Stevens

ROMANA EXKLUSIV BAND 318

1. KAPITEL

Annabelle Marsh stand am Waschbecken und begann sich abzuschminken. In der Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, erkannte sie sich selbst kaum wieder. Ihr blondes schulterlanges Haar glänzte fast unnatürlich, die blauen Augen wirkten fast violett, Brauen und Wimpern dunkler, als sie in Wirklichkeit waren. Dank Make-up und Puder machte ihr Teint den Eindruck, makellos zu sein. Rouge betonte ihre hohen Wangenknochen, und der diskret aufgetragene Konturenstift ließ die Lippen voller und sinnlicher erscheinen. Nein, das war nicht sie. Das war das Werk einer Maskenbildnerin.

Gleich ein ganzer Schwarm guter Feen bemühte sich zurzeit darum, aus Annabelle das Beste zu machen. Die Kleider, die sie während der Fotoaufnahmen in Italien trug, stammten von einem römischen Couturier und der dazu passende Schmuck von einem bekannten Juwelier. Vor vier Tagen hatte das Shooting auf einer Luftwaffenbasis in der Nähe der Hauptstadt begonnen, wo sie vor einem MB-Viper-Kampfjet posieren musste. Das Modeln machte ihr Spaß. Sehr viel Spaß sogar. Insgesamt drei Wochen sollte sie das Amalfi-Girl spielen.

„Danach dürfen Sie sich, wenn Sie darauf bestehen, wieder in Ms. Marsh zurückverwandeln“, hatte Giulio Cavezzali gesagt.

„In ein Aschenputtel, meinen Sie wohl.“

Annabelle hatte nach ihrer kurzen Ehe und der Scheidung vor zwei Jahren wieder ihren Mädchennamen angenommen. Doch ihr Selbstvertrauen war noch immer angeknackst.

„In ein Aschenputtel? Sie? Wenn Sie das wären, hätte ich Sie wohl kaum für das wichtigste Projekt meines Lebens ausgesucht.“

Diesen Tag vor zwei Monaten, an dem der temperamentvolle Wagenbauer nach Los Angeles gekommen war, um mit ihrem Chef Mel Jardine über die Auslieferung der nächsten Modelle zu sprechen, würde Annabelle wohl nie vergessen.

Mel gehörte der Autohandel, der die meisten Amalfis in den Vereinigten Staaten verkaufte, und Annabelle war seine persönliche Assistentin. An diesem Tag hatte sie ihre Arbeit liegen lassen, um sich ausschließlich darum zu kümmern, es dem Gast so angenehm wie möglich zu machen. Doch Guilio bestand darauf, dass sie auch bei den Verhandlungen dabei war. Die Aufmerksamkeit, mit der er sie bedachte, ließ sie zunächst befürchten, der verheiratete ältere Mann habe ein Auge auf sie geworfen. Eine Annahme, die sich rasch in Luft auflöste, als er Mel deutlich machte, er wolle Annabelle als Fotomodell für eine Werbekampagne engagieren.

Sie fand das völlig abwegig, Mel aber meinte, sie solle sich den Vorschlag des Autoherstellers wenigstens anhören.

„Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, warum Ihre Wahl auf mich gefallen ist.“

„Das ist ganz leicht zu erklären. Die Cavezzali-Familie baut seit den fünfziger Jahren Autos, wie Sie wissen. Gute, solide, luxuriöse Autos. Ein Sportwagen gehörte zu unserer Produktlinie bislang nicht, obwohl ich seit Langem von der Herstellung eines tiefergelegten zweisitzigen Cabriolets geträumt habe. Jetzt ist es endlich so weit, dass es in Serie gehen kann. Wissen Sie, was das für mich als Designer bedeutet? Meine Visionen bezüglich der Gestaltung der Karosserie haben sich nicht nur als umsetzbar erwiesen, sondern dank meiner Konstrukteure ist es auch gelungen, diesen Prototyp mit einer exzellenten Technik auszustatten. Das betrachte ich als Krönung meines Lebenswerks, denn normalerweise geht man von dem umgekehrten Prozess aus. Man stellt erst die Funktion in den Vordergrund und passt ihr dann die Form an. Das ist eine Grundregel guten Designs. Und Sie verkörpern in meinen Augen die ideale Fahrerin für dieses Auto. Sie sind das geborene Amalfi-Girl.“

Sie lachte ungläubig.

„Endlich habe ich gefunden, was mir vorschwebte, um meinen Wagen bekannt zu machen: Sie.“

Die charmante Art und die Überschwänglichkeit des attraktiven gut sechzigjährigen Italieners wirkte ansteckend.

Sie schüttelte den Kopf.

„Doch. Ich meine es ernst. Ich suche schon seit Monaten nach der richtigen jungen Frau. Dabei hatte ich nicht einmal eine bestimmte Vorstellung von ihr. Ich habe nur gehofft, ihr irgendwann zu begegnen.“ Er strahlte sie an. „Und jetzt sitzt sie mir gegenüber. Sie sind einzigartig, so einzigartig wie mein Wagen. Mel kann Ihnen bestätigen, dass ich bisher noch keins unserer Modelle mit einem weiblichen Wesen beworben habe.“

Das stimmte. Annabelle kannte die Kataloge, Anzeigen und Werbespots sämtlicher Automarken der Firma.

„Ich fühle mich geschmeichelt, Mr. Cavezzali. Aber …“

„Nennen Sie mich bitte Guilio“, unterbrach er sie.

„Gut, Guilio. Warum haben Sie sich diesmal für eine Frau entschieden? Ihr bisheriges Marketingkonzept war doch ansprechend und erfolgreich.“ Das meinte sie völlig ernst.

Der Mann legte die Fingerspitzen aneinander. „Das freut mich zu hören, und grundsätzlich will ich es auch dabei belassen. Sie brauche ich für eine besondere Kampagne, die wie ein Paukenschlag den Sportwagen ankündigen soll. Ich habe ihn nämlich zu Ehren meines Sohnes entworfen und dann konstruieren lassen. Es ist meine Art, ihm meine Anerkennung auszudrücken. Das muss deutlich werden.“

Sein ernster, ruhiger Ton verriet Annabelle, wie sehr er ihn lieben musste.

„Lucca ist mit achtzehn zur Luftwaffe gegangen und ein hoch dekorierter Kampfflugzeugpilot geworden.“ Guilios Augen wurden feucht. „Er ist mein Ein und Alles. Ich habe den Wagen Amalfi-MB-Viper genannt, damit er erfährt, wie sehr ich bewundere, was er erreicht hat.“

Ah … Nun verstand sie. Der Sportwagen sollte den Namen des Flugzeugtyps tragen, den sein Sohn flog.

Guilio schaute sie lange an. „Mit dem Amalfi-Girl möchte ich vor allem die Händler für das Cabriolet begeistern. Es soll auf Plakaten und Kalendern zu sehen sein, die wir an die Niederlassungen in aller Welt verschicken wollen. Wenn wir das Auto der Öffentlichkeit präsentieren, wird nicht nur mein Sohn dabei sein, sondern auch Sie sollen live in Erscheinung treten. Mehr verlange ich nicht von Ihnen, Annabelle. Sie brauchen also keine Sorge zu haben, dass Sie überall Ihrem Abbild begegnen oder man Sie auf der Straße als Amalfi-Girl anspricht. Außerdem verspreche ich, Ihnen das dreiwöchige Shooting so leicht wie möglich zu machen und Ihnen jeden Wunsch zu erfüllen.“

Annabelle war eine Weile sprachlos.

Was würde Ryan dazu sagen, wenn er sie in Seide gehüllt und mit Juwelen behängt auf einem Plakat oder in einem Kalender entdeckte? Und in dem lässig an ein Cabriolet gelehnten Luxusgeschöpf seine langweilige Exfrau wiedererkannte? Da bliebe ihm wohl die Spucke weg. Schon während seiner Ausbildung zum Facharzt hatte er von einem spritzigen Sportwagen geträumt und sich regelmäßig die neuesten Modelle vorführen lassen. Von dieser Leidenschaft hatte sie gewusst, nicht aber von der zu einer ihrer Kolleginnen. Seine Affäre hatte ihr das Herz gebrochen und ihr den geliebten Beruf als Krankenschwester vergrault. Denn natürlich war es unmöglich gewesen, mit ihm und seiner Neuen im gleichen Spital weiterzuarbeiten.

Dass Guilio sie so attraktiv fand, um mit ihr für seinen neuen Wagen zu werben, empfand sie als Balsam für ihr lädiertes Selbstvertrauen. „Es ist mir eine Ehre“, sagte sie schließlich.

„Während der Aufnahmen werden Sie bei mir und meiner Frau Maria wohnen und auch meine Brüder und meine Stiefsöhne kennenlernen, die ebenfalls für das Unternehmen arbeiten. Sie alle leben mit ihren Familien ganz in unserer Nähe.“

„Darauf freue ich mich. Doch ich möchte Ihnen auf keinen Fall zur Last fallen.“

„Wenn es Ihnen lieber ist, kann ich Sie auch in einem Hotel unterbringen. Selbstverständlich im besten von Ravello.“

„Eine einfache und ruhige Pension würde mir besser gefallen. Am liebsten irgendwo auf dem Land.“

„Herrje. Sie sind aber eigensinnig. Das erinnert mich an meinen Sohn“, meinte er dann und nickte. „Also gut, ich werde Ihnen den Wunsch erfüllen.“ Dann wandte er sich an Mel. „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Annabelle für ein paar Wochen entführe? Letztlich wird es auch Ihrem Geschäft nützen.“

Mel lächelte. „Nicht, wenn Sie mir versprechen, Sie mir nicht ganz abspenstig zu machen. Ohne sie komme ich nicht mehr zurecht. Sie wollen doch sicher nicht, dass ich wieder einen Herzinfarkt bekomme.“

Guilio schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Cielo. Nur das nicht.“

Alle drei mussten lachen.

Das war vor acht Wochen gewesen. Vier Tage hatte sie nun schon vor der Kamera gestanden und war heute gleich nach den Aufnahmen von Rom nach Ravello gebracht worden, wo die Familie Cavezzali im steilen Vorgebirge hoch über dem Golf von Salerno lebte. Die Stadt, nordöstlich von dem Kurort Amalfi gelegen, nach dem die Cavezzalis ihre Autos benannt hatten, war zwar nicht groß, konnte aber auf eine traditionsreiche Geschichte zurückblicken.

Sie wurde gegen Ende der Römerzeit gegründet. Nicht nur ihre Lage und der weite Blick über das Meer machten sie zu einer Attraktion der Halbinsel Sorrent, sondern auch ihre schönen Häuser und Gärten. Im neunzehnten Jahrhundert kamen bedeutende Künstler aus dem europäischen Ausland dorthin. Inzwischen machten hier Adlige, Filmstars und Scheichs gern Urlaub. Ihre Jachten lagen in den kleinen Häfen unterhalb der Steilküste.

Trotzdem hatte es Annabelle weiter ins Landesinnere gezogen, in die Einsamkeit, wo das Leben noch bescheidener war. Sie brauchte unbedingt Erholung. Seit ihrer Hochzeitsreise nach Mexiko vor vier Jahren hatte sie keinen Urlaub mehr gemacht. Italienische Landschaften und die typischen Bauernhäuser hatten sie schon fasziniert, als sie diese nur von Filmaufnahmen kannte, und eine besondere Sehnsucht in ihr ausgelöst. Deshalb war sie dankbar, dass Guilio ihr dieses Haus zur Verfügung gestellt hatte. Es gehörte zu einem stillgelegten Hof, den der Vater von Guilios erster Frau seinem Enkel Lucca hinterlassen hatte. Seit fünfzehn Jahren stand es schon leer.

Wunderschön war es hier. Zwar blätterte der terrakottafarbene Putz schon von den Mauern, und auch das Türkis der Fensterläden war von der Sonne ausgeblichen, doch das von einem Teppich blühender Gänseblümchen umgebene Gebäude machte keineswegs einen verwahrlosten Eindruck, sondern fügte sich wunderbar in die idyllische Umgebung ein. Morgen früh, bevor sie ein Fahrer um elf Uhr abholte, wollte sie das Gelände erkunden.

Auch von innen gefiel Annabelle ihre Bleibe. Durch die Eingangstür gelangte man unvermutet direkt in die Küche. Sie sah aus, als könnte man hier nach Herzenslust kochen und mit der Familie oder Freunden zusammensitzen und essen. Der Blick von der mit Blumen umwucherten Terrasse auf der Rückseite reichte bis zum Meer. Nach dem Trubel und Lärm in Rom war dies für sie genau der richtige Ort, um sich zu entspannen.

Nachdem sie sich ganz abgeschminkt hatte, ging Annabelle unter die Dusche. Danach fühlte sie sich herrlich erfrischt, zog sich ihren blauen Bademantel an, föhnte sich das Haar und steckte es lose auf. Am nächsten Tag würde die Maskenbildnerin vor dem Shooting wieder eine perfekte Frisur daraus machen.

Ein Blick in den Spiegel zeigte, dass es das Amalfi-Girl nicht mehr gab. Wenigstens für die Nacht nicht.

Konnte man sie mit ihren sechsundzwanzig Jahren überhaupt noch als Mädchen bezeichnen? Gelang es den Verwandlungskünstlern, in deren Hände sie sich seit ein paar Tagen begab, tatsächlich die Spuren ihres bewegten Lebens mit Make-up wegzuzaubern? Oder brachte die Kamera sie doch ans Licht? Für Guilio stand fest, dass sie die Richtige für die Aufnahmen war. Er glaubte an sie. Und sie war inzwischen so für ihn eingenommen, dass sie um seinetwillen hoffte, dass er recht behielt. Dafür gab sie ihr Bestes.

Sicherlich würde sein Sohn zutiefst gerührt sein, wenn er erfuhr, was sein Vater zu seinen Ehren alles unternommen hatte. Und sie fühlte mit Guilio mit. Er konnte es kaum erwarten, Lucca zu überraschen, und war über die Maßen auf dessen Reaktion gespannt. Zwei Monate – bis zum August – musste er sich noch gedulden. Der Termin, an dem der Sportwagen in Mailand vorgestellt werden sollte, war auf den Beginn von Luccas Jahresurlaub festgelegt worden.

Extra zu diesem Ereignis wollte Guilio sie wieder nach Italien holen. Sie durfte nicht fehlen bei diesem Spektakel, zu dem natürlich auch die italienischen Fernsehsender und die Presse eingeladen waren. „Die Präsentation wird einschlagen wie ein Blitz“, prophezeite Guilio. „Das tue ich alles nur für meinen Lucca.“

Allmählich wurde Annabelle neugierig auf den Mann. Wahrscheinlich war er ähnlich charmant, tatkräftig und begeisterungsfähig wie sein Vater. Guilio hatte schon angekündigt, dass er ihr unbedingt Fotos von seinem Sohn zeigen wollte. Er hatte dessen ganzes Leben in Alben dokumentiert, bis hin zur Verleihung von Auszeichnungen.

Annabelle schaute aus dem offenen Fenster hinaus in die Dunkelheit, lauschte den Zikaden und konnte wieder nicht fassen, wie viel Glück sie hatte. Es war zwar anstrengend und ungewohnt, vor der Kamera zu stehen, doch immerhin ermöglichte es ihr den Aufenthalt in Italien und in diesem bezaubernden Haus mitten in der Natur. Sie wollte alles in vollen Zügen genießen und nicht darüber nachdenken, dass sie in gut zwei Wochen wieder nach Los Angeles zurückkehren musste.

Nachdem sie ihre Zähne geputzt hatte, schloss sie Fenster und Läden im Bad, knipste das Licht aus und ging in das größte der drei Schlafzimmer, wo sie das Bett schon frisch bezogen vorgefunden hatte. Die kuschelige Atmosphäre ihrer Umgebung hüllte sie ein. Hier hatten über Generationen hinweg Menschen gewohnt und ihre Spuren hinterlassen.

Mit einem Seufzer schlug sie die Decke zurück und ließ sich aufs Bett sinken. Schade, dass sie nicht bei geöffnetem Fenster schlafen durfte. Die Nachtluft war so verführerisch mild und weich wie Seide. Doch Guilio hatte ihr ausdrücklich davon abgeraten.

„Die Gegend ist recht einsam. Man kann nie vorsichtig genug sein.“

Wahrscheinlich hatte er recht. Am nächsten Tag wollte er ihr ein Auto zur Verfügung stellen, damit sie in ihrer Freizeit unabhängig und in der Lage war, allein die Landschaft zu erkunden. Darauf freute sie sich schon.

Als sie die Augen schloss, verspürte sie ein Gefühl von Geborgenheit. Vielleicht waren die Menschen, die hier einmal gelebt hatten, glücklich gewesen, hatten sich geliebt und miteinander gelacht …

Dort, wo sein Land an die Straße grenzte, die sich in Serpentinen den Berg hochwand, forderte Lucca den Fahrer auf, den Wagen anzuhalten. Dann bezahlte er, stieg mühsam aus, nahm seinen schweren Seesack aus dem Kofferraum und wartete, bis er die Rücklichter des Taxis nicht mehr sah.

Der Vollmond schien. Es war längst nach Mitternacht und kein Mensch weit und breit zu sehen, der sich wundern könnte, warum hier jemand um diese Uhrzeit noch unterwegs war. Lucca schaute sich um und atmete die würzige Luft ein. Sofort wurden Erinnerungen an seine Kindheit wach, als seine Mutter noch gelebt und er sich hier zu Hause gefühlt hatte.

Dann begann er mit dem Aufstieg. Jeder Schritt kostete ihn Kraft. Früher war er zwischen den Orangen- und Zitronenbäumen behände wie eine Gämse den Hang hochgeklettert.

Mehr als das Bein quälte ihn, dass er den Absturz überlebt hatte und sein bester Freund, der mit ihm in der Maschine gesessen hatte, dabei ums Leben gekommen war. Unter solchen Schuldgefühlen litten viele Überlebende, wie er inzwischen wusste. Dass nicht menschliches Versagen, sondern technische Fehler die Unfallursache gewesen waren, wie eine Untersuchung bald ergeben hatte, tröstete ihn überhaupt nicht. Auch das sei ganz normal bei Jet-Piloten, hatte ihm der Psychologe versichert. Das machte es allerdings keineswegs leichter.

Er brauchte ein neues Ziel. Nicht nur, weil er als Pilot für die Fliegerei untauglich geworden war. Eine neue Aufgabe würde ihm vielmehr in jeder Hinsicht guttun.

Schon als Jugendlicher hatte er seinem Vater gegenüber geäußert, dass er Landwirt werden wolle. Doch Guilio hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. „Das kommt gar nicht infrage. Deine Vorfahren mütterlicher- und väterlicherseits waren es, bis mein Vater die Amalfi-Werke gegründet hat. Ich werde nicht zulassen, dass mein Sohn einen solchen Rückschritt macht und sich unter glühender Sonne von morgens bis abends abrackert, nur um sich gerade über Wasser halten zu können. Das dulde ich nicht. Schlag dir das aus dem Kopf, und hör auf mich. Du bist ein Cavezzali und ein hervorragender Schüler, der das Zeug zu etwas Besserem hat. Ich möchte, dass du einmal in meine Fußstapfen trittst.“

Nach dieser Standpauke hatte er nie wieder über diesen Berufswunsch gesprochen und war gegen den Willen seines Vaters Offizier geworden. Er hatte aber den Plan, Landwirt zu werden, nicht aufgegeben und seit Jahren etwas von seinem guten Verdienst zur Seite gelegt. Nun war die Zeit gekommen, es zu investieren.

Außer Atem vor Anstrengung blieb er stehen. Hatte sein Großvater Lorenzo auch bei jedem Schritt solche Schmerzen gehabt? Wenn ja, dann ohne jemals ein Wort darüber zu verlieren. Er hatte bis zu seinem Tod hier gearbeitet, obwohl er schwer verletzt aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause gekommen war und ohne Krücke nicht hatte laufen können.

Als Kind war Lucca ihm gern zur Hand gegangen, wie auch seine Mutter, solange sie lebte. Schon sie war hier aufgewachsen und hatte das Landleben geliebt. Ihr wäre es recht gewesen, wenn er die Tradition fortsetzte und hier arbeitete und wohnte.

Der Seesack schien plötzlich immer schwerer zu werden, und Lucca hätte ihn gern eine Weile abgesetzt. Er war sich aber unsicher, ob er in der Lage wäre, ihn wieder auf die Schulter zu heben. Es gab hier zwar genug Obstbäume, an deren Äste er ihn hätte hängen können. Doch hielten sie das Gewicht auch aus? Wahrscheinlich nicht. Jahrelang waren sie nicht mehr beschnitten worden. Sobald er schmerzfrei sein würde, wollte er das vom Großvater geerbte Land wieder in Schuss bringen. Zum Leben reichte es aber wohl nicht. Er brauchte deshalb den Weinberg und den Olivenhain, die sein Vater damals erhalten und bisher verpachtet hatte. Wenn Guilio sie ihm und nicht einem Fremden verkaufte, konnte er den Anfang wagen und später weitere Ländereien erwerben.

Wie gut, dass er seinem Vater schon bei ihrem letzten kurzen Treffen ein Angebot gemacht hatte. Obwohl dessen Reaktion darauf typisch gewesen war: „Wenn du schon Geld in Land investieren willst, Lucca, dann solltest du ein Baugrundstück in der Stadt in Betracht ziehen. Das wäre wenigstens eine gewinnbringende Anlage.“ Statt wie früher so häufig eine Diskussion anzufangen, hatte er die Angelegenheit auf sich beruhen lassen und seinen Vater nur darum gebeten, mit dem Verkauf noch bis zu seinem Jahresurlaub im August zu warten. Jetzt konnte er nur hoffen, dass Guilio seiner Bitte nachgekommen war.

Wie gut, dass niemand sah, wie er sich jetzt als Invalide nach Hause schleppte. Am nächsten Tag, wenn er ausgeschlafen und in passabler Verfassung, also schmerzfrei, war, würde er seinen Vater aufsuchen, um mit ihm über das Land zu sprechen. Er musste sich auf ein anstrengendes Gespräch gefasst machen und damit rechnen, dass Guilio ihm sein Vorhaben, von der Landwirtschaft zu leben, auszureden versuchte. Er hatte noch nie Verständnis für ihn gehabt.

Endlich, nach einer Ewigkeit, hatte er den Aufstieg geschafft und stand vor seinem Haus. Wie verlassen es wirkte! „Ungepflegt“, hätte seine Mutter gesagt. Überall befand sich Unkraut zwischen den Blumen, die bis an das Terrassengeländer wucherten. Es war kaum noch zu erkennen, was ihr Tränen in die Augen getrieben hätte. Und erst der Anblick ihres Sohnes. Wie ein Wrack kam er sich vor mit seinen dreiunddreißig Jahren. Um ihn stand es kaum besser als um den Hof. Doch er würde es schaffen, das zu ändern. Wenn ihm nur sein Vater die Zusage nicht verweigerte.

Noch ehe er die Eingangstür erreicht hatte, zog er den Schlüssel aus der Tasche. Er hatte ihn schon lange nicht mehr benutzt. In der Freizeit traf er seinen Vater meist nur für ein paar Stunden in Mailand oder Rom. Das war nun vorbei. Endlich war er wieder zu Hause.

Hier wollte er bleiben, um von dem Land und seiner Hände Arbeit zu leben.

Unerwartet ordentlich sah es in der Küche aus. Er bezahlte zwar eine Frau aus der Nachbarschaft, damit sie alle paar Wochen nach dem Rechten schaute und sauber machte. Jetzt schien es so, als wäre sie gerade erst hier gewesen, was er nicht zu hoffen gewagt hatte. Und endlich konnte er seinen Seesack abstellen. Auf dem Tisch am besten, dann brauchte er sich nicht zu bücken, wenn er ihn auspackte.

Von der Last befreit, hinkte er weiter in den Flur, ließ das Wohnzimmer links liegen und betrat den Raum, in dem er schon als Kind geschlafen hatte, solange seine Mutter noch lebte, und auch später, wenn er bei seinem Großvater übernachtete und nicht bei seinem Dad, der mit ihm fortgezogen war. Auch ohne Licht zu machen, merkte er, dass sich seitdem nichts verändert hatte. Alles stand nach wie vor da, wo es sich immer befunden hatte.

Ob er die Kraft fand, noch das Bett zu beziehen? Jetzt sehnte er sich vor allem nach frischer Luft und dem Zirpen der Zikaden. Deshalb öffnete er das Fenster und stieß die Läden auf. Mit dem Duft und den nächtlichen Geräuschen strömte auch das Mondlicht herein. So schön wie hier war es nirgends auf der Welt. Er konnte das durchaus beurteilen, weil er schon viel von ihr gesehen hatte.

Während er dastand und tief einatmete, wurde der Schmerz in seinem Bein noch stärker. Das lag bestimmt an seiner Erschöpfung. Ohne Tabletten würde er nicht einschlafen können.

Diavolo! Sie befanden sich im Seesack in der Küche. Ein weiter Weg für einen Mann in seinem Zustand. Ihm fiel die Krücke seines Großvaters ein. Bewahrte er sie nicht mit den anderen Erinnerungsstücken im Schrank auf? Gott sei Dank, da war sie tatsächlich. Hoffentlich würde er sie nicht bis ans Ende seiner Tage brauchen wie der alte Lorenzo.

Auf das kostbare Erbstück gestützt schleppte er sich zurück, holte die Pillen hervor und spülte zwei davon mit einem Glas Wasser hinunter. Es schmeckte köstlich und löschte den Durst.

Danach humpelte er mit seinem Waschzeug in der Hand ins Bad und putzte sich die Zähne. Auf dem Rückweg ins Schlafzimmer rutschte ihm auf den Fliesen im Flur plötzlich die Krücke weg. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.

Ein dumpfer Schlag weckte Annabelle auf. Irgendetwas musste hinuntergefallen sein. Dann hörte sie einen Schrei und eine Reihe unverständlicher Flüche auf Italienisch. Sie sprang aus dem Bett. Jemand – es hatte nach einem Mann geklungen – musste im Haus sein und sich wehgetan haben. Guilio war es wohl nicht. Er hätte vorher angerufen. Vielleicht gab es so etwas wie einen Hausmeister hier, von dem sie nichts wusste.

Mit klopfendem Herzen warf sie sich den Bademantel über, lief zur Tür und riss sie auf. Eine dunkle Gestalt lag auf dem Boden und versuchte ächzend, wieder auf die Beine zu kommen.

Offenbar war der Eindringling verletzt und hilflos. Deshalb traute sie sich, das Licht einzuschalten. Überrascht wandte der nächtliche Besucher den Kopf und blinzelte, weil ihn die Helligkeit blendete. Es war tatsächlich ein Mann. Er hatte ein Gesicht, in das sich tiefe Linien eingegraben hatten, die sie nur von Schmerzpatienten her kannte, und einen muskulösen Körper, der zwar abgemagert war, ihr aber dennoch Furcht einflößte.

Beherzt griff sie nach der Krücke auf dem Boden und hielt sie ihm drohend entgegen. „Ich weiß zwar nicht, wer Sie sind, und vielleicht verstehen Sie auch kein Englisch, aber wenn Sie noch eine Bewegung machen, werde ich Sie hiermit aufhalten“, stieß sie zwischen den Zähnen hervor und machte einen Schritt auf ihn zu.

„Das wäre unfair, Signorina. Man schlägt niemanden, der schon am Boden liegt.“

Die Stimme des Fremden klang tief und angenehm, sein Englisch mit leichtem italienischem Akzent war perfekt. Doch dass er sie trotz seiner misslichen Lage und seiner offensichtlichen Behinderung verspottete, gefiel ihr ganz und gar nicht. Deshalb musste sie ihn unbedingt in seine Schranken weisen und durfte ihm ihre Angst nicht zeigen.

„Sie befinden sich auf fremdem Grund und Boden, Signore.“

Er richtete den Oberkörper auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und streckte die langen Beine aus. Wenn er aufstand, konnte er gut und gern einsneunzig groß sein. Und seine Schultern waren breiter, als sie zunächst vermutet hatte.

„Nicht ich, sondern Sie gehören hier nicht her, Signorina. Da ich jetzt unbedingt allein sein möchte, bitte ich Sie, das Feld zu räumen.“

Annabelle schnaufte vor Ärger. „Zufällig weiß ich, dass in diesem Haus seit Jahren niemand mehr wohnt.“

Er schloss die Augen. Auf seiner Stirn und Oberlippe hatten sich Schweißperlen gebildet. Der Mann schien erschöpft zu sein und Schmerzen zu haben. Widerwillig empfand sie Mitgefühl für ihn.

„Trotzdem bin ich der Besitzer und will wissen, was Sie hier verloren haben, Signorina.“

Das fand sie unverschämt. „Sie sind hier eingedrungen. Deshalb stelle ich die Fragen“, fuhr sie ihn an. „Aber vorher möchte ich Ihren Personalausweis sehen.“

Er öffnete mühsam die Lider und schaute Annabelle durch pechschwarze Wimpern an. „Wie schade. So jung und schon so misstrauisch.“

Vor Zorn stieg ihr das Blut in die Wangen. „Was heißt hier schon?“

„Sie sind noch nicht einmal verheiratet“, er deutete mit dem Kinn auf ihre ringlose rechte Hand, „und benehmen sich bereits, als hätten Sie nichts als Enttäuschungen hinter sich. Bei einer Vierzigjährigen könnte ich das ja verstehen.“

Das hätte er nicht sagen dürfen! „Und ich verstehe nicht, wie einer in Ihrem Alter schon zum Zyniker geworden ist. Hat keine Sie genommen, oder konnte es keine mit Ihnen aushalten? Doch das sollte mir eigentlich egal sein. Eins lassen Sie sich allerdings gesagt sein: Sie brauchen einen Rollator und keine Krücke, die Ihnen wegrutschen kann.“

Er presste die Lippen zusammen. Weil ihn ihre Worte getroffen hatten? Oder weil er Schmerzen hatte?

„Signorina“, er schien am Ende seiner Geduld zu sein, „geben Sie doch endlich zu, dass Sie eine abgebrannte Touristin sind, die sich kein Hotelzimmer leisten kann und deshalb in der Gegend nach einem unbewohnten Haus gesucht hat, um sich dort einzunisten.“

Das war eine gemeine Unterstellung. „Und wenn es so wäre?“, fuhr sie ihn an. „Haben Sie sich besser verhalten? Sie schleichen sich nachts in ein verlassenes Gebäude, um Ihre Wunden zu lecken.“

„Wie ein geprügelter Hund, meinen Sie?“

Das klang bitter, und sie bemerkte – daran bestand kein Zweifel –, dass es dem Mann schlecht ging. Es war also sinnlos, sich gegenseitig zu beleidigen.

„Man hat mir das Haus zur Verfügung gestellt. Ich bin hier als Gast und heiße Annabelle Marsh. Und wer sind Sie?“

Er ließ den Kopf gegen die Wand sinken. „Das geht Sie nichts an.“

Weil er seine Augen geschlossen hielt, nutzte sie die Gelegenheit, um ins Schlafzimmer zu laufen und ihr Handy zu holen. Bei ihrer Rückkehr fiel ihr auf, dass seine Lider flatterten, als wäre er in der Zwischenzeit eingenickt.

„Was haben Sie vor?“, murmelte er.

„Ich rufe meinen Arbeitgeber Guilio an. Er wird mir sagen, was mit Ihnen zu tun ist.“

„Kommt nicht infrage!“ Er schnellte auf sie zu, riss sie zu Boden und legte die Beine wie eine Schraubzwinge um sie. Dabei glitt ihr die Krücke aus der Hand und fiel zu Boden. Das Handy gleich hinterher.

„Um diese Zeit belästigt man niemanden mehr.“ Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken, als er das sagte.

Es dauerte eine Weile, ehe sie sich von dem Schreck erholt hatte und begriff, dass sie nun in seiner Gewalt war. Warum hatte der Mann sie so plötzlich attackiert? Ihr Mitgefühl für ihn war verschwunden, stattdessen jagte er ihr jetzt noch mehr Angst ein.

„Was haben Sie vor?“ Sie versuchte, so gelassen wie möglich zu klingen.

„Mich unsichtbar zu machen. Jedenfalls für den Rest dieser Nacht. Und Sie verhalten sich ruhig. Ich lasse nicht zu, dass Sie alles kaputt machen.“

„Ist denn die Polizei hinter Ihnen her?“

Er stöhnte auf und nahm sie mit seinen Beinen noch mehr in die Zange.

„Das wollen Sie natürlich nicht zugeben, weil ich sonst fragen würde, weshalb.“

Er stieß einen qualvollen Laut aus. „Ich stehe auf keiner Fahndungsliste. Verraten Sie mir jetzt vielleicht, wie lange Sie sich schon hier aufhalten?“

Er hielt sie so fest an sich gepresst, dass sie im Rücken seinen Herzschlag spürte. Er war zu schnell. Das Ganze kostete ihn offenbar große Anstrengung und verstärkte gewiss seine Schmerzen.

„Ich bin erst heute Abend in Ravello angekommen“, sagte sie, und sie musste sich eingestehen, dass auch sie sich nichts anderes gewünscht hatte, als unsichtbar zu sein nach den strapaziösen Tagen im ungewohnten Scheinwerferlicht.

„Wann werden Sie ihn wiedersehen?“

Meinte er Guilio? Kannte er ihn etwa?

„Um elf Uhr schickt er jemanden, der mich abholt. Ihn selbst werde ich wohl erst im Lauf des Tages sehen.“

„Was machen Sie denn für ihn?“ Obwohl seine Stimme müde klang, ließ sie seine Beunruhigung erkennen.

Der Kerl schien besser über die hiesigen Verhältnisse orientiert zu sein, als sie vermutet hatte. Trotzdem wollte er noch mehr wissen. Doch sie ließ sich nicht ausfragen. Auch wenn der Fremde sie im wahrsten Sinne des Wortes im Griff hatte. Es konnte für Guilio möglicherweise gefährlich werden, wenn sie Informationen über ihn preisgab. Nicht mal seinen Nachnamen durfte sie verraten.

Jeder Italiener wusste, dass er der Besitzer der Amalfi-Werke war. Also musste sie den Eindringling häppchenweise mit unbedeutenden Details abspeisen. „Ich arbeite nur vorübergehend für ihn.“

„Dann sollten Sie eigentlich in einem Hotel oder einer Pension untergebracht sein.“

So leicht ließ er sich offenbar nicht abwimmeln.

„Das stimmt. Doch ich wollte lieber aufs Land. Ich war nämlich bisher noch nie in Italien, kenne aber seine herrlichen Landschaften aus Filmen und aus dem …“

„Kommen Sie zur Sache“, unterbrach er sie barsch.

„Deshalb hat er mir dieses Haus zur Verfügung gestellt. Ich habe mich natürlich darüber gefreut. Über den vielen Platz. Und weil ich hier ungestört bin. Wenn Sie sich nicht in der Dunkelheit hergeschlichen hätten, wüssten Sie, wie idyllisch es liegt und dass man von der Terrasse aus sogar das Meer sehen kann. Und dann diese Blumen …“

„Sehr interessant, Signorina“, stoppte er ihren Redestrom.

Er durchschaute also, dass sie auf Zeit spielte und nicht die Absicht hatte, ihm etwas zu verraten. Deshalb atmete sie tief ein und ging zum Angriff über. „Da ich Ihnen nun alle Fragen beantwortet habe, möchte ich endlich wissen, wer Sie sind.“

Er stöhnte auf. „Lucca Cavezzali.“

„Oh, nein …!“ Das durfte nicht wahr sein. Lucca? Guilios geliebter Sohn? Sein Ein und Alles? Der war doch bei der Luftwaffe und flog irgendwo auf der Welt in einem Jet herum. Vor August wurde er nicht zu Hause erwartet. Lucca war der Letzte, der erfahren durfte, welche Aufgabe sie hierhergeführt hatte. Wenn sie ihm das verriet, würde sie Guilio die Überraschung verderben. Stimmte denn überhaupt, was der Mann behauptete? Sie drehte ihm den Kopf zu, um ihm ins Gesicht zu schauen.

Ja, eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden war nicht zu leugnen, obwohl dieser Mann viel größer, schlanker und wahrscheinlich kräftiger war als Guilio. Sein pechschwarzes Haar passte allerdings gar nicht ins Bild. Entweder hatte er es von seiner Mutter geerbt, oder auch Guilio war früher so dunkel gewesen, ehe er ergraut war.

Als sie sich aus seinem Griff zu befreien versuchte, presste er sie noch fester an sich.

„Sie haben all meine Pläne durchkreuzt, Signorina. Ich wünschte, ich könnte Sie zum Teufel jagen.“

„Wie liebenswürdig von Ihnen!“, spottete sie. „Ich danke Ihnen jedenfalls. Sie haben mir eine wirklich ungewöhnliche Nacht beschert, die ich sonst wohl ganz langweilig verschlafen hätte. Jetzt lassen Sie mich aber bitte los, damit ich mir ein Taxi bestellen kann. In einer halben Stunde bin ich verschwunden.“

Nur wie sollte sie Guilio ihren plötzlichen Sinneswandel erklären? Sie musste sich eine wirklich gute Ausrede einfallen lassen, denn die Wahrheit konnte sie ihm nicht verraten.

„Wo wollen Sie denn um diese Zeit Ihre Wunden lecken?“, murmelte Lucca.

„Das geht Sie nichts an.“

„Ich fürchte doch. Und im Übrigen ist es nicht nötig, dass Sie sofort das Haus verlassen. Vorausgesetzt, Sie verhalten sich nicht länger wie eine Kratzbürste und geben mir das Versprechen, bis morgen Abend niemandem etwas von meiner Anwesenheit zu erzählen.“

Sie und eine Kratzbürste! Das war der dritte Schlag, den ihr der Mann in so kurzer Zeit versetzte.

„Sie verlangen ziemlich viel von einer Gefangenen“, stieß sie hervor und versuchte wieder, sich ihm zu entwinden. Vergeblich. Obwohl Lucca wahrscheinlich verletzt war, besaß er noch immer die Kraft eines durchtrainierten Mannes.

„Ich bin verzweifelt“, sagte er.

Sein Geständnis überraschte Annabelle nicht sehr. „So etwas habe ich mir schon fast gedacht. Warum wollen Sie Ihrem Vater verheimlichen, dass Sie zurück sind?“

„Zurück von wo?“

„Ihr Vater erwähnte, dass Sie Offizier sind.“ Sie schluckte. „Wenn Sie sich Sonderurlaub genommen haben, dann …“

„Darüber möchte ich mit Ihnen nicht sprechen.“

„Gut. Ich sehe jedoch, dass Sie Schmerzen haben und ins Bett gehören.“

„Ich befand mich auf dem Weg dorthin.“

Vorher hatte er bestimmt ein Schmerzmittel genommen. Wahrscheinlich begann es zu wirken, denn seine Stimme klang plötzlich schleppend.

„Ihr Bett ist nicht einmal bezogen. Ich überlasse Ihnen meins und schlafe stattdessen …“

„Ich nehme Ihr Angebot an, aber nur, wenn Sie sich dazulegen. Das Bett ist groß genug für uns beide, und ich möchte sichergehen, dass Sie nicht heimlich verschwinden.“

Das war ein Befehl, keine Bitte. Annabelle hatte jedoch nicht die Absicht, sich darauf einzulassen. „In Ordnung“, sagte sie trotzdem. „Wenn Sie so freundlich wären, mich jetzt loszulassen, könnte ich Ihnen beim Aufstehen helfen. Es ist nicht weit bis zu meinem Bett.“

Sobald sie wieder auf den Beinen war, reichte sie ihm einen Arm. Er benutzte ihn und die Wand als Stütze, während er sich mühsam aufrichtete. Dabei biss er die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz zu schreien.

Als er endlich stand, verlagerte er das ganze Gewicht auf Annabelles Schulter. Es kostete Annabelle alle Kraft, darunter nicht zusammenzubrechen, sondern ihn Schritt für Schritt den Flur hinunter in ihr Zimmer zu führen. Dort ließ er sich einfach auf das Bett fallen und riss Annabelle, deren Taille er noch schnell umfasst hatte, mit.

Sie landete auf dem Rücken, er auf der Seite. Mit einem Laut der Erleichterung streckte er sich dann aus.

Während sie ihm aufgeholfen hatte, hatte er mit seinem rauen Kinn ihre Wange berührt und Annabelle daran erinnert, wie gefährlich männlich Lucca trotz seiner Verletzung war. Die Bartstoppeln verrieten ihr auch, dass er sich lange nicht mehr rasiert hatte. Er musste also eine weite Reise hinter sich haben und unendlich erschöpft sein. Das Schmerzmittel würde bestimmt bald Wirkung zeigen und ihn einschlafen lassen. Dann konnte sie sich in das andere Zimmer schleichen und dort endlich zur Ruhe kommen, falls ihr nicht selbst gleich die Augen zufielen.

Doch zu ihrem Erstaunen blieb sie hellwach. So eng umschlungen mit einem Mann hatte sie schon lange nicht mehr auf einer Matratze gelegen. Luccas Nähe ließ sie nicht gleichgültig. Sie versetzte ihre Sinne in Aufruhr. Überhaupt kam ihr die Situation geradezu unwirklich vor.

„Sie brauchen sich nicht zu fürchten“, murmelte er, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Selbst wenn ich es wollte, könnte ich die Gelegenheit nicht nutzen. Aber ich möchte es nicht einmal.“

Mit der Feststellung hatte er wohl ihre weibliche Eitelkeit verletzen wollen. Für solche Spielchen fehlte ihr jedoch jedes Verständnis, seitdem sie durch die Hölle mit Ryan gegangen war. Der Seitenhieb prallte an ihr zwar ab, aber unerwidert wollte sie ihn dennoch nicht lassen.

„Ein unhöflicher, schlecht gelaunter und zu allem Übel auch noch unrasierter Mann, der sich bei Dunkelheit in sein Haus schleicht, ist das Allerletzte, wonach ich mich sehne“, sagte sie aufgebracht.

Er lachte rau. „Ihr Kopfkissen riecht nach Erdbeeren.“

Das kam von ihrem Shampoo. Was er nicht alles bemerkte! Der Mann überraschte sie immer wieder. „Ich hole Ihnen ein anderes.“

Er drückte sie noch fester an sich. „Das ist nicht nötig. Nachdem, was ich erlebt habe, genieße ich den Duft.“

Seine Stimme kam wie aus weiter Ferne. Gleich würde er mit Sicherheit eingeschlafen sein.

„Entspannen Sie sich. Ich laufe nicht fort, und ich verrate Sie auch nicht.“

„Warum nicht? Frauen fällt es doch schwer, Geheimnisse für sich zu behalten.“

Er kämpfte offenbar gegen den Schlaf an. Zumindest hatte er noch die Nerven, zu sticheln und sie aufzuziehen. Sein Galgenhumor gefiel ihr. Leider. „Wie kommen Sie denn darauf? Mir scheint, Sie kennen Frauen nicht sehr gut. Ich schätze, das Urteil basiert auf zu vielen zu oberflächlichen Beziehungen.“

„Aus Ihnen spricht die Expertin. Bravo. Sie haben mein Liebesleben durchschaut“, murmelte er.

„Der italienische Mann hat einen gewissen Ruf, Signore. Wir Amerikanerinnen halten ihn für einen Hansdampf in allen Gassen, der es nirgends zur Meisterschaft bringt. Ich hoffe für Sie, dass es sich nur um ein Vorurteil handelt.“

„Darüber werde ich später nachdenken“, meinte er nach einer langen Pause. „Warum verraten Sie mich nicht?“, wiederholte er seine Frage.

Was sollte sie ihm antworten, ohne Guilios Vertrauen zu enttäuschen? Er freute sich so sehr auf ein Wiedersehen mit seinem Sohn in Mailand. Dort hatte er im August die Präsentation des Sportwagens und die Ehrung seines Sohnes vorgesehen. Sie wollte ihm keinen Strich durch die Rechnung machen.

Plötzlich übermannte die Erschöpfung auch sie. Die Tage vor der Kamera, die Reise von Rom hierher, alles war anstrengend gewesen. Und dann hatte Lucca sie auch noch aus dem Tiefschlaf gerissen. Sie schloss die Augen. „Weil ich annehme, dass jemand, der sich mitten in der Nacht heimlich nach Hause schleicht, während andere ihn sonst wo vermuten, etwas zu verbergen hat.“

Er zuckte zusammen.

„Wäre es nicht besser, wir würden endlich schlafen, Signore? Wir kennen einander nicht. Solange Sie nicht auf meine Fragen eingehen, werde ich Ihre auch ignorieren. Außerdem sind wir beide viel zu müde. Hinzu kommt, dass mir morgen wieder kein leichter Tag bevorsteht.“

Er räusperte sich. „Trotzdem hätte ich gern gewusst, was Sie für meinen Vater tun. Es muss etwas Wichtiges sein, sonst würde er Ihnen nicht mein Haus zur Verfügung stellen. Er weiß, wie heilig es mir ist.“

„Heilig?“ Das Blut rauschte ihr in den Ohren, so sehr erschreckte das Wort sie.

„Ja, wussten Sie denn nicht, dass ich hier geboren wurde? Und dass meine Mutter hier starb?“

„Oh, nein. Das nicht auch noch! Und sie hatte ihn wie einen Einbrecher behandelt.“

„Ihr Vater hat mir nur erzählt, dass Ihr Großvater Ihnen dieses Haus vererbt hat. Mehr nicht. Sonst hätte ich sein Angebot nicht angenommen.“

„Mein Vater muss das geahnt haben. Und Sie sehr schätzen.“

2. KAPITEL

Lucca erwachte von einem dumpfen Schmerz, der sich von seinem Bein bis zur Leiste zog. Nur mit der Einnahme einer Tablette konnte er verhindern, dass die Qual so schlimm wurde wie in der vergangenen Nacht.

Vergangene Nacht … Er stöhnte auf und rieb sich das stoppelige Kinn.

Durch das Fenster fiel Sonnenlicht in den Raum. Blinzelnd schaute er zur Uhr. Es war schon halb elf, und er lag noch immer im Bett, angezogen bis auf die Schuhe. Von denen musste ihn die Unbekannte befreit haben. Das zerwühlte Laken deutete darauf hin, dass er wieder schlecht geträumt hatte. Er erinnerte sich zwar an nichts, doch Decke und Kissen lagen auf dem Boden.

Die Signorina würde natürlich längst über alle Berge sein und seinem Vater bereits alles erzählt haben, was in den Stunden zuvor geschehen war. Bestimmt würde Guilio in Kürze hier auftauchen und ihm eine Flut von Fragen stellen und Vorhaltungen machen. Er war mit Abstand der Temperamentvollste in der Familie.

Vorsichtig drehte Lucca sich auf der Matratze um und entdeckte zu seiner Überraschung die zur Neige gehenden Tabletten. Auch ein Glas Wasser hatte die Fremde ihm dort hingestellt. Sogar die Krücke stand griffbereit. Derartig umsichtig waren nicht einmal die Schwestern im Krankenhaus gewesen. Was immer sie für seinen Vater tat, mit dieser Frau hatte sein papà offenbar einen guten Griff getan. Sie schien an alles zu denken.

In der Nacht zuvor wäre er lieber allein gewesen. Doch nun empfand Lucca Dankbarkeit für die Hilfe. Morgens war er immer wackelig auf den Beinen, besonders wenn er unter starken Schmerzen litt. Dann musste er sehr aufpassen, damit er nicht stürzte.

Er nahm eine Pille mit Wasser ein und wartete auf die Wirkung. Bald begann sein Magen zu knurren. Seit dem vergangenen Nachmittag kurz vor dem Flug nach Neapel, hatte er nichts mehr gegessen. Aufgestanden war er sehr früh und hatte nicht einmal während der Zugfahrt nach Salerno ein Auge zugedrückt. Dass er es überhaupt bis hierher geschafft hatte, kam ihm nun wie ein Wunder vor.

Er schaute sich in dem Zimmer um. Nichts verriet, dass die fremde Frau noch da war. Weder lagen Sachen von ihr herum, noch hörte er ein Geräusch. Er stand vom Bett auf und griff nach der Krücke. Er durfte sich darauf nicht so sehr aufstützen wie in der Nacht zuvor. Wenn er es richtig machte, konnte sie ein gutes Hilfsmittel sein, bis er vollständig genesen war.

Den Weg vom Bad in die Küche meisterte er ganz gut. Sein Seesack lag nach wie vor auf dem Küchentisch, und auf den ersten Blick hin sah alles so aus wie immer, was bedeutete, dass der Kühlschrank wohl leer war. Oder hatte sein Vater ihn für die Signorina füllen lassen? Tatsächlich. Er war voll. Guilio schien an alles gedacht zu haben, nur nicht an die vorzeitige Rückkehr seines Sohnes.

Merkwürdig, dass sein Vater ausgerechnet seiner neuen Mitarbeiterin dieses Haus überlassen hatte. Hier hatte er mit seiner ersten Frau gelebt, bis sie gestorben war. Es bedeutete auch ihm etwas. Davon war Lucca überzeugt. Die Amerikanerin musste ihm aus irgendeinem Grund besonders wichtig sein, sonst hätte er ihrem Wunsch, auf dem Land untergebracht zu werden, anders entsprochen.

Einzelheiten bezüglich ihrer Beziehung zu seinem Vater waren ihr nicht zu entlocken gewesen. Sie schien ausgesprochen umsichtig und klug zu sein. Aber auch beherzt. Erstaunlich, wie rasch sie sich von dem Schreck in der Nacht erholt hatte.

Lucca schob sich einige Erdbeeren in den Mund. Der Saft und der Fruchtzucker taten ihm gut. Dann goss er kochendes Wasser auf den löslichen Kaffee. Ein anständiger Cappuccino wäre ihm zwar lieber gewesen, doch die Zubereitung machte ihm zu viele Umstände.

Während er vorsichtig einen Schluck trank, lehnte er sich an das Waschbecken und sah hinaus. Die Äste der Zitronenbäume, die ihm den Blick auf einen Teil der Terrasse nahmen, störten ihn. Sie wollte er als Erstes beschneiden.

Aber was war das? Hinter den Zweigen entdeckte er eine hockende Frau. Pflückte sie Blumen? Sie trug einen breitkrempigen Strohhut, ein ärmelloses weißes Oberteil und eine weiße lange Hose. Er wartete, bis sie den Kopf zur Seite drehte, und erkannte das klassische Profil von Signorina Marsh. Sie hatte sich also nicht davongemacht …

Bei ihrem nächtlichen Zusammentreffen hatte ein unförmiger dunkler Bademantel ihre schlanke Gestalt verborgen. Was ihm das Sonnenlicht und die figurbetonte helle Kleidung offenbarte, gefiel ihm sehr.

Als sie kurz darauf zur Tür hereinspazierte und den Hut abnahm, kam es ihm vor, als würde es heller in der Küche, so blond war ihr Haar. Auch die Farbe ihrer Augen verblüffte ihn. Sie kamen ihm blauer und strahlender vor als der Sommerhimmel. Doch mehr als ein zurückhaltendes Lächeln schenkte sie ihm nicht, stattdessen nahm sie eine Vase aus dem Regal, füllte sie mit Wasser, arrangierte darin die Margeriten und stellte sie auf den Esstisch.

Auch seine Mutter hatte morgens immer Blumen gepflückt. Vor allem mit dieser Erinnerung verband sich das Glück seiner Kindheit.

„So den Tag zu beginnen macht gute Laune“, sagte sie und zupfte ein paar Blüten zurecht. „Ich habe den Strauß zwar für mich zusammengestellt, aber ich hoffe, er gefällt Ihnen auch.“ Sie wusch sich die Hände und bückte sich nach einer großen Strohtasche, die er übersehen hatte, weil sie unter dem Tisch stand. „Ich werde jeden Moment abgeholt und warte lieber draußen, damit der Fahrer Sie nicht entdeckt.“

Die Hand auf der Türklinke, blieb sie noch einmal stehen und drehte sich zu ihm um. „Machen Sie bitte nicht so ein mürrisches Gesicht. Sie könnten viel ansprechender und vertrauenswürdiger aussehen. Jedenfalls habe ich nicht alles, was ich gestern Nacht zu Ihnen gesagt habe, so gemeint.“

„Aber bestimmt die Hälfte“, murmelte er und leerte seine Kaffeetasse.

„Hm. Sagen wir zum größten Teil. Sollten Sie noch mehr trinken wollen, dann besser mit Zucker. Den brauchen Sie jetzt. Wann wurden Sie aus dem Krankenhaus entlassen?“

Er schnitt ein Gesicht. „Von welchem sprechen Sie?“

„Von dem, wo Ihre Beinverletzung behandelt wurde. Genauer gesagt, Ihr rechter Oberschenkel.“

Er schob sich wieder Erdbeeren in den Mund und antwortete erst, nachdem er sie zerbissen und hinuntergeschluckt hatte. „Sie liegen völlig falsch mit Ihren Vermutungen, Signorina.“

„Nein“, entgegnete sie bestimmt. „Ich habe doch gesehen, dass Sie das rechte Bein zu entlasten versuchen. Außerdem habe ich den Waschzettel Ihres Medikaments durchgelesen.“

Die Sicherheit, mit der sie das feststellte, ärgerte ihn. Er runzelte die Stirn. „Mit welchem Recht spielen Sie sich wieder als Expertin auf?“

„Ich bin Krankenschwester. Auf den Stationen, wo ich gearbeitet habe, wurden Herz- und Lungenkrankheiten, Verwundungen aller Art und vor allem Knochenbrüche behandelt.“

Plötzlich herrschte im Raum eine solche Stille, dass Lucca das Blut in seinen Ohren rauschen hörte. „Was ist mit meinem Vater passiert?“

Erst schaute sie ihn verblüfft an, als würde sie seine Frage nicht verstehen. Dann schüttelte sie heftig den Kopf. „Nein, nein. Ich arbeite nicht in meiner Eigenschaft als Krankenschwester für ihn. Mein Job hier hat etwas mit Werbung zu tun. Soweit ich es weiß und beurteilen kann, ist er kerngesund.“

Lucca war sich nicht sicher, ob er ihr trauen durfte.

„Danke für Ihren Rat“, sagte er ironisch.

„Gern geschehen“, erwiderte sie. „Und noch eins sollten Sie wissen. In den nächsten vierzehn Tagen wird hier niemand auftauchen, der sauber macht oder sich um den Garten kümmert. Darum habe ich Guilio gebeten, bevor ich hier einzog. Sie werden also ganz ungestört sein, allerdings auch niemanden haben, der Ihnen zur Hand geht. Nach der Arbeit und wenn ich eine andere Unterbringung gefunden habe, werde ich noch einmal herkommen müssen, um meine Sachen zu holen. Sie können sich darauf verlassen, dass ich allein erscheine.“ Sie lächelte. Wahrscheinlich, damit er ihr glaubte. Dann ging sie.

Er sah ihr durch die Küchentür hinterher. Wenn sie die Wahrheit gesagt hatte, brauchte er für den Rest des Tages nichts zu befürchten. Doch er hätte gern gewusst, warum sie bereit war, sein plötzliches Auftauchen für sich zu behalten. Und vor allem, wie lange noch? Und welche Gegenleistung erwartete sie dafür von ihm?

Wieder wunderte er sich über diese Frau. Er hatte ihr mit seinem nächtlichen Erscheinen bestimmt Angst eingejagt. Trotzdem war sie nicht einzuschüchtern gewesen. Umso rätselhafter kam ihm nun ihre Komplizenschaft vor. Rechnete sie damit, dass er irgendwann ein gutes Wort für sie bei seinem Vater einlegte? Erhoffte sie sich vielleicht finanzielle Vorteile?

In welcher Beziehung mochte sein Vater zu ihr stehen? Wenn er ihr dieses Haus überlassen hatte, musste sie ihn um den kleinen Finger gewickelt haben. Doch Lucca konnte und wollte sich nicht vorstellen, dass sie Guilio den Kopf verdreht hatte. Nicht einem Mann wie seinem Vater. Außerdem hätte Maria es zu verhindern gewusst. Jahrelang war Lucca auch auf sie böse gewesen. Doch schließlich hatte er seinem Vater die Heirat – kaum ein Jahr nach dem Tod der Mutter – verziehen. Inzwischen war er längst einverstanden mit dieser Ehe. Nicht zuletzt, weil Maria äußerst liebenswert war und seinem Vater zur Seite stand.

So ungewöhnlich und reizvoll auch diese Amerikanerin war, ihretwegen beging sein Vater bestimmt keine Dummheiten. Dafür hätte Lucca die Hand ins Feuer gelegt.

Als er seinen papà vor neun Monaten in Mailand zuletzt gesehen hatte, war von einer Signorina Marsh noch keine Rede gewesen. Das hieß, sie musste erst seit Kurzem für Guilio arbeiten, aber schon sein volles Vertrauen gewonnen haben. Und genau das bereitete Lucca Kopfschmerzen, denn ausgerechnet sie wusste mehr über ihn, als ihm lieb war. Daran ließ sich leider nichts mehr ändern, und im Übrigen hatte er sich selbst die Schuld dafür zuzuschreiben. Er hätte nicht einfach herkommen dürfen und erst recht nicht mitten in der Nacht.

Er schloss die Küchentür, ging zum Kühlschrank und sah nach, womit er sich ein Sandwich zubereiten konnte. In diesem Moment hörte er ein Auto kommen, dann Stimmen, Türen schlagen und den Wagen wieder abfahren.

Nachdem er sich ein Brot mit Schinken und Käse gemacht hatte, ließ er sich auf einen Stuhl sinken, streckte die Beine aus und versuchte vergeblich, eine angenehme Sitzposition einzunehmen. Einem Gespräch mit seinem Vater fühlte er sich zurzeit nicht gewachsen. Guilio würde sich, wenn er ihn derart mitgenommen wiedersah, große Sorgen um ihn machen und wissen wollen, wann und warum der Unfall passiert war und wie die Aussicht auf völlige Heilung war, und ihm Vorwürfe machen, dass er ihn nicht längst benachrichtigt hatte. Doch Lucca wollte weder Fragen beantworten noch sich rechtfertigen. Er brauchte vielmehr Ruhe und Abstand von dem, was geschehen war. Er müsse verarbeiten, was er nicht vergessen könne, hatte ihm der Therapeut in der Klinik erklärt. Das war jedoch leichter gesagt als getan.

Weil die Tabletten inzwischen wirkten, spürte er leider auch ihre Nebenwirkungen. Er wurde müde und war nicht mehr in der Lage, klar zu denken. Es half nichts, er war gezwungen, sich wieder hinzulegen und noch einige Stunden zu schlafen. Doch richtig entspannen würde ihn das nicht. Ob Signorina Marsh ihn verriet oder nicht, er fühlte sich in seinem eigenen Haus nicht mehr wohl.

Vielleicht rufe ich Guilio nachher an, wenn es mir besser geht, überlegte er noch.

Perfekt frisiert und geschminkt verließ Annabelle den Bus, der als Garderobe diente.

„Großartig! So habe ich mir das vorgestellt. Sie sehen einfach bezaubernd aus.“

Annabelle fand Giovannis Begeisterungsausbrüche ein bisschen übertrieben, doch offenbar wollte der Fotograf ihr Mut und Selbstvertrauen für das Shooting geben.

„Frisch und jung wie eine Blume.“

Sie lachte. Gegen diesen Vergleich hatte sie nichts einzuwenden, zumal ihr dadurch in Erinnerung gerufen wurde, wie herrlich es gewesen war, schon vor der Arbeit Margeriten zu pflücken. Doch an den Mann, der in der Küche gesessen hatte, wollte sie lieber nicht denken.

Mit dem, was sein Vater ihr über ihn erzählt hatte, stimmte die Wirklichkeit nicht im Mindesten überein. Einen starken, strahlenden Helden hatte sie sich anders vorgestellt. War dieses Bild, das Guilio von ihm malte, nur dem Wunschtraum eines liebenden Vaters entsprungen? Oder setzten Schmerzen, Kummer und Leid seinem Sohn so zu, dass selbst sein Vater ihn nicht wiedererkennen würde? Irgendwie verstand sie, dass er sich in dieser Verfassung niemandem zeigen wollte. Doch ihr Versprechen, Guilio seine Heimkehr zu verschweigen, brachte sie in Konflikte.

„Annabelle?“

Sie blickte auf. „Ja?“

Basilio, der Aufnahmeleiter, der sie morgens auch abgeholt hatte, wollte ihr erklären, was sie zu tun hatte.

„Wir möchten, dass Sie sich ans Steuer des Wagens dort drüben setzen und sich zum Beifahrersitz hinüberbeugen. Legen Sie dabei Ihren Arm auf die Rücklehne. Stellen Sie sich vor, dass Sie einfach nur aus reiner Freude ziellos umhergefahren sind, dabei eine besonders schöne Bucht entdeckt und das Auto an den Straßenrand manövriert haben, um in Ruhe die Aussicht zu genießen. Versuchen Sie, sich so natürlich wie möglich zu geben, und vergessen Sie die Kamera.“

Das war leicht gesagt. Für Annabelle war es jedoch ein abenteuerliches Unterfangen. Als sie in das schwarze Amalfi-Cabriolet glitt, kam sie sich vor wie ein Girl aus einem James-Bond-Film. Von dem schwarzen nach Leder duftenden Sitz würde ihre weiße Kleidung sich hervorragend abheben. Marcella hatte sie ihr schon am Vorabend mitgegeben.

Was die Innenausstattung anging, so wusste Annabelle nicht, welche sie lieber mochte. Die mit den schwarzen oder die mit den perlgrauen Sitzen des weißen Cabriolets, in dem sie in Rom vor dem Jet posiert hatte. Im Vergleich zur Geschwindigkeit eines Flugzeugs war natürlich auch der schnellste Sportwagen gar nichts. Aber vielleicht würde es Lucca trotzdem Spaß machen, den Amalfi-MB-Viper zu fahren. Vorausgesetzt, dass seine Verletzung bis zum August verheilt war …

Nachdem sie die richtige Position eingenommen hatte, korrigierte Giovanni noch schnell den Sitz ihres Strohhutes, betrachtete kurz sein Werk und machte dann zahlreiche Aufnahmen.

Das Auto stand an der Mauer, die sich parallel zur Straße unterhalb von Positano hinzog. Der Blick von hier war atemberaubend, denn an dieser Stelle fielen die Felsen steil ins Meer ab. So eine atemberaubend schöne Küstenlandschaft hatte Annabelle noch nie gesehen.

Infolge der Fotoaufnahmen kam es trotz Einsatzes der Polizei immer wieder auf beiden Seiten der Fahrbahn zu Staus. Manche Fahrer schimpften und hupten deshalb im Vorbeifahren vor Ärger, doch die meisten riefen Annabelle Komplimente zu oder winkten begeistert.

Doch bald vergaß sie, was um sie her vorging. Nur hin und wieder sah sie im Geiste das Bild des Mannes vor sich, der sie in der letzten Nacht umfangen gehalten hatte, bis ihn schließlich der Schlaf übermannte.

Nachdem Giovanni schließlich das Shooting beendet hatte, lief sie zum Bus. Diesmal schminkte sie sich dort gründlich ab und schlüpfte in ihre eigenen Sachen. Die Strohtasche ließ sie da und nahm nur ihre Clutch mit nach draußen.

Dort drückte ihr Basilio den Schlüssel für eine blaue Limousine älteren Typs in die Hand. Solange sie in Italien sei, stehe ihr der Wagen zur Verfügung, richtete er ihr von Guilio aus und verabredete sich mit Annabella für den nächsten Mittag. Danach glitt sie rasch hinter das Steuer des großen Autos, startete den Motor und fädelte sich in den Verkehr ein, bevor die Polizei ungeduldig wurde.

Im Rückspiegel sah sie noch, wie Basilio ihr eine Kusshand zuwarf, und musste lachen. Diese Italiener! Sie schienen das Leben in vollen Zügen zu genießen und wurden nicht müde, Frauen ihre Bewunderung zu zeigen. Lucca Cavezzali war da allerdings eine Ausnahme.

Wie sie wusste, gingen seine Tabletten zur Neige. Es waren die stärksten, die ein Patient ohne ärztliche Aufsicht einnehmen durfte. Der Sturz in der vergangenen Nacht würde ihm tagsüber zusätzliche Schmerzen bereiten, und soweit sie es beurteilen konnte, wäre er in einem Krankenhaus besser aufgehoben als allein an einem abgelegenen Ort. Doch seine Entlassung hatten seine Ärzte zu verantworten. Vielleicht waren sie davon ausgegangen, dass er sich zu Hause schneller erholen würde. Und da er offenbar ein Einzelgänger war, der ungestört sein wollte, musste sie sich sofort eine neue Unterkunft suchen.

Doch ihr Hunger war so groß, dass sie unterwegs in einer Pizzeria einkehrte. Sie lag neben einer kleinen Pension. Dort erfuhr sie, nachdem sie einen kleinen Imbiss zu sich genommen hatte, dass noch mehrere Zimmer frei seien. Besser konnte sie es nicht treffen, denn von hier aus verkürzte sich die Anfahrt zur Arbeit erheblich.

Schließlich setzte sie sich noch in eine Eisdiele. Nachdem sie sich ein Zitronensorbet bestellt hatte, tippte sie auf dem Handy die Nummer ihrer Eltern ein, weil sie ihnen mitteilen wollte, dass sie jetzt nicht mehr in Rom, sondern in Ravello sei und es ihr gut gehe. Doch es schaltete sich nur der Anrufbeantworter ein, sodass sie nur eine kurze Nachricht hinterlassen konnte. Das war immerhin besser, als sich gar nicht zu melden. Sie war das jüngste von drei Kindern, und ihre Eltern machten sich viel zu viele Sorgen um sie. Vor allem seit der Scheidung.

Wieder durchfuhr sie der vertraute Schmerz. Die Enttäuschung saß tief, und sie bezweifelte, jemals einen Mann zu finden, mit dem sie es wagen konnte, eine Familie zu gründen. Deshalb musste sie sich wohl auch von ihrem Wunsch nach Kindern verabschieden.

Natürlich hatte sie den nächtlichen Besuch nicht erwähnt, als sie auf das Band gesprochen hatte. Und wieder fragte sie sich, warum niemand, vor allem aber sein Vater nicht, von Luccas Heimkehr erfahren durfte.

Dass Lucca ihn ebenso liebte wie dieser ihn, dessen war sie sich sicher. Sonst wäre er nicht sofort in Sorge um seinen Vater gewesen, als sie ihm eröffnet hatte, Krankenschwester zu sein und für ihn zu arbeiten.

Ganz gleich, wie Lucca sich verhalten würde, am nächsten Tag wollte sie Guilio erzählen, dass sie umgezogen sei. Auf keinen Fall werde ich etwas sagen oder tun, was einer der beiden als Einmischung empfinden kann, dachte sie. Es ging sie nichts an, wann Lucca Kontakt zu seinem Vater aufnahm.

Kurz darauf fuhr sie auf den Bauernhaushof und stieg aus dem Wagen. Es begann schon zu dämmern, und die seidige, duftende Luft streichelte ihre Haut. Sie atmete tief ein und war wie verzaubert von der Atmosphäre um sie her. Als sie wenig später an die Küchentür klopfte, antwortete ihr jedoch niemand. Trotzdem trat sie ein und fand Lucca mit schmerzverzerrtem Gesicht und aufs Waschbecken gestützt vor.

„Sie brauchen unbedingt professionelle Hilfe“, stellte sie, ohne nachzudenken, fest.

„Unsinn. Ich brauche nur Schmerztabletten“, erwiderte er barsch.

„Ich verstehe nicht, warum Sie sich bisher niemandem anvertraut haben.“

„In so einem Zustand möchte ich mich keinem Menschen zeigen. Schon gar nicht meinem Vater. Dieser verdammte Sturz! So schlecht wie im Moment ging es mir schon lange nicht mehr.“

Die Beziehung zwischen Vater und Sohn musste angespannter sein, als sie angenommen hatte. „Ich verfüge über ein Auto. Wenn Sie mir das Rezept geben, fahre ich los und löse es für Sie ein. Sie müssen mir nur verraten, wo sich die nächste Apotheke befindet.“

„Ich muss es selbst vorlegen.“

„Gut, dann werde ich Sie dorthin bringen.“ Sie griff nach der Krücke. „Hier. Gehen Sie vor.“

Sie folgte ihm nach draußen und schloss ab. Dann überholte sie ihn und öffnete ihm die hintere Wagentür, damit er auf dem Rücksitz Platz nehmen und das Bein hochlegen konnte, und setzte sich ans Steuer.

„Sie fahren am besten nach Salerno“, stieß er hervor. „Dort befindet sich auf dem Rathausmarkt eine Apotheke, die jetzt noch geöffnet hat.“

„Was hätten Sie getan, wenn ich nicht gekommen wäre?“

„Mir ein Taxi gerufen. Dann habe ich jedoch Ihren Wagen gehört.“

Hatte er etwa auf sie gewartet? Sie fragte lieber nicht.

Bis sie die Stadt erreichten, herrschte Schweigen zwischen ihnen. Erst dann setzte er sich auf, um ihr den Weg zu erklären.

„Bewegen Sie sich nicht vom Fleck“, sagte er, nachdem sie das Auto wenig später vor der Apotheke geparkt hatte. „Wenn ich Glück habe, wird mir hier keiner begegnen, den ich kenne.“

Auffallen würde er mit seiner blendenden Erscheinung trotzdem. In einer Uniform musste er fantastisch aussehen.

In dem Moment, in dem Lucca in der Apotheke verschwunden war, klingelte ihr Handy. Ausgerechnet jetzt rief sein Vater an. Sofort meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Sie durfte sich nichts anmerken lassen, es würde ihn beunruhigen.

„Hallo, wie geht es Ihnen, Guilio?“

Molto bene, Annabelle. Basilio hat mir erzählt, wie begeistert Giovanni von den Aufnahmen ist, die er heute gemacht hat.“

„Da bin ich aber erleichtert.“

„Morgen komme ich zum Set. Mir sind ein paar gute Ideen eingefallen.“

„Darauf freue ich mich.“

„Fühlen Sie sich in dem Haus wohl? Brauchen Sie noch irgendetwas?“

Das war das Stichwort. „Es ist ein Traum. Es liegt leider nur ziemlich weit draußen, und die Arbeit ermüdet mich mehr, als ich erwartet habe. Außerdem habe ich abends keine Lust mehr, noch zu kochen. Deshalb werde ich für den Rest der Zeit in die Casa Claudia umziehen. Ich hoffe, Sie sind nicht böse, weil ich Ihnen solche Umstände gemacht habe.“

„Nein, ganz und gar nicht. Ich hatte gleich Bedenken, dass das Bauernhaus zu abgeschieden liegt.“

„Bitte schicken Sie niemanden zum Putzen vorbei. Das möchte ich selbst tun. Auch den Kühlschrank räume ich aus. In Zukunft gehe ich nur noch auswärts essen. Die Gerichte in den hiesigen Restaurants schmecken hervorragend. Hoffentlich werde ich nicht zu dick und platze aus Marcellas Kleidern.“

Guilio lachte.

Während sie noch weiter plauderten, kam Lucca zurück und setzte sich wieder auf den Rücksitz. Annabelle stellte auf Lautsprecher um, sodass Lucca das Gespräch mitverfolgen konnte.

„Vergessen Sie die Party nicht, die ich Samstag in einer Woche gebe, Annabelle. Sie werden dort unsere erfolgreichsten italienischen Händler kennenlernen. Ich habe mich nämlich dazu entschlossen, ihnen ein bisschen Appetit auf den August zu machen“, fuhr er begeistert fort.

Annabelle befürchtete schon, er würde weitere Einzelheiten preisgeben, und machte sich darauf gefasst, die Verbindung unterbrechen zu müssen. „Mir ist klar, was das für Sie bedeutet. Ich werde mich bemühen, mein Bestes zu geben.“

„Das weiß ich. Sie geben immer Ihr Bestes. Mel Jardine habe ich übrigens auch eingeladen. Ich soll Ihnen ausrichten, dass er Sie vermisst.“

„Ich ihn auch. Ich bin wirklich froh, dass ich noch eine Weile hierbleibe. Italien gefällt mir sehr.“

„Das höre ich gern. Heißt das, Sie denken über mein Angebot nach?“

„Nein“, sie lachte, „nur, dass ich hier alles sehr genieße.“

„Das haben Sie verdient, nach dem, was Sie durchgemacht haben. Gute Nacht, Annabelle. Wir sehen uns dann morgen.“

„Danke für alles, Guilio. Ciao.“

Annabelle legte das Handy beiseite und drehte sich zu Lucca um. Er hatte sich vorgebeugt, mit den Unterarmen auf die Lehne des Beifahrersitzes gestützt und schaute sie durchdringend an.

Lange hielt sie seinem Blick nicht stand. „Warten Sie noch auf etwas?“

„Nein. Ich habe alles bekommen und schon eine Pille geschluckt. Meinetwegen können wir zurückfahren.“

Das klang schon viel weniger grob als vorhin. Vielleicht sah er endlich ein, dass er Hilfe brauchte, obwohl sie ihm lästig war, und wollte sie nicht ständig vor den Kopf stoßen. Dankbarkeit durfte sie allerdings nicht von ihm erwarteten. Wortlos startete sie den Motor und fuhr zurück Richtung Ravello.

„Mein Vater klang ausgesprochen gut gelaunt. Seit Jahren habe ich ihn nicht mehr so begeistert erlebt.“

„Ich habe ihn bisher nicht anders kennengelernt.“

„Hm. Ich kenne ihn eher als charmante Dampfwalze“, sagte Lucca bitter.

Sie hingegen würde Guilio als liebenswürdigen, dynamischen Menschen bezeichnen. Doch sie war nicht von ihm aufgezogen worden. Als Sohn hatte Lucca natürlich eine andere Sichtweise.

Am liebsten hätte sie tief aufgeseufzt. Einerseits nervte sie seine mürrische Art, andererseits war ihr klar, weshalb er sich so benahm. Er hatte Schmerzen. Seine Hilflosigkeit machte ihn unduldsam gegen sich und andere. Er hasste seine Schwäche, denn in seinen Augen musste ein echter Mann stark sein. In seinem Fall besonders gegenüber seinem Vater. Deshalb wagte er nicht, ihm in seinem jetzigen Zustand gegenüberzutreten, empfand das aber als feige und schämte sich dafür. Ein typisch männliches Verhalten.

Nur was wusste sie schon von Lucca? Nicht einmal, wobei er sich die Verletzung geholt hatte. Vielleicht hatte er auch ein seelisches Trauma, das er verarbeiten musste. Allein, ganz für sich.

Zweifellos war sie ihm zur falschen Zeit am falschen Ort begegnet. Und Guilio ahnte nicht das Geringste von den Problemen seines Sohnes.

Deshalb dachte sie mit Grauen an das, was sie Lucca alles an den Kopf geworfen hatte. Und selbst nachdem das anfängliche Missverständnis aufgeklärt worden war, hatte sich ihre Wut nur langsam gelegt. Sie ahnte auch, weshalb, und gestand es sich nur ungern ein. Ihr Zorn auf Ryan war wieder hochgekocht. Wie oft hatte er sie durch sein spätes Nachhausekommen aus dem Schlaf gerissen!

Inzwischen wusste sie, dass er nicht immer vom Nachtdienst gekommen war, sondern bei der Frau gewesen war, die er inzwischen geheiratet hatte und die Mutter seines Babys war. Annabelle hatte kein Kind bekommen dürfen, weil er angeblich erst die Facharztausbildung beenden und eine eigene Praxis hatte eröffnen wollen.

Nein, das Gift, das sie letzte Nacht versprüht hatte, hatte nicht Lucca gegolten, sondern ihrem Exmann.

Als sie wenig später den Wagen vor dem alten Haus parkte, glaubte sie, dass Lucca eingenickt war. Nachdem sie ihn mehrmals angesprochen und er nicht reagiert hatte, stieg sie aus, nahm die Krücke und pochte damit an die Scheibe des Autos. Er rührte sich jedoch nicht.

Daraufhin öffnete sie die hintere Wagentür. „Lucca.“ Sanft legte sie ihm die Hand auf die Schulter. „Wach auf. Du bist zu Hause. Ich bringe dich hinein.“

Er richtete sich auf dem Sitz mit einem Ruck auf und begann unaufhaltsam zu sprechen. Was er sagte, verstand sie jedoch nicht, denn es waren italienische Worte. Sie klangen emotionslos, wie Befehle oder Instruktionen. Dabei drückten seine Gesichtszüge blankes Entsetzen aus. Er griff nach ihrem Oberarm, als wäre er ein Rettungsanker. Und dann begann er immer wieder einen Namen zu schreien, bis er nur noch schluchzte. Luccas offensichtliches Leid zerriss ihr fast das Herz.

Was immer er im Schlaf durchmachte, musste unbeschreiblich schrecklich sein. Er schien mit einem Erlebnis zu kämpfen, das ihn traumatisiert hatte. Annabelle kannte solche Patienten und verstand nun besser, weshalb er sich vor seiner Familie verkroch. Er rechnete nicht mit Verständnis und glaubte, allein damit fertig werden zu müssen. Das war typisch für ein posttraumatisches Syndrom.

Sie beugte sich vor und legte ihm den anderen Arm um die Schulter, wiegte ihn hin und her und versuchte, ihn zu beruhigen. „Lucca, es ist nur ein Traum. Sie sind zu Hause und in Sicherheit“, sagte sie immer wieder leise und drückte dabei ihr Gesicht an seine Wange.

Irgendwann spürte sie, dass ihre Haut nass wurde. Ob von seinen oder ihren Tränen, wusste sie allerdings nicht. „Es ist alles gut“, wisperte sie. „Ich bin ja bei Ihnen. Wachen Sie auf.“

Nach einer Zeit, die ihr endlos vorkam, lockerte sich sein eiserner Griff, sodass sie beide Arme um ihn legen konnte. In diesem Moment entspannte sich sein Körper, und Lucca atmete tief ein und aus. Dann ließ er die Hände suchend über ihre Taille und ihren Rücken gleiten, umfasste ihr Gesicht und schlug die Augen auf.

„Hallo“, flüsterte sie, als wäre es das Normalste von der Welt, von ihm gestreichelt zu werden. „Erinnern Sie sich an mich?“

Er schaute sie lange an, erst verwirrt, dann mit zunehmendem Erkennen. „Signorina Marsh.“

„Ja. Sie hatten einen schlechten Traum, Lucca. Während der Fahrt von der Apotheke nach Hause sind Sie eingeschlafen. Nun ist alles vorbei.“

Sie waren einander so nah, dass sie seinen Atem auf ihren Lippen spürte.

„Habe ich letzte Nacht auch schlecht geträumt?“, flüsterte er.

Ihr floss das Herz über vor Mitgefühl.

„Das entzieht sich meiner Kenntnis. Sobald Sie eingeschlafen waren, bin ich in das andere Zimmer umgezogen. Lucca, wollen Sie mir nicht erzählen, wie Sie sich verletzt haben? Sind Sie mit einem Flugzeug abgestürzt?“

Blitzschnell griff er wieder nach ihrem Arm, und seine Miene wurde finster. „Habe ich etwa fantasiert? Was habe ich gesagt?“

„Italienische Worte, die ich nicht verstanden habe. Für mich hatte es den Anschein, als hätten Sie etwas Furchtbares im Traum wiedererlebt. Wollen Sie es mir erzählen?“

„Möchten Sie das wirklich hören?“

„Ja.“

Sein Griff wurde noch fester, was Lucca aber nicht wahrzunehmen schien. „Wir machten einen Übungsflug. Mit einem neuen Typ, der eigentlich schon ausgetestet war. Reine Routine eigentlich. Doch plötzlich fiel die Elektronik aus. Die Steuerung reagierte nicht mehr. Wir hatten keine Chance, den Jet unter Kontrolle zu bringen, und begannen abzustürzen. Daraufhin entschlossen mein Partner und ich uns zum Ausstieg. Mein Schleudersitz funktionierte. Kaum hatte sich mein Fallschirm geöffnet, sah ich, wie die Maschine am Boden aufschlug und in Flammen aufging. Ich suchte den Himmel vergeblich nach meinem Freund ab. Er hatte sich nicht retten können. Warum ist ihm das passiert und nicht mir? Er hat eine Frau zurückgelassen und ein ungeborenes Kind.“

Annabelle verstand seine Verzweiflung. Sie streichelte seine Wange. „Die meisten Überlebenden fragen sich das und fühlen sich schuldig. Das ist eine menschliche Reaktion. Mit der Zeit wird es Ihnen besser gehen.“

„Das glaube ich nicht.“

„Erzählen Sie weiter.“

„Wie ich gelandet bin, weiß ich nicht. Wahrscheinlich war ich unachtsam und verkrampft. Mich hat wohl mehr beschäftigt, ob Leo rechtzeitig das Flugzeug hatte verlassen können, als selbst heil herunterzukommen …“

Annabelle ließ ihm Zeit, sich zu fangen.

„Ich muss die Besinnung verloren haben, denn als ich aufwachte, lag ich völlig verdreht neben einem Felsbrocken. Bis auf das rechte Bein konnte ich aber alle Gliedmaßen bewegen. Meine Rettung habe ich allerdings nicht bei Bewusstsein erlebt. Zur Erstversorgung hat man mich jedenfalls in ein Militärhospital gebracht. Das Unglück hat sich ja in den USA ereignet, wo die meisten NATO-Mitglieder ihre Übungsflüge absolvieren. Von dort wurde ich zu einer Spezialklinik nach Deutschland geflogen.“

„Wie lange waren Sie dort?“

„Vier Monate. Man hat den Bruch mittels einer Metallplatte gerichtet.“

„Sie können froh sein, dass Ihr Bein gerettet wurde“, sagte sie atemlos. „Mit dieser Methode beschleunigt man die Heilung.“

Er holte tief Luft. „Vorausgesetzt, man klettert nachts keine Hügel hoch und rutscht nicht im Dunkeln auf Fliesen aus.“

Ohne nachzudenken, lehnte sie ihre Stirn gegen seine. „Was erwarten Sie denn anderes von einem tapferen Piloten, der an seine eigene Sicherheit zuletzt denkt?“

Er stöhnte auf. „Ich bin noch zu schlecht zu Fuß und hätte mich entsprechend verhalten müssen.“ Er strich ihr mit dem Daumen über die tränenfeuchte Wange. „Sie hätten mir lieber nicht Ihr Ohr leihen sollen. Nun stecken Sie wieder mit mir unter einer Decke.“ Indirekt wollte er sie damit wohl bitten, dass sie sich seinem Vater gegenüber weiterhin ausschwieg.

Sobald er sie losgelassen hatte, machte sie ihm Platz, damit er aussteigen konnte. Ihr zitterten die Beine von dem, was sie eben erlebt hatte. Vor allem die körperliche Nähe zu ihm wirkte nach. Schnell drückte sie ihm die Krücke in die Hand und eilte ihm voraus ins Haus.

Langsam folgte er ihr nach drinnen. Dort schleppte er sich zum Waschbecken, ließ sich Wasser in ein Glas ein und leerte es, ehe er sich zu Annabelle umdrehte. Seine Augen glänzten plötzlich, und seine Haut war nicht mehr blass, sondern gut durchblutet, sodass seine kräftigen schwarzen Haare und Brauen nicht mehr so hervorstachen. Und obwohl sein Gesicht mit der ausgeprägten Nase und dem kräftigen Kinn dem von Guilio sehr ähnelte, kam es ihr feiner und zugleich markanter vor. Am meisten faszinierte sie jedoch, wie sich der Zug um seinen Mund verändert hatte. Er wirkte entspannt, was seine Lippen noch sinnlicher erscheinen ließ. Sie hatte nicht geahnt, was für ein geradezu umwerfend gut aussehender Mann Lucca Cavezzali sein konnte, wenn er keine Schmerzen hatte.

„Werden Sie jetzt packen und gehen?“, fragte er.

Sie dachte eine Weile nach und schüttelte dann den Kopf. „Das halte ich für unverantwortlich. Sie leiden unter einem posttraumatischen Syndrom und wurden meiner Ansicht nach zu früh aus dem Krankenhaus entlassen. Vor allem nachts sollte jemand in Ihrer Rufnähe sein.“

Er lächelte.

Das kam ihr geradezu wie ein Wunder vor. Denn nichts erinnerte mehr an den finsteren Mann, den sie kennengelernt hatte.

„In Rufnähe? Heißt das, ich darf nicht wieder an Ihrer Seite einschlafen?“

„Das geht mir jetzt wirklich zu weit.“

Es war nicht zu glauben! Kaum ging es ihm besser, versuchte er, mit ihr zu flirten.

Seine Augen schienen Funken zu sprühen. „Aber Sie bleiben doch wenigstens hier im Haus, oder?“

„Gut. Dann sagen Sie mir Bescheid, sobald Sie im Bett liegen. Ich werde dann mit Kissen die Lage Ihres verletzten Beines stabilisieren. Das wird Ihnen bestimmt Erleichterung verschaffen. Vielleicht sind Sie dann bereit, Ihren Vater von Ihrer Rückkehr zu benachrichtigen.“

Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Wenn ich nicht gestürzt wäre, hätte ich es bereits heute getan. Ich will mit ihm über meine Zukunftspläne sprechen und muss deshalb in guter Verfassung sein, denn er wird sie nicht billigen.“

„Warum nicht?“ Annabelle brannte darauf, mehr von ihm zu erfahren.

„Solange ich denken kann, wollte ich Landwirt werden. Doch mein Vater hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht …“

Annabelle hörte ihm schweigend zu, als er ihr von den Auseinandersetzungen mit Guilio erzählte. Dass ein solcher Konflikt zwischen Vater und Sohn schwelte, hätte sie nicht vermutet. Zum einen, weil sie Guilio ganz anders eingeschätzt hatte, zum anderen, weil er seinen einzigen leiblichen Sohn bisher immer nur in den höchsten Tönen gelobt hatte.

„Die Familie meiner Mutter lebte von der Landwirtschaft, und sie waren die zufriedensten und glücklichsten Menschen, die man sich denken kann.“ Seine Augen leuchteten, während er weitersprach. „Ich habe viel von meinem Großvater und meiner Mutter gelernt. Sobald mein Vater morgens das Haus verlassen hatte, half ich noch vor Schulbeginn den beiden. Dadurch kenne ich mich aus mit Wein, Zitrusfrüchten und Olivenbäumen. Sie glauben nicht, welche Freude dann das Ernten macht.“

Doch das nahm sie ihm ab, denn seine Begeisterung wirkte geradezu ansteckend. „Es muss ein sehr zufrieden machendes Leben sein“, meinte sie leise.

„Ich gehe nicht davon aus, dass mein Vater seine Einstellung dazu inzwischen geändert hat. Aber ich brauche das Land, das er ohnehin verkaufen will. Und deshalb muss ich mich gesund und stark fühlen, wenn ich mit ihm verhandele. Sollte es mir morgen besser gehen, rufe ich ihn an.“

Annabelle nickte. „Dann gehen Sie jetzt am besten ins Bett. Ich hole schnell die Kissen.“

3. KAPITEL

Sobald er allein war, spürte Lucca, wie erschöpft er war. Dabei hatte er aufgrund der schlimmen Schmerzen fast gar nichts tun können. Nun sehnte er sich danach, endlich zu schlafen.

Obwohl er sonst nackt schlief, zog er sich eine graue Jogginghose und ein weißes T-Shirt an. Kaum hatte er sich hingelegt, kam Annabelle herein. Sie trug wieder den unförmigen Bademantel und hatte ihr Haar im Nacken zusammengefasst.

„Woher wussten Sie, dass ich furchtbaren Durst habe?“, fragte er.

Sie zuckte die Schultern und stellte ein Glas und eine Karaffe mit Wasser auf den Nachttisch und legte die Schmerztabletten daneben. „Etwas zu trinken ist immer gut.“

Dann ging sie wieder hinaus und hinterließ ihren zarten Duft im Raum.

Nachdem sie mit einem Arm voller Kissen zurückgekehrt war, schlug sie seine Decke zurück.

„Und was hätten Sie gemacht, wenn ich nun nackt gewesen wäre?“, fragte er.

„Ach herrje, ich bin Krankenschwester. Haben Sie das schon vergessen? Was glauben Sie, wie viele Männer ich schon im Adamskostüm gesehen habe? Alte, junge, dicke, dünne. Hübsche und hässliche. Der Anblick ist für mich nichts Besonderes. Und nun nehmen Sie die Stellung ein, die für Sie am besten ist.“

Lucca musste laut lachen, während er sich auf die rechte Seite drehte. Wann war ihm das zuletzt passiert?

„Kaum zu glauben, Sie können ja lachen“, spottete sie und half ihm, das gesunde Bein vorsichtig auf das verletzte zu legen. Dann stopfte sie zwei Kissen dazwischen. „Jetzt ist der Bruch entlastet, weil sich das Gewicht über das ganze Bein verteilt.“

Lucca stieß einen tiefen Seufzer aus. „Das fühlt sich herrlich an. Aber was passiert, wenn ich so nicht liegen bleibe?“

„Warum sollte das geschehen, wenn diese Position für Sie die angenehmste ist? Warten wir ab, wie es Ihnen morgen früh geht.“ Sie breitete die Decke über ihn aus, löschte das Licht und verließ den Raum.

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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<p>Mit mehr als 20 geschriebenen Romanen, ist Leanne dafür geschätzt Geschichten mit starken Emotionen, Charakteren mit denen sich jeder identifizieren kann, einem Schuss heißer Sinnlichkeit und einem Happy End, welches nach dem Lesen noch nachklingt zu erzählen. Sie ist die Abnehmerin der Romantic Times Magazine’s Awards in Serie. Sinnlichkeit, Liebe...
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