Romana Exklusiv Band 328

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HELENA UND DER HEISSBLÜTIGE VENEZIANER von LUCY GORDON
Fasziniert genießt Helena die einzigartige Schönheit der historischen Bauten von Venedig. Wenn nur Salvatore Veretti nicht wäre: Er ist einfach unerträglich überheblich. Und so wird aus dem Streit um ihr Erbe ein hitziger Kampf - nicht ums Geschäft, sondern um Liebe und Leidenschaft …

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  • Erscheinungstag 16.10.2020
  • Bandnummer 328
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748944
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lucy Gordon, Caitlin Crews, Rebecca Winters

ROMANA EXKLUSIV BAND 328

1. KAPITEL

Salvatore Veretti warf einen letzten verächtlichen Blick auf das Foto in seiner Hand, ehe er aufstand und sich an das Fenster stellte. An diesem Morgen glitzerte das Wasser der Lagune von Venedig im strahlenden Sonnenschein, und die leichten Wellen ließen die vielen Boote dümpeln. Die Schönheit der Stadt faszinierte ihn immer wieder von Neuem.

Schließlich glitt sein Blick zurück zu der Frau auf dem Bild, die nicht nur wunderschön war, sondern in jeder Hinsicht perfekt aussah mit der großen, schlanken Gestalt und den verführerischen Rundungen. Sie war die absolute Traumfrau, nach der sich jeder Mann sehnte. Sie legte es allerdings auch darauf an, dem anderen Geschlecht zu gefallen, dessen war er sich sicher, denn er kannte sich bestens aus mit dem weiblichen Geschlecht.

Außer dem schwarzen Minibikini, der kaum etwas verhüllte, war sie nackt. Während er mit finsterer Miene ihre langen Beine und die üppigen Brüste betrachtete, nickte er langsam, als hätte er nichts anderes erwartet.

Das ist pure Berechnung, dachte er. Diese Person überließ nichts dem Zufall. Sie stellte ihren herrlichen Körper zur Schau, um die Aufmerksamkeit der Männer zu erregen, ganz besonders der reichen und berühmten. Und sie hatte damit Erfolg gehabt.

Nur konnte sie nicht ahnen, dass er ihr Spiel durchschaute. Dass sie ihn mit ihren raffinierten Tricks nicht zu beeindrucken vermochte, wäre sicher eine ganz neue Erfahrung für sie. Er war auf ihre Reaktion gespannt.

Plötzlich verkündete seine Sekretärin über die Gegensprechanlage: „Signor Raffano ist da.“

„Er soll hereinkommen.“

Raffano war sein Finanzberater und ein alter Freund, der die Familie schon durch stürmischere Zeiten begleitet hatte. Salvatore hatte ihn in sein Büro im Palazzo Veretti bestellt, um die Sache mit ihm zu besprechen.

Er drehte sich um, als der Freund hereinkam. „Setz dich. Es gibt noch mehr Neuigkeiten“, erklärte er ohne Einleitung und wies auf einen Sessel.

Der ältere Mann mit dem weißen Haar und dem freundlichen Gesicht nahm Platz. „Du meinst, außer dem Tod deines Cousins?“, fragte er vorsichtig.

„Antonio war der Cousin meines Vaters, nicht meiner“, korrigierte Salvatore ihn. „Er war für seine Eskapaden bekannt.“

„Ja, er war ein Playboy und liebte das luxuriöse Leben“, stimmte Raffano ihm zu. „Also ein echter Venezianer.“

„Das würde ein schlechtes Licht auf die Leute von hier werfen. Es gibt nicht viele Menschen, die so rücksichtslos dem eigenen Vergnügen nachjagen und ihr Geld mit vollen Händen ausgeben, wie er es getan hat.“

„Ich gebe zu, er hätte sich mehr um seine Firma kümmern müssen.“

„Stattdessen hat er die ganze Verantwortung seinem Manager übertragen und ist auf der Suche nach Spaß und Abwechslung durch die Welt gereist“, stellte Salvatore mit finsterer Miene fest.

„Es war wahrscheinlich das Beste, was er tun konnte. Emilio ist ein hervorragender Geschäftsführer, und ich bezweifle, dass Antonio die Fabrik so gut hätte führen können wie er. Doch reden wir lieber von seinen guten Seiten. Er war sehr beliebt, und wir werden ihn vermissen. Wird er hier seine letzte Ruhe finden?“, fragte Raffano.

„Nein, die Beerdigung hat schon in Miami stattgefunden, wo er die zwei letzten Jahre gelebt hat. Seine Witwe hat ihr Kommen angekündigt“, antwortete Salvatore.

„Seine Witwe?“, wiederholte Raffano verblüfft. „War er etwa verheiratet?“

„Offenbar. Sie ist zwar sehr schön, doch bestimmt nicht viel anders als all die anderen Frauen in seinem Leben. Aber sie hat ihn dazu gebracht, sie zu heiraten. Sie ist offenbar sehr raffiniert, wahrscheinlich ging es ihr um sein Vermögen, und das hat sie ja jetzt geerbt.“

„Du hast schon immer sehr hart geurteilt, Salvatore.“

„Bisher hatte ich immer recht.“

„Du kennst sie doch gar nicht.“

„Man sieht auf den ersten Blick, wie sie ist.“ Er schob das Foto über den Schreibtisch.

Raffano nahm es in die Hand und pfiff leise. „Bist du sicher, dass sie Antonios Frau war? Leider kann man ihr Gesicht unter dem Strohhut mit dem breiten Rand nicht erkennen.“

„Das ist unwichtig. Sieh dir ihren Körper an.“

„Mit dieser Figur macht sie natürlich alle Männer verrückt“, meinte Raffano. „Woher hast du es?“

„Ein gemeinsamer Bekannter hat die beiden vor einiger Zeit zufällig getroffen und mir die Aufnahme mit der Bemerkung geschickt, es handle sich um Antonios neueste Errungenschaft.“

„Es sieht aus, als wäre es am Strand gemacht worden“, stellte Raffano fest.

„Das ist wahrscheinlich der ideale Ort für sie, sich in Szene zu setzen“, erklärte Salvatore spöttisch. „Ich vermute, sie hat ihn nach Miami gelockt und ihn dort vor den Altar geschleppt.“

„Wann ist es geschehen?“, erkundigte sich Raffano.

„Keine Ahnung. Ich denke, sie ist dafür verantwortlich, dass es geheim gehalten wurde. Ihr muss klar gewesen ein, dass seine Familie die Hochzeit sonst verhindert hätte.“

„Wie denn? Antonio war euch keine Rechenschaft schuldig, immerhin war er Anfang sechzig“, wandte Raffano sein.

„Mir wäre schon etwas eingefallen, wie ich es hätte unterlaufen können.“

„Ja, ich weiß, du bist sehr hartnäckig und lässt nicht locker, bis du dein Ziel erreicht hast.“

„Wie gut du mich doch kennst.“ Salvatore lächelte belustigt. „Die Hochzeit hat bestimmt in letzter Minute stattgefunden. Als sie gemerkt hat, dass es mit ihm zu Ende ging, hat sie sich noch das Erbe gesichert.“

„Gibt es einen Beweis, dass sie Eheleute waren?“

„Ja, ich habe es von dem Rechtsanwalt dieser Frau erfahren. Signora Helena Veretti, wie sie sich nennt, wird in Kürze hier eintreffen und ihr Erbe antreten.“

„Ich kann verstehen, dass du wütend bist“, antwortete Raffano. Er war überrascht über die Kälte und den Zynismus, die in Salvatores Stimme mitschwangen. „Eigentlich hätte dein Vater die Firma damals bekommen müssen und nicht Antonio. Das hat alle überrascht.“

„Ja, aber mein Vater hatte sich hoch verschuldet. Deshalb entschloss sich meine Großtante, Antonio zum Nachfolger einzusetzen“, erinnerte Salvatore ihn. „Es war auch völlig in Ordnung, er gehörte ja zur Familie. Diese Frau hat jedoch mit uns nichts zu tun, und ich werde nicht tatenlos zusehen, wie das Vermögen der Verettis in die Hände einer so habgierigen Fremden übergeht.“

„Du kannst nichts dagegen tun, wenn Antonio sie wirklich geheiratet hat.“

Salvatore verzog die Lippen zu einem geradezu furchterregenden Lächeln. „Keine Sorge, du hast doch selbst gesagt, dass ich nicht lockerlasse.“

„Aus deinem Mund hört es sich fast wie eine Tugend an. Aber sei vorsichtig, Salvatore. Ich weiß, dass du schon sehr früh lernen musstest, dich durchzusetzen, um euer Unternehmen vor dem Bankrott zu retten. Doch manchmal befürchte ich, du bist rücksichtsloser und skrupelloser, als es für dich gut ist.“

„Als es für mich gut ist?“, wiederholte Salvatore. „Es kann doch nicht schaden, entschlossen und konsequent zu handeln.“

„Pass auf, dass eines Tages nicht alle vor dir Angst haben und sich von dir abwenden. Das rate ich dir als Freund.“

Salvatores Miene wurde weich. „Einen besseren Freund als dich könnte ich gar nicht haben. Doch sei unbesorgt, ich weiß mich zu schützen. Mir kann niemand etwas anhaben.“

„Gerade das macht mir am meisten Sorge.“

Alles war geregelt, die Beerdigung war vorbei. Ehe Helena zum Flughafen von Miami fuhr, ging sie noch einmal zum Friedhof, um ein Bukett aus weißen Rosen auf das Grab ihres Mannes zu legen.

„Ich möchte mich verabschieden“, flüsterte sie. „Natürlich komme ich zurück, um dich zu besuchen. Ich weiß aber noch nicht, wann. Das hängt davon ab, was mich in Venedig erwartet.“

Als sie Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich um. Die Leute gingen bei ihrem Anblick langsamer und musterten sie interessiert.

„Es passiert schon wieder“, wandte sie sich lächelnd an ihren verstorbenen Mann. „Weißt du noch, wie wir gelacht haben, wenn die Menschen mich so ungeniert betrachteten?“

Mit ihren ein Meter fünfundsiebzig, der langen goldblonden Mähne, der perfekten Figur, den feinen Gesichtszügen und den großen ausdrucksvollen Augen war sie eine auffallend schöne und attraktive Frau. Obwohl sie ihren Beruf als Model aufgegeben hatte, erregte sie immer noch Aufsehen.

Sie war jedoch nicht stolz auf ihr Äußeres und nahm die vielen Komplimente nicht so ernst, was einen Teil ihres Charmes ausmachte. Für die Fotografen war sie allerdings der Inbegriff von Schönheit. Sie verkörperte das, was man sich allgemein unter einer erotischen, verführerischen Frau vorstellte. In Insiderkreisen nannte man sie die schöne Helena in Anlehnung an die griechische Sagengestalt, die als die hübscheste Frau ihrer Zeit galt. Darüber hatte sie jedoch immer wieder herzlich gelacht – und Antonio mit ihr.

„Die Leute beneiden mich bestimmt um dich und halten mich für einen Glückspilz, weil ich dein Herz gewonnen habe“, hatte er gemutmaßt. „Wahrscheinlich glauben sie, wir hätten großartigen Sex“, hatte er hinzugefügt und geseufzt, denn dieser großartige Sex hatte nie stattgefunden.

Dazu war sein Herz zu schwach gewesen, und in den zwei gemeinsamen Jahren hatten sie sich kein einziges Mal körperlich geliebt. Doch es hatte ihm gefallen, dass alle etwas anderes annahmen.

„Du wirst mir schrecklich fehlen“, flüsterte sie jetzt. „Du warst ein wunderbarer Partner, immer freundlich und liebevoll. Du hast mir unendlich viel gegeben und nichts dafür erwartet. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich geliebt und beschützt gefühlt. Es ist schlimm, ohne dich zu sein.“ Tränen liefen ihr über das Gesicht, während sie den Grabstein aus Marmor sanft berührte. „Warum musstest du jetzt schon sterben? Natürlich wussten wir, dass es eines Tages so weit sein würde, aber da wir ein ruhiges und stressfreies Leben geführt haben, waren wir überzeugt, wir hätten noch mehr Zeit. Dein Gesundheitszustand schien uns recht zu geben, doch plötzlich war alles aus.“

Sie sah ihn noch vor sich, wie sich seine Gesichtszüge mitten im Lachen verzerrt hatten und er angefangen hatte zu keuchen. Es war sein letzter Herzanfall gewesen.

„Auf Wiedersehen“, wisperte sie. „Du lebst für immer in meinem Herzen weiter.“

Sie hatten sich auf seelischer und geistiger Ebene sehr nahegestanden.

Auf der Fahrt im Taxi zum Flughafen wenig später und auch während des langen Fluges über den Atlantik hatte Helena das Gefühl, er sei immer noch bei ihr. Nie würde sie vergessen, wie sie sich kennengelernt hatten.

Auf dem Gipfel ihrer Karriere hatte sie ihre Tätigkeit als Model beendet. Sie war das rastlose Leben leid und entschied sich, Geschäftsfrau zu werden. Geld hatte sie mehr als genug verdient und suchte nun nach Möglichkeiten, ihre Ersparnisse zu investieren.

Obwohl sie sich für gut informiert hielt, wäre sie beinah auf einen Betrüger hereingefallen, der sie überzeugen wollte, sich an einer Scheinfirma zu beteiligen. In der Situation begegnete sie Antonio, der sie vor einem verhängnisvollen Fehler bewahrte. Er warnte sie und erzählte, ein guter Bekannter sei auf dieselbe Art hereingelegt worden.

Danach hatten sie sich wieder verabredet und wurden schließlich die besten Freunde. Er war Anfang sechzig und wusste, dass er nicht mehr lange leben würde. Als er Helena bat, bei ihm zu bleiben, willigte sie, ohne zu zögern, ein. Es war ihr egal, wie viel Zeit ihnen blieb. Wichtig war nur, dass sie sich gut verstanden und miteinander klarkamen. Unbemerkt von der Öffentlichkeit hatten sie geheiratet, waren glücklich gewesen, bis Antonio in ihren Armen gestorben war.

Über sein bevorstehendes Ende hatte er offen mit ihr geredet, und er hatte sie finanziell abgesichert, was ihrer Meinung nach nicht nötig gewesen wäre.

„Nach meinem Tod geht Larezzo, meine Glasmanufaktur auf der Insel Murano, in deinen Besitz über“, erklärte er. „Du musst dann nach Venedig fliegen und dein Erbe antreten.“

„Was soll ich mit einem solchen Betrieb?“, fragte sie.

„Du kannst ihn Salvatore, dem Sohn meines Cousins, verkaufen. Er wird dir bestimmt ein gutes Angebot unterbreiten.“

„Wie kommst du darauf?“

„Ich weiß, wie gern er die Firma übernehmen würde und wie enttäuscht er war, als ich sie überschrieben bekommen habe.“

„Du hast mir doch erzählt, dass er selbst eine besitzt.“

„Ja, die Perroni-Glasmanufaktur. Er würde jedoch gern den Markt beherrschen, dann könnte ihm keiner Konkurrenz machen, und dazu braucht er Larezzo. Du kannst einen hohen Preis verlangen. Wenn du den Bankkredit, den ich aufgenommen habe, getilgt hast, bleibt dir immer noch genug für ein sorgenfreies Leben. Tu mir den Gefallen und nimm es an, Liebes. Ich möchte mit dem beruhigenden Gefühl gehen, so gut für dich gesorgt zu haben wie du für mich.“

„Ich brauche doch kein Geld, ich habe selbst genug“, erinnerte sie ihn. „Dank deiner Hilfe habe ich es nicht verloren.“

„Dann betrachte es als Dank für deine Zuneigung und die schöne Zeit mit dir“, hatte er sie gebeten.

Für mich war die Zeit mit ihm die schönste meines Lebens, dachte sie jetzt. Er hatte ihr gezeigt, dass nicht alle Männer nur mit ihr schlafen wollten, und sie wusste nicht, wie sie nun ohne ihn zurechtkommen sollte.

Der Flug nach Paris schien endlos lange zu dauern, und dann musste Helena auch noch drei Stunden auf die Anschlussmaschine nach Venedig warten. Als sie endlich am Ziel ankam, war sie zum Umfallen müde. Glücklicherweise wurde sie von einem Mitarbeiter des Hotels abgeholt, der alles für sie erledigte.

Nach der Fahrt im Motorboot durch die Lagune von Venedig legten sie vor dem Hotel Illyria an, wo ihr ein anderer Angestellter beim Aussteigen half. Die Herberge direkt am Canal Grande war eine der besten der Stadt. Von hier aus konnte man viele der Sehenswürdigkeiten zu Fuß erforschen. Doch vor lauter Erschöpfung nahm Helena von der Umgebung kaum etwas wahr, und auch von dem köstlichen Essen, das sie sich auf das Zimmer bestellte, bekam sie nur wenig hinunter. Schließlich duschte sie, legte sich hin und fiel innerhalb weniger Sekunden in tiefen Schlaf.

Gegen Morgen träumte sie von Antonio, wie er mit ihr lachte und scherzte. Obwohl er wusste, dass er nicht mehr lange leben würde, war er immer heiter und fröhlich gewesen.

In dem warmen Klima Miamis blühte er geradezu auf. Um ihm einen Gefallen zu tun, fing Helena an, Italienisch zu lernen und dann auch noch den venezianischen Dialekt, weil Antonio behauptet hatte, das würde sie nicht schaffen. Allerdings hatte sie es sich viel leichter vorgestellt und gedacht, es handele sich dabei nur um eine andere Aussprache und Betonung der Wörter. Doch sie musste feststellen, dass es eine ganz andere Sprache war, was Antonio ihr natürlich vorher nicht verraten hatte.

Dennoch gab sie nicht auf und beherrschte zu seiner und ihrer eigenen Überraschung beide Sprachen relativ schnell.

Er zeigte ihr Fotos von seiner Familie, auch von Salvatore, dem Sohn seines Cousins, dem er am liebsten aus dem Weg ging, auch wenn er ihn irgendwie bewunderte.

„Es ist schwierig, mit ihm auszukommen. Er ist sehr hart und streng“, erzählte er. „Ich war das schwarze Schaf der Familie. Salvatore hat meine Lebensweise nie gebilligt. Deshalb braucht er auch nicht zu erfahren, dass wir geheiratet haben.“

„Du bist doch viel älter als er“, wandte sie ein. „Du hättest dir jede Einmischung und Kritik verbitten können.“

„Das mag sein. Ich habe es jedoch vorgezogen, die Leitung der Firma meinem Manager zu übertragen, das Leben zu genießen und Spaß zu haben“, antwortete er reumütig.

„Genießt Salvatore das Leben etwa nicht?“

„Es kommt darauf an, was man darunter versteht. Schon als ganz junger Mann konnte er jede Frau haben, die er haben wollte, aber seine Arbeit war ihm wichtiger. Für einen Venezianer ist er zu steif und verkrampft, finde ich. Wir nehmen das Leben eher etwas leichter und denken nicht so oft an die Zukunft. Salvatore ist da ganz anders.

Vielleicht liegt es daran, dass sein Vater, mein Cousin Giorgio, ein vergnügungssüchtiger Mann war. Er hat es sicher übertrieben und zu viele Affären gehabt. Natürlich lebt Salvatore auch nicht wie ein Mönch. Er geht jedoch sehr diskret vor und lässt keine Frau zu nah an sich heran.

Die meisten Menschen, die ihn kennen, fürchten sich vor ihm. Sogar ich habe mich in seiner Nähe nicht gerade wohlgefühlt. Venedig war für uns beide nicht groß genug, deshalb bin ich gegangen und durch die Welt gereist. Es war das Beste, was ich tun konnte, denn sonst hätte ich dich damals in England nicht kennengelernt und wäre jetzt nicht so glücklich.“

Helena betrachtete den attraktiven Mann auf dem Foto mit den strengen Gesichtszügen, der irgendwie geheimnisvoll wirkte.

„Es ist noch niemandem gelungen, ihn in einen umgänglicheren Zeitgenossen zu verwandeln. Ich würde gern mit dir nach Venedig fliegen und dich ihm vorstellen, doch das wäre ein Fehler.“ Antonio zwinkerte belustigt. „Du bist viel zu schön. Er würde bestimmt versuchen, dich mir auszuspannen.“

„Das wäre reine Zeitverschwendung“, hatte Helena lachend erwidert. „Lass uns hinfliegen, Venedig muss faszinierend sein, außerdem ist es deine Heimatstadt.“

Als Helena aufwachte, wusste sie im ersten Moment nicht, wo sie war. Dann erblickte sie die hohe Decke, die mit Putten geschmückt war, und die antiken Möbel, die aus dem achtzehnten Jahrhundert zu stammen schienen, und erinnerte sich. Sie stand auf, schlüpfte in das Seidennegligé, durchquerte den Raum und öffnete das Fenster, um die Sonnenstrahlen hineinzulassen.

Sie hatte das Gefühl, in eine ganz neue Welt einzutauchen, und stand wie verzaubert da, während sie den regen Schiffsverkehr auf dem Kanal betrachtete. An den Anlegestellen warteten unzählige Menschen, und überall, wohin sie schaute, herrschte lebhaftes Treiben.

Schließlich weckte eine heiße Dusche vollends ihre Lebensgeister, und sie freute sich darauf, diese wunderschöne Stadt mit all ihren Sehenswürdigkeiten zu erforschen. Sie zog eine elegante schwarze Leinenhose und eine weiße Bluse an, dazu Ballerinas, denn sie hatte Antonios Worte noch im Ohr.

„Die Pflastersteine der Gassen Venedigs sind die härtesten der Welt. Wenn du zu Fuß gehen willst, und das musst du, denn es gibt dort keine Autos, darfst du keine hochhackigen Schuhe tragen“, hatte er sie gewarnt.

Das lange, volle Haar band sie im Nacken zusammen und ließ es über den Rücken fallen. Dann betrachtete sie sich prüfend im Spiegel. Etwas streng, aber unauffällig, dachte sie zufrieden.

Zum Frühstück ging sie hinunter in den Speisesaal und genoss das reichhaltige Büfett. Sie freute sich immer wieder von Neuem darüber, dass sie so viel essen konnte, wie sie wollte, ohne jemals zuzunehmen.

Als sie sich später in der Eingangshalle Prospekte über die Sehenswürdigkeiten und Rundfahrten holte, fragte der junge Mann an der Rezeption höflich, ob sie sich für etwas Bestimmtes interessiere.

„Venedig ist doch auch für die Glaskunst berühmt“, erwiderte sie betont beiläufig. „Gibt es irgendwo Demonstrationen der Glasbläser?“

„Ja. Auf der Insel Murano finden Sie die feinsten Kreationen der Welt.“

„Ich habe gehört, Larezzo sei dafür die beste Manufaktur weit und breit.“

„Das wird von einigen behauptet. Andere sind der Meinung, es sei Perroni. Ich glaube, sie sind beide gleich gut. In einer Stunde findet übrigens ein geführter Ausflug nach Murano zur Besichtigung der Glasmanufaktur Larezzo statt. Sie können teilnehmen, wenn Sie möchten.“

„Oh ja, gern. Vielen Dank.“

Wenig später fuhr sie mit fünf weiteren Touristen, die auch an der Anlegestelle vor dem Hotel einstiegen, mit dem Vaporetto zu der Insel. Die Vaporetti, wie die Linienboote genannt wurden, erschlossen die Stadt von einem Ende zum anderen und garantierten gute Verbindungen zu allen Inseln in der Lagune. Und sie waren erstaunlich pünktlich, die Fahrpläne hingen an jeder Anlegestelle aus.

„Früher befanden sich die Manufakturen in der Stadt selbst“, hatte Antonio ihr erzählt. „Doch die Stadtväter hielten die Brandgefahr durch die Schmelzöfen für zu groß und befürchteten, große Teile Venedigs könnten eines Tages durch ein verheerendes Feuer vernichtet werden. Deshalb wurden die Betriebe im dreizehnten Jahrhundert auf die Insel Murano verlegt.“

Und dort befanden sie sich auch heute noch und waren dank der Kunstfertigkeit der Glasbläser und der unvergleichlichen Schönheit der edlen Stücke weltberühmt.

Helena blieb an der Reling stehen und lies sich den Wind ins Gesicht wehen. Aufgeregt und neugierig überlegte sie, was sie wohl erwartete. Es konnte nicht verkehrt sein, die Firma, die jetzt ihr gehörte, sozusagen inkognito zu besichtigen, ehe sie sich als die neue Besitzerin zu erkennen gab. Außerdem machte es ihr Spaß, noch eine Zeit lang unerkannt zu bleiben.

Keine halbe Stunde später waren sie am Ziel. Sie stiegen aus und wurden von Rico, einem Mitarbeiter der Firma Larezzo, in Empfang genommen, der die Führung übernahm.

Die hauchzarten und eleganten Glaskreationen waren schöner als alles, was Helena bisher gesehen hatte, und gezeigt zu bekommen, wie diese Kunstwerke entstanden, war ein einmaliges Erlebnis. Die Schmelzöfen, die Designer, die Glasbläser, das alles war absolut faszinierend.

Schließlich trennte sie sich von der Gruppe und lief allein umher. Während sie die Gläser, Spiegel, Lampen, Figuren und den Schmuck in den Vitrinen bestaunte, fühlte sie sich in eine andere Welt versetzt. Auf einmal kam sie an einer halb offenen Tür vorbei. Als sie einen flüchtigen Blick in das Büro warf, sah sie einen Mann, der mit dem Rücken zu ihr stand, ein Handy ans Ohr hielt und mit jemandem telefonierte. Seine Stimme klang ärgerlich und gereizt, ja sogar feindselig. Sie wollte unbemerkt weitergehen, hörte ihn jedoch in dem Moment sagen: „Wir müssen sie wahrscheinlich Signora Helena Veretti nennen, obwohl es mir gegen den Strich geht.“

Plötzlich drehte er sich um, und sie konnte sein Gesicht erkennen. Das ist Salvatore Veretti, schoss es ihr durch den Kopf. Sie war sich allerdings nicht ganz sicher. Doch seine nächsten Worte bestätigten ihre Vermutung.

„Warum sie noch nicht in Venedig ist, ist mir rätselhaft. Ich wollte mich erkundigen, ob jemand bei Larezzo mehr weiß als ich. Sie hat sich aber offenbar noch nicht gemeldet.“

Helena war froh, dass sie den venezianischen Dialekt beherrschte, sonst hätte sie jetzt kein Wort verstanden.

„Wer weiß, was passiert ist. Es ist eigentlich auch völlig unwichtig. Es passt mir jedoch nicht, dass sie mich warten lässt. Jedenfalls ist sie ein raffiniertes Weib, das sich Antonios Vermögen unter den Nagel reißen wollte und ihn deshalb kurz vor seinem Tod geheiratet hat. Er hat sich von ihrer Schönheit blenden lassen, mich kann sie jedoch nicht täuschen. Sie irrt sich, wenn sie glaubt, sie könne nach Belieben über die Firma verfügen. Ich weiß, was für eine Frau sie ist, und hoffe für sie, dass sie mich nicht unterschätzt, sonst erlebt sie eine böse Überraschung.“

Nach einer Pause, in der er seinem Gesprächspartner zuhörte, fuhr er fort: „Das ist kein Problem. Sie hat doch keine Ahnung, was Larezzo wert ist, und wird jedes Angebot allzu gern akzeptieren. Ich werde leichtes Spiel mit ihr haben und kaufe ihr die Firma für einen Apfel und ein Ei ab. Es ist natürlich unfair, aber manchmal muss man zu solchen Mitteln greifen, wenn man etwas erreichen will. Okay, wir reden später weiter. Bis dann.“

Hastig zog Helena sich zurück und eilte die Treppe hinunter, um sich der Reisegruppe wieder anzuschließen. Sie kochte vor Wut. Er würde noch sein blaues Wunder erleben. Auf die Auseinandersetzung mit ihm freute sie sich schon jetzt.

2. KAPITEL

Unbemerkt gesellte Helena sich wieder zu den anderen, als Rico gerade das Ende der Führung verkündete.

„Vor Ihrer Rückfahrt nach Venedig möchten wir Ihnen noch kleine Erfrischungen anbieten“, erklärte er. „Kommen Sie bitte mit.“

Er führte sie in einen größeren Raum, wo ein langer Tisch, auf dem Teller mit Gebäck, Wein- und Mineralwasserflaschen standen, und fing an, jedem ein Glas einzuschenken.

„Entschuldige, Rico, dass ich dich störe. Weißt du, wo Emilio ist?“, fragte plötzlich jemand auf Venezianisch von der Tür her.

Helena erinnerte sich an den Namen, Antonio hatte ihn einmal erwähnt. Emilio Ganzi war der Manager, dem er die Führung der Firma anvertraut hatte.

„Er ist kurz weggefahren, muss aber jeden Augenblick zurückkommen“, antwortete Rico.

„Gut, dann warte ich.“

Es war der Mann, den Helena in dem Büro gesehen hatte. Kein Zweifel, es war Salvatore. Sie hielt sich diskret im Hintergrund, um ihn unauffällig zu beobachten.

Er schien ein würdiger Gegner zu sein, wie sie sich eingestand. Wie Antonio ihn beschrieben hatte, wagte es niemand, Salvatore zu widersprechen oder sich ihm entgegenzustellen, und so trat er auch auf. Er strahlte Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen und eine subtile Erotik aus und wirkte sehr arrogant.

Salvatore war mindestens einen Meter fünfundachtzig groß. Er hatte schwarzes Haar und dunkelbraune Augen, und unter seinem eleganten, perfekt sitzenden Anzug schien sich ein durchtrainierter und muskulöser Körper zu verbergen.

Seine strengen Gesichtszüge verrieten eiserne Disziplin und Selbstbeherrschung. Er war offenbar ein unerbittlicher Mensch, der nur seinen eigenen Gesetzen gehorchte. Von dem Ärger, der vorhin in seiner Stimme geschwungen hatte, war nichts mehr zu vernehmen. Im Gegenteil, er sprach locker und entspannt mit dem jüngeren Mann, woraus sie schloss, dass er sich perfekt unter Kontrolle hatte. Und er schien vor Energie zu sprühen.

Er mischte sich unter die Touristengruppe und wechselte mühelos ins Englische, als er merkte, dass er es mit Leuten aus Großbritannien zu tun hatte. Mit seinem herzlichen Lächeln und der charmanten Art hätte Helena ihn unter anderen Umständen sogar sympathisch gefunden, wie sie sich eingestand.

Plötzlich entdeckte er sie und betrachtete sie sekundenlang schweigend und bewundernd. Das war für sie nichts Neues. So reagierten die Männer immer bei ihrem Anblick. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihn an der Nase herumzuführen, und schenkte ihm ein verführerisches Lächeln.

„Möchten Sie vielleicht etwas Wein trinken?“, fragte er schließlich und kam näher.

„Ja, gern.“

Er schenkte zwei Gläser ein und reichte ihr eins. „Hat es Ihnen gefallen?“

Dass sie die Gegnerin war, mit der er leichtes Spiel zu haben glaubte, brauchte er noch nicht zu wissen. Ihr schauspielerisches Talent hatte ihr oft genug geholfen, und es erwies sich auch jetzt als nützlich.

„Oh ja, sehr sogar. Ich finde es faszinierend, mehr über die Kunst der Glasbläser zu erfahren“, erwiderte sie betont begeistert und blickte ihn mit ihren großen blauen Augen gekonnt unschuldig an.

Sein leicht spöttisches Lächeln bewies, dass er sie durchschaute. Aber er hatte nichts dagegen, mitzuspielen, solange sie die Sache nicht übertrieb.

Der Mann hat Nerven, er mustert mich so abschätzend, als wäre ich eine mögliche Kapitalanlage und als wollte er herausfinden, ob sich die Investition überhaupt lohnt, überlegte sie. Sein Verhalten empfand sie als Beleidigung und Kampfansage. Sie war jedoch bereit zu kämpfen, was er natürlich nicht wissen konnte.

„Es ist nur schade, dass die Führung so kurz war.“ Sie seufzte. „Ich habe längst noch nicht alles gesehen.“

„Ich zeige Ihnen gern noch mehr, wenn Sie möchten“, schlug er vor.

„Oh ja, das wäre fein.“

Sie genoss den Rundgang mit ihm. Er hatte die Gabe, sich leicht verständlich auszudrücken, ohne allzu sehr ins Detail zu gehen.

Zuletzt dirigierte er sie in den Teil der Werkhalle, wo sie einem Glaskünstler bei der Fertigung zuschauen konnte.

„Es ist unglaublich, dass diese wunderschönen Kreationen immer noch per Hand hergestellt werden. Heutzutage wird ja durch die maschinelle Produktion vieles vereinfacht.“

„Da haben Sie recht“, stimmte er ihr zu. „Wenn man auf große Stückzahlen Wert legt, bietet das technische Verfahren natürlich große Vorteile. Dabei gehen allerdings die Gestaltungsmöglichkeiten der Glasmacher und die Glasmachertradition verloren, denn man braucht nur noch Bedienungspersonal. Wer sich jedoch etwas Besonderes wünscht, muss nach Murano kommen, wo die Glaskünstler jedes einzelne Stück mit viel Liebe und Sorgfalt herstellen. Man erhält also immer ein Unikat.“

Irgendetwas in seiner Stimme ließ sie aufhorchen, und sie warf ihm einen forschenden Blick zu. Bis jetzt war ihre Unterhaltung eher locker und unbeschwert gewesen, doch plötzlich glaubte sie einen leidenschaftlichen Unterton in seiner Stimme zu hören.

„Es gibt nichts Vergleichbares“, fuhr er fort. „In unserem technisierten Zeitalter finden sich immer noch Menschen, die sich gegen maschinelle Fertigung sträuben.“ Er lachte auf. „Wir Venezianer hatten schon immer unsere eigenen Ansichten, die für Außenstehende nur schwer nachvollziehbar sind.“

„Nein, ich glaube nicht, dass …“

„Aber ich möchte Ihnen noch etwas anderes zeigen, was Sie vielleicht interessiert“, unterbrach er sie. „Kommen Sie mit.“

Helena folgte ihm. Für wenige Sekunden war interessanterweise ein anderer Wesenszug bei ihm sichtbar geworden.

„Nicht alle Artikel werden geblasen“, erklärte er, während er sie in einen Ausstellungsraum führte. „Schmuck beispielsweise erfordert andere Kunstfertigkeiten.“

Ihr fiel sogleich der herzförmige blaue Anhänger an der Silberkette auf. Als sie ihn in die Hand nahm, schimmerte er im Licht in allen Schattierungen von Malvenfarben bis Grün. Einen ähnlichen Anhänger, jedoch in einem anderen Ton, hatte Antonio ihr leicht lächelnd mit den Worten überreicht: „Das soll dich immer daran erinnern, dass dir mein Herz gehört.“ Es war sein erstes Geschenk gewesen.

Sie hatte ihn zur Hochzeit getragen und auch in den Tagen vor seinem Tod, um ihm eine Freude zu machen.

„Gefällt er Ihnen?“, holte Salvatores Stimme sie aus den Gedanken zurück.

„Er ist wunderschön.“

Er nahm ihn ihr aus der Hand und forderte sie auf: „Drehen Sie sich um.“

Sie tat es. Während er ihr langes Haar zur Seite schob, ihr die Kette um den Hals legte und den Verschluss zumachte, strich er ihr federleicht über die Haut – und weckte damit einen Sturm in ihrem Innern, der sie völlig überraschte und ihr sekundenlang den Atem raubte. Sie wünschte sich, seine Finger überall auf ihrem Körper zu spüren. Am besten würde ich sogleich die Flucht ergreifen, sagte sie sich entsetzt.

Doch dann berührte er sie nicht mehr, und der Aufruhr legte sich.

„Er steht Ihnen gut“, stellte er fest. „Behalten Sie ihn.“

„Aber der Schmuck gehört doch dem Unternehmen. Sie können ihn nicht einfach verschenken, es sei denn …“ Sie verstummte und legte gespielt entsetzt die Finger auf die Lippen. „Ich verstehe. Sie sind der Manager, oder? Das wusste ich nicht. Es tut mir leid, dass ich Ihre Zeit in Anspruch genommen habe.“

„Nein, der bin ich nicht.“

„Etwa der Besitzer?“

Sekundenlang zögerte er und schien die Frage nicht beantworten zu wollen.

„Die Firma gehört Ihnen, stimmt’s?“, hakte sie deshalb nach.

„Noch nicht, aber bald. Es ist eigentlich nur noch eine Formsache.“

Sie blickte ihn fassungslos an. Was war er doch für ein arroganter Mensch!

„Nur eine Formsache“, wiederholte sie. „Ich verstehe, Sie meinen, der Vertrag ist unter Dach und Fach, und Sie übernehmen das Unternehmen in den nächsten Tagen. Ich gratuliere.“

Salvatore verzog das Gesicht. „Ganz so schnell geht es nicht. Es ist noch nicht alles geklärt, wie müssen noch verhandeln.“

„Ach, ich wette, Sie sind ein gewiefter Geschäftsmann, der seine Ziele mühelos erreicht. Oder macht Ihnen jemand Schwierigkeiten?“

Zu ihrer Überraschung lächelte er. „So kann man es nennen. Doch ich werde die Sache schon schaukeln, darauf können Sie sich verlassen.“

Wenn er lächelt, wirkt er unglaublich charmant, dachte sie. „Was ist mit dem momentanen Besitzer?“, fragte sie. „Weiß er überhaupt schon, was auf ihn zukommt, oder wird es ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen?“

Jetzt lachte er laut auf. „Ich bin kein Unmensch, falls Sie das glauben. Die Firma gehört einer Frau, die mit allen Wassern gewaschen ist.“

„Damit werden Sie ja fertig, nehme ich an.“

„Lassen Sie mich es so ausdrücken: Es hat noch niemand geschafft, sich mir in den Weg zu stellen.“

„Na ja, es gibt immer ein erstes Mal“, wandte sie ein.

„Meinen Sie?“

Helena sah ihn herausfordernd an. „Ich kenne Menschen wie Sie. Sie sind überzeugt, niemand dürfe es wagen, ihnen Steine in den Weg zu legen. Aber so manch einer würde Ihnen und Ihresgleichen gern einen Kinnhaken verpassen, damit Sie auch einmal eine ganz neue Erfahrung machen.“

„Ich bin offen für alles Neue“, antwortete er belustigt. „Würden Sie das auch gern tun? Mir einen verpassen?“

„Eines Tages kann ich bestimmt dem Drang, handgreiflich zu werden, nicht mehr widerstehen. Doch momentan ist es mir zu anstrengend.“

Sein kehliges Lachen ging ihr unter die Haut, und es überlief sie heiß und kalt.

„Heben wir es uns für später auf?“

„Okay. Ich freue mich jetzt schon darauf“, erwiderte sie wahrheitsgemäß.

„Provozieren Sie jeden Mann, den Sie kennenlernen?“

„Nein, nur die Typen, die es verdienen.“

„Eine Antwort darauf verbeiße ich mir lieber. Lassen Sie uns Frieden schließen“, schlug er vor.

„Lieber einen Waffenstillstand.“

„Einverstanden.“

In dem Moment durchquerte eine junge Frau den Raum, und Salvatore unterhielt sich kurz mit ihr auf Venezianisch.

„Ich habe sie gebeten, uns eine Erfrischung auf die Terrasse zu bringen“, erklärte er, nachdem sie verschwunden war.

Die Terrasse ging auf einen schmalen Kanal hinaus, an dessen gegenüberliegendem Ufer sich ein kleines Geschäft an das andere reihte.

Sie ließen sich in die bequemen Rattansessel sinken und genossen die Aussicht.

„Sind Sie zum ersten Mal in Venedig?“, erkundigte sich Salvatore.

„Ja. Ich hatte es schon lange vor, bin aber erst jetzt dazu gekommen.“

„Reisen Sie allein?“

„Ja.“

„Das zu glauben fällt mir schwer.“

„Wieso?“

„Machen wir uns doch nichts vor. Sie wissen sehr genau, dass ein so schönes weibliches Wesen wie Sie nicht lange solo bleibt.“

„Vielleicht überrascht es Sie zu hören, aber es gibt Frauen, die sich bewusst für das Alleinsein entscheiden. Auch eine Frau kann so leben, wie es ihr Spaß macht, und die Männer zum Teufel schicken.“

„Eins zu null für Sie!“ Er lächelte leicht spöttisch. „Das habe ich nicht anders verdient.“

„Stimmt.“

„Haben Sie wirklich alle Männer zum Teufel geschickt?“

„Die meisten. Das Alleinsein hat viele Vorteile. Es bedeutet natürlich nicht, dass ich einsam bin, nur damit das klar ist.“

Die Bemerkung brachte ihn sekundenlang aus der Fassung. „Vermutlich sind Sie der einzige Mensch, der allein nicht einsam ist“, entgegnete er dann.

„Es ist doch nicht schwierig, auch ohne Partner glücklich zu sein. Ich finde es herrlich, mich nicht ständig nach anderen richten zu müssen.“

Er sah sie nachdenklich an. „Wenn das Ihre Überzeugung ist, sind Sie eine Ausnahme. Das glaube ich jedoch nicht. Ich halte es eher für eine Selbsttäuschung.“

Sie hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand die Hand auf die Schulter gelegt und sie gezwungen innezuhalten. Sie atmete tief durch, ehe sie erwiderte: „Ich weiß nicht, ob Sie recht haben. Vielleicht werde ich es nie herausfinden.“

„Ich würde es gern herausfinden. Sie verbergen sich hinter einer Maske, und ich möchte wissen, was für ein Mensch Sie wirklich sind.“

„Ich kann sie ja nicht für jeden x-Beliebigen ablegen.“

„Nein, nur für mich.“

Auf einmal glaubte sie, keine Luft mehr zu bekommen. Von einer Sekunde auf die andere hatte sich die lockere Atmosphäre aufgelöst.

„Warum sollte ich ausgerechnet Ihnen etwas verraten, was ich noch niemandem anvertraut habe?“, fragte sie schließlich.

„Die Antwort müssen Sie sich selbst geben.“

Sie zögerte, während er sie so erwartungsvoll ansah, als wollte er sie dazu bringen, das zu sagen, was er hören wollte. Aber nein, sie durfte sich nicht beirren lassen. „Okay, ich habe meine Geheimnisse bis jetzt für mich behalten und werde es auch weiterhin tun.“

„Ah ja, Sie sind also überzeugt, dass Sie es schaffen, oder?“

Irgendetwas in seiner Stimme verunsicherte sie, ohne dass sie hätte sagen können, was es war.

„Ich werde mich jedenfalls bemühen.“

„Und jeden zurückweisen, der Ihnen zu nahekommt?“

„Richtig.“

„Damit fordern Sie jeden Mann heraus. Ist Ihnen das nicht klar?“

Sie fühlte sich wieder sicherer und lächelte. „Natürlich. Aber ich bin eine Kämpfernatur und gewinne immer.“

Er nahm ihre Hand und hob sie an die Lippen. „Ich auch.“

„Ist Ihnen bewusst, dass Sie schon zum zweiten Mal sinngemäß behaupten, Sie seien unbesiegbar? Beim ersten Mal ging es um Geschäftliches und dieses Mal – ach, um was auch immer.“

„Warum nennen Sie das Kind nicht beim Namen?“, fragte er.

„Weil es vielleicht keinen braucht.“

Ehe er antworten konnte, wurden sie von dem Geräusch eines Motorboots abgelenkt. Sie drehte sich um und sah das Vaporetto, das sie auf die Insel gebracht hatte, auf dem Kanal um die Kurve verschwinden.

„Oh, die hätten auf mich warten müssen“, rief sie aus.

„Ich habe den Leuten gesagt, ich würde Sie selbst mit zurücknehmen“, gab Salvatore zu.

„Wie bitte? Ohne mich zu fragen?“ Sie schaute ihn empört an.

„Ich bin davon ausgegangen, dass Sie einverstanden sind.“

„Nein, das glaube ich Ihnen nicht“, entgegnete sie. „Dann hätten Sie es mir nicht verschwiegen. Sie haben Nerven!“

„Ich bitte um Entschuldigung, es war nicht bös gemeint.“

„Natürlich nicht. Es kann ja nicht bös gemeint sein, wenn Sie mich vor vollendete Tatsachen stellen, um Ihren Willen durchzusetzen“, erklärte sie spöttisch.

„Da kann ich Ihnen nur zustimmen.“

„Vermutlich werden Sie die arme Besitzerin dieser Firma genauso behandeln, bis sie völlig entnervt nachgibt.“

„Sie brauchen kein Mitleid mit ihr zu haben. Sie hat sich die Glasmanufaktur trickreich angeeignet und wird sie zu dem bestmöglichen Preis verkaufen.“

„Und am Ende wird sie sich ins Fäustchen lachen oder was?“

„Sie wird bestimmt nicht mehr lachen, wenn ich mit ihr fertig bin. Doch lassen Sie uns das Thema wechseln und uns erfreulicheren Dingen zuwenden. Sie haben mir noch gar nicht verraten, wie Sie heißen.“

Glücklicherweise erschien in dem Moment Rico, sodass sie nicht zu antworten brauchte. Er wollte nur kurz mitteilen, der Manager sei zurückgekommen. Salvatore bedankte sich und drehte sich zu Helena um. Sie war jedoch verschwunden.

„Hast du gesehen, wohin sie gegangen ist?“

„Da drüben um die Ecke, Signor.“ Rico wies in die Richtung.

Salvatore stand auf und eilte hinter ihr her. Doch auf dem kleinen Marktplatz überlegte er sekundenlang, durch welche der vier Gassen sie davongeeilt sein mochte. Obwohl es sinnlos war, suchte er schließlich jede ab.

Dann blieb er ärgerlich stehen. Wie hatte sie ihm so leicht entwischen können? Sie kannte sich doch hier gar nicht aus. Langsam ging er zurück.

Helena fuhr mit dem Wassertaxi nach Venedig zurück. Unterwegs versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. In die Genugtuung, die sie empfand, mischte sich Ärger. Sie hatte ihren Gegner kennengelernt, konnte ihn jetzt besser einschätzen. In gewisser Weise war sie von ihm fasziniert gewesen und hatte ihn am Ende überlistet. Nun musste sie sich nur noch für seine schlechte Meinung von ihr rächen.

Und da hatte sie auch schon eine Idee.

„Gerüchte verbreiten sich in Venedig wie ein Lauffeuer“, hatte Antonio behauptet.

Und das wollte sie sich jetzt zunutze machen.

Nach ihrer Rückkehr ins Hotel ging sie auf den jungen Mann an der Rezeption zu. Da es noch derselbe wie am Morgen war, erkannte er sie sogleich.

„Ich möchte mich noch einmal für den guten Tipp bedanken. Ich hatte einen wunderschönen Tag“, berichtete sie begeistert.

Sie erzählte ihm alles Mögliche und ließ immer wieder geschickt einfließen, dass sie Antonio Verettis Witwe und die neue Besitzerin der Larezzo-Glasmanufaktur sei. Als sie sicher war, dass er es begriffen hatte, durchquerte sie beschwingt die Eingangshalle und betrat den Aufzug. Wahrscheinlich hatte der Mann schon angefangen herumzutelefonieren.

Während sie wenig später duschte, überlegte sie, was sie zu dem Treffen mit Salvatore anziehen sollte, denn früher oder später würde er sich melden. Sie hatte sich nicht getäuscht, denn sie trocknete sich gerade ab, als das Telefon läute.

„Hallo?“, meldete sie sich und verstellte vorsichtshalber die Stimme.

„Spreche ich mit Signora Helena Veretti?“

„Ja.“

„Ich bin Signor Salvatore Verettis Assistent. Er hat von Ihrer Ankunft in Venedig erfahren und würde Sie gern kennenlernen. Hätten Sie heute Abend Zeit für ihn?“

„Ja.“

„Dann bittet er Sie zum Essen in den Palazzo Veretti. Er wird Sie um halb acht mit dem Boot abholen lassen.“

„Fein. Vielen Dank.“

Nach dem Gespräch setzte sie sich hin und gestand sich überrascht ein, dass irgendetwas mit ihr geschah. Da sie die Einladung praktisch provoziert hatte, konnte sie sich nicht erklären, weshalb ihr plötzlich Zweifel kamen, ob es richtig war, was sie da tat. Aber sie hatte von diesem Mann nichts zu befürchten, denn sie würde bestimmen, wie es weiterging.

Sie konnte nicht vergessen, welchen Sturm der Gefühle er in ihr ausgelöst hatte, als er mit den Fingern federleicht ihren Nacken berührte. So etwas durfte ihr nicht noch einmal passieren. Das hatte sie sich schon als Sechzehnjährige nach dem brutalen Ende ihrer ersten großen Liebe vorgenommen. Seitdem verhielt sie sich Männern gegenüber abweisend, und jede zufällige Berührung ließ sie kalt.

Aber das konnten und wollten sie nicht begreifen. Sie hatte die freizügige und lebenslustige Schönheit gespielt, und kein einziger ihrer Bekannten hatte sie durchschaut und gemerkt, was für ein Mensch sie wirklich war. Sie hatte die Männer gegeneinander ausgespielt und sie benutzt, um Karriere zu machen und so viel Geld wie möglich zu verdienen. Geschlafen hatte sie allerdings mit keinem.

In all den Jahren hatte sie nie dieses schwindelerregende, unwiderstehliche Verlangen verspürt, das ihr als blutjunge Anfängerin zum Verhängnis geworden war. Später hatte sie noch zwei- oder dreimal so etwas wie Lust verspürt, sich allerdings perfekt unter Kontrolle gehabt und war diesen Bekannten aus dem Weg gegangen, sodass niemand etwas geahnt hatte.

Sie war bereit gewesen, ihr restliches Leben als Single zu verbringen. Das änderte sich jedoch, als sie Antonio kennenlernte. Er hatte sie verehrt und geliebt. Doch aufgrund seiner labilen Gesundheit hatte er nicht mir ihr schlafen können. Sie hatten sich glänzend verstanden und gut zueinander gepasst. Ihm hatte sie die innere Stärke zu verdanken, über die sie jetzt verfügte und die ihr half, sich unerschrocken mit allem auseinanderzusetzen, was auf sie zukam.

„Ach, was soll’s? Ich bin zweiunddreißig und bis jetzt ganz gut zurechtgekommen“, sagte sie laut vor sich hin, ärgerlich über sich selbst. „Den Rest werde ich auch noch schaffen.“

Sie entschloss sich, das elegante schwarze Seidenkleid mit dem dezenten Dekolleté zu tragen, Antonios letztes Geschenk. Es reichte ihr bis zu den Knien und betonte ihre langen Beine. Nachdem sie den ganzen Tag in Schuhen mit flachen Absätzen herumgelaufen war, freute sie sich, wieder in die hochhackigen Sandaletten schlüpfen zu können.

Das lange, glänzende Haar ließ sie lose über die Schultern fallen, und außer dem Ehering und der goldenen Armbanduhr legte sie nur ihre Diamantohrringe und das Herz aus dunkelrotem Glas an, das Antonio ihr geschenkt hatte und das je nachdem, wie das Licht darauf fiel, pinkfarben schimmerte oder so tiefrot wie dunkelrote Rosen.

Ich bin bereit, es kann losgehen, dachte sie, nachdem sie einen letzten Blick in den Spiegel geworfen hatte.

3. KAPITEL

Pünktlich um halb acht erschien Helena in der Eingangshalle und wurde sogleich von dem Portier zu der hoteleigenen Anlegestelle geführt. Das Boot, mit dem sie abgeholt wurde, erwies sich als eine Gondel. Nach einer respektvollen Verbeugung half der Gondoliere ihr beim Einsteigen und vergewisserte sich, dass sie bequem saß, ehe er ablegte.

Auf dem Canal Grande, der Hauptwasserstraße Venedigs, herrschte an dem frühen Abend im April eine zauberhafte Atmosphäre. Die großen Fenster der prächtigen Palazzi waren schon hell erleuchtet, während die letzten Strahlen der untergehenden Sonne die Gebäude in ein goldenes Licht hüllten. Unzählige Touristen waren auf dem Wasser, teilweise mit Musik und Sängern, unterwegs, und die Stimmung war fröhlich und aufgelockert.

„Wie weit ist es?“ Sie drehte sich zu dem Mann, der hinter ihr stand und das Boot mit dem Ruder auf Kurs hielt, um.

„Nicht weit, Signora. Wir sind bald da. Der Palazzo Veretti ist wunderschön, er wird Ihnen gefallen.“

Er hat nicht übertrieben, dachte sie, als er wenig später auf den Prachtbau wies, auf den er zusteuerte. Die Schönheit des dreigeschossigen Renaissance-Gebäudes aus hellgrauem Marmor raubte ihr fast den Atem, denn es strahlte so etwas wie Größe und Erhabenheit aus und konnte nur das Zuhause eines mächtigen, einflussreichen Mannes sein.

Salvatore erwartete sie an der Anlegestelle. Die untergehende Sonne blendete ihn, sodass er Helena nicht genau erkennen konnte. Erst nachdem die Gondel angelegt hatte und er Helena beim Aussteigen half, wusste er, wen er vor sich hatte. Doch solange der Gondoliere sie noch beobachtete, machte er gute Miene zum bösen Spiel.

„Herzlich willkommen, Signora Veretti“, begrüßte er sie höflich.

„Vielen Dank für die Einladung, Signor Veretti.“ Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

Er bezahlte den Bootsführer und wartete, bis dieser und sein Schiff außer Sichtweite war, ehe er sich wieder an Helena wandte.

„Ich muss zugeben, ich bin überrascht. Sie sind also Helena Veretti.“

„Ja. Haben Sie sich sehr über den kleinen Streich geärgert, den ich Ihnen heute Nachmittag gespielt habe?“, fragte sie betont unschuldig.

„Natürlich nicht. Ich bin für jeden Spaß zu haben.“

Helena spürte deutlich, wie wütend er darüber war, dass sie ihn hereingelegt hatte. Er reichte ihr den Arm, woraufhin sie sich bei ihm unterhakte und in die hell erleuchtete Eingangshalle mit der breiten, geschwungenen Treppe führen ließ. Als sie stehen blieb und sich beeindruckt umsah, fiel ihm ihre Silberkette mit dem tiefroten herzförmigen Anhänger auf, der sich von dem Schmuckstück, das er ihr geschenkt hatte, nur in der Farbe unterschied. Er runzelte die Stirn.

„Das ist von meinem Mann“, erklärte sie und legte die Finger auf die Kette.

„Glückwunsch, Signora, das war eine geschickte Vorstellung. Jetzt ist mir klar, warum Sie mir Ihren Namen nicht nennen wollten.“

„Es hätte mir den ganzen Spaß verdorben.“

„Natürlich. Aber reden wir von etwas anderem. Ich habe Sie eingeladen, um Sie als Antonios Witwe in meiner Familie willkommen zu heißen.“

Was für ein Unsinn, er will doch nur herausfinden, wie er in den Besitz meiner Glasmanufaktur kommen kann, dachte sie belustigt. Vorerst hatte sie ihm das Konzept verdorben, sodass er sich eine andere Strategie würde ausdenken müssen.

Der Salon, in den er sie führte, war mit antiken Möbeln ausgestattet, und jedes einzelne Stück war sicher sehr wertvoll und einige Hundert Jahre alt.

Wie Antonio ihr erzählt hatte, hatte der Palazzo bis vor ungefähr hundert Jahren der Adelsfamilie Cellini gehört. Sie waren jedoch verarmt, und die Verettis, die zwar keinen Adelstitel, dafür aber mehr als genug Geld hatten, nutzten die Notlage der Besitzer aus und kauften ihnen den Prunkbau zu einem lächerlich niedrigen Preis ab.

„Setzen Sie sich doch.“ Salvatore wies auf ein Sofa, ehe er den Wein einschenkte und ihr ein Glas reichte. „Ich sollte mich wohl bei Ihnen entschuldigen.“

„Das ist nicht nötig. Ehrlich gesagt, ich habe mich köstlich amüsiert.“

In seinen Augen blitzte es ärgerlich auf. Er hatte sich jedoch rasch wieder unter Kontrolle. Zweifellos war es gefährlich, sich über ihn lustig zu machen, was sie allerdings nicht störte.

Langsam trank Helena einen Schluck, der vorzüglich schmeckte, und stellte das Glas dann auf den Couchtisch.

„Darf ich Ihnen nachschenken?“, fragte Salvatore.

„Nein, vielen Dank. Ich brauche heute Abend einen klaren Kopf.“

„Gut, dann lassen Sie uns essen.“ Er wies auf den Tisch neben der Balkontür mit Blick auf den Canal Grande. Höflich zog er einen Stuhl zurück und wartete, bis sie sich hingesetzt hatte, ehe er selbst Platz nahm.

Nachdem sie die venezianische Vorspeise, die ihnen die Hausangestellte servierte, probiert hatte, sah sie auf und stellte lächelnd fest: „So etwas Köstliches habe ich noch nie gegessen.“

„Signora …“

„Nennen Sie mich doch einfach Helena“, unterbrach sie ihn. „Auf Formalitäten können wir verzichten.“

„Das finde ich auch. Also, Helena …“, begann er erneut.

„Vermutlich wollen Sie jetzt über meine Firma reden. Wir hatten ja beide Zeit genug, um uns Gedanken darüber zu machen.“

„Ja, das hatten wir. Nennen Sie den Preis.“

„Wie bitte?“ Sie blickte ihn fassungslos an. „Das wagen Sie zu sagen nach allem, was Sie mir heute Nachmittag erzählt haben?“

„Sie haben mich hereingelegt.“

„Zum Glück, sonst hätte ich ja gar keine Ahnung, was Sie wirklich denken.“

„Sie haben die Situation genossen und sich großartig amüsiert, stimmt’s?“

„Wundert Sie das? Sie waren sich so sicher, dass ich nach Ihrer Pfeife tanzen würde, deshalb konnte ich nicht widerstehen, Sie ein wenig zu necken und Sie im Unklaren über meine Identität zu lassen.“

Er verzog das Gesicht, nickte jedoch gespielt verständnisvoll. „Wahrscheinlich war ich etwas leichtsinnig“, gab er zu. „Natürlich bin ich davon ausgegangen, dass Sie den Betrieb zu dem bestmöglichen Preis verkaufen wollen.“

„Wieso natürlich? Ist es so unvorstellbar, dass ich gern hierbleiben und mich in die Materie einarbeiten möchte?“

Er machte eine ungeduldige Handbewegung. „Ersparen Sie uns solche Spielchen.“

„Ach so, ich hatte ganz vergessen, dass Sie mich genau kennen.“ Sie fing an, auf Venezianisch zu zitieren, was er am Telefon gesagt hatte. „‚Jedenfalls weiß ich, was mich erwartet: ein raffiniertes Weib, das sich Antonios Vermögen unter den Nagel reißen wollte und ihn deshalb kurz vor seinem Tod geheiratet hat. Offenbar hat er sich von ihrer Schönheit blenden lassen, mich kann sie jedoch nicht täuschen.‘ Das waren doch Ihre Worte, oder?“

„Du liebe Zeit, das …“

Helena unterbrach ihn und fuhr unbeirrt fort: „‚Sie irrt sich, wenn sie glaubt, sie könne nach Belieben über die Firma verfügen. Ich weiß, was für eine Frau sie ist, und hoffe für sie, dass sie mich nicht unterschätzt, sonst erlebt sie eine böse Überraschung.‘“ Sie hielt kurz inne und sah ihn an. Schweigend und mit eisiger Miene erwiderte er ihren Blick.

„Ich habe mich heute ganz spontan für den Ausflug nach Murano mit Führung durch Antonios Firma entschieden“, erklärte sie schließlich. „Er hatte mir viel darüber erzählt. Zufällig kam ich dann an dem Büro vorbei, in dem Sie mit jemandem telefonierten. Ehrlich gesagt, ich bin froh darüber, so kenne ich wenigstens Ihre schlechte Meinung über mich.“

Salvatore stand auf und stellte sich ans Fenster, als könnte er ihre Nähe nicht mehr ertragen. Dann drehte er sich um und schaute sie konsterniert an.

„Sie sprechen Venezianisch?“, fragte er langsam.

„Ja, Antonio hat es mir beigebracht. Und da ist noch etwas, was ich klären möchte.“ Sie zog die Heiratsurkunde aus der Handtasche und reichte sie ihm. „Sehen Sie sich das Datum an“, forderte sie ihn auf. „Wenn Antonio noch einige Wochen länger gelebt hätte, hätten wir unseren zweiten Hochzeitstag feiern können. Ich bin also nicht kurz vor seinem Tod seine Frau geworden, wie Sie unterstellen.“ Mit Genugtuung bemerkte sie, dass ihm die Sache peinlich war. „Ich habe ihn keineswegs wegen seines Vermögens geheiratet. Auf sein Geld bin ich nicht angewiesen, und ich bin auch nicht an einem raschen Verkauf der Firma interessiert.“

„Okay.“ Er hob die Hände. „Wir haben uns ungeschickt verhalten …“

„Nein, nicht wir!“, fiel sie ihm ins Wort. „Sie ganz allein haben sich unmöglich benommen und voreilige Schlüsse gezogen. Ich könnte Sie wegen Beleidigung verklagen, weil Sie die Unwahrheit über mich verbreitet haben.“

„Sind Sie fertig?“

„Nein, ich habe gerade erst angefangen.“

„Und wenn ich mir das nicht länger anhören will?“

„Das interessiert mich nicht.“ Zufrieden registrierte Helena seine verblüffte Miene. „Es ist kein gutes Gefühl, von jemandem an den Pranger gestellt zu werden, nicht wahr? Ich kann das natürlich längst nicht so gut wie Sie, doch vielleicht lerne ich es noch, wenn Sie mir Gelegenheit zum Üben geben.“

„Ich bin sicher, Sie werden sich keine Gelegenheit entgehen lassen“, antwortete er ironisch.

„Das ist verständlich, oder?“

„Ja. An Ihrer Stelle würde ich genauso reagieren. Man sollte auf den Gegner einschlagen, wenn er schon am Boden liegt. Das ist die wirkungsvollste Methode.“

„Dann streiten Sie also nicht ab, dass Sie mein Kontrahent sind?“

„Es wäre lächerlich, das jetzt noch zu leugnen.“

In dem Moment kam die Hausangestellte herein und servierte den nächsten Gang. Salvatore setzte sich wieder hin.

„Ich könnte mich ja entschuldigen“, schlug Salvatore vorsichtig vor, als sie wieder allein waren.

„Für alles?“

„Zumindest für das, woran ich mich erinnere. Falls ich etwas vergessen habe, werden Sie mich schon daran erinnern.“

„Ich bin bereit, Ihnen alles zu verzeihen außer der Bemerkung, Sie wüssten, was für eine Frau ich bin. Wofür halten Sie mich, Salvatore?“

„Also bitte, müssen wir das jetzt vertiefen?“

„Oh ja. Oder wollen Sie sich Peinlichkeiten ersparen? Warum haben Sie nicht offen und ehrlich ausgesprochen, dass Sie mich für ein leichtes Mädchen halten?“

Er fühlte sich sichtlich unbehaglich, und das freute sie ungemein.

„Ich möchte es so ausdrücken: Ich halte Sie für eine sehr raffinierte und clevere junge Frau.“

„Das ist nur eine höfliche Umschreibung. In Wahrheit sind Sie überzeugt, ich sei ein Flittchen. Warum haben Sie nicht den Mut, zu Ihrer Meinung zu stehen? Sagen Sie mir ins Gesicht, was Sie denken.“

„Ich lasse mich nicht einschüchtern, das …“

„Das ist mir klar. Sie sind lieber selbst derjenige, der andere einschüchtert“, unterbrach sie ihn.

„Lassen Sie mich ausreden“, fuhr er sie scharf an. „Und drehen Sie mir nicht jedes Wort um Mund um. Ich habe Sie keineswegs als Flittchen bezeichnet …“

„Aber genau das denken Sie.“

„Was ich denke, können Sie gar nicht beurteilen. Ich verrate es Ihnen jedoch: Wenn Sie zwei Jahre mit Antonio verheiratet waren, nehme ich das zur Kenntnis. Dennoch glaube ich, Sie haben eine gute Möglichkeit gesehen, auf leichte Art zu viel Geld zu kommen, und sich die Chance nicht entgehen lassen. Weshalb schon heiratet eine so schöne junge Frau wie Sie einen Mann von Anfang sechzig?“

„Dafür gibt es mehrere Gründe, aber die würden Sie sowieso nicht verstehen.“

„Ah ja. Jeder, der die Dinge nicht so sieht wie Sie, ist ein Ignorant …“

„Das behaupten Sie, nicht ich.“

„Sie wissen genau über sich Bescheid. Es ist keineswegs nur ein Kompliment, Sie als schöne Frau zu bezeichnen, denn Sie sind es wirklich. Aber so viel Schönheit ist auch eine Gefahr und eine Falle, in die Sie Ihre hilflosen Opfer locken.“

„Meine Güte, Sie bestehen ja nur aus Vorurteilen! Glauben Sie etwa, Antonio sei ein Opfer gewesen und in die Falle getappt?“

„Ja, davon bin ich felsenfest überzeugt. Er liebte schöne Frauen und konnte sexuellen Verlockungen nicht widerstehen. Sie hatten mit ihm ein leichtes Spiel. Haben Sie damals schon so ausgesehen wie jetzt?“

„Ja, er hat mich so geliebt, wie ich war und immer noch bin. Es machte ihm Spaß, dass andere Männer ihn um mich beneideten.“

„Hat er Sie vielleicht auch gebeten, nach seinem Tod weiterhin Ihre Reize so offen zur Schau zu stellen?“, fragte Salvatore spöttisch.

„Sie werden es nicht glauben, das hat er tatsächlich getan. Er hat mir dieses Outfit gekauft und gesagt: ‚Wag es nicht, deine Schönheit unter Trauerkleidung zu verstecken. Alle sollen sehen, was für eine tolle Frau ich hatte.‘ Jetzt wissen Sie, warum ich mich wenige Wochen nach dem Tod meines Mannes so modisch und elegant kleide: Ich erfüllte ihm damit nur einen Wunsch.“

Die ironische Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, verbiss er sich lieber, denn er musste sich eingestehen, dass Antonio schon immer so ausgefallene Ideen und Vorstellungen gehabt hatte.

„Trotzdem finde ich es einigermaßen erstaunlich, dass Sie ausgerechnet heute Abend seinem Wunsch entsprechen“, entgegnete er. „Soll ich vielleicht Ihr nächstes hilfloses Opfer werden?“

„Sie kommen mir ganz und gar nicht wehrlos vor“, gab sie belustigt zurück.

„Ich bin eben ein vorsichtiger Mensch und weiß genau, wie berechnend Frauen wie Sie sind. Mir ist klar, was Sie wollen und mit welchen Mitteln Sie vorgehen. Es spricht allerdings für Sie, dass Sie erst gar nicht versuchen, Ihre Absichten zu verbergen.“

Helena sah ihn ungläubig an. „Wenn Sie glauben, ich wollte Sie verführen oder dergleichen, leiden Sie an grenzenloser Selbstüberschätzung. Weshalb sollte ich mich überhaupt für Sie interessieren?“

„Weil ich Ihr Gegner bin. Was könnte befriedigender sein, als einen Kontrahenten auf diese Art zu besiegen? Lassen Sie uns doch Klartext reden. Sie wollen mich bezirzen, um Ihre Forderungen hochzuschrauben.“ Seine Stimme klang kalt und gefährlich ruhig.

„Was könnte ich denn von Ihnen wollen, Salvatore? Ich halte doch alle Trümpfe in der Hand, also kann ich auch die Bedingungen stellen. Ich habe es gar nicht nötig, Sie zu bezirzen, wie Sie es ausdrücken“, legte sie noch einmal nach.

Er zog die Luft scharf ein. „Sie sind sehr mutig.“

„Nein, das bin ich nicht. Ich besitze nur etwas, was Sie unbedingt haben wollen, und bin nicht bereit, es Ihnen so ohne Weiteres zu überlassen. Was ist daran mutig?“

„Okay, Sie sind fremd hier, deshalb wissen Sie nicht, wovon ich rede. Sie sollten sich jedoch einmal umhören. Jeder wird Ihnen bestätigen, dass ich immer bekomme, was ich haben will, weil ich zielstrebig vorgehe, auch wenn meine Methoden nicht allen gefallen. Ich gebe niemals nach.“

„Oh, ich bin zu Tode erschrocken.“ Sie verzog das Gesicht. „Wenn ich mich entschließe, die Firma nicht zu verkaufen, können Sie nichts dagegen tun“, fügte sie hinzu, um ihn zu ärgern.

„Unterschätzen Sie mich nicht, Sie könnten es bereuen.“

„Ach ja, ich erinnere mich wieder. Sie werden leichtes Spiel mit mir haben und mir die Manufaktur für einen Apfel und ein Ei abkaufen. Was für eine lächerliche Bemerkung.“ Helena geriet immer mehr in Fahrt, obwohl seine finstere Miene sie hätte warnen müssen. „Verlassen Sie sich nicht darauf, dass ich nicht wüsste, was Larezzo wert ist“, fuhr sie fort. „Sie haben angedeutet, Sie seien ein einflussreicher und mächtiger Geschäftsmann, doch gerade solche Leute haben auch Feinde. Ich wette, ich könnte auf Anhieb ein Dutzend Menschen finden, die mir bereitwillig Auskunft über den Kaufpreis der Glasmanufaktur geben und auch mit Hinweisen auf Ihre Schwachstellen nicht sparen würden.“

Er sprang auf, beugte sich zu ihr hinunter und sah ihr in die Augen. „Sie glauben also, Sie könnten meine Schwachstellen finden?“

Sie hob den Kopf, sodass ihr Atem seine Wangen streifte. „Ja. Und stellen Sie sich vor, ich habe soeben eine davon entdeckt“, flüsterte sie.

Als er sie an den Armen packte, wusste sie, dass sie recht hatte, denn seine Hände zitterten leicht. Doch konnte sie es wagen, ihn noch weiter zu provozieren?

In dem Moment kam die Hausangestellte herein, sodass sich die Frage von selbst erledigte. Salvatore ließ sie los.

„Signor Raffano möchte Sie sprechen“, verkündete die Frau.

„Ich komme“, antwortete er so ruhig und beherrscht, als wäre nichts geschehen. „Entschuldigen Sie mich bitte, ich bin gleich wieder da“, fügte er an Helena gewandt hinzu.

„Natürlich.“

Er verließ den Salon und nahm den Anruf in seinem Arbeitszimmer entgegen. „Was gibt es, Raffano?“

„Ich wollte mich nur erkundigen, wie es läuft“, erwiderte der ältere Mann. „Hast du ihr schon einen Preis genannt?“

„Nein, so weit sind wir noch nicht.“

„Ist sie schwierig?“

„Na ja, sie ist anders, als ich gedacht habe.“

„Und das heißt?“

„Sie versucht mir die Stirn zu bieten“, antwortete Salvatore.

„Oh, die Ärmste.“

„Vielleicht solltest du eher Mitleid mit mir haben“, entgegnete Salvatore. „Sie ist eine sehr clevere junge Frau. Ich habe sie unterschätzt. Doch jetzt weiß ich, woran ich bin.“

Unterdessen schaute sich Helena die Gemälde mit den Namensschildern am anderen Ende des Salons an. Die Porträts stellten Mitglieder der Familien Cellini und Veretti dar.

Von der letzten Generation der Verettis gab es nur vergrößerte Fotos. Helena blieb vor Antonios Bild stehen, das ihn als jüngeren Mann von Ende dreißig zeigte. Mit so vollem schwarzen Haar hatte sie ihn nicht kennengelernt, sondern nur als Schatten seiner selbst mit schütterem grauen Haar. Doch bis zu seinem Tod war er ein attraktiver Mann gewesen.

Sie war so versunken in den Anblick von Antonios Bild, dass sie Salvatore nicht zurückkommen hörte. Er bemerkte ihre verträumte Miene und das weiche Lächeln, das ihre Lippen umspielte. Schließlich legte sie die Finger auf die Lippen und warf Antonio eine Kusshand zu.

Plötzlich spürte sie Salvatores Anwesenheit und drehte sich zu ihm um. „Sehen Sie sich seine Augen an.“ Sie wies auf die Aufnahme. „Er war ein richtiger Charmeur, nicht wahr?“

„Zumindest als er jünger war. Ob er das immer noch war, als Sie ihn kennenlernten, weiß ich nicht.“

„Doch …“ Sie verstummte und hing verträumt lächelnd ihren Erinnerungen nach. Antonio war damals schon sehr gebrechlich, aber immer noch ein Herzensbrecher gewesen, der sie oft und gern zum Lachen gebracht hatte.

Salvatore beobachtete sie aufmerksam. Ihre Miene und ihr geheimnisvolles Lächeln verrieten, dass er sich nicht getäuscht hatte, sie war eine perfekte Schauspielerin. Sie hatte Antonio verführt und ihn dazu gebracht, sich zu viel zuzumuten, bis sein Herz vor Erschöpfung versagte.

Schließlich ging sie langsam weiter. Ihre anmutigen, geschmeidigen Bewegungen wirkten ungemein verführerisch. Sie konnte einem Mann wirklich den Verstand rauben, wie er sich eingestand.

Vor dem Hochzeitsfoto zögerte sie.

„Das sind meine Eltern“, erklärte er.

Vor allem die schöne junge Braut mit dem strahlenden Lächeln, die den Bräutigam verliebt ansah, faszinierte Helena. Der Mann war unverkennbar Salvatores Vater. Ihm schienen jedoch die innere Stärke und eiserne Willenskraft zu fehlen, die seinen Sohn vor allen anderen auszeichneten.

Daneben hing ein Bild von Salvatore als Teenager im Kreis von anderen Familienmitgliedern.

„Da ist ja auch Antonio“, sagte sie und blickte genauer hin. „Wer ist die Frau hinter ihm?“

„Meine Mutter.“

„Wie bitte? Ihre Mutter?“, wiederholte Helena verblüfft. Sie konnte kaum glauben, dass die Frau mittleren Alters dieselbe war wie auf dem Hochzeitsfoto. Sie wirkte angespannt und seltsam verhärmt. Helena hatte den Eindruck, ihre mutige, herausfordernde Miene sei nur gespielt. Sie stand hinter Salvatore und hatte ihm die Hand besitzergreifend auf die Schulter gelegt, als wäre er alles, was ihr geblieben war.

„Sie hat sich nach der Hochzeit sehr verändert. Was ist passiert?“

„Jeder tut das im Lauf der Zeit“, antwortete er ausweichend.

„Aber sie sieht aus, als hätte sie etwas Schlimmes erlebt.“

„Sie hat die einmal übernommenen Pflichten als Ehefrau und Mutter sehr ernst genommen und auch die vielen ehrenamtlichen Tätigkeiten.“ Seine Stimme klang leicht ungeduldig, das Thema schien ihm nicht zu gefallen.

Obwohl sie gern mehr erfahren hätte, gestand Helena sich ein, dass sie kein Recht hatte, ihn auszufragen. Sie seufzte. „Die arme Frau, sie wirkt so traurig.“

„Ja, das war sie auch“, gab er ruhig zu. „Setzen wir uns wieder hin?“

Irgendwie war Helena überrascht festzustellen, dass sie noch nicht fertig gegessen hatten. So viel war in den wenigen Minuten geschehen. Sie waren sich voller Misstrauen und gegenseitiger Abneigung begegnet, doch mit der Möglichkeit, dass sie sich körperlich zueinander hingezogen fühlen würden, hatte sie nicht gerechnet.

Es widersprach allem, woran Helena geglaubt hatte, und es traf sie völlig überraschend und unvorbereitet. Doch jetzt musste sie sich damit auseinandersetzen. Dass es Salvatore genauso erwischt hatte wie sie, spürte sie deutlich, denn all ihre Sinne waren auf einmal so hellwach und geschärft wie seit vielen Jahren nicht mehr, genau genommen seit … Nein, darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken.

Sie nahm wieder Platz und lächelte Salvatore strahlend an. „Die feine Torte muss ich natürlich noch probieren.“

„Möchten Sie einen Kaffee dazu?“

„Gern.“

Sie versteckten sich wieder hinter höflichen Floskeln und waren auf der Hut.

„Sie wollen mich also auf die Firma warten lassen?“, fragte Salvatore schließlich.

„Das auf jeden Fall. Wahrscheinlich verkaufe ich sie gar nicht.“

„Haben Sie ernsthaft vor, sie zu behalten?“

Wieso ist das für ihn so unvorstellbar?, überlegte sie ärgerlich. „Das sage ich doch die ganze Zeit. Hören Sie mir etwa nicht zu?“

„Ich habe es nicht ernst genommen. Sie waren wütend, wahrscheinlich zu Recht, doch Sie haben Ihren Spaß gehabt, und jetzt sollten wir uns sachlich unterhalten.“

„Dann hören Sie bitte gut zu: Ich will den Betrieb nicht verkaufen. Warum auch?“

„Weil Sie keine Ahnung von der Materie haben“, erwiderte er gereizt. „Frauen verstehen nichts von Unternehmensführung und dergleichen.“

„Ich glaube es nicht! In welchem Jahrhundert leben Sie?“

„Nur zu, spielen Sie die Chefin von Larezzo. Doch Sie werden in kürzester Zeit Insolvenz anmelden müssen, und dann gehört sowieso alles mir.“

„Natürlich werde ich die Firma nicht selbst leiten. Antonio war mit dem Manager mehr als zufrieden. Rechnen Sie lieber nicht damit, dass Sie mich zwingen können zu verkaufen. Das wird Ihnen nicht gelingen.“

„Da täuschen Sie sich. Ich habe einige Trümpfe im Ärmel.“

„Ich auch.“

Lächelnd hob er sein Glas. „Auf die kommende Auseinandersetzung.“

„Ich freue mich darauf.“ Sie prostete ihm zu.

Sein Lachen klang überraschend herzlich, beinah liebenswert. Das war jedoch nur einer seiner Tricks, darauf würde sie nicht hereinfallen.

„Obwohl wir heute viel über uns erfahren haben, wissen wir eigentlich nichts voneinander“, stellte Salvatore fest.

„Ja“, stimmte sie ihm zu. „Das sollten wir nicht vergessen.“

„Falls das überhaupt möglich ist. Illusionen sind vor allem deshalb so gefährlich, weil sie einem eine Realität vorgaukeln, die es nicht gibt.“

Helena nickte. „Wir glauben immer nur das, was wir annehmen wollen. Wie können wir die Wahrheit herausfinden?“

„Das ist kein Problem“, antwortete er spöttisch. „Wir werden sie spätestens dann kennen, wenn es zu spät ist.“

„Das befürchte ich auch“, wisperte sie.

Salvatore bemerkte ihren in die Ferne gerichteten Blick. Sie schien seine Gegenwart auf einmal völlig vergessen zu haben.

„Helena, was ist los?“, fragte er eindringlich.

Sie schwieg jedoch und hatte sich offenbar in eine Welt zurückgezogen, zu der er keinen Zutritt hatte.

4. KAPITEL

Helena versuchte die neuen Eindrücke zu verarbeiten. Irgendetwas verband sie mit Salvatore, doch was es war, konnte sie noch nicht einordnen. Er schien ihre Gedanken lesen zu können, obwohl das eigentlich unmöglich war. Etwas Ähnliches hatte sie bisher nur mit Antonio erlebt.

Schließlich nahm sie sich zusammen und kehrte in die Wirklichkeit zurück.

„Ich möchte mich verabschieden“, verkündete sie. „Würden Sie mir bitte ein Wassertaxi bestellen?“

„Wenn es Ihnen recht ist, begleite ich Sie zu Fuß zum Hotel.“

„Das wäre nett.“

Als er ihr die Stola aus feiner Seide umlegte, die sie über den Sessel gelegt hatte, rechnete sie damit, seine Finger auf ihrer Haut zu spüren, und erbebte unwillkürlich. Doch nichts geschah.

Sie verließen den Palazzo durch den Hinterausgang und traten hinaus auf eine Gasse, die so eng und schmal war, dass Helena sie insgeheim mit einem Tunnel verglich. Wenn man die Arme ausstreckte, konnte man fast die gegenüberliegenden Gebäude berühren. Sie hob den Kopf und sah auf zum Himmel, von dem nur ein schmaler Streifen sichtbar war.

„Wo sind wir hier?“, fragte sie leicht irritiert. „Irgendwie habe ich die Orientierung verloren, scheint mir.“

„Wir befinden uns auf dem direkten Weg zum Hotel. Es ist eine Abkürzung. Hat Antonio Ihnen nicht erzählt, wie schwer man die Entfernungen in Venedig einschätzen kann?“ Er legte ihr den Arm um die Schulter.

„Nein, daran kann ich mich nicht erinnern“, erwiderte sie.

„Was hat er Ihnen denn über mich erzählt?“

Ihr Lachen klang so weich und warm, dass es ihm irgendwie unter die Haut ging.

„Er hat mich vor Ihnen gewarnt und mir geraten, mich vor Ihnen in Acht zu nehmen.“

„Werden Sie den Rat befolgen?“

„Oh ja. Ich kann mich auf ihn verlassen. Seine Ratschläge haben sich immer als klug und weise herausgestellt.“

„Das mag sein. Hat er Ihnen auch verraten, dass Sie stark genug sind, sich mir gegenüber durchzusetzen?“

„Nein, das habe ich selbst vom ersten Augenblick an gespürt.“

„Sie kämpfen mit den Waffen einer Frau, und die sind sehr wirkungsvoll. Im Moment möchte ich mich auch gar nicht dagegen wehren.“

Als er ihr Gesicht umfasste und langsam den Kopf senkte, ehe er ihre Lippen sanft mit seinen berührte, schien sich die ganze Welt zu verändern. Nichts war mehr so wie zuvor.

Helena hielt den Atem an und konnte kaum glauben, was da mit ihr geschah. Sie hatte geahnt, dass er sie küssen würde, und war bereit, es zuzulassen. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich auf einmal so lebendig fühlen würde wie schon lange nicht mehr.

Irgendwie hatte sie das Empfinden, in eine ganz andere Welt versetzt zu sein, wo Leidenschaft, Lebensfreude und viele aufregende Erfahrungen auf sie warteten. Diese neue Welt würde sie gern erforschen und herausfinden, ob sie hielt, was sie versprach.

Konnte sie der starken Versuchung widerstehen, die dieser Mann für sie darstellte und die ihren Willen zu lähmen schien? Im Augenblick wollte sie das gar nicht. Sie umfasste seine Schultern und klammerte sich an ihn, statt ihn wegzustoßen und die Flucht zu ergreifen.

In den vielen Jahren völliger Enthaltsamkeit war sie zu der Überzeugung gelangt, sie sei gefühlskalt und zu keiner Leidenschaft fähig. Wie sehr hatte sie sich getäuscht! Ausgerechnet zu dem Mann, der auf einer anderen Ebene ihr Gegner war, fühlte sie sich unwiderstehlich hingezogen. In seinen Armen wurde sie schwach. Er weckte in ihr die beglückendsten Gefühle.

Sie schmiegte sich an ihn, erwiderte seine Küsse und wünschte sich mehr. Als Salvatore ihre Reaktion spürte, fing er an, ihren Körper sanft und behutsam mit den Händen zu erforschen, und sekundenlang überlegte sie, ob es Wirklichkeit oder nur ein Traum war. Dann jedoch gab es keinen Zweifel mehr. Sie bekam eine Ahnung davon, was für ein geschickter und erfahrener Liebhaber er war.

Sie begehrte ihn und wusste instinktiv, dass er ihr ganz neue Welten eröffnen und die tiefe Sehnsucht in ihr stillen könnte, die sie viel zu lange verdrängt hatte. Sie war bereit, ihm alles zu geben, wenn er ihre Wünsche und Träume erfüllte.

Doch plötzlich kam sie zur Besinnung. Was machte sie da? Wie leicht hatte sie sich von ihm verführen lassen, obwohl sie geglaubt hatte, dass ihr so etwas nicht passieren konnte! Wahrscheinlich lachte er insgeheim über sie.

Es war vorbei. Das Verlangen, das sie gerade noch empfunden hatte, war erloschen. Es war zum Weinen, aber es war auch besser so – und sicherer, und nur darauf kam es an.

Als sich Schritte näherten, löste sich Salvatore von ihr und seufzte resigniert.

Sie gingen weiter, und nach wenigen Minuten waren sie auf dem Markusplatz. Von dort war es nur noch ein Katzensprung bis zum Hotel.

Wie sicher musste Salvatore sich seiner Sache sein. Sie würde schon dafür sorgen, dass ihm das Lachen verging.

Sie betraten das Hotel und durchquerten die Eingangshalle. Vor dem Aufzug wollte Helena sich kühl von Salvatore verabschieden, aber leider kam er ihr zuvor.

„Gute Nacht, Signora. Vielen Dank für den wunderschönen Abend.“

„Wie bitte?“

„Gute Nacht, Signora“, wiederholte er. „Es wäre der falsche Zeitpunkt. Da sind wir uns doch einig, oder?“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen“, behauptete sie mit Unschuldsmiene.

„Wenn ich bereit bin, mit Ihnen zu schlafen, werde ich Sie bestimmt nicht vor den Augen all dieser Leute hier auf Ihr Zimmer begleiten“, antwortete er ruhig.

„Wenn Sie bereit sind? Meine Güte, was sind Sie doch für ein arroganter Mensch! Sie belügen sich selbst, wenn Sie glauben, Sie könnten nach Belieben über mich verfügen“, fuhr sie ihn zornig an.

„Ich befürchte, Sie machen sich da etwas vor. Die Entscheidung haben wir beide doch längst getroffen. Es ist nur noch die Frage, wann es so weit ist. Im Grunde war es uns beiden von Anfang an klar.“

„Wovon …?“

„Tun Sie bitte nicht so, als wüssten Sie nicht, wovon ich rede“, unterbrach er sie. „Sie haben doch längst beschlossen, mich zu verführen, sozusagen als Demonstration Ihrer Macht. Das geht für mich in Ordnung, denn ich habe dasselbe für mich entschieden, sodass die Machtverhältnisse ausgeglichen sind. Nur den Zeitpunkt und den Ort bestimme ich ganz allein. Ist das klar?“

„Sie müssen verrückt sein“, warf sie ihm wütend an den Kopf.

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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