Romana Exklusiv Band 323

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SEHNSUCHT NACH DEM MÄRCHENPRINZEN von MARGARET WAY

Charlotte ringt um Fassung, als der neue Besitzer ihres geliebten Herrenhauses in Queensland vor ihr steht. Noch nach all den Jahren flüstert ihr Herz seinen Namen: Rohan Costello. Er war ihr Märchenprinz! Bis er plötzlich verschwand - und sie entdeckte, dass sie sein Kind erwartete …

ENTDECKUNG AM STRAND DER LIEBE von LUCY GORDON

Als Rettungsschwimmerin Harriet den Schiffbrüchigen auf ihr Boot zieht, erkennt sie ihn sofort: Darius Falcon - der Geschäftsmann, der ihre Insel gekauft hat! Und in den sie verliebt ist. Doch sie kämpft gegen ihre Gefühle an, bis sie bemerkt, dass Darius nicht so eiskalt ist, wie er erscheint …

UNTER DEN SEGELN DER LIEBE von NINA HARRINGTON

Ethan Chandler ist zurück in Swanhaven! Marigolds Herz schlägt verräterisch, als sie den braun gebrannten Segler im Jachthafen trifft. Nach einem Kuss hat sie Jahre lang von ihm geträumt. Jetzt ist sie klüger: Nie wieder wird sie auf den Herzensbrecher hereinfallen …


  • Erscheinungstag 29.05.2020
  • Bandnummer 323
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748890
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Margaret Way, Lucy Gordon, Nina Harrington

ROMANA EXKLUSIV BAND 323

1. KAPITEL

Gegenwart

Das Wetter war ideal für eine Gartenparty. Der Himmel leuchtete tiefblau. Heller Sonnenschein durchflutete das Tal. Ein kühler Wind machte die Sommerhitze erträglich, Bäume und Büsche standen in voller Blüte und verwandelten die fruchtbare Landschaft in einen überwältigend schönen Garten, der den Blick fesselte und den Atem stocken ließ. Die Welt erschien so vollkommen, dass die Bewohner es als Auszeichnung empfanden, im Silver Valley und in dem gleichnamigen Ort zu leben.

Für Charlotte Prescott-Marsdon – Mutter eines siebenjährigen Sohns und mit sechsundzwanzig Jahren schon Witwe – galt das allerdings nicht. Sie stand vor der Spiegelwand in ihrem Schlafzimmer und haderte mit dem Schicksal. Christopher und sie hatten auf der ganzen Linie verloren, und das tat bitter weh.

Seit vor einem Monat die ersten Einladungen eingetroffen waren, wartete man in Silver Valley ungeduldig auf den großen Eröffnungstag. Im Park von Riverbend, dem stattlichsten Gutshaus aus der Zeit der Kolonialherren, sollte eine „Gartenparty zum Kennenlernen“ stattfinden.

Riverbend – An der Flussbiegung –, ein wahrhaft poetischer Name! Seine Pracht spiegelte den Reichtum und die gesellschaftliche Stellung des Mannes wider, der es um 1880 erbaut hatte: Charles Randall Marsdon. Er hatte sich in seiner Jugend entschlossen, aus einem Land mit großer Vergangenheit in ein Land mit großer Zukunft auszuwandern und dort Karriere zu machen. Ein hochgestecktes Ziel, doch Charles Marsdon hatte nicht nur davon geträumt, sondern es auch verwirklicht. In überraschend kurzer Zeit hatte er es zu geschäftlichem Erfolg und hohem Einfluss in der Kolonialgesellschaft gebracht.

Riverbend war ein romantisch anmutendes zweistöckiges Gebäude mit einer georgianischen Fassade und hoch aufstrebenden Säulen. Breit angelegte, offene Veranden spendeten in dem heißen Klima den unerlässlichen Schatten. Obwohl sechs Generationen hier gewohnt hatten, würde Charlottes Sohn Riverbend niemals erben. Es gehörte den Marsdons nicht mehr. Das Gutshaus mit den umliegenden Weingärten und Olivenhainen – seit der Tragödie stark vernachlässigt – war an eine Gesellschaft namens „Vortex“ verkauft worden. Abgesehen davon, dass der von Vivian Marsdon geforderte horrende Preis anstandslos gezahlt worden war, wusste man nicht viel über den neuen Besitzer.

Charlottes Vater hatte hoch gepokert und gewonnen. Eigentlich hätte er sich das nicht leisten können, denn wirtschaftlich zählte der Name Marsdon nicht mehr. Doch Vivian besaß ein ausgeprägtes Ehrgefühl und pochte auf seine Stellung in Silver Valley. Es kam ihm vor allem darauf an, das Gesicht zu wahren. Da traf es sich gut, dass er nicht um den Kaufpreis feilschen musste, was seinem Ruf womöglich geschadet hätte.

Seitdem waren Monate vergangen, und jetzt wollte der Geschäftsführer von „Vortex“ endlich in dem kleinen Ort aufkreuzen. Natürlich hatten Vivian und Charlotte eine Einladung zu der Gartenparty erhalten, obwohl sie keinen Mitarbeiter der Gesellschaft persönlich kannten. Der Kaufvertrag war von den Anwälten Dunnett & Banfield ausgehandelt worden und enthielt eine Klausel, die Vivian Marsdon lebenslanges Wohnrecht in der Lodge garantierte. Ursprünglich hatte das Gebäude als Wagenschuppen gedient, den Charlottes Großvater zu einem großzügigen Gästehaus hatte umbauen lassen, weil Riverbend damals ein beliebter gesellschaftlicher Treffpunkt gewesen war. Nach seinem Tod sollte es auch dem neuen Besitzer zufallen.

Heute diente die Lodge nur noch Vivian, Charlotte und Christopher als Wohnung. Drei Generationen lebten hier unter einem Dach: Vater, Tochter und Enkel.

Für Charlottes Schwiegereltern, Gordon und Lesley Prescott, existierten die Marsdons inzwischen nicht mehr – ebenso wenig wie für ihre Tochter Nicole. Seit Martyns Tod vor anderthalb Jahren war eine völlige Entfremdung zwischen den Familien eingetreten. Martyn war in seinem hochtourigen Sportwagen durch das Tal gerast, hatte in einer berüchtigten Kurve die Kontrolle über das Steuer verloren und war mit dem Auto an einem Baum zerschellt. Eine junge Frau war bei ihm gewesen und hatte den Unfall wunderbarerweise mit leichten Schrammen überlebt. Man munkelte, sie sei seit einem halben Jahr Martyns Geliebte gewesen, weil seine Ehefrau ihn sträflich vernachlässigt habe.

Was hast du nur aus deinem Leben gemacht? hielt Charlotte stumme Zwiesprache mit ihrem Spiegelbild.

Die Antwort darauf konnte sie sich selber geben. Sie hatte ihr Leben genauso verpfuscht wie ihr Vater seins schon vor der Tragödie. Sein Schwiegersohn war ihm ziemlich gleichgültig gewesen. Er kreiste um sich selbst und besaß nicht das geringste Verantwortungsgefühl. Ging etwas schief, war ein anderer schuld, oder er sah sich als Opfer höherer Mächte.

Mit dem Tod von Sir Richard Marsdon, Charlottes hoch geachtetem Großvater, hatte der Verfall eingesetzt. Sein Sohn war nicht fähig gewesen, in seine Fußstapfen zu treten. Die Gesetzmäßigkeit innerhalb von drei Generationen bestätigte sich immer wieder: Die erste erwarb das Vermögen, die zweite vermehrte es, und die dritte brachte es durch. Viel Geld zu besitzen ließ einen gut schlafen, aber nicht jede Generation brachte einen Midas hervor, durch dessen Berührung alles zu Gold wurde.

Charlottes Vater, in Reichtum und Überfluss geboren, besaß weder Sir Richards Charakterstärke noch seinen ausgeprägten Geschäftssinn. Marsdon-Aktien verloren an der Börse ihren Wert. Warnungen von Anwälten und Finanzberatern verhallten ungehört. Vivian blieb auf beiden Ohren taub. Er wusste alles besser und büßte einen erheblichen Teil des einstigen Vermögens ein – und das schon vor der Tragödie, die das Unglück der Familie vollends besiegelte.

Seufzend griff Charlotte nach ihrem hübschen Hut und setzte ihn auf. Sie trug ihr langes Haar nur noch selten offen. Meist frisierte sie es streng zurück und hielt es in einem Knoten zusammen. So auch heute. Ihr Kleid aus chartreusegrüner Seide, dessen Rock kurz und weit war, wurde nur von einem breiten Träger über der rechten Schulter gehalten. Ihre Kopfbedeckung war farblich darauf abgestimmt und mit Seidenpäonien in dunklen Pinktönen garniert, die sich lebhaft von dem zarten Goldgrün abhoben.

Das Ensemble war nicht neu, aber sie hatte es erst einmal getragen – zum „Melbourne Cup“, als Martyn noch lebte. Er hatte großen Wert auf ihr Aussehen gelegt, und sie hatte ihn nie enttäuscht. Martyn glich charakterlich ihrem Vater. Er war Erbe eines riesigen Vermögens und konnte tun und lassen, was er wollte. Schon als Kind war er entschlossen gewesen, Charlotte zu heiraten und so zwei der ältesten hier ansässigen Familien miteinander zu verbinden. Er erreichte dieses Ziel und führte mit seiner jungen, hübschen Frau ein ausschweifendes Leben, dem sein früher Tod ein Ende setzte.

Manchmal hatte Charlotte die Hoffnung gehegt, Martyn würde mit den Jahren reifer werden, sich endlich gegen seinen erfolgreichen Vater durchsetzen und begreifen, dass er seinem Namen und dem traditionsreichen Familienunternehmen verpflichtet war. Leider hatten sich diese Hoffnungen, die Charlotte mit ihrem Schwiegervater teilte, nicht erfüllt. Sie waren zerplatzt wie Seifenblasen, trotzdem sprach Charlotte sich nicht von aller Schuld frei. Sie hatte Martyn nie geliebt, sondern immer nur als guten Freund geschätzt. Die große romantische Liebe war es nicht gewesen. Sie wusste zwar, was Leidenschaft bedeutete, und hatte sich doch für die Sicherheit entschieden. Sie hatte auf der ganzen Linie versagt.

Rohan. Sein Name hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Christophers helle Stimme weckte Charlotte aus ihren Gedanken. „Mummy“, hörte sie ihn ängstlich rufen. „Bist du fertig? Grandpa möchte gehen!“

Gleich darauf stürmte er ins Zimmer – ein auffallend hübscher Junge, der ein leuchtend blaues Hemd mit Perlmuttknöpfen und eine graue Cargohose trug. „Komm schon“, drängte er und streckte die Hand aus. „Grandpa marschiert ungeduldig im Flur auf und ab und wird langsam rot im Gesicht. Sein Blutdruck steigt wieder, nicht wahr?“

„Darüber musst du dir keine Sorgen machen, Schatz“, antwortete Charlotte gelassen. „Grandpa ist topfit. Er kann nur nicht warten. Dabei sind wir noch nicht zu spät dran.“

Gleich nach Martyns tödlichem Unfall hatte Vivian Marsdon seine Tochter und seinen Enkel gedrängt, zu ihm in die Lodge zu ziehen. Er fühlte sich einsam und wurde nur schwer mit den tief greifenden Veränderungen in seinem Leben fertig. Natürlich wusste Charlotte, dass sie sich irgendwann mit Christopher von ihm lösen musste, aber wie? Silver Valley war ihre Heimat, und auch Christopher hatte hier seine Wurzeln. Er liebte seine Freunde, seine Schule, die landschaftlich schöne Umgebung und die Geborgenheit bei seinem Großvater. Eine alleinstehende Mutter hatte es schon schwer genug. Sollte sie das Tal verlassen und sich damit neue Schwierigkeiten einhandeln?

Martyn hatte ihr nur wenig Geld hinterlassen. Sie hatten auf High Grove wie die Fürsten gelebt und keine finanziellen Sorgen gehabt. Gordon Prescott hatte alles für sie bezahlt, kannte seinen Sohn aber gut genug, um ihm kaum Bargeld in die Hand zu geben. Seine Witwe, so war man im Familienrat übereingekommen, verdiente keine höhere Zuwendung.

„Grandpa hat immer seinen eigenen Zeitplan“, betonte Christopher und schüttelte die blonden Locken. Charlottes Haar hatte die gleiche Farbe und, anders als ihr Sohn, der blaue Augen besaß, grüne. Martyns waren graublau gewesen.

„Wie hübsch du in dem Kleid aussiehst, Mum.“ Christopher war ungeheuer stolz auf seine schöne Mutter. „Sei heute bitte nicht traurig. Wäre ich doch bloß schon siebzehn Jahre alt und nicht erst sieben. Dann könnte ich für dich sorgen.“

„Als mein Ritter in schimmernder Rüstung.“ Charlotte umarmte ihn, ergriff seine ausgestreckte Hand und schwenkte sie hin und her. „Vorwärts, christliche Soldaten!“

Christopher sah sie fragend an.

„So lautet der Anfang eines englischen Chorals“, erklärte Charlotte. Kirchenlieder gehörten offenbar nicht zum Lehrstoff ihres Vaters. Er war selbst kein großer Sänger und nach der Tragödie noch mehr verstummt. „Es bedeutet, dass man nach vorn sehen und im Leben kämpfen soll.“

Christopher genoss bei seinem Großvater so etwas wie Privatunterricht. Obwohl sein Enkel die beste Schule von Silver Valley besuchte, bemühte Vivian sich, die Bildung des Kleinen ständig zu erweitern, indem er ihm historische Fakten, Geographie und Allgemeinwissen nahebrachte. Christopher kannte sich mit dem Computer gut aus, aber Vivian bestand darauf, die Lösungen in den Büchern seiner reichhaltigen Bibliothek zu suchen. Das tat Christopher, und er mogelte niemals. Er war wirklich ein begabter kleiner Junge.

Von der Lodge zum Gutshaus war es nur ein kurzer Weg, und die Party war bereits in vollem Gang, als sie ankamen. Riverbend ist in alter Pracht wiedererstanden, dachte Charlotte beim Anblick des ihr so vertrauten Gebäudes. Leichte Wehmut überfiel sie, und sie wusste, dass ihr Vater genauso fühlte, obwohl er äußerlich den alten Gutsherrn herauskehrte.

Das Haus war nach dem Auszug der Marsdons gründlich renoviert und einem Wirtschafterehepaar anvertraut worden. Mehrere Gärtner bemühten sich, den Parkanlagen ihren alten Glanz zurückzugeben, und ab und zu tauchte eine junge Frau aus Sydney auf, um alles zu überprüfen. Charlotte war ihr zufällig einmal begegnet …

Die junge Frau hatte ihren Mercedes abseits der kiesbestreuten Auffahrt abgestellt, um einen besseren Blick auf die Lodge zu haben, die fast überall durch eine Baumgruppe verdeckt wurde. Charlotte beschnitt gerade die kostbaren tiefroten „Ecstasy“-Rosen, als die ungebetene Besucherin auf hohen Pumps angestöckelt kam. Sie hatte braunes Haar und dunkle Augen und trug ein sündhaft teures schwarzes Kostüm und eine weiße Rüschenbluse.

„Oh … guten Tag!“, rief sie von Weitem. Sie hatte eine laute, klare Stimme. „Hoffentlich habe ich Sie nicht erschreckt.“

Irgendwie schon, dachte Charlotte. „Nur ein bisschen“, antwortete sie. Der Befehlston der Fremden signalisierte Charlotte, dass sie für diese nur eine Angestellte war. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“

Die Frau maß Charlotte kritisch von oben bis unten, ehe sie näher kam und mit ihren spitzen Absätzen den Rasen ruinierte. Sie sank dabei so tief ein, dass sie erneut stehen bleiben musste.

„Behilflich? Das glaube ich kaum. Ich bin Diane Rodgers.“

„Guten Tag, Miss Rodgers.“

Die junge Frau blieb kühl. „Der neue Besitzer von Riverbend hat mich beauftragt, den Fortgang der Arbeiten zu kontrollieren. Da wollte ich auch einen kurzen Blick auf die Lodge werfen.“

„Sind Sie Grundstücksmaklerin?“, fragte Charlotte. Sie hielt das zwar für ausgeschlossen, aber der hochmütige Ton dieser Person forderte sie dazu heraus.

„Oh nein.“ Diane war offensichtlich schockiert über Charlottes Anmaßung.

„Es war nur eine Annahme, Miss Rodgers. Die Lodge ist Privatbesitz, aber das wissen Sie natürlich.“

„Sie haben doch nichts dagegen, dass ich mich hier ein bisschen umsehe?“ Ihr Sarkasmus war nicht zu überhören. „Ich komme ja nicht als Inspektorin.“

„Das wäre wirklich völlig unangebracht“, erwiderte Charlotte.

Diane zog die dunklen Augenbrauen hoch. „Inwiefern?“

„Ich möchte nicht deutlicher werden, aber Sie befinden sich auf privatem Grund“, wiederholte Charlotte. Hätte Diane einen umgänglicheren Ton gewählt, wäre vielleicht alles etwas anders verlaufen. Doch ihr lag wohl daran, ihre Überlegenheit zu zeigen.

„Kommen Sie von Ihrem hohen Ross herunter“, meinte sie und lachte verächtlich. „Der Abschied vom Herrenhaus muss wohl sehr bitter für Sie gewesen sein. Sie sind doch die Tochter des ehemaligen Besitzers?“ Das war eine Feststellung, keine Frage.

„Wie kommen Sie darauf?“ Charlotte fuhr in ihrer Arbeit fort.

„Ich habe von Ihnen gehört, Mrs. Prescott.“ Diane betonte die Worte so, als wüsste sie genau über Charlotte Bescheid. „Sie sind wirklich so hübsch, wie man mir gesagt hat.“

„Schönheit ist nicht alles, Miss Rodgers. Es gibt wichtigere Dinge, aber wer hat Ihnen von mir erzählt?“

Diane schnitt ein Gesicht. „Ich werde meine Quelle doch nicht verraten. Sie wissen ja selbst, wie schnell die Leute reden. Offenbar schlägt das Schicksal auch bei den Reichen und Schönen zu. Wie man hört, haben Sie schon als Kind Ihren Bruder verloren … und vor Kurzem noch den Ehemann. Beides muss Sie schwer getroffen haben.“

Charlotte hatte das Gefühl, als drehte sich ihr der Magen um. Von wem hatte diese unsensible Person ihre Kenntnisse? Hatte sie sich im Ort umgehört oder Nicole, Martyns jüngere Schwester, ausgefragt? Ihre Schwägerin hatte sie schon immer gehasst. Falls sie Dianes Informantin war, hatte sie bestimmt ihr Gift verspritzt.

„Darauf können Sie sich selbst die Antwort geben“, erklärte sie nach einer Pause. „Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe zu tun. Das Essen muss vorbereitet werden.“

„Für Ihren Vater und Ihren Sohn, nicht wahr?“

Warum verhielt sich Diane so aggressiv? Sie zeigte keine Spur von Mitleid, und das machte Charlotte wütend. „Also dann“, sagte sie und legte die Gartenschere in den weißen Bastkorb, der neben ihr stand. „Bitte denken Sie in Zukunft daran, dass Fremde hier nicht erwünscht sind.“

Diane gab sich amüsiert, aber sie konnte ihren Unwillen nicht ganz verbergen. Wer war diese Charlotte Prescott, um sie so von oben herab zu behandeln? Wie es hieß, war sie längst von ihrem Postament gestürzt.

„Wie Sie wünschen“, sagte sie kurz angebunden und machte auf dem Absatz kehrt. Zu schnell, wie sich herausstellte, denn sie verlor das Gleichgewicht und musste mit den Armen rudern, um nicht hinzufallen.

2. KAPITEL

Die eingeladenen Damen hatten sich mächtig herausgeputzt. Duftige pastellfarbene Kleider und breite Hüte beherrschten das Bild. Man hatte gelernt, sich vor der glühenden Sonne Australiens zu schützen. Charlotte erinnerte sich noch gut, wie sorgfältig ihre Mutter bei sich und ihrer Tochter darauf geachtet hatte. Das war lange her. Heute hörte Charlotte kaum noch von ihr. Sie meldete sich selten und sprach nie über alte Zeiten.

Charlottes Eltern hatten sich zwei Jahre nach der Tragödie scheiden lassen. Wenig später hatte Barbara Marsdon einen Mann namens Kurt Reiner geheiratet und lebte seitdem in Toorak, einem Nobelvorort von Melbourne. Die Hoffnung, dass sie in ihrem hübschen Enkel Trost finden würde, hatte sich zu Charlottes bitterer Enttäuschung nicht erfüllt. Für ihre Mutter hatte es nur einen Jungen gegeben: ihren Sohn Matthew, Stolz und Freude ihres Lebens.

„Darf ich mit Peter spielen, Mummy?“ Auch diesmal wurde Charlotte durch Christopher von ihren trüben Gedanken abgelenkt. Peter Stafford war seit der Vorschule sein bester Freund. Er stand auch jetzt neben ihm und grinste übers ganze Gesicht.

„Ich wüsste nicht, was dagegen spricht.“ Charlotte lächelte ebenfalls. „Guten Tag, Peter. Du siehst sehr chic aus.“ Sie deutete auf sein bunt kariertes Hemd.

„Wirklich?“ Peter wurde knallrot vor Freude. Christopher hatte ihm verraten, dass er eine lange Hose tragen würde, und deshalb hatte Peter nicht geruht, bis seine Mutter ihm auch eine gekauft hatte. Er kam sich sehr erwachsen darin vor.

Christopher stieß ihn mit dem Ellbogen in die Seite. „Du weißt, dass Mum nur nett sein will, nicht wahr?“

„Im Gegenteil“, beteuerte Charlotte, „ich meine es ehrlich.“ Sie sah sich flüchtig um. „Sind deine Eltern auch hier?“

Peter nickte. „Zusammen mit Angie.“ Angela war seine ältere Schwester. „Wir mussten Stunden warten, bis sie fertig angezogen war. Sie hat ständig die Kleider gewechselt, aber das erste gefiel mir am besten. Dann ging es mit dem Haar los … Mum war zum Schluss richtig wütend.“

„Inzwischen hat sie sich bestimmt wieder beruhigt.“ Charlotte kannte Angela Stafford. Sie war so schwierig, wie Peter umgänglich war. „Wir sind hier, um uns zu amüsieren, und es ist so schönes Wetter.“ Sie strich Christopher über den Kopf. „Du meldest dich doch ab und zu bei mir?“

„Natürlich.“ Christopher sah sie forschend an, fast wie ein Erwachsener. „Wenn du willst, können Pete und ich auch bei dir bleiben.“

„Sei nicht albern“, protestierte Charlotte. Wie ritterlich ihr kleiner Sohn sich verhielt! „Verschwindet endlich, ihr beiden.“

Die Jungen machten sich auf den Weg. Nach wenigen Schritten drehte sich Peter um und sagte: „Es tut mir sehr leid, dass Riverbend nicht mehr der Familie gehört, Mrs. Prescott … für Sie und Mr. Marsdon. Sonst hätte Chris es geerbt.“

Peters bekümmerte Miene rührte Charlotte fast zu Tränen. „Du weißt doch, wie es im Leben geht, Pete“, tröstete sie ihn. „Auch das Glück ist vergänglich. Es war nett von dir, dich daran zu erinnern. Du bist ein guter Junge. Deine Familie kann stolz auf dich sein.“

„So wie meine auf mich!“, krähte Christopher und strich sich das blonde Haar aus der Stirn, eine für ihn typische Geste.

Sie wandte sich bewegt ab und sah, dass ihr Vater sich gerade mit dem vierschrötigen Bürgermeister unterhielt, der wahrscheinlich nur zuhörte, weil der Name Marsdon immer noch etwas darstellte.

Die Trennung und anschließende Scheidung von Charlottes Eltern hatte Silver Valley in zwei Lager geteilt. Die schöne, stilvolle Barbara Marsdon war Vorsitzende mehrerer Wohltätigkeitsvereine gewesen und hatte Riverbend zum gesellschaftlichen Zentrum gemacht. Man verehrte sie allgemein – viel mehr als ihren Ehemann, der in seiner blinden Selbstüberschätzung nichts davon merkte.

Die Tragödie hatte Barbara wie ein vernichtender Schlag getroffen. Vivian hatte zwar auch getrauert, war aber nicht daran zerbrochen.

Und Charlotte? Sie war in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass ihre Mutter sie liebte, obwohl Matthew, der Erstgeborene, immer ihr bevorzugter Liebling blieb. Barbara gehörte zu den Müttern, für die ein Sohn alles bedeutete. Das hatte Charlotte nicht gestört, zumal sie selbst schwärmerisch zu dem älteren Bruder aufsah. Er war ein ungewöhnlich harmonischer Junge gewesen. Ein Kind des Lichts. Und er hatte einen sehr guten Freund gehabt: Rohan, den Sohn von Mary Rose Costello, einer alleinstehenden Mutter.

Mary Rose, früh verwaist, war von ihrer Großmutter erzogen worden, einer strengen, bescheidenen Frau. Sie hatte ihre auffallend hübsche Enkelin auf die angesehene Klosterschule geschickt, wo das rothaarige Mädchen mit der hellen Haut wohlgelitten war, weil sie sich nicht „herumtrieb“. Doch Mary Rose zerstörte ihren guten Ruf, indem sie schwanger wurde – noch dazu, ohne verheiratet oder zumindest verlobt zu sein. Und es kam noch schlimmer. Obwohl in der kleinen Gemeinde nur selten etwas verborgen blieb, ließ sich kein Hinweis auf Rohans Vater finden. Dabei hatte man sich, weiß Gott, bemüht, etwas herauszubekommen!

Mary Rose vertraute sich niemandem an, nicht einmal ihrer schockierten und zutiefst enttäuschten Großmutter. Sie erwähnte keinen Namen, aber man war allgemein der Ansicht, dass Rohan einen selten gut aussehenden Mann zum Vater hatte. Und einen überdurchschnittlich intelligenten, denn Rohan entwickelte sich nicht nur zum hübschesten, sondern auch zum klügsten Jungen von Silver Valley.

Mary Roses Großmutter war menschlich genug gewesen, das Cottage mit dem kleinen Garten ihrer Enkelin zu hinterlassen. Den Lebensunterhalt verdiente sich Mary Rose, indem sie bei den Prescotts und Marsdons im Haushalt half. Sie versuchte sich auch als Schneiderin und entwickelte dabei großes Talent. Charlottes Mutter ermutigte sie, auf Bestellung zu arbeiten, und empfahl sie ihren Freundinnen und Frauen in der weiteren Umgebung. Sie nahm sich auch sonst der Costellos an und garantierte so ihr Überleben.

Bis es zu der Tragödie kam.

Die Besucher drängten sich auf dem saftig grünen Rasen vor dem Gutshaus. Wer die Sonne fürchtete, konnte sich in den Schatten der Magnolienbäume flüchten, die im üppigen Schmuck ihrer tellergroßen wachsbleichen Blüten prangten. Einige Kinder spielten zwischen den Buchsbaumhecken Verstecken, andere balgten sich auf der großen Grünfläche. Ganz freche liefen unter der Fontäne des Springbrunnens durch, bis die Erwachsenen es ihnen untersagten, damit sie nicht völlig durchnässt wurden.

Allen sah man an, wie sehr sie sich über die Einladung freuten. In einem großen weißen Festzelt wurden köstliche Kanapees, kunstvoll dekorierte Torten und Berge von Erdbeeren mit Schlagsahne angeboten. Dazu konnte man nach Wahl Weißwein, verschiedene Fruchtsäfte, die übliche Cola oder Limonade trinken. Andere Sorten Alkohol wurden nicht ausgeschenkt, weil man offenbar befürchtete, dass sonst die fröhliche Stimmung umschlagen könnte.

Charlotte musste auf ihrem Gang durch die Menge so viele Bekannte begrüßen, dass ihr Lächeln maskenhaft wurde. Es war nicht leicht, mit wehmütigen Empfindungen im Herzen heiter und entspannt zu wirken. Zum Glück besaß sie inzwischen einige Übung darin.

Wer jahrelang seinen Schmerz für sich behalten musste, lernte zumindest Selbstbeherrschung. Wer täglich mit lächelndem Gesicht vor den Schwiegereltern zum Frühstück erscheinen musste, nachdem ein heftiger Streit mit Martyn vorausgegangen war, wurde hart. Bei solchen Gelegenheiten hatte Martyn sie geschlagen – an Stellen, wo man es nicht sehen konnte, denn sonst hätte es einen Aufstand gegeben. Sein Vater hätte ihn augenblicklich zur Verantwortung gezogen, sosehr Mutter und Schwester ihn auch verwöhnten. Häusliche Gewalt war in keinem Fall zu rechtfertigen. Ein Mann schlug seine Frau nicht. Das war undenkbar, ein Ausdruck erbärmlicher Feigheit.

Martyn hatte verzweifelt nach etwas verlangt, das sie ihm nicht geben konnte: ihre ungeteilte Liebe. Darüber war er zum Gewalttäter geworden, der sogar Christopher mit seiner Eifersucht verfolgte. Hätte er auch ihren Sohn angegriffen, wäre Charlotte nicht bei ihm geblieben. So, wie die Dinge lagen, blieb sie aus Stolz. Sie konnte nicht einfach zu Hause anrufen und sagen: Ich bin fertig mit meiner Ehe. Ich will nicht mehr. Ich komme zurück.

Ihre Mutter hatte alles im Stich gelassen, um irgendwo neu anzufangen. Blieb ihr Vater, aber der hätte ihr nur geraten, sich zusammenzunehmen und ihre Ehe nicht aufs Spiel zu setzen. Erst nach Martyns Tod und Bekanntwerden der skandalösen Begleitumstände hatte er sie mit Freuden wieder aufgenommen – vereinsamt und völlig unfähig, einen eigenen Haushalt zu führen. Das war Frauensache. Er hasste die Putzhilfen, die gelegentlich kommen mussten. Seine Tochter konnte besser für ihn sorgen und ihm regelmäßig Mahlzeiten kochen. Außerdem liebte er seinen Enkel.

„Man merkt dem Jungen an, aus welcher Familie er kommt“, pflegte er zu sagen, ohne zu ahnen, wie wenig das auf Christopher zutraf.

Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass Charlotte ihn verlassen könnte. Dabei wusste sie, dass ihre Zeit in der Lodge begrenzt war. Nur der Trennungstermin stand noch nicht fest. Christopher war jetzt sieben Jahre alt. Wann würde es so weit sein?

Alle Besucher waren begierig darauf, den neuen Besitzer von Riverbend kennenzulernen. Bisher hatte er sich noch nicht gezeigt, aber plötzlich tauchte ein Hubschrauber am Himmel auf, flog dicht über das Gutshaus hinweg und landete auf dem hinteren Rasen. Einige Minuten später ertönte eine Fanfare, die allgemeine Aufmerksamkeit erregte. Ein großer, tadellos gekleideter Mann mit einer Rosenknospe am Revers erschien an der Eingangstür – gefolgt von Diane Rodgers in exquisiter Partygarderobe.

Schon aus der Ferne ließ sich erkennen, dass es sich um keinen gewöhnlichen Mann handelte. Er schritt leichtfüßig über die Veranda und blieb oberhalb der Stufen stehen, die zum Garten hinunterführten. Von dort blickte er auf die Menge und hob dann lässig die Hand.

Beifall brach los. Endlich war der Gastgeber erschienen – und was für einer! Die Spannung war auf dem Höhepunkt. Vor allem die Kinder staunten den Fremden an, der in einem silbrigen Hubschrauber mit knatternden Rotoren vom Himmel herabgekommen war.

Wie soll Dad das verkraften? dachte Charlotte ängstlich, aber ihre Sorge war unnötig. Vivian Marsdon löste sich aus der Gruppe und ging – vielleicht nicht ganz so sicher wie sonst – auf den Vertreter der Gesellschaft zu, die das Haus seiner Ahnen gekauft hatte.

„Komm mit“, raunte er Charlotte im Vorbeigehen zu. „Jetzt sind wir dran. Es wird Zeit, den neuen Besitzer zu begrüßen. Er scheint mehr als nur der Geschäftsführer zu sein. Er sieht gut aus, nicht wahr?“, fuhr Vivian halblaut fort. „Und er ist bedeutend jünger, als ich angenommen habe. Ich habe einen Mann Ende vierzig erwartet … oder noch älter.“ Plötzlich stutzte er. „He, Moment mal! Kenne ich den nicht?“

Charlotte, die trotz ihres großen Huts von der Sonne geblendet wurde, sagte nichts, schaffte es aber zu lächeln. Dies war ihr Auftritt. Alle anderen Talbewohner waren nur noch Zuschauer. Sie erwarteten von Riverbends ehemaligen Besitzern, dass sie in diesem Augenblick Haltung zeigten.

Doch es kam anders.

„Costello!“, brauste Vivian zornig auf. „Nein, das kann nicht sein!“

Er blieb so plötzlich stehen, dass Charlotte, die einen halben Schritt hinter ihm zurückgeblieben war, fast mit ihm zusammenprallte und sich bei ihm festhalten musste. Sein Gesicht war ganz bleich geworden. Sonst schwer zu erschüttern, schien er einem Kollaps nah.

Charlotte erging es nicht anders, denn sie war genauso ahnungslos gewesen. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass ihr Leben an diesem Nachmittag abermals eine dramatische Wendung nehmen würde, gegen die sie machtlos war. Sie konnte nur dastehen und versuchen, mit den vielfältigen Empfindungen fertig zu werden, die sie jetzt übermannten.

Das attraktive und geistvolle Gesicht des Mannes blieb völlig unbewegt. „Guten Tag, Mr. Marsdon“, sagte er höflich mit einer warmen, äußerst angenehmen Stimme, die jeden sofort gefangen nehmen musste, und kam zur Begrüßung die Stufen herunter.

„Charlotte?“ Er wandte sich zu ihr und sah sie an. Seine Augen waren tiefblau und bildeten einen starken Kontrast zu dem dunklen Haar und dem sonnengebräunten Gesicht.

Rohan!

Sein Blick hielt sie fest und versetzte sie in eine andere Wirklichkeit. Die vergangenen Jahre existierten nicht mehr, als hätte eine Flutwelle sie mitgerissen. Der Tag der Abrechnung war gekommen. Wie lange hatte sie schon darauf gewartet?

Ihr Herz schlug plötzlich doppelt schnell. Der Schock war einfach zu groß – zu vernichtend, um ihn zu ertragen. Sie hatte geglaubt, einen undurchdringlichen Schutzpanzer zu besitzen, stattdessen überkam sie eine ungeheure Schwäche. Sie versuchte, langsamer zu atmen und ihren rasenden Puls zu beruhigen. Dann trat unvermittelt völlige Stille ein. Sie griff sich mit zittriger Hand an die Schläfe und spürte, wie sie langsam zu Boden glitt …

Um Gottes willen … nur das nicht! Gib nicht nach. Halt dich aufrecht!

„Rohan …“, hauchte sie.

Sie kannte ihn so gut wie sich selbst. Warum hatte er bis heute geschwiegen und sie nicht zumindest gewarnt? Wie grausam das war! Eigentlich passte so etwas nicht zu ihm, aber er hatte es darauf angelegt, sie aus der Fassung zu bringen. Ihr Vater war ihm nicht so wichtig. Er wollte sie bis auf den Grund ihrer Seele erschüttern. Das verriet ihr seine Miene. Die Vergangenheit war nicht tot. Sosehr sie sich auch nach Vergessen sehnte – die Erinnerung ließ es nicht zu.

Das tust du mir an, Rohan?“, flüsterte sie.

Ihr Stolz war gebrochen. Sie wusste, dass sie ein Bild des Jammers bot. Der strahlende Himmel über ihr hatte sich bezogen. Graue Nebelschwaden schienen sie plötzlich einzuhüllen. Sie nahm nichts mehr wahr und merkte auch nicht, dass sie von kräftigen Armen aufgefangen wurde.

Ein blonder Junge löste sich in diesem Moment aus der Menschenmenge und rief in höchster Angst: „Mummy … Mummy!“

Sein Großvater, selber außer sich vor Wut, wollte ihn festhalten, aber der Kleine riss sich los, denn er hatte nur eins im Sinn: dem großen fremden Mann zu folgen, der seine Mutter auf den Armen ins Haus trug.

Rohan Costello.

Der Name ging von Mund zu Mund, bis alle wussten, wer der neue Besitzer von Riverbend war. Die Nachricht schlug wie eine Bombe ein.

Das Schicksal holte einen wohl immer wieder ein.

3. KAPITEL

Silver Valley, im Sommer vor vierzehn Jahren

Es war einer dieser endlosen Nachmittage im Hochsommer. Traumhafte Ferienwochen lagen vor ihnen, und wenn es zu heiß wurde, verließen sie das türkisblaue Wasser des Swimmingpools im Garten und liefen zum Fluss hinunter, der sich durch das Tal schlängelte und in einer breiten Kurve an Riverbend vorbeifloss.

Sie wussten, dass sie eigentlich in der Nähe des Hauses bleiben sollten, obwohl kein grundsätzliches Badeverbot für den Fluss bestand. Ihr Vater hatte sogar einen kleinen Sprungturm am Ufer errichten lassen. Bis dahin hatten sie einen alten Autoreifen zum Springen benutzt, der mit einem Tau am Ast eines kräftigen Eukalyptus befestigt war.

Charlotte war zwölf Jahre alt und gehörte fest zum „Quartett“, wie sie im ganzen Tal genannt wurden. Die drei Jungen, denen sie sich wie selbstverständlich angeschlossen hatte, waren unzertrennliche Freunde: Matthew, ihr älterer Bruder, Rohan, Mrs. Costellos Sohn – Barbara Marsdon bestand auf dieser Anrede, obwohl Miss Costello korrekter gewesen wäre –, und Martyn Prescott, der Sohn vom Nachbargut High Grove. Charlotte war die Muse der Gruppe.

Sie wäre lieber gestorben, als zuzugeben, dass Rohan ihr Idol war, ihr Ritter in schimmernder Rüstung. Sie war hin und weg, wenn er sie mit seinen blauen Augen anstrahlte. Neuerdings schlich sich jedoch leichte Befangenheit in ihre bis dahin harmlose Beziehung. Charlotte sehnte sich immer mehr danach, Rohan zu küssen – ein Anzeichen dafür, dass sie erwachsen wurde.

Rohan war auch diesmal zuerst am Ufer, stürzte sich ins Wasser und schwamm mit kräftigen Zügen bis in die Mitte des Flusses, dessen gekräuselte dunkelgrüne Oberfläche im Sonnenlicht glitzerte.

„Worauf wartet ihr?“, rief er und winkte ihnen zu. „Komm schon, Charlie. Du schaffst es als Zweite.“

Rohan war einfach göttlich! Schon früh umgab ihn eine besondere Aura. „Rohan ist ein ganz ungewöhnlicher Junge“, hatte Charlottes Mutter einmal gesagt. „Der geborene Führer und ein Segen für meinen Darling Mattie.“ Damals war sie noch überzeugt davon, dass ihr Sohn einen solchen Beschützer brauchte.

„Es ist nicht gut für ihn, so verhätschelt zu werden“, lautete der ständige Kommentar ihres Ehemanns. Nach seiner Ansicht konnte die übertriebene Fürsorge Matthew nur schaden. Barbara war das jedoch gleichgültig. Im Gegensatz zu Charlotte, die kerngesund war, litt Matthew schon früh an Asthma, das sich nach Ansicht des Arztes in der Pubertät verlieren sollte.

Charlotte kam mit fliegenden blonden Haaren angerannt. Martyn hatte ihr heimlich den Zopf gelöst, den sie gewöhnlich trug. Er neckte sie gern damit. Meist merkte sie es rechtzeitig, drehte sich um und schalt dann: „Das ist blöd von dir, Martyn!“

„Offen gefällt mir dein Haar besser“, lautete dann seine Rechtfertigung. „Eines Tages wirst du eine Schönheit sein. Das sagen Mum und Dad auch. Nicole natürlich nicht. Sie ist höllisch eifersüchtig auf dich. Aber wir beide werden heiraten. Mum ist auch überzeugt davon.“

Charlotte ließ ihn weiterträumen. Martyn heiraten – also wirklich! Er würde gerade der Richtige sein. Matthew behauptete zwar immer wieder, Martyn sei ihr heimlicher Verehrer, doch das ignorierte sie genauso wie seine Neckereien. Damals ahnte sie noch nicht, was aus einer solchen Schwärmerei werden konnte.

Rohan zog sie nie auf, ließ Martyn allerdings gewähren. Die Prescotts und Marsdons waren für ihn die „vornehmen“ Kinder. Ein Rohan Costello, der mit seiner Mutter in einem kleinen Cottage am Ortsrand wohnte, gehörte nicht dazu.

„Die beiden müssen bald umziehen“, pflegte Barbara zu sagen. „Rohan ist ja fast schon ein Mann.“

Rohan würde bald fünfzehn werden, und es war unschwer zu erkennen, dass er einmal größer als ein Meter achtzig sein würde. Natürlich war er der beste Schwimmer von allen, obwohl Charlotte sich auch nicht zu verstecken brauchte. Sie war schnell im Endspurt, hielt aber nicht so lange durch.

Dass ihre Brüste sich bereits entwickelten und sich deutlich unter dem Badeanzug abzeichneten, war ihr nicht bewusst, ebenso wenig der zarte Bronzeton ihrer schlanken Glieder. Beides wurde von Rohan sehr wohl bemerkt, als Charlotte sich unbefangen ins Wasser warf und auf ihn zuschwamm, während er sie weiter anfeuerte. Sie waren fröhlich und sorglos. Ein Junge und ein Mädchen, wie Romeo und Julia. Er fast fünfzehn, sie zwölf Jahre jung.

Keiner ahnte, dass sie nach diesem Tag nie wieder im Fluss baden würden.

Martyn schmollte mit ihnen – aus Eifersucht. Matthew war dagegen so friedlich wie immer. Irgendwann rief er ihnen zu, dass er quer über den Fluss zum anderen Ufer schwimmen würde, wo Trauerweiden ihre Zweige über das Wasser neigten.

„Bleib lieber hier, Mattie!“, antwortete Rohan, indem er beide Hände um den Mund legte, als wollte er ein Sprachrohr bilden.

„Warum denn? Glaubst du, ich schaffe es nicht?“ Matthew machte ganz den Eindruck, als wollte er sich bei dieser Gelegenheit beweisen.

„Natürlich kannst du es“, versicherte Charlotte, die immer bemüht war, Matthews Selbstvertrauen zu stärken. „Aber tu, was Rohan sagt. Bleib bei uns!“

Matthew ließ sich überzeugen und drehte sich in ihre Richtung, bis Martyn höhnisch herüberrief: „Sei doch kein Feigling, Mattie! Warum hörst du immer auf andere? Du musst nicht alles machen, was Rohan sagt. Na los … mach schon! Sei kein Frosch!“

„Halt den Mund, Martyn!“, schrie Rohan wütend. Keiner kannte so einen Ton von ihm. Es war der Ton eines Erwachsenen, dessen Stimme Autorität verriet.

Martyn war sofort still, aber zu ihrer aller Bestürzung wandte sich Matthew wieder dem gegenüberliegenden Ufer zu. Er hatte dünne Arme, und seine Schwimmbewegungen wirkten ungeschickt.

„Vielleicht sollten wir ihm den Willen lassen“, meinte Charlotte unsicher. „Mum verzärtelt ihn wirklich zu sehr.“

„Das kannst du laut sagen“, triumphierte Martyn. Alle im Tal wussten, wie übervorsichtig Matthew von seiner Mutter behandelt wurde.

„Ich folge ihm lieber.“ Rohan brauchte Matthew nicht lange zu beobachten, um zu dem Entschluss zu kommen. „Du hättest ihn nicht verspotten sollen, Martyn. Du bist doch sein Freund, oder? Für Mattie ist das jetzt eine Mutprobe, und er denkt nicht an die Gefahr. Er ist nicht so kräftig wie du oder ich … und kein guter Schwimmer.“

„Er wird es schon schaffen.“ Martyn wollte seine Ängstlichkeit nicht zeigen, aber er war inzwischen zur Besinnung gekommen. Rohan hatte recht. Er hätte Mattie nicht anspornen dürfen. Er wollte etwas zu seiner Entschuldigung sagen, aber Rohan war schon im Wasser und Charlotte kurz darauf auch.

Martyn blieb lieber zurück. Seiner Meinung nach übertrieben Rohan und Charlotte ihre Fürsorge. Mattie würde nichts passieren. Bestimmt nicht. Die Entfernung zwischen den Ufern war an dieser Stelle nicht sehr groß. Das Wasser war warm und ruhig. Unterströmungen gab es nicht – jedenfalls keine gefährlichen.

Allerdings war der Fluss am anderen Ufer wesentlich trüber. In seiner Innenkurve setzte sich mehr Schlamm ab, und von den Bäumen fielen Äste und welkes Laub herunter. Für Rohan wäre das kein Problem gewesen – aber für Mattie?

Allmächtiger! Wenn nun doch etwas passierte? Wenn es einen Unfall gab? Doch da war es schon zu spät.

Eben hatte Matthew noch mit beiden Armen das Wasser durchpflügt – dann, ganz plötzlich, verschwand sein blonder Schopf unter der glitzernden Oberfläche. Maßloses Entsetzen packte Charlotte und die beiden Freunde. Der Fluss, der sie so oft kühl umschmeichelt hatte, war für sie mit einem Mal zum heimtückischen Feind geworden.

„Oh nein!“, schrie Charlotte. Sie spürte instinktiv, dass etwas nicht stimmte. „Hilf ihm, Rohan!“

„Sei nicht albern, Charlie!“, rief Martyn, obwohl ihn selbst die Angst packte. „Er spielt sich nur auf.“

Charlotte achtete in ihrer Verzweiflung nicht auf ihn. In Krisensituationen war auf Martyn kein Verlass, aber auf Rohan konnte man zählen. Wie ein Torpedo schoss er durch das dunkelgrüne Wasser.

Charlotte schwamm weiter hinter ihm her. Beim Wettkampf hätte sie ihre Bestzeit herausgeholt. „Lieber Gott“, stöhnte sie, während ihr Tränen über das Gesicht rannen, „lass es nicht zu.“

Von Matthew war jedoch nichts zu sehen. Charlotte wusste, dass er keine Scherze mit ihnen trieb. Dazu war er viel zu umsichtig. Menschen, die er liebte, hätte er nie unnötig geängstigt. Er liebte sie, seine Schwester. Er liebte Rohan, seinen besten Freund. Sogar gegenüber Martyn, der ihn häufig hänselte, übte er Nachsicht.

„Mattie! Mattie!“, schrie sie so laut, dass die Vögel am Ufer kreischend aufflogen und in einer bunten Wolke davonstoben.

Rohan war jetzt ebenfalls verschwunden. Er tauchte nach Matthew, und Charlotte folgte seinem Beispiel. Als sie zu ersticken drohte, musste sie wieder hochkommen. Sie sah etwas flussabwärts treiben und schwamm hinterher. Rohan überholte sie, fasste das Etwas … Gütiger Himmel, es war Matthew. Rohan hob den leblosen Körper auf seinen starken Armen aus dem Wasser. Eine dünne Blutspur zeichnete sich an der Schläfe des Freundes ab.

„Ich schleppe ihn ans Ufer und mache Wiederbelebungsversuche!“, rief Rohan ihr atemlos zu. „Hol du inzwischen Hilfe.“

Doch Charlotte war klar, dass es zu spät war. Der beste Bruder der Welt war tot. So konnte das Schicksal aus heiterem Himmel zuschlagen. Nur ein Bad im Fluss, doch für Mattie hatte sich ein dunkler, endlos tiefer Abgrund aufgetan.

Von Martyn war nichts zu sehen. Wahrscheinlich war er zum Haus gerannt, um Hilfe zu holen. Warum konnte sie nicht ebenfalls sterben? Ohne Mattie würde Riverbend öde und verlassen sein und ihre Mutter wahrscheinlich den Verstand verlieren. Wenn nicht, würde der Verlust ihres angebeteten Sohns ihr Leben für immer verändern. Sie würde den Anblick des Todesflusses nicht mehr ertragen und Mann und Tochter verlassen.

Natürlich musste auch die Schuldfrage geklärt werden. Charlotte ahnte bereits, wer für die Tragödie zu büßen hätte: Rohan. Nicht nur ihre Eltern, sondern auch die Prescotts und andere Bewohner von Silver Valley würden die Gelegenheit ergreifen, um sich dafür zu rächen, dass Rohan hübscher und klüger als ihre eigenen Söhne war. Ihm würde man nachsagen, er hätte den armen Matthew Marsdon ertrinken lassen.

Keiner würde einsehen, wie ungerecht es war, einen vierzehnjährigen Jungen so zu belasten. In den Augen der anderen war er jetzt ein Verbrecher. Ein Verbrecher, den keine Schuld traf.

Gegenwart. Gartenparty

Rohan Costello war also dorthin zurückgekehrt, wo sich die Katastrophe seiner Kindheit ereignet hatte. Damit bewies er Mut und machte zudem klar, dass der klügste Junge von Silver Valley es zu etwas gebracht hatte.

Durch Matthew Marsdons tragischen Tod waren er und Charlotte sich damals noch nähergekommen. Irgendwann hatten sie die unsichtbare Grenze überschritten, aber das war niemals bekannt geworden. Der eine oder andere mochte es vermutet haben, ohne es beweisen zu können. Man wusste nur, dass die Tragödie sie nicht auseinandergebracht hatte, obwohl Charlottes Eltern – vor allem ihre Mutter – nur noch Hass gegenüber dem Jungen empfanden, den sie bis dahin gefördert hatten.

Für die Costellos war nur ein Weg offen geblieben: das Tal zu verlassen. Die Schuldzuweisung der Bewohner von Silver Valley hatte zu schwer auf ihnen gelastet. Wie hart und ungerecht die Menschen sein konnten!

Jetzt rätselten sie, ob Rohan zurückgekommen war, um alte Rechnungen zu begleichen. Plötzlich wurde die Vergangenheit wieder lebendig. Nichts war für immer vergessen.

Charlottes Ohnmacht währte nur wenige Sekunden, aber der Schock hielt an, nachdem sie wieder zu sich gekommen war. Sie lag im Wohnzimmer auf einer Chaiselongue. Ihre Frisur hatte sich gelöst, und sie trug auch keinen Hut mehr und auch nicht die teuren Sandaletten, wie sie benommen feststellte.

Rohan stand am Kopf- und Christopher am Fußende der gepolsterten Liege. Diane Rodgers und zwei alte Freundinnen von Charlottes Mutter warteten etwas entfernt. Von ihrem Vater war nichts zu sehen, aber George Morrissey, der Hausarzt, betrat gerade das Zimmer.

„Charlie … um Himmels willen!“, rief er und eilte auf sie zu. Charlotte war immer sein Liebling gewesen. „Was ist los mit dir?“ Er nahm ihren Arm und fühlte den Puls. Als das Ergebnis beruhigend ausfiel, richtete er sie vorsichtig auf, während Rohan ihr einige Kissen in den Rücken schob.

„Die Hitze, George“, erklärte sie. Rohan anzusehen, wagte sie nicht. Am liebsten hätte sie ihren kleinen Sohn genommen und wäre mit ihm geflohen. Doch es gab kein Entkommen, jedenfalls nicht in diesem Augenblick. „Offenbar bin ich nicht mehr in Form.“

„Von wegen!“, protestierte der Doktor.

„Mummy?“ Christophers Gesicht war käseweiß. „Geht es dir wieder gut?“

„Aber ja, Schatz“, versicherte sie und streckte die Hand aus. „Komm her.“ Sie gab sich große Mühe, ganz normal zu sprechen. „Ich liebe dich, Chris.“

„Ich dich auch.“ Er umklammerte ihre Hand und sah Charlotte ängstlich an. „Du bist noch nie ohnmächtig geworden.“

„Das ist vorbei. Mir war nur etwas schwindlig.“ Sie zog ihn neben sich auf die Chaiselongue, legte den Arm um ihn und drückte die Lippen in sein blondes Haar. „Ich stehe gleich wieder auf.“

„Lassen Sie sich Zeit“, mahnte Dr. Morrissey, erleichtert, dass Charlottes Gesicht wieder Farbe annahm. Der Schock, dachte er. Es war der Schock. Unglaublich, was aus dem jungen Costello geworden ist … und auch wieder nicht. Rohan war immer ein hellwacher Bursche.

Er streckte ihm die Hand entgegen. „Das war eine Überraschung mit unerwarteten Folgen.“

Rohan ergriff die Hand, ohne dem Doktor die Worte übel zu nehmen. Willkommen zu Hause in Silver Valley, konnte er kaum sagen!

„Es freut mich, Sie wiederzusehen, Dr. Morrissey“, antwortete er gelassen. „Sie waren immer freundlich zu meiner Mutter und mir.“

„Sie machten es einem beide ja auch nicht schwer“, meinte der Mediziner herzlich. „Wie geht es Ihrer Mutter?“

„Danke … sehr gut, Sir.“ Das klang verbindlich, aber nicht mehr.

„Wie erfreulich. Werden Sie länger bei uns bleiben, Mr. Costello?“ Der Doktor wagte es, die entscheidende Frage zu stellen. „Offenbar ist ein äußerst erfolgreicher Unternehmer aus Ihnen geworden.“

Rohan lächelte leicht. „Ich habe wiederholt Glück gehabt.“

„Ich glaube, Ihre Fähigkeiten waren entscheidender. Sie hatten schon immer einen scharfen Verstand.“

Der Doktor wandte seine Aufmerksamkeit wieder Charlotte und ihrem Sohn zu. Rohan und Christopher haben die gleichen tiefblauen Augen, dachte er. Die Farbe gibt es selten. Er hatte die Marsdon-Kinder zur Welt gebracht und auch Christophers Geburt betreut. Der Junge war etwas zu früh gekommen, aber niemand hatte Verdacht geschöpft. Nach Matthews Tod und Barbaras anschließender Flucht hatte er sich intensiv um Charlotte gekümmert. Mit ihrer Heirat war er allerdings nicht einverstanden gewesen. Er hatte nie viel von dem jungen Martyn Prescott gehalten, der so früh und so tragisch ums Leben gekommen war.

Christopher, der ebenfalls mit dem großen fremden Mann, der seine Mutter ins Haus getragen hatte, sprechen wollte, stand auf und wunderte sich, dass seine Mutter versuchte, ihn zurückzuhalten. „Guten Tag“, sagte er und streckte die Hand aus, wie er es gelernt hatte. „Ich bin Christopher. Wir haben früher hier gewohnt.“

„Das weiß ich, Christopher“, antwortete Rohan und kam einen Schritt näher. Dabei schaute er den Jungen so durchdringend an, dass dieser wie gelähmt stehen blieb. Dieser Mann kannte seine Mutter, das spürte er instinktiv.

„Kennen Sie meine Mum?“

„Mr. Costello ist ein viel beschäftigter Mann, Chris.“ Charlotte erhob sich, obwohl ihr noch etwas schwindlig war. Sie musste dieses Gespräch unbedingt beenden. „Wir dürfen ihn nicht länger von seinen Gästen fernhalten.“

„Nein, Mummy.“ Christopher nickte, konnte sich aber eine zweite Frage nicht verkneifen. „Woher kennen Sie meine Mum?“, wollte er wissen, denn die gespannte Atmosphäre blieb ihm nicht verborgen. Warum verhielt sich seine Mutter so ablehnend gegenüber dem Fremden? Sie war doch sonst zu jedem freundlich. Warum nicht auch zu Mr. Costello? Irgendetwas quälte sie.

„Deine Mutter und ich sind zusammen aufgewachsen, Christopher“, antwortete Rohan. „Ich habe Silver Valley mit siebzehn Jahren verlassen. Ich heiße übrigens Rohan. Du musst mich nicht ‚Mr. Costello‘ nennen.“

Christopher wurde rot vor Freude. „Sie sind ja gar nicht so alt, wie wir gedacht haben! Kannten Sie meinen Dad und meinen Onkel Matthew?“

„Hat deine Mutter dir nie von mir erzählt?“

Christopher schüttelte den Kopf. „Wussten Sie, dass mein Vater tot ist?“ Er ging auf Rohan zu, als würde er von ihm magnetisch angezogen.

„Ja, das wusste ich, und es tut mir ehrlich leid.“ Rohan sprach mit sanfter Stimme, aber sein Gesichtsausdruck blieb hart.

„Jetzt sind Mummy und ich allein. Nur Grandpa ist noch da.“ In Christophers Augen traten Tränen, obwohl er seine Mutter immer mehr geliebt hatte als seinen Vater – und seinen reizbaren alten Großvater auch.

„Oh Darling, frag doch nicht so viel“, mischte sich Charlotte besorgt ein.

Auch jetzt überhörte er den Einwand seiner Mutter. „Onkel Mattie ist immer noch bei uns“, teilte er Rohan, zu dem er sich irgendwie unwiderstehlich hingezogen fühlte, mit. „Manchmal kann ich es direkt spüren.“

Rohan verzog keine Miene, sondern ging auf den Jungen ein. „Das glaube ich dir“, sagte er. „Manchmal fühle ich Matties Nähe auch. Er hätte dich sehr gerngehabt.“

„Wirklich?“, fragte Christopher, der Rohan Costello immer netter fand, lebhaft. „Meine Mum behauptet, ich sei ihm früher ähnlich gewesen. Stimmt das?“

Rohan dachte einen Moment nach, ehe er antwortete. „Schon möglich“, entschied er dann. „Aber jetzt nicht mehr.“

„Nein.“ Christopher war offensichtlich derselben Ansicht. „Ich sehe niemandem ähnlich.“

Oh doch, durchfuhr es Charlotte. Und wie sehr!

Diane Rodgers entdeckte Charlottes Sandaletten und übergab sie ihr mit einer Miene, die zu raschem Aufbruch drängte. Ihr Blick drückte blanken Hass aus. Charlotte beeilte sich, die Schuhe anzuziehen, und ordnete anschließend ihr Haar. Es verwirrte sie, wie ihr kleiner Sohn dastand und mit Rohan plauderte, als hätte er ihn schon immer gekannt. Das war niederschmetternd.

„Hier ist Ihr Hut, Liebes.“ Die Stimme gehörte Kathy Nolan. Sie war eine gute Freundin von Barbara gewesen und hielt auch Charlotte die Treue. „Ich finde ihn sehr hübsch.“

„Danke, Kathy.“ Charlotte nahm ihr die Kopfbedeckung ab.

„Geht es Ihnen jetzt besser?“

„Danke, Kathy … viel besser. Es tut mir leid, dass ich allen so viel Mühe gemacht habe. Es lag wohl an der Hitze.“

Kathy schätzte Charlotte zu sehr, um zu widersprechen. Ein frischer Wind machte die Sommerhitze durchaus erträglich. Sie meinte jedoch, den wahren Grund für Charlottes Ohnmacht zu kennen. Der Schock, dass ausgerechnet Rohan Costello Riverbend gekauft hatte, war zu groß gewesen. Was für eine unerwartete Laune des Schicksals! Kathy konnte es selbst noch nicht fassen.

Und wie fantastisch Rohan aussah! Er war immer ein hübscher Junge gewesen, aber als Erwachsener machte er einen sprachlos. Viele Bewohner von Silver Valley – darunter auch die Nolans – hatten Rohan nach Beendigung des letzten Schuljahrs ungern ziehen lassen. Später hatten sie erfahren, wie glänzend er beruflich aufgestiegen war. Überrascht hatte sie das nicht. Ein Mann wie er gehörte in Spitzenpositionen.

Barbara Marsdon hatte nie berücksichtigt, wie jung die Kinder bei dem tödlichen Unfall gewesen waren. Ein tragisches Ereignis, gewiss, aber Unglücke waren auch bei größter Vorsicht nicht auszuschließen. Anstatt das zu begreifen, hatte Barbara einen Feldzug gegen die Costellos geführt. Anders war sie mit ihrem Kummer über den Verlust des einzigen Sohns nicht fertig geworden.

Die Scheidung von Vivian war die letzte Konsequenz gewesen. Barbara hatte ihrer Freundin anvertraut, sie fühle sich außerstande, Charlotte in Zukunft eine gute Mutter zu sein. Sie fände sich nicht mehr zurecht und müsse ihre Tochter ihrem Vater überlassen.

Jetzt war Rohan nach Silver Valley zurückgekehrt – als neuer Besitzer von Riverbend. Das Leben schrieb wirklich die seltsamsten Geschichten.

4. KAPITEL

Diane Rodgers trug klassisches Weiß. Der extravagante schwarz-weiße Hut vollendete ihre aparte Erscheinung. „Soll ich Sie zur Lodge zurückbegleiten, Mrs. Prescott?“, fragte sie. „Es würde mir wirklich nichts ausmachen.“

Beim Klang der scharfen Stimme fuhr Christopher herum. „Mummy hat mich“, sagte er – nicht etwa unhöflich, dazu war er zu klug. Ihm gefiel nur nicht, wie die fremde Frau mit seiner Mutter sprach. Sie zeigte weder Mitgefühl noch Fürsorge. Ihr Ton erinnerte ihn an seine Lehrerin, wenn sie einen unartigen Schüler zurechtwies.

„Willst du nicht lieber bleiben?“, schlug Rohan vor. „Du bist sicher mit Freunden hier. Ich bringe deine Mutter nach Hause.“

Christopher überlegte einen Augenblick. „Ich bleibe nur, wenn Mum sich wieder wohlfühlt“, entschied er schließlich. „Peter hat auch ohne mich Spaß.“

Charlotte schüttelte den Kopf. „Mach dir keine Sorgen um mich, Darling. Es geht mir gut.“

„Stimmt das auch, Charlie?“, fragte Dr. Morrissey eindringlich.

„Ja, wirklich.“ Charlotte lächelte zuversichtlich. „Lassen Sie sich nicht länger aufhalten, George. Ruth brennt sicher darauf, mit Ihnen durch den Park zu schlendern. Er ist in alter Pracht auferstanden.“

„Das kann man wohl sagen.“ Der Doktor wandte sich wieder an den neuen Besitzer. „Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie meine Frau begrüßen würden, Mr. Costello. Sie spricht oft von früher.“

Rohan neigte leicht den Kopf. „Es wird mir ein Vergnügen sein.“

Der Arzt grüßte nach allen Seiten und verließ dann das Zimmer.

„Ich fahre dich jetzt zur Lodge, Charlotte“, sagte Rohan in einem Ton, der kaum Widerspruch duldete. „Ich sorge dafür, dass Chris später heil nach Hause kommt.“

„Das wäre toll, Rohan.“ Christopher strahlte. „Am liebsten mit dem Hubschrauber, aber das geht wohl nicht, oder?“ Er breitete die Arme aus und drehte sich einmal um sich selbst. „Surr, surr, surr!“

„Die Strecke ist zu kurz“, erklärte Rohan lächelnd. „Wir werden an einem anderen Tag mal zusammen fliegen. Ich verspreche es.“

Christopher konnte sein Glück kaum fassen. „Was wird Peter sagen!“

„Vielleicht kann er mitkommen“, meinte Rohan.

„Super! Wo ist eigentlich Grandpa, Mum? Warum ist er nicht ins Haus gekommen?“

„Er ist sicher lieber draußen geblieben“, antwortete Rohan an Charlottes Stelle. „Sieh doch einmal nach. Deiner Mutter passiert nichts.“

„Geh nur“, drängte Charlotte. „Ich will, dass du dich amüsierst.“

„Danke, Mum.“ Christopher sah noch einmal bewundernd zu seinem neuen Idol auf. „Prima, dass Sie da sind, Rohan.“ Er reichte ihm die Hand, und Rohan schlug kräftig ein.

„Es freut mich auch, dich kennengelernt zu haben, Chris. Endlich.

Sie waren allein. Nach George Morrissey und Christopher waren auch die älteren Damen gegangen, um den restlichen Nachmittag zu genießen. Nur Diane Rodgers behauptete ihre Stellung, bis Rohan ihr freundlich, aber unmissverständlich nahelegte, sich die Rosen anzusehen. Miss Rodgers’ Miene verriet deutlich, dass sie weniger die Blumen als den Besitzer von Riverbend im Sinn hatte. Es blieb ihr jedoch nichts anderes übrig, als den Vorschlag zu befolgen.

„Er ist mein Sohn, nicht wahr?“, fragte Rohan, sobald Diane verschwunden war.

Charlotte fühlte sich der Situation nicht gewachsen. Hatte sie Angst vor Rohan? Sie konnte es kaum glauben, und doch war es so. Sie hatte Angst vor seinen und ihren eigenen Gefühlen. Wie hart er geworden war – hart wie Stahl! Was war aus ihrem Ritter in schimmernder Rüstung geworden? Ein Schauder überlief sie. Dieser Rohan Costello war ihr fremd.

„Ich verstehe die Frage nicht“, antwortete sie. Sie hatte sich wieder hingesetzt und hielt den Kopf leicht gesenkt. Das blonde Haar war ihr in die Stirn gefallen und verbarg einen Teil ihres Gesichts.

„Zitterst du deshalb am ganzen Körper?“, drang er unbarmherzig auf sie ein. „Christopher ist nichts Martyns, sondern mein Sohn.“

„Hast du den Verstand verloren?“

„Keine Spielchen, Charlotte“, warnte Rohan sie. „Er hat meine Augen, die Nase und den Mund.“

Und dein charmantes Lächeln. Deine Angewohnheit, dir mit einer raschen Bewegung das Haar nach hinten zu streichen!

„Er wird mir mit jedem Tag ähnlicher werden“, fuhr Rohan fort. „Was willst du dagegen tun?“

„Rohan … bitte!“, flehte Charlotte. Wie sie sich selber hasste!

„Dass du mir das antun konntest! Das ist nie wiedergutzumachen.“

„Bitte, Rohan, hör auf!“ Charlotte schloss verzweifelt die Augen. Ihr war immer noch etwas schwindlig.

„Du hast dich entschieden, mich aus deinem Leben und deinem Herzen zu verbannen“, fuhr Rohan unerbittlich fort. „Ein einfaches Cottage war nicht das richtige Liebesnest für eine Charlotte Marsdon … oh nein! Der gute Martyn war schon immer hinter dir her. Du warst die Trophäe, die er unbedingt erringen wollte. Wusste er, dass sein Kind einen anderen Vater hatte?“

„Woher denn?“ Schmerz und Gewissensqual machten ihr das Sprechen schwer. „Ich wusste es ja selbst nicht!“

„Wie bitte?“ Rohan sah sich kurz um, nahm Charlotte an der Hand und führte sie in die Bibliothek, wo sie nicht belauscht werden konnten. Charlotte erkannte auf den ersten Blick, dass alle fehlenden Bücher ersetzt worden waren. „Hast du etwa mit uns beiden geschlafen?“

„So war es nicht, Rohan.“ Sie ließ seine Hand los und setzte sich auf einen der gepolsterten Stühle. „Du warst für mich verloren. Verloren auf immer und ewig.“

„Du lügst schon wieder.“ Sein Lachen klang bitter. „Du wusstest, dass ich dich niemals aufgeben würde. Ich musste erst Karriere machen … mein Leben in den Griff bekommen. Schließlich wollte ich dir etwas bieten, und dafür brauchte ich Zeit. Das sagte ich dir und hoffte auf dein Verständnis. Wie dumm von mir! Du konntest nicht schnell genug einen anderen heiraten … Martyn, der herumlief und allen weismachte, ich hätte Mattie dazu überredet, über den Fluss zu schwimmen. Natürlich glaubte man ihm. Er gehörte zu den Reichen, ich dagegen zu den Armen. Wer hätte Mary Rose Costellos unehelichen Sohn schon in Schutz genommen? Und ich hätte damals geschworen, die Welt müsste untergehen, ehe du dich Martyn Prescott hingeben würdest!“

„Vielleicht geschah es nicht ganz freiwillig. Hast du darüber einmal nachgedacht?“

„Wie bitte?“

Charlotte schüttelte den Kopf. „Vergiss, was ich gesagt habe. Wie konnte ich ahnen, dass wir uns wiederbegegnen würden?“

„Blödsinn!“, fuhr Rohan auf. „Du wusstest, dass ein Wiedersehen unvermeidlich war. Ich wollte dir nach Martyns Tod nur etwas Zeit lassen.“

„Anscheinend war es nicht genug.“ Charlottes grüne Augen schimmerten feucht. „Was erhoffst du dir von mir? Soll ich sagen: ‚Willkommen zu Hause, Rohan‘?“

Rohan konnte sich kaum noch beherrschen. Alles hatte er erwartet – nur dies nicht. Die Kunde von Charlottes und Martyns Sohn war natürlich auch bis zu ihm gedrungen. Kummer und Verzweiflung hatten ihn fast umgebracht. Tag und Nacht, Monat für Monat, Jahr für Jahr hatte er mit seinen Dämonen gekämpft, um jetzt mit der niederschmetternden Wahrheit konfrontiert zu werden. Christopher war nicht Martyns, sondern sein Sohn.

Dabei hatte Charlotte behauptet, die Pille zu nehmen! „Du bist eine Lügnerin und Betrügerin“, hielt er ihr grausam vor. „Das werde ich beweisen. Du hast gesagt, du würdest mich lieben und auf mich warten. Warum auch nicht? Wir hätten genug Zeit gehabt. Du warst erst achtzehn … ich noch nicht mal einundzwanzig. Wende dich nicht ab. Jetzt ist Schluss mit diesem Theater. Ich bin Christophers Vater und werde es beweisen.“

„Drohst du mir?“

„Allerdings.“ Rohan erschrak vor sich selbst. Er gab sich unversöhnlich, und doch quälte ihn das alte Verlangen, dessen er nicht Herr wurde. Würde das niemals aufhören? Charlotte war noch schöner geworden – seine Charlotte, die ihn und sich selbst betrogen hatte.

„Bitte, Rohan“, begann sie von Neuem. Ihr Gesicht und ihre Stimme verrieten, wie sehr sie litt. „Ich ertrage das nicht. Lass mich allein nach Hause gehen.“

„Das kommt nicht infrage. Ich fahre dich.“ Rohan zog sie von ihrem Stuhl hoch, verließ mit ihr die Bibliothek und wandte sich zur Rückseite des Hauses, wo in einer angebauten Garage ein Auto für ihn bereitstand. „Ahnt dein Vater etwas, oder verfolgt er immer noch die alte Vogel-Strauß-Politik?“

„Dad liebt Christopher sehr“, beteuerte Charlotte.

„Das wollte ich nicht wissen“, erwiderte er grimmig.

Draußen schien hell die Sonne. Die weißen Rosen, die sich an der Giebeltür und der Mauer emporrankten, verströmten ihren lieblichen, Sehnsucht erweckenden Duft. Auf den Beeten jenseits der Terrasse blühten andere Sorten, vermischt mit schwerköpfigen Päonien, die Charlotte besonders liebte.

„Anfangs sah Chris meinem Bruder tatsächlich sehr ähnlich“, sagte sie leise, ohne sich damit entschuldigen zu wollen. Es wäre sinnlos gewesen, Rohan weiter zu täuschen. Christopher glich ihm jetzt viel mehr als Mattie, und das würde sich noch verstärken. Hatte sie das nicht immer insgeheim gefürchtet? „Jetzt verliert er allmählich sein süßes Kindergesicht, aber das blonde Haar ist geblieben.“

„Na, großartig!“, rief Rohan aus. „Er hat also das blonde Haar der Marsdons! Nicht auszudenken, wenn es rabenschwarz wäre wie meins. Oder noch schlimmer … rot, wie das meiner Mutter.“

„Ich habe dich geliebt!“, begehrte Charlotte auf.

Er stieß einen verächtlichen Laut aus. „Du musst dir die Tränen aus dem Kopf geweint haben, als du mich los warst. Aber ich bin reich … das ist ein ungeheurer Vorteil. Dein Vater war ein absoluter Verlierer, wie sich herausstellte, und ich hatte auch nichts. Ich war noch zu jung. Martyn dagegen verfügte über ein großes Vermögen. Sein Verlust muss sehr schmerzlich für dich gewesen sein. Warum lebst du bei deinem Vater? Hat Martyn dich nicht als wohlhabende Witwe zurückgelassen?“

„Leider nein, aber das geht dich nichts an.“

„Entschuldige, wenn ich widerspreche. Es geht mich sehr wohl etwas an. Martyns Vater war zu schlau, um großzügig zu sein. Und was ist mit deiner Mutter … der selbst ernannten Rachegöttin?“

„Mum hat ein neues Leben begonnen und versucht, dadurch Ruhe zu finden. Wir hören nicht viel voneinander. Mein Kind interessiert sie nicht.“

Unser Kind“, korrigierte Rohan sie. „Im Übrigen halte ich es eher für einen Segen, dass sie sich von ihm fernhält. Sie ist ein Fall für den Psychiater. Sie würde mich nie als Christophers Vater akzeptieren. In tausend Jahren nicht.“

Das konnte Charlotte nicht abstreiten. Ihre Mutter hatte Rohan zum Sündenbock gemacht. Sie selbst, die zwölfjährige Tochter, und Martyn, der reiche Nachbarssohn, mussten natürlich unschuldig sein. Also war nur Rohan übrig geblieben – Mary Roses Sohn.

Trotzdem versuchte sie, ihre Mutter zu verteidigen. „Mum ist an ihrem Kummer fast zerbrochen. Dad dagegen hat einfach weitergemacht.“

„Der gute Vivian!“, spottete Rohan. „Hast du gehört, wie laut er meinen Namen ausgesprochen hat?“

Charlotte zuckte zusammen. „Es war grausam, uns nicht vorzubereiten.“

„Grausam?“, wiederholte Rohan, und seine Augen blitzten. „Du wagst es, von Grausamkeit zu sprechen? Zählt dein Verrat denn gar nicht? Du hast mich um die ersten sieben Lebensjahre meines leiblichen Sohns gebracht! Seine ersten Worte. Seine ersten Schritte. Die Geburtstage, der erste Schultag … Wie willst du das je wiedergutmachen?“

„Das kann ich nicht“, gab sie bedrückt zu. „Ach Rohan … wenn du wüsstest, wie leid es mir tut. Soll ich vor dir auf die Knie fallen? Ich habe Christopher so gut erzogen, wie ich konnte. Er ist ein hübscher, liebevoller und kluger Junge. Er bedeutet mir alles auf der Welt.“

„Und das genügt, oder? Er bedeutet dir alles, aber was ist mit mir? Ich habe meinen neugeborenen Sohn nie auf den Armen gewiegt. Um dieses Glück wurde ich betrogen. Wie hast du es übrigens Martyn beigebracht, oder war er ahnungslos? Jeder weiß, dass eine junge Frau bei ihm war, als der Unfall passierte. Liebte er dich nicht mehr, oder wurde es ihm zu kalt bei dir? Erzähl mir bloß nicht, dass du ihn geliebt hast. Das ist unmöglich.“

„Ich habe Martyn geheiratet“, erklärte Charlotte. „Das brachte ihm den Tod.“

„Dafür bist du nicht verantwortlich“, widersprach Rohan. Ihr schmerzerfülltes Gesicht erregte sein Mitleid.

„Wirklich nicht?“

„Hast du es ihm so schwer gemacht, Charlotte? Warum nur … warum? War es das Geld? Die angesehene Familie?“

„Ich war schwanger, Rohan.“

„Ja … von mir. Warum hast du dich nicht gemeldet? Ich hatte ein Recht, es zu erfahren.“

„Ich wusste nicht, wessen Kind es war.“ Ihre Stimme klang so ängstlich, als wäre sie noch das einsame, hilflose Mädchen von damals.

„Ach, du Ärmste! Es wäre nicht allzu schwer gewesen, das herauszufinden.“

„Vielleicht nicht zu schwer, aber zu spät. Martyn ahnte nichts. Christopher hat sich in den letzten anderthalb Jahren sehr verändert.“

Rohan runzelte die Stirn. „Ich verstehe das alles nicht. Was glauben denn die Prescotts?“

„Sie haben einen Verdacht, und Nicole hasst mich. Das hat sie schon immer getan. Wir verkehren kaum noch miteinander.“

„Sieh mal an … wie günstig! Wann hast du dich entschieden, Martyn zu verführen? Mit ihm zu schlafen, meine ich.“

„Darüber möchte ich nicht sprechen, Rohan. Das ist ein für alle Mal vorbei.“

„Vorbei?“, rief er. „Von wegen! Du hast Angst, das sehe ich dir an, und zwar zu Recht. Von jetzt an werde ich die Vaterrolle bei Christopher übernehmen.“

Charlotte blieb erschrocken stehen. „Das würdest du mir nicht antun!“

„Nein? Wirklich nicht? Du liebe Güte … Charlotte!“ Seine Miene verriet eiserne Entschlossenheit.

„Du kannst ihn mir nicht wegnehmen, Rohan. Nein, das glaube ich nicht. Er ist mein Leben. Ich liebe ihn über alles.“

„Wen interessiert das? Du wolltest mich über alles lieben. Hast du das vergessen? Aber keine Angst … ich lasse dir unseren Sohn. Im Gegensatz zu dir habe ich nämlich ein Herz, und du bist ein Teil meiner Rechnung.“ Er musterte sie von oben bis unten – seine schöne, wunderschöne, ungetreue Charlotte. „Ich will dich und unseren Sohn. Er darf nicht von seiner Mutter getrennt werden.“

Verschiedenartigste Empfindungen durchfluteten Charlotte. „Willst du es so machen wie mit Riverbend?“, fragte sie trotzig.

„Ich konnte nicht mehr mit ansehen, wie der schöne Besitz verkam“, antwortete er schroff. „Ich habe große Pläne für Riverbend, Charlotte. Sie umfassen die Weinberge und die Olivenhaine. Ich möchte eine Weinhandlung eröffnen.“

Charlotte zweifelte keinen Moment daran, dass er voller Ideen steckte. „Dann bist du der alleinige Besitzer?“, fragte sie. „Nicht ‚Vortex‘?“

„Ich bin ‚Vortex‘, und Riverbend ist bis zum letzten Quadratmeter mein Eigentum. Vivian hat das Gut nach dem Tod deines Großvaters buchstäblich verkommen lassen. Ich habe nichts gegen ihn … heute so wenig wie damals. Deine Mutter hat sich schwer an uns versündigt. Barbara Prescott … die hoch geachtete Lady.“ Hass funkelte in seinen blauen Augen.

„Das Leben verläuft nicht geradlinig, Rohan“, sagte Charlotte traurig. „Für niemanden. Nach Matties Tod war Mum eine gebrochene Frau. Hab Mitleid mit ihr … wie ich es habe. Sie konnte den Verlust ihres einzigen Sohns einfach nicht ertragen. Gott weiß, was aus mir würde, wenn … wenn …“ Die Stimme versagte ihr.

„Ach, hör schon auf“, fuhr er ihr über den Mund. „Christopher ist nicht in Gefahr.“

„Das hoffe ich. Ich habe ihn in all den Jahren beschützt und für ihn gesorgt, so gut ich es konnte.“

„Und wie war Martyn dabei zumute?“ Trotz aller gerechten Empörung klang seine Stimme ratlos. „Wahrscheinlich konntest du ihn wie eh und je um den Finger wickeln.“

Charlotte blickte starr auf die weißen und zartrosa Petunien, die zwei ganze Beete füllten. „Ich kann jetzt nicht über ihn sprechen, Rohan.“

„Seine Enttäuschung war wahrscheinlich kaum größer als meine. Hatte er denn gar keinen Verdacht?“

„Hast du nicht gehört? Ich kann nicht darüber reden.“

„Jetzt vielleicht nicht, aber das wird sich ändern. Du hast Christopher und mich beobachtet. Er hat mich auf den ersten Blick akzeptiert. Ich gebe ihn nicht mehr her … und dich auch nicht.“

Charlotte drehte sich zu ihm um. Da stand er – ihr Rohan, mit dem Gesicht, das sie so gut kannte und das ihr heute noch markanter erschien.

„Willst du mich bestrafen?“, fragte sie.

„Jeden Tag“, gab er mit einem bösen Lächeln zu. „Als meine Gefangene … meinen blonden Engel.“ Die höhnischen Worte schnitten ihr ins Herz. „Doch deswegen brauchst du nicht zu erschrecken. Wir beide haben heute einen Schock bekommen. Von jetzt an nehme ich die Dinge in die Hand. Ich werde öfter auf Riverbend erscheinen … das gibt uns Gelegenheit, unsere alte Beziehung fortzusetzen. Ganz Silver Valley weiß, wie nah wir uns einmal gestanden haben. Jetzt bekommen wir eine zweite Chance. Ist das nicht wunderbar? Ich glaube nicht, dass du dumm genug bist, dich zu widersetzen.“

Für Charlotte wurde es langsam Zeit, sich zu wehren. „Und Diane Rodgers?“, fragte sie sarkastisch. „Was wird aus ihr? Behältst du sie weiter als Geliebte?“

„Sei nicht albern.“ Rohan schüttelte unwillig den Kopf. „Diane ist eine Topkraft in meiner PR-Abteilung, sonst nichts.“

„Vielleicht hat sie das nicht ganz begriffen.“

Rohan hörte nicht mehr zu. „Mein Gott!“, schwärmte er im Ton höchster Begeisterung. Jedes Theater hätte ihn dafür engagiert. „Was für ein Glück, wieder in Silver Valley zu sein! Komm, ich bringe dich nach Hause. Du musst über vieles nachdenken, nicht wahr? Mach dir über unseren Sohn keine Sorgen. Ich bürge dafür, dass er sicher nach Hause kommt.“

Daran zweifelte Charlotte nicht. Bei aller Feindseligkeit vertraute sie Rohan. „Ich will nur, dass Christopher glücklich ist.“

„Darauf gebe ich dir mein Wort.“ Wie anders hatte er früher gelächelt! „Und was uns beide betrifft …“ Wieder dieses falsche Lächeln. „Wir müssen versuchen, unsere verschiedenen Rollen möglichst gut zu spielen.“

„Du wirst Christopher doch nichts sagen?“

„Für wen hältst du mich? Er wird unser kleines Geheimnis erfahren, wenn ich … wenn wir sicher sind, dass er dafür alt genug ist.“

„Danke, Rohan.“

Das Gewissen quälte Charlotte am meisten. Wie konnte Rohan ihr jemals verzeihen? Dass sie anfangs geglaubt hatte, Martyns Kind zu erwarten, war keine Entschuldigung.

Während des ersten, gemeinsam mit Rohan verbrachten Jahres an der Universität in Sydney hatte sie regelmäßig die Pille genommen. Sie wollte nicht schwanger werden, und Rohan hatte sie inständig gebeten zu warten, bis er genug erreicht haben würde, um ihr einen Heiratsantrag zu machen. Seine soziale Herkunft, vor allem das Stigma des unehelichen Sohns lasteten schwer auf ihm. Er wollte alles richtig machen, um endlich von der Gesellschaft anerkannt zu werden.

Trotzdem war Charlotte schwanger geworden. Von Rohan. Ein plötzlicher Anfall von Übelkeit, verbunden mit heftigem Erbrechen, hatte die Wirkung der Antibabypille offenbar neutralisiert. Ein verdorbenes Hühnersandwich, das sie sich mit einer Freundin bei einem Picknick geteilt hatte, war die Ursache gewesen. Vierundzwanzig Stunden hatten sie unter den üblen Folgen gelitten.

Und Martyn? Noch heute versagte ihre Erinnerung, wenn sie an den schlimmen Abend dachte, an dem er völlig die Kontrolle verloren hatte. Die körperlichen Verletzungen, die er ihr zugefügt hatte, waren schnell geheilt. Die seelischen spürte sie immer noch.

Martyn, der gute Freund aus Kindertagen, hatte gegen ihren Willen mit ihr geschlafen. Es gab ein bestimmtes Wort dafür, aber sie scheute sich, es zu benutzen. Nie würde sie vergessen, wie sie um sich geschlagen hatte, um ihn aufzuhalten. Ihre Gegenwehr hatte ihn jedoch noch mehr erregt, als wäre alles nur ein Spiel. Anschließend hatte er sie zerknirscht um Verzeihung gebeten und erklärt, er wäre betrunken gewesen.

Später, als sie schon verheiratet waren, konnte er nicht oft genug wiederholen, wie stolz er sei, dass er Rohan durch das Kind bei ihr ausgestochen habe.

„Rohan wird es nie zu etwas bringen. Ihm fehlt einfach das Geld. Alles Abstrampeln wird ihm nicht helfen, vorwärts zu kommen. Vielleicht in zwanzig Jahren, aber was wäre dann aus dir geworden? Du hast jemanden wie mich gebraucht, der dir das Leben bieten kann, das du gewohnt bist.“

Ein schlechter Beginn für eine Ehe, die nie hätte geschlossen werden dürfen! Aber sie war jung und verängstigt gewesen und hätte alles getan, um ihren leidgeprüften Eltern neuen Kummer zu ersparen. Außerdem ließ sich an den Tatsachen nichts ändern. Die Schwangerschaft war nicht zu leugnen, und Martyn gab zu, der Vater zu sein. Hatte er sie nicht schon als kleiner Junge verehrt? Wenn jemanden die Schuld traf, dann sie.

Ihr Vater richtete eine prächtige Hochzeit aus und bezahlte ein Vermögen dafür. Die Prescotts schätzten sich glücklich. Eine Verbindung der beiden Nachbarsfamilien war schon immer ihr Wunsch gewesen. Außerdem hofften sie, Charlotte würde mäßigend auf Martyn einwirken. Sein Leichtsinn und seine Unberechenbarkeit waren für alle zum Problem geworden.

Immer wieder hatte sie sich geschworen, die Wahrheit über jene schreckliche Nacht bis an ihr Lebensende für sich zu behalten. Sie hatte Martyn vertraut, während er nur von dem Wunsch besessen war, ihren Körper zu besitzen. Und jetzt? Was sollte nun werden?

Rohan war wieder da und forderte sein Recht ein. Christopher würde bald dahinterkommen, wer in Wahrheit sein Vater war. Die Neuigkeit würde sich im ganzen Tal herumsprechen. Christopher war blond, wie alle Marsdons. Hätte er Rohans schwarze Haare geerbt, wäre alles längst ans Licht gekommen.

Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis man den Vater im Sohn wiedererkannte.

5. KAPITEL

Charlottes Vater stürmte ins Haus, kurz nachdem Rohan sie vor der Seitentür abgesetzt hatte. Es war eine kurze Fahrt gewesen, die sie schweigend und in höchster Spannung zurückgelegt hatten. Charlotte war nicht einmal fähig gewesen, nach Rohans Mutter zu fragen. Die gute Mary Rose! Sie hatten sich unter Tränen umarmt, als die Costellos Silver Valley verlassen mussten, weil man sie dort nicht länger duldete.

„Es ist nicht deine Schuld, Charlotte. Du kannst nichts dafür.“

Autor

Margaret Way
<p>Mit mehr als 110 Romanen, die weltweit über elf Millionen Mal verkauft wurden, ist Margaret Way eine der erfolgreichsten Liebesroman-Autorinnen überhaupt. Bevor sie 1970 ihren ersten Roman verfasste, verdiente sie ihren Unterhalt unter anderem als Konzertpianistin und Gesangslehrerin. Erst mit der Geburt ihres Sohnes kehrte Ruhe in ihr hektisches Leben...
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