Romana Exklusiv Band 329

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HAZIENDA DER VERBOTENEN LEIDENSCHAFT von ANNE MATHER

Auf einer luxuriösen Hazienda am Golf von Mexiko lernt Caroline den geheimnisvollen Luis de Montejo kennen - und lieben. Mit jedem Tag lässt er ihr Herz höherschlagen. Bis sie plötzlich erfährt, dass er ein Priesterseminar besucht. Ist der Mann ihrer Träume auf ewig unerreichbar?

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  • Erscheinungstag 13.11.2020
  • Bandnummer 329
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748951
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anne Mather, Michelle Douglas, Penny Roberts

ROMANA EXKLUSIV BAND 329

1. KAPITEL

Nachdenklich blickte Caroline durch das schmutzige Fenster des Hotels in Las Estadas in den strömenden Regen hinaus. Eigentlich war es verrückt von ihr gewesen, hierherzukommen. Aber ihr Leben in England war ihr plötzlich so leer erschienen, und so hatte sie es als Herausforderung betrachtet, nach Mexiko zu gehen. Allerdings fragte sie sich, warum man sich ausgerechnet für sie entschieden hatte. Sie hatte englische Literatur und Geschichte studiert und noch nie als Privatlehrerin gearbeitet. Einige andere Bewerberinnen hätten sich viel besser für den Job geeignet.

Die Chance, eine Zeit lang im Land der Azteken und der Nachfahren von Montezuma und Cortes zu arbeiten, war wirklich einmalig. Vermutlich waren die meisten Interessentinnen jedoch nicht bereit gewesen, in ein abgelegenes Dorf im Norden der Halbinsel Yucatán zu reisen. Im Wartebereich des Hotels in London, wo die Vorstellungsgespräche stattfanden, hatte sie sich mit einigen von ihnen unterhalten, und die meisten waren davon ausgegangen, dass sie in Mexiko City arbeiten würden.

Sie hingegen hatte es nicht abgeschreckt, weil sie schon einiges über Mexiko wusste – oder es zumindest geglaubt hatte. Die Vorstellung, in der Nähe der alten Mayastadt Chichén Itzá zu leben, hatte sie zusätzlich gereizt. Aber nun, da sie in dem schäbigen Hotel Hermosa wartete, wurde Caroline erst richtig bewusst, worauf sie sich eingelassen hatte. Hätte sie nach Mérida zurückkehren können, ohne dass jemand davon erfuhr, wäre sie sofort abgereist.

Sie konzentrierte sich wieder auf den Ausblick. Der starke Regen hatte die unbefestigte Straße in eine Schlammpiste verwandelt, und die ohnehin heruntergekommenen Gebäude auf der anderen Seite wirkten bei diesem Wetter noch trister. Dies war nicht das Mexiko, das sie sich vorgestellt hatte, ein ebenso farbenfrohes wie geschichtsträchtiges Land mit wunderschönen historischen Bauwerken. Offenbar hatte Las Estadas nicht vom Ölboom der Siebzigerjahre profitiert, denn hier herrschten Armut und Elend.

Caroline wandte sich vom Fenster ab und ließ den Blick durch das schmuddelige kleine Zimmer schweifen, das nur mit einem einfachen Metallbett, einem Flickenteppich, einem wackeligen Tisch und ebensolchen Stuhl und einem winzigen Waschbecken ausgestattet war. Anscheinend hatte man hier länger nicht mehr gründlich sauber gemacht, doch sie war am Abend so müde gewesen, dass es sie nicht gekümmert hatte. Das Frühstückstablett mit Tortillas und einer Kanne Kaffee stand immer noch auf dem Tisch.

Als es klopfte, verspannte sie sich. „Wer ist da?“, rief sie und atmete erleichtert auf, als Señor Allende den Kopf zur Tür hereinsteckte.

„Ihnen nicht schmecken?“, erkundigte er sich.

Der Hotelbesitzer war sehr dick, und als er das Zimmer betrat, wurde ihr übel, weil er nach Schweiß und Tequila roch.

„Ah, Sie nicht essen!“, rief er beim Anblick des Tabletts. „Mögen Sie nicht, Señorita? Maria soll etwas anderes machen?“

„Danke, nein.“ Energisch schüttelte Caroline den Kopf. „Ich … habe keinen Hunger. Was hatte Señor Montejo gesagt, wann er kommen wollte?“

„Señor Montejo sagen, er kommen gegen Mittag“, erwiderte der Mexikaner nachdenklich, während er sich über den schwarzen Schnurrbart strich und sie auf beunruhigende Weise musterte. „Das Wetter – Sie verstehen? Er deswegen spät.“

Seine Worte deprimierten sie noch mehr. „Heißt das, die Straßen sind vielleicht unpassierbar?“

Er nickte. „Möglich.“ Dann lächelte er, sodass sie seine nikotingefärbten Zähne sehen konnte. „Aber keine Sorge, Señorita. José …“ Er tippte sich auf die Brust. „José auf Sie aufpassen, bis Señor Montejo kommen.“

„Ja.“

Caroline rang sich ein Lächeln ab. Sie wollte nicht noch eine Nacht in dieser Absteige verbringen, zumal Señor Allende zunehmend aufdringlicher erschien. Da jedoch Esteban de Montejo das Zimmer für sie gebucht hatte, gab es vermutlich kein besseres Hotel in Las Estadas.

„Warum Sie nicht warten unten in mein Büro?“ Der Hotelbesitzer nahm eine Zigarre aus seiner Westentasche, biss das Ende ab und spuckte es auf den Boden. „Wir zusammen was trinken.“

Beinah hätte sie angewidert das Gesicht verzogen. Glaubte dieser Mann allen Ernstes, sie würde sich gern mit ihm zusammensetzen? Hätte sie sich nicht so fremd und allein gefühlt, dann hätte sie laut gelacht. Sie wich einen Schritt zurück und schüttelte höflich, aber bestimmt den Kopf.

„Nein, vielen Dank“, sagte sie forsch. „Ich bleibe hier. Von meinem Fenster aus habe ich die Straße im Blick. Außerdem möchte ich Ihnen keine Umstände machen.“

„Sind keine Umstände!“ Señor Allende gestikulierte lebhaft. „Kommen Sie.“ Dann streckte er ihr die Hand entgegen. „Unten viel besser.“

„Nein!“, entgegnete sie scharf. „Ich möchte lieber allein sein. Bitte gehen Sie …“

Er zuckte die Schultern und kniff die Augen zusammen. „Okay. Wie Sie wollen“ Dann verließ er den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Erleichtert atmete Caroline auf und ging wieder zum Fenster. Komplikationen dieser Art waren das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Wenn Señor Montejo doch endlich kommen würde!

Nachdenklich blickte sie auf die Veranda des Hauses gegenüber und überlegte, was sie eigentlich von ihrem neuen Arbeitsplatz erwartete. Wie mochte das Haus sein? Und was war Señor Montejo für ein Mensch? Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich auf eine einmonatige Probezeit einzulassen, denn womöglich würde sie schon nach einem Tag wieder abreisen wollen.

In London war alles so verlockend erschienen. Señora Garcia, die die Bewerbungsgespräche geführt und eine Privatlehrerin für ihre achtjährige Enkelin gesucht hatte, machte einen vermögenden Eindruck. Sie trug teure Designersachen und exklusiven Schmuck und strahlte die für die Oberschicht so typische Selbstsicherheit aus. Caroline war davon ausgegangen, dass ihr Schwiegersohn genauso wohlhabend war. Aber vielleicht hatte ihre Tochter auch unter ihrem Stand geheiratet, und Señor Montejo war ein ähnlicher Typ wie Señor Allende …

Gegen Mittag brachte ihr die mollige Köchin Maria ein Tablett mit einem Teller Suppe und Maisbrot und teilte ihr, bevor sie ging, in gebrochenem Englisch mit, Señor Montejo habe angerufen und sei immer noch unterwegs. Caroline versuchte ihre Enttäuschung zu verdrängen und zwang sich, das Brot und einige Löffel von der fettigen Suppe zu essen. Danach setzte sie sich wieder ans Fenster und blickte in den Regen hinaus.

Der Nachmittag verging, und sie wurde immer nervöser. Wo steckte Señor Montejo bloß? Waren die Straßenverhältnisse wirklich so schlecht, dass er sich so viel verspätete?

Caroline wurde aus ihren Gedanken gerissen, als plötzlich die Tür aufging. Erschrocken sprang sie auf und sah Señor Allende auf der Schwelle stehen. Er hatte eine offene Tequila-Flasche in der Hand und schwankte merklich.

„Hola, señorita!“, begrüßte er sie, bevor er die Flasche ansetzte und einen kräftigen Schluck trank. „Vielleicht Sie jetzt mit José was trinken?“

Sie war alarmiert, zwang sich aber, Ruhe zu bewahren. „Ich trinke nicht, Señor Allende“, erklärte sie, während sie ihm tapfer in die Augen blickte. Sie war sicher viel sportlicher und mit ihren einsachtundsechzig auch gut einen halben Kopf größer als er.

„Sie … nicht trinken“, wiederholte er lallend. „Doch … hier, nehmen Sie Schluck … Tequila sehr gut.“

Mit schweren Schritten kam er auf sie zu und streckte ihr dabei die Flasche entgegen, woraufhin Caroline angewidert zur Seite wich.

„Bitte, Señor Allende, ich will nicht!“, protestierte sie, während sie hinter das Bett flüchtete, doch er folgte ihr schwer atmend.

„Trinken Sie …“, beharrte er und befeuchtete sich die Lippen.

Allmählich geriet sie in Panik, weil ihr klar war, dass sie sich nicht vor ihm retten konnte, ohne sich zur Wehr setzen zu müssen. Sie stand jetzt zwischen Bett und Wand und wusste nicht, wohin sie fliehen sollte. Ohne nachzudenken, sprang sie dann auf die Matratze. Aber der Hotelbesitzer war beweglicher, als sie vermutet hatte. Brutal packte er sie am Knöchel, sodass sie unsanft aufs Bett fiel.

Da sie zuerst keine Luft bekam, lag sie sekundenlang wie benommen da. Als ihr dann bewusst wurde, dass er neben sie aufs Bett kletterte, drehte sie sich blitzschnell auf den Rücken und versetzte ihm einen gezielten Tritt. „Verschwinde, du Mistkerl!“, rief sie in Panik und hörte, wie er laut stöhnte. Hastig sprang sie vom Bett und stürzte zur Tür, wo sie mit jemandem zusammenstieß.

Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, umfasste der Mann ihre Schultern. In der Annahme, es sei ein Freund von Señor Allende, zog Caroline blitzschnell das Knie an, um ihn auch außer Gefecht zu setzen. Doch er hielt sie davon ab, indem er sie herumdrehte und ihre Arme umklammerte.

„Basta!“, rief er mit einem ärgerlichen Unterton, bevor er den Blick zu dem Hotelbesitzer schweifen ließ, der sich gerade vom Bett aufrappelte. Und während sie sich in seinem Griff wand, fuhr er auf Englisch an diesen gewandt fort: „Was ist hier los, Allende? Haben Sie die Frau belästigt?“

Er sprach mit leichtem Akzent, aber der Klang seiner Stimme war sehr kultiviert. Seine Worte und der verächtliche Unterton führten ihr sofort vor Augen, dass der Fremde kein Saufkumpan von Señor Allende war. Wenige Sekunden später ließ er sie los, und sie hörte auf, sich zu wehren.

„Es … tut mir leid, wenn ich Ihnen wehgetan habe …“ Erleichtert drehte sie sich zu ihrem Retter um, verstummte allerdings, als sie ihm in die grauen Augen blickte.

Falls dies wirklich Señor Montejo war, hatte sie ihn sich ganz anders vorgestellt. Er war jung, höchstens dreißig, und größer als die meisten Mexikaner, die sie bisher gesehen hatte. Mit dem schwarzen Haar und den grauen Augen, dem dunklen Teint und den hohen Wangenknochen war er umwerfend attraktiv. Die sportliche Regenjacke und die Jeans, die er trug, betonten seine athletische Statur. Noch nie war sie einem so maskulinen Mann begegnet, und Caroline spürte, wie ihr Herz schneller zu pochen begann.

„Señor …“, begann der Hotelbesitzer. „Es nicht so, wie Sie denken …“

„Ich glaube doch.“ Señor Montejos Stimme war tief und sexy. „Sie liegen auf Señorita Leytons Bett, und die Señorita ist vor Ihnen geflohen.“

„Ja … ich viel getrunken“, räumte der Hotelbesitzer mit schwerer Zunge ein und zuckte die Schultern. „Nur einen Moment auf Señoritas Bett ausruhen.“

„Was haben Sie in ihrem Zimmer zu suchen?“, fragte Montejo mit einem harten Unterton.

„Vielleicht war alles ein Missverständnis“, sagte Caroline unbehaglich, weil sie sich nicht schon am Tag nach ihrer Ankunft Feinde machen wollte. „Ich … glaube nicht, dass Señor Allende mir etwas tun wollte …“

Ironisch blickte er sie an. „Ach nein?“ Wieder wandte er sich an Allende. „Sie haben Glück, dass Miss Leyton nicht nachtragend ist. Mein Bruder wäre sicher nicht so großmütig.“

Allende machte eine dramatische Geste. „Bitte Sie nicht sagen Señor Montejo, Señor. Dieses Hotel alles, was ich hab …“

Der Fremde zuckte gleichgültig die Schultern, bevor er etwas auf Spanisch erwiderte, doch Caroline hörte gar nicht zu. Die Worte des Hotelbesitzers hatten ihr bewusst gemacht, dass dieser Mann nicht ihr Arbeitgeber war. Aber er kannte ihren Namen und hatte von seinem Bruder gesprochen. Wer konnte er sein? Señora Garcia hatte keinen Bruder erwähnt, sondern gesagt, ihr Schwiegersohn sei verwitwet und würde allein mit seiner Tochter und einer alten Tante auf dem familieneigenen Anwesen San Luis de Merced leben.

Als hätte der Fremde ihre Verunsicherung bemerkt, wandte er sich nun an sie. „Entschuldigen Sie, Miss Leyton, ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Luis Vincente de Montejo. Ich bin der Bruder von Señor Montejo und der Onkel von Emilia, Ihrer zukünftigen Schülerin.“

„Ach so.“ Nun begriff sie. „Sie … sollen mich also abholen?“

„Ja.“ Er kniff die Augen zusammen, und ihr fiel auf, wie lang und dicht seine Wimpern waren. „Mein Bruder kann nicht kommen. Er hat mich gebeten, Sie nach San Luis zu bringen.“

Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, nickte sie. „Okay, gehen wir.“

„Ich nehme Ihr Gepäck.“

Mühelos hob er ihre beiden Koffer hoch und ließ ihr den Vortritt. Als Caroline sich noch einmal zu dem Hotelbesitzer umdrehte und seinem kalten Blick begegnete, schauderte sie und hoffte, sie würde ihm niemals wieder über den Weg laufen.

Erleichtert und dankbar für sein rechtzeitiges Eingreifen, ging sie de Montejo voran nach unten. Wäre er nicht genau in jenem Moment gekommen, hätte sie nicht gewusst, wohin sie fliehen sollte.

Es regnete nicht mehr ganz so stark, doch ihr T-Shirt war an den Schultern nass, als Caroline in den schlammbespritzten Range Rover stieg, der vor dem Hotel parkte. Nachdem ihr Begleiter ihr Gepäck im Kofferraum verstaut hatte, setzte er sich ans Steuer und zog dabei seine Jacke aus, die er dann nach hinten warf.

Während er schweigend den Motor startete, versuchte Caroline, die Fassung wiederzugewinnen. Nach allem, was gerade geschehen war, fiel es ihr nicht leicht, aber während ihre Atemzüge langsam ruhiger wurden, schaffte sie es, das Ganze nüchtern zu betrachten. Señor Allende hätte keine Chance gegen sie gehabt, doch in dem Moment war sie wirklich in Panik geraten.

„Sie haben noch mal Glück gehabt. Das war eine Feuerprobe, nicht?“, erkundigte sich Luis, als er das Ende der Dorfstraße erreichte.

Caroline warf ihm einen flüchtigen Blick zu, bevor sie aus dem Fenster sah. Vor ihnen lag der Dschungel, der in der nun einsetzenden Dämmerung bedrohlich wirkte. Und obwohl sie froh war, Las Estadas zu verlassen, wirkten die Lichter des Dorfes im Rückspiegel anheimelnd und irgendwie tröstlich. Schließlich wusste sie kaum etwas über diesen Mann. Señor Allendes Verhalten hatte Respekt und Angst verraten. Doch wovor oder vor wem er sich fürchtete, musste sie erst herausfinden.

„Wie weit ist es nach San Luis de Merced?“, erkundigte sich Caroline, ohne auf Luis de Montejos Frage einzugehen.

„Nicht weit“, erwiderte er ruhig. „Knapp fünfundzwanzig Meilen. Warum? Haben Sie Angst, dass Sie mir auch nicht vertrauen können?“

Unwillkürlich befeuchtete sie sich die Lippen. „Kann ich es denn?“

Flüchtig sah er sie an. „Sicher, Señorita.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Von mir haben Sie nichts zu befürchten.“

Lange bevor sie ihr Ziel erreichten, war es dunkel. Die Nacht war schnell hereingebrochen und hatte die Bäume am Straßenrand und die spärlichen Siedlungen in Schatten getaucht. Diese waren zwar kleiner als Las Estadas gewesen, aber genauso ärmlich. Caroline fragte sich, wie die Menschen unter solchen Umständen lebten, wo sie arbeiteten und welche Bildung ihre Kinder hatten. Zwischen dem Mann neben ihr und diesen armen Bauern schien eine große Kluft zu liegen, aber das behielt sie lieber für sich.

Sie kamen viel schneller voran, als sie irgendwann auf eine Fernstraße fuhren, doch nach kurzer Zeit verließen sie sie wieder und bogen in eine von Schlaglöchern übersäte Piste ein. Caroline hielt sich an ihrem Sitz fest, um nicht gegen ihren Begleiter geworfen zu werden, und spürte, wie er in ihre Richtung sah.

„Bereuen Sie, dass Sie hierhergekommen sind, Señorita?“, erkundigte er sich und überraschte sie wieder mit seiner Feinfühligkeit. „Keine Angst, das Wetter ist nicht immer so. Morgen scheint wieder die Sonne, und Sie sehen nicht nur hässliche, sondern auch schöne Dinge.“

Nun wandte sie den Kopf. „Sie geben zu, dass es in Mexiko hässliche Dinge gibt?“

„Die gibt es überall“, meinte er ausdruckslos. „Ich will damit nur sagen, dass Sie mein Land nicht nach seinen Unzulänglichkeiten beurteilen sollen. Wenn Sie das Positive suchen, finden Sie es auch.“

Caroline zögerte, bevor sie antwortete. „Das ist sehr tiefsinnig.“

„Ein ungebildeter Mann kann genauso tiefsinnig sein wie ein gebildeter“, bemerkte er, und im Schein des Armaturenbretts sah sie ihn lächeln. „Ich liebe mein Land, das ist alles.“

Seine Worte faszinierten sie genauso wie sein Äußeres. Sie hatte ihn von Anfang an attraktiv gefunden, aber nicht geahnt, was für ein anregender, humorvoller Gesprächspartner er offenbar war.

„Ihr Bruder …“, begann sie nachdenklich. „Er leitet eine Hazienda, stimmt’s? Arbeiten Sie mit ihm zusammen?“

Luis de Montejo schwieg einen Moment. „Ja, die Hazienda gehört Esteban. Aber er leitet sie nicht. Das macht sein Verwalter.“

„Und was bauen Sie an? Getreide? Mais?“

„Wir züchten Vieh“, erwiderte er trocken. „Mein Bruder hat viele Gauchos. Es ist ein großes Anwesen.“

Caroline nickte. Das wusste sie von Señora Garcia. Sie hatte ihr auch von ihrer Enkelin Emilia erzählt …

„Ihre Nichte ist ein Einzelkind, nicht wahr?“

Wieder zögerte er, bevor er antwortete. „Ja“, sagte er dann. „Emilias Mutter ist bei der Geburt gestorben.“

„Oh!“ Das hatte Señora Garcia ihr verschwiegen. „Das muss sehr schlimm für Ihren Bruder gewesen sein.“

„Ja.“

Sie fragte sich, ob sie es sich nur einbildete oder ob er tatsächlich kurz angebunden geklungen hatte. Sicher war der Tod seiner Frau Señor Montejo nicht egal.

Allerdings wurde ihr klar, dass sie kaum etwas über diese Familie wusste. Deswegen hatten ihre Eltern auch Bedenken gehabt. Und bestimmt hätten sie sie von ihrem Vorhaben abgebracht, wenn sie sich nicht so sicher gewesen wären, was ihre Beziehung zu Andrew Lovell anging. So hatten sie sie schweren Herzens gehen lassen.

„Sie sind ziemlich jung für so einen Job“, bemerkte Montejo jetzt und verzog dann ironisch den Mund. „Aber englische Frauen sind immer noch emanzipierter als mexikanische. Sie sind freier.“

„Haben Sie etwas dagegen, Señor?“, konterte Caroline betont fröhlich und wartete dann etwas unbehaglich auf seine Reaktion.

„Es geht mich nichts an.“ Gleichgültig zuckte er die Schultern.

„Sie müssen doch irgendeine Meinung haben“, erklärte sie ungeduldig.

Geschickt wich er einem Schlagloch aus. „Sagen wir, ich vertrete die übliche chauvinistische Einstellung. Eine Frau ist kein Mann und sollte auch nicht versuchen, sich so zu verhalten.“

„Glauben Sie etwa, ich tue das?“, rief sie ärgerlich.

Sein Lachen klang sehr sexy. „Dass Sie eine Frau sind, ist unverkennbar“, erwiderte er trocken, und sie verspürte ein sinnliches Prickeln. „Ich wollte damit nur sagen, dass der Mann normalerweise die Rolle des Jägers spielt und man sich zwangsläufig verändert, wenn man sich ständig anpasst.“

Caroline blickte nach vorn und sah im Lichtkegel der Scheinwerfer einen großen Kaktus und ein Tier, das über die Straße lief. Sie fand es nicht besonders schmeichelhaft, mit einem Mann verglichen zu werden, auch wenn es nur indirekt war.

„Ich glaube, ich habe Sie gekränkt“, sagte Luis nun. „Tut mir leid, das wollte ich nicht. Aber Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt.“

Caroline zuckte die Schultern. „Das haben Sie nicht. Ich habe nur gerade überlegt, was ich sagen soll.“

Flüchtig wandte er sich zu ihr um und lächelte sie an. „Tut mir wirklich leid. Sie sind eine richtige Frau, und ich bewundere Sie, weil Sie diesen Schritt gemacht haben.“

„Ich hoffe nur, dass Ihr Bruder etwas toleranter ist“, bemerkte sie trocken.

Einen Moment lang herrschte angespanntes Schweigen, und sie überlegte, ob sie etwas Falsches gesagt hatte.

„Oh ja“, meinte er dann ironisch. „Esteban ist viel toleranter als ich. Schließlich hat er Sie eingestellt.“

Seine Antwort verunsicherte sie sehr. Gerade war die unterschwellige Angst verflogen, die sie seit dem Vorfall im Hotel verspürt hatte, doch nun fühlte sie sich wieder allein und sehr verletzlich.

„Wie weit ist es noch?“, fragte sie, um das Schweigen zu brechen.

Luis blinzelte in die Dunkelheit. „Wir sind in fünf Minuten da. Sind Sie müde? Oder hungrig? Die Haushälterin meines Bruders hat bestimmt für Sie gekocht.“

„Und … Ihre Tante?“, hakte sie nach. „Señora Garcia hat mir erzählt, dass sie auch auf der Hazienda lebt.“

„Das stimmt. Sie ist nach San Luis gekommen, als mein Vater ihre Schwester geheiratet hat. Sie hat immer allein gelebt und betrachtet die Hazienda als ihr Zuhause.“

Das beruhigte sie, denn die Vorstellung, mit einer alten Dame unter einem Dach zu leben, war nicht so unangenehm wie die, ständig einem Mann zu begegnen, dessen Frau bei der Geburt ihres einzigen Kindes gestorben war und der womöglich gar nicht um sie trauerte. Starr blickte Caroline nach vorn. Die Straßenverhältnisse waren denkbar schlecht. War dies die einzige Verbindung zur Außenwelt?

Caroline war so in Gedanken versunken, dass sie vergaß, sich festzuhalten, als Luis de Montejo um eine Kurve fuhr und dann plötzlich scharf bremste. Prompt wurde sie gegen ihn geschleudert und klammerte sich unwillkürlich an ihn.

„Dios mio!“, sagte er, nachdem der Wagen zum Stehen gekommen war. Dann stellte er den Motor ab und legte den Arm um sie. „Haben Sie sich wehgetan? Tut mir leid. Offenbar hat es einen Erdrutsch gegeben. Bei einem Unwetter kommt das manchmal vor.“

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und sie atmete unregelmäßig, das Gesicht an seinem weichen Pullover. Sein maskuliner Duft stieg ihr in die Nase, und sie spürte seine Muskeln. Er strahlte eine solche Ruhe und Stärke aus, dass sie sich wunderbar geborgen fühlte.

„Miss Leyton!“ Seine Stimme klang rau und verriet eine gewisse Zurückhaltung. „Was ist los? Sind Sie verletzt?“

Seine Worte brachten sie zur Besinnung, und Caroline löste sich von ihm. Sofort zog er den Arm zurück und sprang aus dem Wagen.

Es regnete immer noch, und nachdem er seine Jacke übergestreift und eine Schaufel aus dem Kofferraum genommen hatte, begann er im Licht der Scheinwerfer zu arbeiten. Neben der Piste gab es einen Graben, in den er die Steine und den Schlamm schaufelte. Sie beobachtete ihn, während sie die Fassung wiederzugewinnen versuchte, denn der Beinahe-Unfall und der intime Körperkontakt mit ihm hatten sie völlig durcheinandergebracht. In dem kurzen Moment in seinen Armen hatte sie ein erwartungsvolles Prickeln verspürt, und hätte er die Lippen auf ihre gepresst, hätte sie den Kuss bereitwillig erwidert.

Diese Erkenntnis schockierte sie, nicht nur wegen ihrer Gefühle für Andrew, sondern auch, weil sie de Montejo gerade erst kennengelernt hatte. Kaum hatte sie seine Nähe und seinen Atem an ihrer Wange gespürt, war sie schwach geworden. Mit zitternden Fingern strich sie sich durch das schulterlange Haar. Sicher hatte er gemerkt, wie sie empfand, und amüsierte sich jetzt über sie, weil sie so emanzipiert getan hatte. Vielleicht sollte sie ihm dankbar sein, dass er die Situation nicht ausgenutzt hatte. Es wäre ihr sehr unangenehm gewesen, Señor Montejo gegenüberzutreten, nachdem sie seinen Bruder geküsst hätte.

Wenige Minuten später öffnete Luis de Montejo den Kofferraum und warf die Schaufel hinein. Caroline verspannte sich, als er sich dann wieder neben sie setzte. Diesmal behielt er seine Jacke an, und der Geruch des feuchten Stoffes stieg ihr in die Nase.

„Ist Ihnen wirklich nichts passiert?“, hakte er höflich, aber merklich kühler als vorher nach.

Sie schüttelte den Kopf. „Die Straßen hier sind wirklich unberechenbar.“

„Und gefährlich“, fügte er grimmig hinzu, bevor er den Motor wieder anließ und den Gang einlegte. „Jetzt kommen wir nach San Luis de Merced.“

Caroline blickte aus dem Fenster. Die Häuser in dem Dorf, das genauso hieß wie das Anwesen von Esteban de Montejo, waren aus Lehmziegeln erbaut und fast alle Fenster erleuchtet. Da de Montejo jetzt langsam fuhr, öffnete sie die Scheibe einen Spaltbreit und stellte fest, dass es trotz des Regens nach Rauch und Essen roch. Einige Türen waren geöffnet, und auf den Schwellen standen Kinder, die ihnen zuwinkten. Jemand rief etwas, das wie padre klang, und Luis de Montejo hob die Hand zum Gruß.

Sobald sie das Dorf hinter sich gelassen hatten, gab er wieder Gas und steuerte den Range Rover einen von Bäumen gesäumten Weg bergauf. Krampfhaft hielt Caroline sich an ihrem Sitz fest, bis er vor einem hohen Tor in einer grauen Steinmauer hielt.

Ihr Herz begann vor Nervosität schneller zu schlagen. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Dass das Anwesen wie ein Gefängnis gesichert war, gab ihr zu denken.

Nachdem Luis de Montejo den Wagen gestoppt hatte, sprang er hinaus und hämmerte ans Tor. Kurz darauf wurde es von einem älteren Mann geöffnet, der wie so viele Mexikaner auf dem Land ein Hemd mit einer Weste, eine weite Hose und einen Hut trug. Als sie weiterfuhren, nahm er den Hut ab, um sie zu begrüßen, bevor er das Tor hinter ihnen schloss.

„Das war Gomez“, erklärte Luis, als Caroline einen Blick über die Schulter warf. „Er hat als Gaucho für meinen Bruder gearbeitet, aber jetzt ist er zu alt dafür und bewacht stattdessen das Tor.“

„Eine verantwortungsvolle Aufgabe“, erwiderte sie leise und wünschte, sie wäre nicht so angespannt.

Während sie den gepflasterten Weg entlangfuhren, betrachtete sie das erleuchtete Gebäude, das im Dunkeln vor ihnen lag. Mit den hohen Mauern und Stützpfeilern erinnerte es sie an eine mittelalterliche Festung, und nachdem sie an einigen Nebengebäuden und Stallungen vorbeigekommen waren, erreichten sie durch einen Torbogen den Eingang.

De Montejo hielt vor einer Treppe, die zu einer Holztür führte. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen. Als Caroline ausstieg, war es angenehm mild, und das Frösteln, das sie beim Anblick des Hauses überkommen hatte, verschwand. Der süße Duft von Oleander und Hibiskus erfüllte die Luft und stimmte sie versöhnlich. Sie war entschlossen, sich nicht von dem unangenehmen Vorfall mit dem Hotelbesitzer beeinflussen lassen und ihrem neuen Zuhause unvoreingenommen zu begegnen.

Noch während de Montejo ihr Gepäck auslud, wurde die Eingangstür geöffnet. Eine untersetzte Frau mit rundlichem Gesicht kam die Treppe hinunter, um sie zu begrüßen. Caroline fand sie auf Anhieb sympathisch.

„Das ist Consuella, die Haushälterin“, informierte Luis sie. Einen Koffer in der Hand, stand er nun neben ihr. „Sie spricht kaum Englisch.“

„Buenas tardes, señor“, wandte Consuella sich an ihn, sah dabei allerdings Caroline an. „Buenas tardes, señorita. Bienvenido.“

„Danke – gracias.“ Ein wenig unsicher sah sie Luis de Montejo an.

Der neigte aber nur den Kopf und sagte leise „Muy bien“, als sie der lebhaft gestikulierenden Consuella die Treppe hinauffolgten. Er fügte noch etwas auf Spanisch hinzu.

Sie drehte sich zu ihm um. „Ich verstehe Sie nicht“, flüsterte sie, und sein Lächeln erinnerte sie auf beunruhigende Weise an ihre Gefühle nach dem unerwarteten Körperkontakt im Wagen.

„Es ist nicht wichtig“, versicherte er, woraufhin sie seufzte. „Esteban hat in Oxford studiert. Mit ihm werden Sie bestimmt keine Verständigungsprobleme haben.“

Seinen Unterton nahm sie nicht mehr wahr, weil sie jetzt die von zahlreichen indirekten Lichtquellen erleuchtete Eingangshalle betrat. Fasziniert blickte sie sich in dem exquisit ausgestatteten Raum um. Die von hohen Säulen getragene gewölbte Decke vermittelte den Eindruck von Großzügigkeit, und zahlreiche geschnitzte Friese und Intarsienarbeiten unterstrichen das barocke Ambiente. Eine beeindruckende Marmortreppe mit schmiedeeisernem Geländer führte nach oben zur Galerie, und der Fußboden war aus demselben Material und im Schachbrettmuster gehalten. Diese Schönheit machte die Furcht einflößende Fassade mehr als wett.

Caroline wandte sich zu Luis de Montejo um und blickte ihn fragend an.

„Wie Sie sehen, lebt mein Bruder auf großem Fuß“, bemerkte er spöttisch, und bevor sie etwas erwidern konnte, ließ sich eine andere Stimme vernehmen.

„Señorita Leyton?“, fragte jemand etwas undeutlich. „Sie sind es doch, oder? Hola! Willkommen auf der Hazienda Montejo. Ich hoffe, Sie werden hier glücklich sein.“

Ein wenig schuldbewusst wegen ihrer anfänglichen Bedenken, drehte Caroline sich um und sah einen Mann auf sich zukommen. Es konnte niemand anders als Esteban Montejo sein. Er war groß, allerdings etwas kleiner als sein Bruder und viel kräftiger. In dem eleganten dunklen Anzug, den er trug, passte er in diese Umgebung. Das einzige Zugeständnis an das Klima war die Tatsache, dass er keine Krawatte trug und den obersten Knopf seines Hemdes geöffnet hatte. Was Caroline jedoch beunruhigte, waren seine leicht unsicheren Bewegungen und sein selbstgefälliger Gesichtsausdruck.

„Das ist mein Bruder, Esteban de Montejo“, erklärte Luis höflich-distanziert.

Esteban Montejo nahm ihre Hand und führte sie galant an die Lippen. „Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Señorita.“ Er betrachtete sie eingehend, und sie kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an, weil er stark nach Alkohol roch.

Entschlossen entzog sie ihm ihre Hand und rang sich ein Lächeln ab. „Sie … haben ein sehr schönes Haus, Señor“, sagte sie leise. „Es … ist ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte.“

Esteban de Montejo machte einen Schritt zurück und blickte sichtlich stolz zur Decke. „Gefällt es Ihnen?“, erkundigte er sich lässig. „Es ist ein ziemlich bescheidenes Domizil im Vergleich zu den Palästen, die meine Familie in Cadiz zurückgelassen hat, Señorita.“ Er zuckte die Schultern. „Aber …“, jetzt sah er sie wieder an, und sie stellte fest, dass seine Augen viel dunkler waren als die seines Bruders, „… es erfüllt seinen Zweck. Und hier ist Platz genug für die anderen drei Mitglieder meiner Familie.“

„Oh …“ Caroline zog die Brauen hoch und blickte Luis de Montejo fragend an. Lebte er etwa nicht hier?

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fuhr Esteban de Montejo fort: „Ach, Sie meinen Luis? Hat er es Ihnen denn nicht erzählt?“ Ironisch verzog er den Mund. „Er wohnt nicht hier, Miss Leyton. Genau wie sein Namensvetter ist er auf der Suche nach Unsterblichkeit. Er lebt in Mariposa, im Priesterseminar von San Pedro de Alcantara.“

2. KAPITEL

Als Caroline am nächsten Morgen aufwachte, hatte sie ein ungutes Gefühl. Sie blieb noch einige Minuten in dem großen barocken Himmelbett liegen und ließ den vergangenen Abend Revue passieren. Dann schlug sie die Decke zurück und setzte sich auf, entschlossen, sich den Tag nicht davon verderben zu lassen.

Neben ihrem Bett lag ein Läufer aus Alpakawolle, der sich unter ihren bloßen Füßen herrlich weich anfühlte. Ich werde die vier Wochen durchhalten, egal, was passiert, nahm sie sich vor. Doch es würde sicher nicht leicht werden.

Das Abendessen mit Esteban und Luis de Montejo war seltsam unwirklich gewesen. Schon bei der Begrüßung hatte sie gemerkt, dass ihr Arbeitgeber getrunken hatte, und auch während der Mahlzeit ließ er sich ständig Wein nachschenken. Sie saßen an einem festlich gedeckten langen Mahagonitisch in dem elegant eingerichteten Speisezimmer und wurden von den Angestellten mit einem mehrgängigen Menü verwöhnt.

Caroline bekam vor Aufregung kaum einen Bissen hinunter, und auch, weil sie feststellte, dass Esteban sie die ganze Zeit kaum aus den Augen ließ und ihr deutlich zu verstehen gab, wie sehr er ihre Gesellschaft genoss.

Sein Bruder hingegen aß mit großem Appetit, trank nur ein Glas Wein und behielt seine Gedanken für sich. So hatte sie Estebans Fragen beantworten müssen und fasziniert und schockiert zugleich mit angesehen, wie er Luis ganz bewusst ständig provozierte.

Caroline stand auf und ging auf dem kühlen Fliesenboden zum Fenster. Dann zog sie die Gardine zurück, öffnete einen Flügel und sah hinaus.

Am Abend hatte sie außer einigen hohen Bäumen am Rand der Auffahrt nichts wahrgenommen, weil es dunkel gewesen war. Aber nun leuchtete der Himmel in strahlendem Blau, und der Ausblick war einfach atemberaubend. Im Sonnenschein wirkte sogar die Mauer, die das Anwesen umgab, nicht mehr bedrohlich, sondern schimmerte rosafarben.

Caroline ließ den Blick in die Ferne schweifen. Irgendwo am Horizont zeichnete sich ein Kirchturm gegen den Himmel ab. Ein von üppigen Büschen gesäumter Fluss schlängelte sich durch die karge Landschaft, verschwand dann in einer Schlucht und tauchte in der Ferne als schimmerndes breites Band wieder auf. Sie blinzelte einige Male. Nein, das letzte Stück war kein Fluss, sondern das Meer. Sofort besserte sich ihre Stimmung. Sie hatte zwar gewusst, dass Yucatán eine Halbinsel war, es aber nicht für möglich gehalten, dass San Luis de Merced so dicht am Ozean lag. Tief atmete sie durch, als könnte sie schon die salzige Luft inhalieren.

Dann nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung in der Nähe wahr. In einiger Entfernung vom Haus graste eine Rinderherde, und staunend stellte Caroline fest, dass es sich um mehrere Hundert Tiere handeln musste. Ob man nur über die Weiden zum Fluss gelangte?

Sie würde es sicher bald herausfinden. Aber nun musste sie sich erst einmal auf ihren Job konzentrieren. Bisher hatte sie weder ihre Schülerin Emilia noch Señora de Montejo kennengelernt.

Caroline blickte auf die Uhr. Da es noch nicht einmal acht war, beschloss sie, im angrenzenden Bad zu duschen. Am Abend war sie zu erschöpft gewesen, um die luxuriöse Ausstattung wahrzunehmen, und hatte sich nur kurz frisch gemacht, doch nun sah sie sich begeistert um.

Wie alle anderen Räume, die sie bisher betreten hatte, war auch das Bad sehr prunkvoll. Die Sanitärobjekte waren wie der Fußboden aus Marmor und hatten vergoldete Armaturen, die zu dem großen rechteckigen Spiegel an der Wand passten. Nachdem sie sich ausgezogen hatte, stellte Caroline sich in die Duschwanne und drehte das Wasser auf, das herrlich warm war.

Während sie sich danach mit einem der flauschigen Handtücher aus dem Regal abtrocknete, kehrte sie ins Schlafzimmer zurück. Ihre Koffer hatte sie noch nicht ausgepackt, aber das musste bis später warten.

Schnell unterdrückte sie den flüchtigen Wunsch, Luis zu bitten, sie mitzunehmen, wenn er nach Mariposa aufbrach. Sie warf das Handtuch aufs Bett und suchte in einem der Koffer nach ihrer Unterwäsche. Als sie sich wieder aufrichtete, fiel ihr Blick in den großen Spiegel neben dem Bett, der dem im Bad ähnelte.

Versonnen betrachtete sie sich eine Weile darin. Ihre Brüste waren klein und fest, und die rosigen Spitzen hatten sich beim Abtrocknen aufgerichtet. Auch sonst war sie mit ihrer Figur zufrieden, denn sie war schlank und hatte einen flachen Bauch. Das Schönste an ihr waren ihre langen Beine, wie sie fand, doch Andrew behauptete immer, alles an ihr sei begehrenswert.

Unwillkürlich befeuchtete Caroline sich die Lippen. Seltsamerweise dachte sie in diesem Moment nicht an Andrew, sondern an Luis de Montejo und die beunruhigenden Empfindungen, die er in ihr weckte. Noch nie war sie einem so maskulinen Mann wie ihm begegnet, der zudem auch noch ein katholischer Priester zu sein schien. Reverend Thomas, der Pfarrer in ihrem Heimatort St. David, hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem Mexikaner, der sie vor dem aufdringlichen Hotelbesitzer gerettet hatte, und selbst jetzt fiel es ihr schwer, Luis mit der Kirche in Verbindung zu bringen.

Luis … Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte sie seinen Namen ausgesprochen. Nervös biss sie sich auf die Lippe, während sie sich an Estebans Verhalten beim Abendessen erinnerte. Er war seinem Bruder gegenüber unverhohlen feindselig gewesen und hatte dessen Leben immer wieder ins Lächerliche gezogen. Sie fühlte sich zunehmend unbehaglicher, was er offenbar noch mehr auskostete als die Gleichgültigkeit seines Bruders.

Luis hingegen gab sich distanziert und bewies innere Stärke, indem er nicht darauf einging. Das wiederum schien Esteban in den Wahnsinn zu treiben, denn er ließ sich noch öfter nachschenken und wurde immer ausfallender. Irgendwann war er so angetrunken, dass einer seiner Angestellten ihn in sein Schlafzimmer begleiten musste, und Caroline schien es, als wäre es nicht das erste Mal.

Nun, da sie mit Luis allein war, hätte sie ihn am liebsten zur Rede gestellt und ihn gefragt, warum er sie nicht vor seinem Bruder gewarnt hatte. Aber falls sie es überhaupt jemandem vorwerfen konnte, dann Señora Garcia. Im Nachhinein war ihr allerdings bewusst geworden, dass die Stellenausschreibung offenbar bewusst mehrdeutig formuliert gewesen war. Und es war ihre Entscheidung gewesen, hierherzukommen. Falls das Ganze sich also als Desaster erwies, musste sie einen Weg finden, sich aus der Situation herauszumanövrieren.

Caroline lächelte grimmig, als sie sich an ihr Gespräch mit Luis während der Fahrt erinnerte. Was mochte er gedacht haben, als sie sich so emanzipiert gab? Und er hatte es geschickt vermieden, über seinen Bruder zu sprechen.

Sie stieß einen ungeduldigen Laut aus, bevor sie BH und Slip überstreifte. Nachdem sie ihren knielangen olivfarbenen Leinenrock, eine kurzärmelige weiße Baumwollbluse und ihre flachen Sandaletten aus dem Koffer genommen und angezogen hatte, betrachtete sie sich im Spiegel. Ihr langes aschblondes Haar, das sie in der Mitte gescheitelt hatte, konnte sie in diesem Klima gut an der Luft trocknen lassen.

Gerade zog sie sich die Lippen mit einem farblosen Gloss nach, als es klopfte. „Herein!“, rief sie und wandte sich um.

Es dauerte einige Sekunden, bis die Tür vorsichtig geöffnet wurde. Eine junge Mexikanerin stand draußen mit einem Tablett in den Händen. Wie alle anderen weiblichen Hausangestellten trug sie ein schwarzes Kleid mit einer weißen Schürze.

Caroline legte ihren Lipgloss weg und lächelte. „Sie können das Tablett dorthin stellen“, erwiderte sie, während sie auf einen kleinen Mosaiktisch am Fenster zeigte. „Wie heißen Sie?“, fragte sie auf Spanisch.

Nachdem die junge Frau das Tablett abgestellt hatte, straffte sie sich und faltete nervös die Hände. „Carmencita, Señorita.“ Mit ihren großen dunklen Augen blickte sie sich im Raum um.

Caroline seufzte. Sie vermutete, dass die junge Frau Anweisung hatte, nicht mit der neuen Lehrerin zu tratschen. Deswegen bedeutete sie ihr, dass sie gehen konnte.

Sobald sie wieder allein war, ging sie mit einem unguten Gefühl auf den kleinen Tisch zu. Sie hätte lieber unten gefrühstückt und sich an die neue Umgebung gewöhnt, bevor sie ihre Schülerin kennenlernte. Aber offenbar musste sie sich an die Regeln halten. Sie setzte sich auf einen Stuhl und nahm die silbernen Abdeckhauben herunter. Dann schenkte sie sich Kaffee ein und aß mit Appetit zwei Brötchen mit Marmelade und probierte das Rührei.

Nach dem Essen stand sie auf und ging in den Flur. Am Vorabend hatte Consuella sie auf Luis’ Bitte hin in ihr Zimmer begleitet. Offenbar hatte Luis in diesem Haus genauso viel zu sagen wie sein Bruder, und es schien so, als hätten die Angestellten viel mehr Respekt vor ihm. Esteban und er hätten nicht verschiedener sein können.

Caroline ließ den Blick durch den langen Flur schweifen. Die weißen Mauern wurden durch Holzpaneele und eine Ahnengalerie aufgelockert und gingen in eine reich verzierte gewölbte Stuckdecke über. Da es keine Fenster gab, bildeten die zahlreichen Wandleuchter die einzigen Lichtquellen. Am Vorabend war sie zu müde gewesen, doch jetzt fiel ihr auf, wie abgeschieden ihr Raum in diesem Flügel lag.

Als sie den Korridor entlangeilte, wurden ihre Schritte von dem weichen schwarzen und goldfarbenen Teppich geschluckt. Auf der Galerie blieb sie einen Moment stehen, um tief durchzuatmen und ihre Ängste zu verdrängen. Sie durfte sich von all diesem Luxus nicht beeinflussen lassen und musste ihren Arbeitgeber ganz nüchtern betrachten.

Unten in der Eingangshalle war niemand zu sehen. Caroline zögerte einen Moment lang, weil sie nicht wusste, wohin sie gehen sollte. Als sie plötzlich fröhliches Kinderlachen hörte, atmete sie erleichtert auf. Offenbar gab es hier zumindest einen Menschen, der Esteban mochte – seine kleine Tochter.

Caroline ging in Richtung des Salons, blieb allerdings auf der Schwelle des bogenförmigen Eingangs stehen. Bei dem pummeligen kleinen Mädchen mit dem langen schwarzen Haar, das ein geblümtes Sommerkleid trug, musste es sich um ihre Schülerin handeln, doch der Mann, der auf allen vieren über den Fußboden kroch und auf dem sie ritt, war nicht ihr Vater.

„Ah, Miss Leyton! Guten Morgen!“

Luis de Montejo hob seine Nichte, die heftig protestierte, vorsichtig hinunter, bevor er aufsprang und ihr beruhigend über den Kopf strich. Er trug dieselbe Hose wie am Vortag und ein Poloshirt, das am Kragen offen stand und den Blick auf seinen gebräunten Hals freigab. Er wirkte lässig und sehr anziehend, und fasziniert betrachtete Caroline seine durchtrainierten Arme.

„Tio Vincente!“ Ungeduldig zupfte die Kleine an seinem Poloshirt. „Wer ist das?“, rief sie auf Spanisch, während sie Caroline finster musterte.

„Pst. Denk dran, du musst Englisch sprechen“, ermahnte Luis sie leise. „Miss Leyton ist hier, um dir das Rechnen beizubringen, und das weißt du genau. Also sei bitte nett zu ihr.“

Sie machte einen Schmollmund. „Ich kann rechnen“, verkündete sie in akzentfreiem Englisch. „Miss Thackeray hat es mir beigebracht … auch das Schreiben. Ich brauch keine Lehrer mehr.“

Caroline krauste die Stirn. War diese Miss Thackeray ihre Vorgängerin gewesen? Und wenn ja, warum war sie nicht mehr hier?

„Miss Thackeray war meine Hauslehrerin“, informierte Luis sie trocken, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Sie hat von meinem sechsten Lebensjahr an hier gelebt. Leider ist sie letztes Jahr gestorben, und seitdem hatte Emilia keinen Unterricht mehr. Mein Bruder hat schon Ärger mit den Behörden bekommen.“

„Ach so.“ Caroline versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Einen Augenblick lang hatte sie gefürchtet, sie wäre die letzte von zahlreichen Hauslehrerinnen, die es auf der Hazienda alle nicht ausgehalten hatten.

„Es gefällt Ihnen hier bestimmt nicht“, wandte die Kleine sich nun an sie. „Es gibt Schlangen, Spinnen und sogar Fledermäuse, die Blut saugen!“ Sie schnitt eine Grimasse. „Glauben Sie an Vampire, Miss Leyton? Wenn nicht, sind Sie genauso naiv, wie Sie aussehen!“ Und ehe Caroline oder ihr Onkel sie davon abhalten konnten, stürmte sie aus dem Raum.

Caroline war zunächst sprachlos. „Und, was soll ich jetzt machen?“, meinte sie schließlich.

Luis presste die Lippen zusammen. „Das fragen Sie mich?“

„Wen sonst? Hier ist ja niemand.“ Langsam atmete sie aus. „Ist sie immer so?“

Schulterzuckend hakte er die Finger in die Gürtelschlaufen seiner Hose. „Sie dürfen nicht so streng mit ihr sein. Emilia … wächst unter ziemlich ungewöhnlichen Umständen auf.“

„Das kann ich mir denken!“, sagte sie nachdrücklich.

„Ich will damit nicht sagen, dass sie nicht lieb sein kann. Aber sie hatte nie eine Mutter.“

„Und was ist mit Ihrer Tante?“

„Tia Isabel ist ein bisschen … weltfremd.“ Nach einer Pause fuhr Luis fort: „Miss Thackeray war Emilias Ein und Alles. Als sie starb …“

„Und ihr Vater? Er ist doch bestimmt …“ Caroline verstummte und fügte dann etwas zusammenhanglos hinzu: „Sie beide sind sehr verschieden.“

Er kniff die Augen zusammen. „Ich wüsste nicht, was das zur Sache tut.“

„Gar nichts. Ich wünschte nur …“ Wieder verstummte sie. „Gibt es hier wirklich Fledermäuse, die Blut saugen?“

Nun erschien ein weicher Zug um seinen Mund. „Was ist, wenn ich Ja sage? Fahren Sie dann zurück nach Mérida?“

Luis zog sie auf, aber sie fand es nicht lustig. „Vielleicht, wenn ich könnte.“

Seine Miene wurde ernst. „Ich muss los.“ Entschlossen ging er zur Tür. „Ich habe Tomas versprochen, heute Morgen mit ihm zu reiten.“

„Warten Sie …“ Caroline eilte ihm nach und blickte ihn flehend an. „Was soll ich jetzt mit Emilia machen? Wo ist sie? Und wann fängt ihr Unterricht an? Und … darf ich mit ihr nach draußen gehen?“

Auf der Schwelle blieb er stehen und betrachtete sie nachdenklich. Sein Blick beunruhigte sie zutiefst, und ihr stockte der Atem.

„Das fragen Sie am besten meinen Bruder“, sagte er schließlich ein wenig steif. „Er ist Ihr Arbeitgeber, nicht ich. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen …“

„Sie … wollen doch nicht etwa gehen?“ Ohne nachzudenken, umfasste sie seinen Arm. Als sie seine Muskeln spürte, erschauerte sie, doch er befreite sich unvermittelt aus ihrem Griff.

„Ich kehre in drei Tagen nach Mariposa zurück, Miss Leyton“, informierte er sie schroff, bevor er das Zimmer verließ.

Caroline wandte sich um. Natürlich war es nicht richtig gewesen, Luis anzufassen, aber sie hatte überhaupt nicht nachgedacht. Außerdem war er der Einzige hier, zu dem sie Vertrauen hatte, und seine Abreise stand ihr schon jetzt bevor.

„Señorita!“, ließ sich plötzlich eine leise Frauenstimme vernehmen.

Verwirrt blickte Caroline sich um, denn sie hatte angenommen, sie sei allein. Nun sah sie, dass die Tür zu einem weiteren Wohnzimmer offen war und eine zierliche ältere Frau in einem eleganten schwarzen Kleid auf der Schwelle stand. Sie hatte welliges grau meliertes Haar und trug Ohrringe und zahlreiche Ringe mit funkelnden Juwelen.

„Señora de Montejo?“, erkundigte Caroline sich nervös, woraufhin die Frau nickte. „Guten Tag. Ich bin Caroline Leyton … Emilias neue Privatlehrerin.“

„Privatlehrerin, von wegen!“, sagte Señora de Montejo mit starkem Akzent, während sie einige Schritte näher kam und sie verächtlich musterte. „Sie sind Estebans neueste puta! Glauben Sie, Sie könnten mich täuschen? Ich lebe schon zu lange hier.“

Wieder einmal war Caroline sprachlos. Trotz ihrer begrenzten Spanischkenntnisse wusste sie, dass puta Flittchen bedeutete – eine ungeheure Beleidigung.

„Señora …“, begann sie empört, doch die alte Dame ließ sie nicht ausreden.

„Ich unterhalte mich nicht mit putas!“, verkündete sie überheblich. „Wie können Sie es wagen, das Wohnzimmer meiner Schwester zu betreten? Wie …?“

„Das reicht, Tia Isabel!“

Beim Klang der kultivierten Stimme ihres Arbeitgebers drehte Caroline sich erleichtert zu diesem um. Allmählich hatte sie den Eindruck, dass alle in diesem Haus verrückt waren. Daher erschien es ihr fast wie ein Wunder, dass Esteban nüchtern und ruhig wirkte.

„Puta!“, rief Señora de Montejo schrill. „Wie kann Esteban es wagen, seine Frauen in das Wohnzimmer meiner Schwester …“

„Mein Vater ist tot, Tia Isabel“, erklärte er ausdruckslos und machte eine entschuldigende Geste in Carolines Richtung. „Bitte verzeihen Sie das Verhalten meiner Tante, Miss Leyton. Sie ist manchmal etwas … vergesslich.“

Verwirrt schüttelte Caroline den Kopf, während die alte Dame die Stirn krauste und die Worte ihres Neffen verarbeitete.

„Esteban ist tot?“, wiederholte sie, die dünnen Brauen hochgezogen. „Wer … wer ist dann diese Frau? Was macht sie in San Luis de Merced?“

„Miss Leyton ist Emilias neue Privatlehrerin“, erwiderte Esteban ruhig. „Ich habe dir von ihr erzählt. Sie kommt aus England und wird Emilia unterrichten.“

Argwöhnisch betrachtete sie Caroline. „Aber sie hat mit Luis gesprochen. Ich habe beobachtet, wie sie ihn angesehen hat.“

„Deine Fantasie geht mit dir durch“, sagte er, zunehmend ungeduldiger. „Setz dich wieder in deinen Sessel. Ich habe einiges mit Miss Leyton zu besprechen.“

Nach kurzem Zögern gab Señora de Montejo nach und verschwand mit einer dramatischen Geste im Nebenzimmer. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, faltete Caroline nervös die Hände.

„Bitte setzen Sie sich“, wandte Esteban sich jetzt freundlich an sie. „Ich kann Sie nur um Nachsicht für das Verhalten meiner Tante bitten.“ Er seufzte. „Sie ist die Schwester meiner Mutter, hat nie geheiratet und neigt leider dazu, sich in Wahnvorstellungen über meinen Vater hineinzusteigern.“

Sie setzte sich auf eins der eleganten Sofas mit einem Streifenbezug aus Satin und blickte zu ihm auf. „Heißt das, sie hat von Ihrem Vater gesprochen?“

„Richtig. Ich wurde nach ihm benannt.“

„Ach so.“

„Und sie war natürlich ein wenig neidisch auf ihre Schwester, weil die so eine gute Partie gemacht hatte.“ Er lächelte, und seine weißen Zähne bildeten einen faszinierenden Kontrast zu seinem dunklen Teint. „Ist das bei alleinstehenden alten Damen nicht immer so?“

Caroline machte eine verlegene Geste, weil sie nicht wusste, was sie antworten sollte. Währenddessen setzte er sich neben sie aufs Sofa.

„Miss Leyton … Ich bin sehr froh, dass Sie hier sind. Emilia, meine Tochter, braucht unbedingt einen jungen Menschen um sich. Ich weiß nicht, wie viel Elena – Señora Garcia – Ihnen erzählt hat, aber nach dem Tod meiner Frau wurde Emilia von einer älteren Dame erzogen. Miss Thackeray war auch Engländerin.“

„Ja“, bestätigte sie.

„Sie hat keinen guten Einfluss auf sie ausgeübt“, fuhr er fort. „Wir hatten oft Meinungsverschiedenheiten, und Luis war immer auf ihrer Seite.“

„Tut mir leid.“

„Mir auch“, bekräftigte Esteban ernst. „Es ist traurig, wenn man sich mit seinen Blutsverwandten nicht versteht.“

Das Gespräch wurde ihr zu persönlich. „Oh, ich bin sicher …“, begann sie, verstummte allerdings, als er die Hand hob.

„Nein, das tun Sie nicht, Miss Leyton. So wie Tia Isabel auf ihre Schwester eifersüchtig war, ist Luis es auf mich.“ Er machte ein trauriges Gesicht. „Ich bin der Ältere, verstehen Sie? Ich habe das Anwesen geerbt, und Luis lebt von dem, was ich ihm gebe. Seine Mutter war die puta unseres Vaters.“

Als Caroline erstarrte, schien Esteban zu merken, dass er zu weit gegangen war. „Verzeihung.“ Er lehnte sich in die Kissen zurück. „Ich hätte nicht so gefühllos sein dürfen, aber ich kann einfach nicht vergessen, dass seine Mutter schuld am Tod meiner Mutter war.“ Mit den Fingern massierte er sich die Schläfen. „Meine Mutter hat sich umgebracht, wissen Sie. Sie hat sich aus einem Fenster gestürzt.“

„Aber …“ Sie schluckte mühsam. „Ihr … Bruder heißt auch Montejo.“

„Oh, ja.“ Wieder seufzte er. „Mein Vater hat seine Mutter danach geheiratet. Mein Bruder ist nicht unehelich – zumindest nicht auf dem Papier.“

3. KAPITEL

Nachdem er ihr erklärt hatte, warum Luis und er ein gespanntes Verhältnis hatten, gab Esteban sich ganz sachlich. Sichtlich stolz führte er Caroline durch die größten Räume seines Hauses und machte sie dabei auf bestimmte Möbelstücke und Dekorationsgegenstände aufmerksam, die eine außergewöhnliche Geschichte hatten. Er erzählte ihr einige Mythen und Legenden aus der Gegend, die sie schaudern ließen. Einige Kunstgegenstände verrieten den Einfluss des Katholizismus, andere spiegelten die ursprünglichen heidnischen Traditionen des Landes wider. Es war eine umfangreiche und sicher auch sehr wertvolle Antiquitätensammlung.

Caroline bewunderte gerade im Musikzimmer die azulejos, die glasierten blauen Fliesen, als sie spürte, wie jemand sie beobachtete. Als sie sich umdrehte, sah sie Emilia unschlüssig auf der Türschwelle stehen. Esteban wandte sich auch um und bedeutete ihr mit einer Geste, sich zu ihnen zu gesellen.

„Komm, Kleines“, meinte er freundlich. „Ich möchte dir Miss Leyton vorstellen. Sie ist deine neue Lehrerin, und es wäre schön, wenn ihr Freundinnen werden könntet.“

Emilia verharrte jedoch regungslos, ein Beweis dafür, dass Esteban nicht gelogen hatte, als er erzählte, sie würde ihm nicht gehorchen. Ob Luis daran schuld war, konnte man allerdings nicht sagen. Onkel und Nichte schienen sich jedenfalls sehr gut zu verstehen.

„Emilia! Komm sofort hierher!“, befahl Esteban nun scharf. „Sieh mal, was ich für dich habe.“ Er langte in seine Hosentasche. „Wenn du nicht kommst, gebe ich es dir nicht.“

Die Kleine seufzte und kam dann langsam auf sie zu, wobei sie Caroline kaum eines Blickes würdigte. Sobald sie vor ihrem Vater stand, neigte sie den Kopf, um zu sehen, was er in der Hand hielt.

Caroline wich einen Schritt zur Seite, weil sie Vater und Tochter nicht stören wollte. Es war das erste Mal, dass sie die beiden zusammen erlebte. Offenbar ähnelte Emilia mehr ihrer verstorbenen Mutter, denn mit ihrem Vater hatte sie nicht viele Gemeinsamkeiten.

Plötzlich packte dieser sie brutal am Arm. „Mach das nicht noch mal!“, fuhr er sie an. „Du wirst mich nicht vor Miss Leyton lächerlich machen, so wie du es immer bei Miss Thackeray versucht hast!“

Caroline war schockiert. Wie konnte man so mit einem Kind umgehen? Sie wollte gerade protestieren, als Emilia antwortete.

„Nein“, sagte sie mürrisch.

„So, und jetzt lächle gefälligst, und sag Miss Leyton Guten Tag, so wie es sich gehört!“

„Willkommen auf San Luis de Merced, Miss Leyton“, begrüßte die Kleine sie, und es klang wie auswendig gelernt. Auf Drängen ihres Vaters hin rang sie sich ein Lächeln ab. „Ich hoffe, Sie werden sich hier sehr wohlfühlen.“

Caroline riss sich zusammen. „Danke, Emilia“, erwiderte sie steif. „Das hoffe ich auch.“

„So, und jetzt zeigen wir Miss Leyton die Bibliothek“, verkündete Esteban und ließ den Arm seiner Tochter los. „Sie gefällt Ihnen bestimmt. Man ist dort ungestört, und ich habe viele interessante Erstausgaben.“

Tatsächlich erwies sich die Bibliothek als genauso beeindruckend wie die anderen Räume. Die deckenhohen Regale waren bestückt mit unzähligen ledergebundenen und goldgeprägten Bänden.

„Ich achte sehr darauf, dass meine Bücher in Schuss gehalten werden“, erklärte Esteban stolz. „Manchmal lasse ich einen Experten aus Mexiko City kommen, der alle durchsieht und bei Bedarf restauriert.“

Staunend blickte Caroline sich um. Mit einer verschiebbaren Leiter konnte man auch an die oberen Regale gelangen.

„Das ist Ihr Arbeitsplatz.“ Esteban zeigte auf einen antiken Schreibtisch, der genau wie die Regale aus dunkelbraunem Holz war. „Emilias Bücher liegen alle bereit, und wenn Sie mehr brauchen, kann ich es aus Mérida besorgen lassen.“

„Danke.“ Vorsichtig berührte sie den Stapel abgenutzter Lehrbücher und wandte sich dann zu Emilia um, die ihren Blick feindselig erwiderte.

„Ich lasse Sie jetzt allein, weil ich einiges mit meinem Vorarbeiter besprechen muss“, verkündete Esteban im nächsten Moment zu ihrer Erleichterung. „Beim Mittagessen können Sie mir von Emilias Fortschritten berichten. Hasta luego, Miss Leyton. Hasta luego, Emilia.“

Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sank Caroline auf den Ledersessel am Schreibtisch. Emilia stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und betrachtete sie eine Weile, bevor sie altklug erklärte: „Ich hab Ihnen doch gesagt, dass es Ihnen hier bestimmt nicht gefällt.“

Nachdem Caroline sie kurz angesehen hatte, nahm sie eins der Bücher vom Stapel und schlug es auf. „Schon möglich.“

„Warum hast du Esteban nicht erzählt, was ich zu dir gesagt habe?“

Dass die Kleine ihren Vater nicht Papa nannte, irritierte Caroline. Demonstrativ krauste sie die Stirn. „Was hast du denn gesagt?“

Emilia seufzte. „Das weißt du ganz genau. Das mit den Spinnen und den Fledermäusen, die Blut saugen.“

„Ach so“, meinte Caroline schulterzuckend. „Das hatte ich ganz vergessen. Und was interessiert es deinen Vater?“

„Nenn ihn nicht so!“, rief die Kleine vehement. „Er ist nicht mein Vater! Ich hasse ihn!“

„Emilia!“, ermahnte Caroline sie. „Er ist dein Vater, und so etwas sagt man nicht. Es … ist sehr böse.“

Daraufhin straffte Emilia sich. „Tio Vincente ist mein Vater“, verkündete sie, woraufhin Caroline sie verblüfft anblickte. „Tio Vincente hat meine Mama geliebt. Deswegen hasst Esteban mich.“

„Sei nicht albern, Emilia“, sagte Caroline, die nun genug hatte. „Ich bin nicht hier, um mit dir darüber zu diskutieren, wer deine Mutter geliebt hat und wer nicht. Sicher hat sie deinem Vater sehr viel bedeutet, und du darfst solche Dinge nicht sagen, nur weil er streng zu dir ist, wenn du nicht gehorchst. So, jetzt hör auf, dich wie ein Kleinkind zu benehmen, und setz dich hin.“

Emilia machte einen Schmollmund. „Du hast überhaupt keine Ahnung.“

„Und das ist auch gut so“, konterte Caroline nicht ganz wahrheitsgemäß, denn sie musste daran denken, wie reserviert Luis gewesen war, als sie ihn auf Emilias Mutter ansprach. Dann rief sie sich jedoch ins Gedächtnis, dass die Privatangelegenheiten der Montejos sie nichts angingen. Entschlossen begann sie, ihrer Schülerin Fragen zu stellen, um sich ein Bild von deren Wissensstand zu machen.

Anders als Caroline erwartet hatte, verging der Vormittag wie im Flug. Sobald Emilia beweisen konnte, was für eine gute Schülerin sie war, legte sie ihre Feindseligkeit ab und zeigte sich von einer ganz anderen Seite. Sie war intelligent, besaß eine schnelle Auffassungsgabe und war anderen Kindern in ihrem Alter auch mit dem Lernstoff weit voraus. Offenbar hatte ihr der Unterricht bei Miss Thackeray großen Spaß gemacht, und diese hatte hervorragende Arbeit geleistet.

Da Emilia ihr erzählt hatte, dass sie normalerweise um eins Mittag aßen, beendete Caroline den Unterricht eine halbe Stunde vorher. Sie wollte noch einmal in ihr Zimmer gehen, um sich frisch zu machen und ihre Sachen auszupacken. Als sie jedoch die Tür öffnete, stellte sie fest, dass jemand ihr zuvorgekommen war. Ihre Sachen hingen oder lagen bereits ordentlich im Schrank, und ihre Koffer waren darunter verstaut.

Als sie sich im Spiegel über der Frisierkommode betrachtete, fiel ihr auf, dass ihre Wangen gerötet waren. Nachdem sie sich das Gesicht im Bad mit kaltem Wasser gewaschen hatte, war es besser. Als sie sich dann die Lippen mit Gloss nachzog, merkte sie, wie hungrig sie inzwischen war. Den Kakao, den eine Angestellte Emilia und ihr in die Bibliothek gebracht hatte, hatte sie dankend abgelehnt. Bei der Vorstellung, Luis beim Essen wieder zu begegnen, schnürte sich ihr die Kehle zu.

Als sie um zehn vor eins nach unten ging, traf sie ihn in der Eingangshalle. Offenbar kehrte er gerade von seinem Ausritt zurück, denn er trug eine lederne schwarze Gauchohose und ein schwarzes Hemd, das am Kragen offen stand.

„Ich hoffe, Sie hatten einen netten Vormittag, Miss Leyton“, sagte er, als er an ihr vorbei zur Treppe ging.

Wenn er wüsste, dachte sie, riss sich aber zusammen. „Ja, es war sehr interessant. Und Sie?“

Auf der Treppe blieb er stehen. „Ich reite gern“, erwiderte er, nachdem er kurz nachgedacht hatte. „Sie müssen es auch mal versuchen. Esteban hat schöne Tiere.“ Bevor sie noch etwas sagen konnte, eilte er nach oben, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm.

Ein wenig unentschlossen betrat Caroline den Salon und stellte erleichtert fest, dass niemand dort war. Also ging sie zu den Fenstern und blickte hinaus.

Von hier aus konnte sie den Vorhof und den linken Teil des Gartens sehen, der formal angelegt und sehr gepflegt war. Die weitläufigen Rasenflächen, die bunten Beete und die sorgfältig gestutzten Obstbäume vor der hohen Mauer nahmen dem festungsähnlichen Anwesen ein wenig die Strenge. Ein richtiger Zufluchtsort, überlegte Caroline ironisch und drehte sich um, als sie Schritte hinter sich hörte.

„Da sind Sie ja, Miss Leyton.“ Ihr Arbeitgeber stand auf der Schwelle des bogenförmigen Eingangs und wirkte sehr geschäftsmäßig in seinem hellgrauen Anzug. Er war nicht nur kleiner und kräftiger als sein Bruder, sondern hatte auch weniger markante Züge und vollere Lippen. Nachdem er sie anerkennend gemustert hatte, streckte er ihr die Hand entgegen. „Beim Mittagessen geht es hier ganz ungezwungen zu, Señorita“, fügte er freundlich hinzu. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo wir mittags speisen.“

Sie atmete tief durch, bevor sie zu ihm ging.

Esteban umfasste leicht ihren Ellbogen. „Ich hoffe, Sie hatten keine Probleme mit Emilia“, sagte er, während sie die Halle durchquerten.

„Nein. Sie ist eine richtige Musterschülerin.“ Am liebsten hätte sie sich aus seinem Griff befreit.

„Das ist gut!“, rief er erfreut. „Sie verstehen sicher, dass ich in jeder Hinsicht Unterstützung von Ihnen erwarte und …“, er machte eine Pause und zupfte an seiner Krawatte, „… Sie nur von mir Anweisungen entgegennehmen.“

Caroline presste die Lippen zusammen. „Natürlich, Señor“, erwiderte sie leise, woraufhin er selbstzufrieden lächelte.

Dann führte er sie in das Frühstückszimmer. Es war viel schlichter als die übrigen Räume und sehr freundlich, denn es hatte keine dunklen holzvertäfelten Wände. Durch eine der offenen Türen betraten sie die sonnige Terrasse, von der ein schattiger Säulengang zu einem Innenhof mit einem farbenfrohen Mosaikfußboden führte. Staunend betrachtete Caroline das Buffet im Gang und ließ den Blick zu dem Pool im Hof schweifen, der in den Mosaikboden eingelassen war. Aus dem Maul eines täuschend echt aussehenden Jaguars, der zum Sprung anzusetzen schien, sprudelte eine Fontäne.

„Der Jaguarhof!“, verkündete Esteban stolz. „Eine passende Kulisse für den Herrn von San Luis, finden Sie nicht?“

Sie tat so, als würde sie den Brunnen bewundern. „Ja, das Tier sieht sehr echt aus“, bemerkte sie beifällig, bevor sie sich aus seinem Griff befreite.

Dank der dicken Mauern war es im Haus angenehm kühl gewesen, sodass sie erst jetzt merkte, wie heiß es draußen war. Sie verschränkte die Hände im Nacken und hielt genüsslich das Gesicht in die Sonne. Dabei nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung an einem der Fenster im ersten Stock wahr. Es war Luis. Einen Moment lang sahen sie sich an, und Caroline spürte, wie ihr Herz schneller zu klopfen begann. Als er vom Fenster zurücktrat, wandte sie sich wieder zu Esteban um, der sie bewundernd betrachtete. Schnell ließ sie die Arme sinken.

„Sind Sie eine Sonnenanbeterin, Miss Leyton?“ Seine Stimme klang plötzlich rau.

Caroline rang sich ein Lächeln ab. „Ich … hätte nicht gedacht, dass es so heiß ist“, gestand sie. „Schade, dass man in dem Pool nicht schwimmen kann.“

„Das ließe sich machen.“ Er ließ den Blick zu ihren Brüsten schweifen, doch sie ignorierte es und ging zum Buffet.

Die Gerichte darauf sahen alle köstlich aus. Esteban ermunterte sie, die Tortillas zu probieren, doch Caroline entschied sich für einen Geflügelsalat und ein Glas Weißwein. Sie hatte gerade gegenüber von Esteban auf der Terrasse Platz genommen, als Luis und Emilia sich zu ihnen gesellten.

„Ah, chica!“, rief Esteban und bedeutete seiner Tochter, zu ihm zu kommen.

Sichtlich argwöhnisch ging sie auf ihn zu. Irgendjemand hatte ihr offenbar das Gesicht gewaschen und ihr langes schwarzes Haar gekämmt. Statt des geblümten Kleids trug sie jetzt ein kariertes, und man sah an der Stelle, an der er sie so grob angefasst hatte, einen blauen Fleck.

„Lass dir das eine Lehre sein“, sagte ihr Vater, während er mit einem Finger darüberstrich. „Du tust, was Miss Leyton sagt, und ich möchte keine Klagen hören.“

„Ja, Señor.“

Der Blick, den die Kleine ihr zuwarf, verriet wieder die anfängliche Feindseligkeit, und Caroline wünschte, Esteban hätte sich weniger missverständlich ausgedrückt. Womöglich dachte Emilia, sie habe sich über sie beschwert. Es würde nicht leicht sein, zwischen den beiden zu vermitteln, und sie war sich nicht sicher, ob sie diese Verantwortung auf sich nehmen wollte. Als sie dann Luis’ Blick begegnete, wurde ihr klar, dass sie sich bereits verpflichtet hatte – wozu, musste sie allerdings noch herausfinden.

Von der unterschwelligen Missstimmung zwischen den anderen abgesehen, genoss Caroline es, im Freien zu essen. Sie saßen im Halbschatten, und die Sonnenstrahlen, die durch den rankenden Wein fielen, zeichneten die unterschiedlichsten Muster auf die hellen Fliesen. Die blühenden Pflanzen in den Kübeln um den Pool herum bildeten einen schönen Kontrast zu dem steinernen Jaguar, und die zahlreichen Schmetterlinge und anderen Insekten erfüllten die Luft mit Leben.

Anders als am Vorabend zeigte Esteban sich gegenüber seinem Bruder, der sich ansonsten nur wenig an der Unterhaltung beteiligte, sehr umgänglich. Als er mit ihm über einige Probleme auf der Hazienda sprach, ließ er nur am Rande durchblicken, wie wenig er von seinen Lösungsvorschlägen hielt. Caroline vermutete, dass er lediglich zeigen wollte, wie tolerant er sein konnte.

Emilia schwieg die ganze Zeit und konzentrierte sich aufs Essen. Offenbar war sie die Stimmungsschwankungen ihres Vaters gewohnt. Sie tat ihr leid, denn es war sicher nicht einfach, hier allein unter Erwachsenen zu leben. Deswegen nahm Caroline sich vor, auch gelegentlich mit ihr zu spielen.

Nachdem ein schwarz gekleidetes Kindermädchen Emilia abgeholt hatte, damit diese Siesta halten konnte, erschien ein Mitarbeiter von Esteban, um etwas mit ihm zu besprechen. Caroline nutzte die Gelegenheit und stand auch auf. Sie wollte eine Weile allein sein, um die Ereignisse zu verarbeiten, und fühlte sich richtig erschöpft, als sie nach oben in ihr Zimmer ging.

Die Jalousien waren hinuntergelassen, und so war es angenehm kühl im Zimmer. Sobald sie auf dem Bett lag, entspannte sie sich. Vielleicht wird es ja nicht so schlimm, wie ich dachte, überlegte sie schläfrig und war wenige Sekunden später eingenickt.

Als Caroline einige Stunden später aufwachte, fühlte sie sich viel besser. Sie stand auf und zog die Jalousien hoch. Die Schatten wurden schon länger, und das Meer in der Ferne schimmerte leicht gelblich. Was hätte sie jetzt darum gegeben, darin schwimmen zu können! Da es jedoch nicht möglich war, erfrischte sie sich unter der Dusche.

Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, zog sie eine kurzärmelige Leinenbluse und cremefarbene Baumwollshorts an und schlüpfte in ihre Sandaletten. Ein Spaghettiträgertop wäre bei der Hitze besser gewesen, aber damit hätte sie sich unter Estebans Blicken unwohl gefühlt. Sie bürstete sich das Haar und zog sich die Lippen nach, bevor sie ihr Zimmer verließ, um sich etwas zu trinken zu holen.

Im Haus war es ganz ruhig, als sie nach unten ging, und sie hörte nur das Klappern ihrer Absätze auf den Fliesen in der Eingangshalle. Sie warf einen Blick in die beiden Salons und in die Bibliothek, ohne jemanden zu sehen. Im Frühstückszimmer hatte man die Terrassentüren inzwischen geschlossen, und die Tische im Säulengang waren abgedeckt. Noch während sie überlegte, ob sie in die Küche gehen sollte, wurde die Tür zu einem kleinen Raum geöffnet, und Luis de Montejo erschien. Er wirkte tief in Gedanken, doch als er sie bemerkte, betrachtete er sie höflich-distanziert.

„Miss Leyton.“ Er neigte den Kopf. „Suchen Sie meinen Bruder oder Emilia? Esteban hält gerade Siesta, und Emilia hat nachmittags keinen Unterricht.“

Sie presste die Lippen zusammen. „Ich … wollte mir gerade ein Glas Wasser holen. Consuella sagte, ich soll das Leitungswasser nicht trinken.“

„Ja, sie hat recht.“ Luis runzelte die Stirn. „Vielleicht möchten Sie lieber etwas anderes. Im Kühlschrank in Estebans Arbeitszimmer sind Softdrinks.“

„Aber hat Ihr Bruder …?“, begann sie unsicher.

„Er merkt es gar nicht“, versicherte er, bevor er ihr voran einen Flur betrat, der dem im ersten Stock ähnelte. Auch dort hingen Ahnenbilder. Die Galerie wurde allerdings von kleinen Fenstern aufgelockert, und der Teppich war rot und silberfarben.

Bei seiner Führung am Morgen hatte Esteban ihr sein Arbeitszimmer nicht gezeigt. Es war nur etwas kleiner als die Bibliothek, und in den Regalen standen hauptsächlich Fachbücher und Aktenordner. Caroline betrachtete den großen Schreibtisch mit dem Computer, dem Faxgerät und den beiden Telefonen. Da nicht ein einziger Stapel Papiere darauf lag, musste Esteban entweder sehr ordentlich sein, oder er hatte nicht viel zu tun.

Sie nahm ein Softgetränk aus dem Kühlschrank und zog die Brauen hoch, als Luis dankend ablehnte. „Möchten Sie nichts trinken?“, fragte sie enttäuscht.

Er schüttelte den Kopf. „Ich habe leider keine Zeit, Miss Leyton“, erwiderte er höflich, bevor er ihr in den Flur folgte und die Tür hinter ihnen schloss. „Aber Esteban hat sicher nichts dagegen, wenn Sie in den Garten gehen oder sich ein Buch aus der Bibliothek holen.“

Die ungeöffnete Dose in der Hand, funkelte sie ihn herausfordernd an. „Ich wollte mit Ihnen reden.“ Seine Gleichgültigkeit kränkte sie.

Seine Züge verhärteten sich, als er ihrem trotzigen Blick begegnete. „Falls Sie irgendwelche Fragen haben, wird mein Bruder sie Ihnen bestimmt gern beantworten.“ Er hakte die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Hose. „Soweit ich weiß, ist er bisher mit Ihnen zufrieden. Emilia wird sicher von Ihnen profitieren.“

„Ich möchte nicht mit Ihrem Bruder sprechen, sondern mit Ihnen“, beharrte sie leise. „Ich … wollte mich bei Ihnen entschuldigen … für das, was vorgefallen ist …“

„Das brauchen Sie nicht“, unterbrach Luis sie schroff und machte eine abwehrende Geste. „So, jetzt muss ich weiterarbeiten.“

Caroline seufzte und eilte ihm nach. „Señor, Sie hatten gesagt, ich könnte vielleicht mal reiten. Geht es jetzt? Emilia braucht mich ja nicht, und ich bin nicht in der Stimmung zu lesen.“

Forschend betrachtete er sie. „Sie können auf keinen Fall allein ausreiten. Es ist zu gefährlich. Besprechen Sie das lieber mit meinem Bruder. Möglicherweise begleitet er Sie ja. Aber dann müssen Sie die Kutsche nehmen.“

„Die Kutsche?“, wiederholte sie verständnislos.

„Mein Bruder reitet nicht, Miss Leyton“, erwiderte er ausdruckslos. „Aber es kann sein, dass er bei Ihnen eine Ausnahme macht.“

Sie biss sich auf die Lippe. „Ich will aber nicht, dass Ihr Bruder mich begleitet. Und wenn Sie nicht mitkommen, reite ich eben allein …“

„Das werden Sie nicht!“, fiel Luis ihr ungehalten ins Wort. „Und wenn Sie es versuchen, informiere ich Esteban.“

„Das würden Sie wirklich tun?“, meinte sie kopfschüttelnd. „Glauben Sie etwa, Sie seien für mich verantwortlich, nur weil Sie mich hierhergebracht haben?“

„Das habe ich nicht“, widersprach er ihr heftig, wobei seine grauen Augen blitzten. „Ich habe Sie nur in meinem Wagen mitgenommen. Sie haben sich um diesen Job beworben und sich mit den Bedingungen einverstanden erklärt. Wie können Sie mir einen Vorwurf daraus machen, wenn er nicht Ihren Erwartungen entspricht?“

Als sie seine grimmige Miene betrachtete, bereute Caroline ihre unbedachten Worte. Doch sie konnte sie nicht mehr zurücknehmen, und so fuhr sie fort: „Aber Sie haben mich nicht gewarnt, stimmt’s? Sie haben mir nicht gesagt, dass Ihr Bruder ein gespanntes Verhältnis zu seiner Tochter hat oder Ihre Tante mich beleidigen könnte …“

„Meine Tante hat Sie beleidigt? Was hat sie gesagt?“

„Sie … hat mir an den Kopf geworfen, dass ich eine … eine puta Ihres Vaters bin.“

„Haben Sie es Esteban erzählt?“

„Er war dabei.“ Caroline fasste sich an die Schläfen, die zu pochen begannen. „Was spielt es schon für eine Rolle? Wie es mir geht, interessiert Sie doch gar nicht, solange Emilia nicht leidet.“ Dann wandte sie sich ab und ging den Flur entlang. Sie traute ihren Ohren nicht, als sie Luis plötzlich leise fluchen hörte.

Er eilte ihr nach. „Morgen früh um sechs“, sagte er im Vorbeigehen. „Ich warte in der Halle auf Sie, Miss Leyton.“

4. KAPITEL

An diesem Abend wälzte Caroline sich unruhig im Bett hin und her. Vielleicht lag es daran, dass sie am Nachmittag geschlafen hatte. Jedenfalls pochte ihr Herz wie wild, und ihr war trotz der angenehmen Temperatur im Zimmer unerträglich heiß.

Um sich abzulenken, versuchte sie, an zu Hause zu denken. Dabei fiel ihr ein, dass sie ihren Eltern bisher nur eine Karte aus Mérida geschickt hatte. Sie hätte sie ohne Weiteres anrufen können, doch die beiden hätten ihr sofort angemerkt, dass sie hier nicht glücklich war. Deshalb beschloss sie, ihnen am nächsten Tag einen langen Brief zu schreiben.

Verblüfft stellte sie dann fest, dass sie bisher kaum einen Gedanken an Andrew verschwendet hatte. Und wenn sie die Augen schloss, sah sie nicht ihn vor sich, sondern einen dunkelhaarigen Mexikaner mit markanten Zügen. Luis de Montejo! Er war ganz anders als die Männer, denen sie bisher begegnet war. Sofort verspürte sie ein sinnliches Prickeln.

Caroline rief sich die Unterhaltung mit Esteban beim Abendessen ins Gedächtnis. Luis war nicht dabei gewesen, aber Señora de Montejo. Zu ihrer großen Erleichterung hatte sie diesmal nicht fantasiert. In einem strengen schwarzen Kleid gab sie bei Tisch den Ton an und betrachtete sie von Zeit zu Zeit.

„Esteban hat mir erzählt, dass Sie aus London kommen, Señorita“, bemerkte sie, während sie das Brötchen auf ihrem Teller zerkrümelte. „Sind Sie dort geboren?“

Caroline schüttelte den Kopf. „Meine Familie lebt außerhalb von London, Señora. In Buckinghamshire. Aber ich habe dort studiert und kenne mich deshalb gut aus.“

„Haben Ihre Eltern kein Problem damit, dass Sie jetzt so weit weg sind?“, fragte die alte Dame.

„Dass junge Leute eine Weile im Ausland arbeiten, ist heute nichts Ungewöhnliches mehr, Tia Isabel“, warf Esteban ein, bevor Caroline antworten konnte. „Und wir sollten ihr dankbar dafür sein, dass sie hierhergekommen ist, um sich um Emilia zu kümmern.“

Seine Tante verzog ein wenig den Mund. „Emilia braucht eine Mutter. Und Geschwister.“ Sie seufzte. „Aber du bist verwitwet, und dein Bruder … na ja, da können wir wohl kaum auf ein Wunder hoffen.“

„Ich glaube nicht, dass Miss Leyton deiner Meinung ist.“ Esteban lächelte Caroline an. „Und vielleicht wirkt ihre Anwesenheit sich auf uns alle positiv aus.“

Seine Worte waren ihr unangenehm. „Vielleicht“, erwiderte sie deshalb ausweichend und widmete sich ihrem Essen, einem köstlichen Reisgericht mit Hähnchen.

Zu ihrer Erleichterung ließen die beiden das Thema dann fallen. Luis wurde erst erwähnt, als sie später im Salon Kaffee tranken.

„Ich habe heute Nachmittag wieder gesehen, wie diese Frau das Haus durch den Seiteneingang verlassen hat“, erklärte Señora de Montejo gereizt, bevor sie ihre Tasse wieder zurückstellte. „Ich will sie nicht in diesem Haus haben, Esteban! Du musst noch einmal mit Luis sprechen!“

Ihr unerwarteter Ausbruch irritierte Esteban sichtlich. „Lass uns bitte nicht darüber reden, wenn Miss Leyton dabei ist, Tia Isabel. Ich werde mit Luis sprechen und alles regeln.“

„Das hast du mir schon einmal versprochen“, erwiderte sie mürrisch. „Wenn Luis so eine Frau braucht, warum kann er sich dann nicht im Dorf mit ihr treffen?“

„Ich kümmere mich darum, Tia Isabel.“ Estebans Augen funkelten. „Was Luis in seiner Freizeit macht, geht nur die Familie etwas an. Also lass uns bitte nicht über persönliche Dinge sprechen.“

Caroline hatte das Gespräch mitverfolgt und nicht gewusst, was sie von alldem halten sollte. Wer war diese Frau, die Señora de Montejo erwähnt hatte? Suchte sie Trost und hatte ihn in seiner Eigenschaft als angehender Priester aufgesucht? Oder war sie womöglich eine Prostituierte? Bei dieser Vorstellung hatte sie ein seltsam flaues Gefühl gehabt.

Diese Gedanken ließen sie nun nicht schlafen. War jene Fremde bei Luis gewesen, bevor sie ihm am Nachmittag in der Eingangshalle begegnet war? War sie der Grund für seinen nachdenklichen Gesichtsausdruck gewesen?

Irgendwann musste sie doch eingenickt sein. Als sie von einem ungeduldigen Klopfen an der Tür geweckt wurde, schien es ihr, als hätte sie nur wenige Minuten geschlafen. Müde setzte sie sich auf und nahm ihre Uhr vom Nachttisch.

Es war Viertel nach sechs und noch nicht richtig hell draußen. Es dauerte einige Sekunden, bis sie begriff, was los war. Es musste Luis sein. Schnell sprang sie auf und eilte zur Tür.

„Wer ist da?“, fragte sie heiser.

„Luis Montejo“, hörte sie seine grimmige Stimme. „Haben Sie es sich anders überlegt?“

„Nein …“, erwiderte sie sofort und blickte zum Bett. „Können Sie … noch zehn Minuten warten? Ich habe verschlafen. Ich beeile mich.“

„Fünf Minuten“, sagte er, bevor er ein letztes Mal an die Tür klopfte und wegging.

Schnell machte Caroline sich frisch und putzte sich die Zähne. Dann schlüpfte sie in eine langärmelige Bluse, Röhrenjeans und Stiefel und hängte sich einen Pullover um, als sie ihr Zimmer verließ.

Luis ging in der Eingangshalle auf und ab. Er hatte ein Gewehr in der Hand und trug ein schwarzes Hemd mit einer schwarzen Lederweste und gleichfarbige Jeans, was ihn unglaublich männlich erscheinen ließ und unwiderstehlich machte. In diesem Moment wurde ihr bewusst, wie unkompliziert ihre Beziehung zu Andrew gewesen war. Er hatte nicht annähernd so starke Gefühle in ihr geweckt wie dieser Mexikaner.

Als sie die Treppe hinunterging, bemerkte Luis sie und betrachtete Caroline aus zusammengekniffenen Augen. „Wir müssen uns beeilen, wenn Sie etwas von dem Anwesen sehen wollen.“ Dann öffnete er die Tür, durch die er am vergangenen Nachmittag gekommen war, und ließ ihr den Vortritt.

Autor

Anne Mather
<p>Ich habe schon immer gern geschrieben, was nicht heißt, dass ich unbedingt Schriftstellerin werden wollte. Jahrelang tat ich es nur zu meinem Vergnügen, bis mein Mann vorschlug, ich solle doch meine Storys mal zu einem Verlag schicken – und das war’s. Mittlerweile habe ich über 140 Romances verfasst und wundere...
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Das Erfinden von Geschichten war schon immer eine Leidenschaft von Michelle Douglas. Obwohl sie in ihrer Heimat Australien bereits mit acht Jahren das erste Mal die Enttäuschung eines abgelehnten Manuskripts verkraften musste, hörte sie nie auf, daran zu arbeiten, Schriftstellerin zu werden. Ihr Literaturstudium war der erste Schritt dahin, der...
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