Romana Exklusiv Band 334

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HOCHZEIT IN VENEDIG von MARGARET HOLT
Fasziniert ist die zarte Dr. Lucinda Hallcross auf einem Ärztekongress in Venedig von Dr. Pino Ponti. Seine dunklen Augen ziehen sie in ihren Bann, seine Küsse sind voller Leidenschaft. Doch nach einem Streit muss Lucinda sich fragen: Bleibt die Hochzeit ein Traum?

EINE LIEBE AUF MALLORCA von MARIAN MITCHELL
Glück im Unglück? Als Lucy auf Mallorca mit ihrem Wagen liegen bleibt, stoppt ein schwarzer Range Rover. Heraus steigt ihr Traumprinz! Zwar sucht Lucy nicht die große Liebe, aber eine Romanze mit Rico del Guardo ist einfach zu verlockend. Bis Lucy nach einer zärtlichen Nacht auf einer Finca erfährt, auf wen sie sich eingelassen hat …

WAS HAST DU IM SINN? von ANNE WEALE
Ein fantastischer Job für Künstlerin Lucia: Sie soll eine Society-Lady auf Reisen begleiten und ihr Tipps für ihre Malstudien geben. Beim Trip nach Alicante ist der Sohn ihrer Gönnerin dabei - und Lucia verliert ihr Herz an den attraktiven Grey! Doch ihre Liebe darf nicht sein, denn Lucia hat schwere Schuld auf sich geladen!


  • Erscheinungstag 01.04.2021
  • Bandnummer 334
  • ISBN / Artikelnummer 9783751503174
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Margaret Holt, Marian Mitchell, Anne Weale

ROMANA EXKLUSIV BAND 334

1. KAPITEL

Lucy versuchte sich auf den Vortrag zu konzentrieren, doch es war unmöglich. Die Blicke des dunkeläugigen Mannes auf der anderen Seite des Kongresssaales lenkten sie immer wieder ab.

Dass Männer sie bewundernd anblickten war Lucy gewohnt, doch hier, in der renommierten Spezialklinik Ospedale Civile in Venedig, am zweiten Kongresstag für Herzspezialisten, fand sie das Verhalten des Fremden unpassend.

Neben ihr saß ihr Vater, der ebenfalls Mediziner und zudem auch stellvertretender Gesundheitsminister war. Er wurde von seinem Privatsekretär und seiner Stenotypistin begleitet.

Lucy hatte die ganze Zeit die neugierigen Blicke des Fremden gespürt und wandte sich ihm nun direkt zu, um ihn mit seinem Verhalten zu konfrontieren. Sie dachte nicht im Traum daran, ihn weiter dazu zu ermutigen, sie anzustarren.

Entgegen jeder Erwartung wandte er den Blick nicht ab, als sie ihn direkt ansah, sondern hob unmerklich die schwarzen Augenbrauen und nickte ihr zu. Es war unmissverständlich, dass er ihr seine Bewunderung ausdrücken wollte.

Lucy war leicht verstimmt. Wer war dieser Mann, dass er sich solch eine Freiheit herausnahm? Ein Journalist oder Übersetzer vielleicht? Auf jeden Fall war er jemand, der sich während einer solch wichtigen Konferenz nicht zu benehmen wusste!

Objektiv betrachtet war der Mann ziemlich attraktiv, obwohl Lucy nicht unbedingt auf den Typ Latino stand, mit blitzenden schwarzen Augen und breitem, sinnlichen Mund. Sie beschloss, einfach nicht mehr zu ihm hinzuschauen und wandte ihre veilchenblauen Augen wieder dem Sprecher zu, der gerade seinen Vortrag beendete. Zu ihrem Ärger fiel es ihr äußerst schwer, sich auf die monotone Stimme zu konzentrieren, während sie vorgab, die Blicke aus den dunklen Augen nicht weiter zu bemerken.

Während der Pause nach dem Vortrag beugte sich Aubrey Portwood, der Privatsekretär ihres Vaters, zu ihr hinüber. Wie immer sprach er leise und unaufdringlich.

„Lucinda, der nächste Sprecher ist Findlay d’Arc, ein Frauenarzt und Herzspezialist. Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie anfangs gesagt haben, dass dieser Vortrag über Herzprobleme in der Schwangerschaft Sie ganz besonders interessiert?“

„Ach ja, danke, Aubrey.“ Sie lächelte den Privatsekretär höflich an. Ihren Vater stieß sie sanft in die Rippen, denn er war gerade eingenickt. Mit einem Ruck setzte er sich auf und öffnete die Augen.

„Hat der Gute seinen Vortrag endlich beendet, Liebes? Bestimmt ist die Hälfte der Zuhörer bei ihm eingeschlafen.“

„Schscht, Daddy.“ Lucy blickte sich verstohlen um, ob ihn jemand gehört hatte. „Der nächste Referent soll sehr gut sein.“

„Wirklich?“ Sir Peter Hallcross-Spriggs lächelte seine Tochter erleichtert an. Dann wandte er sich an seine Stenotypistin.

„Bitte halten Sie sich bereit, das Wichtigste zu notieren, Meg.“

„Ach Daddy, lass doch die arme Meg in Ruhe, sie hat schon genug geschrieben“, protestierte Lucy. „Ich kann alleine mitschreiben, was mich interessiert.“

Meg Elstone seufzte erleichtert auf. Lucy kicherte unwillkürlich und zog damit auch noch die Blicke anderer im Saal auf sich.

Sie war eine typische englische Schönheit. Ihr klassisches ovales Gesicht wurde von dichtem braunem Haar gerahmt, und man sah ihr die privilegierte Erziehung einer Oberschicht-Schule an. Kaum ein Betrachter allerdings hätte ihr den versteckten Schmerz angesehen, den sie seit einiger Zeit hegte, den zehrenden Selbstzweifel hinter ihrem kühlen, attraktiven Äußeren.

Als sie unmerklich in die Richtung des Fremden blickte, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass er verschwunden war. Ob er wohl für den nächsten Vortrag noch rechtzeitig zurückkehren würde? Lucy fühlte sich durch sein Verschwinden etwas verwirrt.

Der Vorsitzende machte eine Ansage. „Leider konnte Mr. d’Arc leider heute nicht kommen, sodass Dr. Giuseppe Ponti sich freundlicherweise bereit erklärt hat, seinen Vortrag für ihn zu lesen.“

Dr. Ponti wurde als ein Allgemeinarzt vorgestellt, der eine eigene Praxis in Venedig betrieb. Ein hochgewachsener Mann betrat das Podium und richtete sich das Mikrofon ein. Lucy verschlug es fast den Atem, es war der Mann, der sie so unverschämt angestarrt hatte!

Nachdem er den Zuhörern kurz zugenickt hatte, begann er zu sprechen. Er strahlte eine ungemeine Vitalität aus. Er besaß zwar einen leichten italienischen Akzent, doch seine klangvolle Stimme schlug alle sofort in den Bann. Sein Gesicht war sehr ausdrucksstark, und seine temperamentvolle Art hauchte den vorgetragenen Fallstudien Leben ein.

Ponti beschrieb das Dilemma des Arztes, der eine Frau mit einer Herzklappenerkrankung behandelte. Im Normalfall war das Problem leicht in den Griff zu bekommen, kam aber eine Schwangerschaft hinzu, wurde es leider ernsthaft bedenklich.

„Sie müssen nun ein zweites Leben, einen weiteren Patienten in Betracht ziehen, dessen Wohlergehen genauso wichtig ist wie das der Frau“, sagte er ernst. „Was tun?“

Er blickte auf, und sein Blick traf sich zufällig mit Lucys.

Lucy wusste, dass sich seine Frage auf den gerade von ihm beschriebenen Fall bezog, doch sie fühlte sich durch seine Worte direkt angesprochen. Diese Frage war wie eine persönliche Herausforderung. Sie wusste, dass sie sich selbst etwas vormachte, wenn sie behauptete, ihre Tätigkeit für die medizinische Statistik sei das Richtige für sie, auch wenn sie sich einredete, dass sie auf diese Weise Zeit für die gesellschaftlichen Verpflichtungen einer adligen Tochter fand.

Ponti beschrieb die geeigneten Maßnahmen bei den betroffenen Patienten so eingehend, dass sich die Versammelten am Ende Mutter und Kind fast bildlich vorstellen konnten, und es erhob sich spontaner Applaus.

„Wirklich, Lucinda, wenn das alle so hinkriegen würden, wäre es viel interessanter!“, bemerkte Sir Peter. „Wenn du am Donnerstag mit unserem Vortrag dran bist, machst du’s bestimmt auch so gut.“

Auch Lucy hatte unter Pontis Bann gestanden. Er strahlte solch eine Begeisterung für seinen Beruf aus, dass ihr ihre eigene große Unzufriedenheit mit ihrem Leben und ihrer beruflichen Laufbahn plötzlich schmerzhaft bewusst wurde. Sie applaudierte nur halbherzig am Ende des Vortrages.

Ponti winkte mit hoch erhobenen Händen ins Publikum, bevor er abtrat.

Aubrey Portwood neigte sich zu Lucy hinüber und flüsterte ihr ins Ohr. „Eher wie ein Schauspieler nach der Vorstellung, nicht wahr, Lucinda?“ Er lachte zynisch auf.

Lucy konnte sich seiner Meinung nicht anschließen. Sie war noch zu sehr in Gedanken. Sie musste endlich etwas gegen ihre innere Unzufriedenheit tun.

„Ist alles in Ordnung, Liebes?“, erkundigte sich Sir Peter. „Du siehst heute müde aus.“

„Alles in Ordnung, Daddy“, beruhigte sie ihn. Sie strich ihr glänzendes dunkles Haar zurück. „Ich muss nur unbedingt mal an die frische Luft. Ich werde am Meer spazieren gehen.“

„Aubrey wird dich begleiten.“

„Meine Güte, Daddy, ich kann wirklich auch allein spazieren gehen!“, protestierte sie. „Bleibst du noch hier?“

„Ja. Ich muss dem letzten Sprecher noch für seinen Vortrag gratulieren. Wie war noch mal sein Name?“

„Nun – eigentlich müsstest du Findlay d’Arc gratulieren, schließlich war das sein Vortrag. Na ja – bis nachher, beim Abendessen. Ungefähr um acht.“

„Lieber eine halbe Stunde später, an der Bar. Ich muss noch das Programm für morgen mit Aubrey besprechen, und nach dem Essen ist dafür keine Zeit mehr.“

Lucys Augen verdunkelten sich. „Ich mag es gar nicht, wenn du so spät schwer isst, Daddy, du weißt, dass das nicht gut für deinen Blutdruck ist, genauso wie die Brandys und Zigarren.“

Ihr rundlicher Vater sah sie wohlwollend an. Für den Baron war sie immer noch sein kleines Mädchen und sein ganzer Stolz, doch nahm er sie nicht ganz ernst.

„Hab ein Herz, Liebes. Wir lockern die Regeln ein wenig, solange wir hier sind, nicht wahr?“

„Du willst niemals auf mich hören, Daddy“, seufzte Lucy. „Bis nachher, an der Bar.“ Sie beugte sich über seinen Sessel und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Und keine Zigarre bis dahin“, mahnte sie mit erhobenem Zeigefinger.

„Nein, Liebes.“

„Und zum Hotel gehst du zu Fuß, nimm kein Wassertaxi.“

„Nein, Liebes … ich meine, wie du willst …“

Lucy lächelte, als Portwood ihr in die rote Kaschmirjacke half.

„Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde schon auf Sir Peter Acht geben, Lucinda“, versicherte er ihr.

„Danke, Aubrey. Ich weiß, dass ich mich immer auf Sie verlassen kann.“

Sie winkte und lief die Eingangstreppe des Krankenhauses hinunter auf den Platz Campo San Zanipolo. Dann bog sie rechts ab und ging einen Kanal entlang in Richtung Meer.

Wie gut, dass sich Aubrey um meinen Vater kümmert, dachte sie im Gehen. Er nimmt ihm alle lästigen Belange ab. Aubrey ist immer da, zuverlässig und diskret. Und er sieht mit seinen fünfzig Jahren immer noch gut aus.

Nach dem Tod seiner Frau war Aubrey Portwood mehr und mehr zum Freund der Familie geworden, und Lucy hatte sein wachsendes Interesse an ihr bemerkt. Da er dieser Tage immer öfter nach Hallcross Park eingeladen wurde, spürte Lucy, dass er ihren Eltern durchaus auch als Schwiegersohn willkommen sein würde, wenn sie selbst einwilligte.

Aubrey würde mir Sicherheit bieten, dachte sie im Stillen. Ich wäre bei ihm so gut aufgehoben sein, wie in meinem Elternhaus. Ich würde ihm eine charmante Ehefrau sein, eine gute Gastgeberin, und die demütigenden Erfahrungen der letzten zwei Jahre wären vergessen.

Sie wanderte mit entschlossenen Schritten die Fondamenta Nuove an der Lagune entlang. Wie schön war es doch, der Konferenz für eine Stunde entkommen zu sein! Uns wo sonst konnte man besser Zeit finden, nachzudenken?

Es war ein klarer Märztag, wärmer als in England, auch wenn ein frischer Wind aus dem Süden wehte. Quer über das blaue Wasser konnte man die grüne Insel San Michele sehen.

Es gibt viel zu wenig Zeit, alles Schöne hier zu erkunden, dachte Lucy wehmütig.

Sie nahm sich vor, nach der Konferenz noch das Wochenende zu bleiben. Eine Freundin aus Universitätstagen arbeitete mittlerweile im Krankenhaus hier auf dem Lido. Lucy überlegte, ob sie ihr einen Überraschungsbesuch abstatten sollte.

Valeria Corsini hatte eine englische Mutter. Sie war in England aufgewachsen und hatte dort studiert. Sie und Lucy hatten zusammen am St.-Margaret’s-Hospital in London die Ausbildung zum Arzt abgeschlossen. Als sie dann aber mit ihren Eltern nach Italien gezogen war, hatten sie und Lucy den Kontakt verloren.

Nach einem katastrophalen Jahr am Manchester-Suburban-Hospital war Lucys Karriere als Ärztin abgebrochen. Sie wollte lieber nicht daran denken, denn sie hätte damals darüber fast einen Nervenzusammenbruch erlitten. Erst jetzt, mit achtundzwanzig Jahren, hatte sie etwas von ihrem alten Selbstvertrauen wieder gewonnen, indem sie für Sir Peter medizinische Statistiken in seinem Ministerium erarbeitete.

Einem Wiedersehen mit Valeria sah sie mit gemischten Gefühlen entgegen. Wer von ihnen beiden wohl wen beneidete?

In Gedanken versunken hörte sie plötzlich einen Ruf. Zwei Jungen, Teenager, hatten ihre schlanke Gestalt am Ufer entdeckt. Nun versuchten sie, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, um sich ein bisschen vor ihr zu produzieren. Sie hissten das Segel ihres kleinen Bootes fachmännisch und segelten im Zickzackkurs los.

Das Segel flatterte heftig und blähte sich dann im Wind voll auf. Die beiden jungen Männer stemmten sich sorglos lachend dagegen. Sie schienen sich offensichtlich zu amüsieren. Lucy winkte ihnen fröhlich zu.

Sie wandte sich von der See ab und ging durch eine schmale Gasse, die wiederum auf einen kleinen Platz führte. Von hier aus gingen in alle Richtungen weitere Gassen ab. Lucy war sich nicht ganz sicher, welche sie nun nehmen musste, um zu ihrem Hotel, der Albergo Cicliami, zu kommen.

Sie wählte eine der Gassen und kam zu einem ruhigen kleinen Kanal. In regelmäßigen Abständen führten ein paar moosbedeckte Stufen hinunter, damit von kleinen Ruderboten aus alle Arten von Diensten angeboten werden konnten. Hier wurden Gemüse, Obst und Fisch verkauft, Wäsche geholt und gebracht und auch die Post erreichte auf diesem Wege die angrenzenden Häuser und Hotels, die mit ihren schmiedeeisernen Balkonen und bunten Fensterläden den Kanal säumten.

Nach einer Weile erreichte Lucy eine kleine steinerne Brücke, an deren Brüstung Kästen voller roter Begonien prangten. Eine dicke Katze döste auf dem erhabensten Punkt des Brückengeländers.

So muss Venedig schon vor hundert Jahren gewesen sein, dachte Lucy. Ich wünschte, ich hätte eine Kamera, um dieses zeitlose Idyll festzuhalten.

Als Lucy die Bücke überquerte, glitt ein schmales Boot den Kanal entlang. Helles Lachen war zu hören, und Lucy sah dem Boot wehmütig nach. Niemals würde sie mit David, Hand in Hand, auf einem Boot die Kanäle erkunden können. Es war an der Zeit, zu vergessen.

Sie schien nun doch etwas die Orientierung verloren zu haben. Nach einer weiteren schmalen Gasse war sie auf einen kleinen Platz mit einer mittelalterlichen Kirche gelangt. Von dort aus hatte die nächste Gasse sie wieder zu dem kleinen Kanal gebracht, wo sie wieder auf die dicke Katze zwischen den roten Blumen traf.

Lucy konnte sich kaum vorstellen, im Kreis gegangen zu sein. Sie war sich eigentlich sicher, immer die richtige Richtung eingehalten zu haben. Etwas ratlos und verärgert blieb sie nun stehen.

Zweifelsohne hatte sie sich tatsächlich im Gewirr der Gassen verlaufen. Im Hotel wartete man sicherlich mittlerweile auf sie. Zum Ausruhen lehnte sie sich einen Moment an eine stuckverzierte Wand. Sie ärgerte sich, keinen Stadtplan mitgebracht zu haben. In welche Richtung sie nun wohl gehen sollte?

Eine tiefe Stimme neben ihr ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken. „Sind Sie zum ersten Mal in Venedig?“

Lucy blickte sich um. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie nicht alleine war. Neben ihr stand der hochgewachsene Dr. Ponti. Sie riss sich zusammen, um sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen.

„Nein, ich bin schon einmal hier gewesen“, antwortete sie kühl.

Sie konnte sich noch gut an ihre Klassenfahrt nach Venedig erinnern. Sie hatte Italienisch als Abiturfach gehabt und konnte auf der Reise ihre Sprachkenntnisse vertiefen. Damals, mit siebzehn, kurz vor dem Abitur, war sie noch sorglos und selbstbewusst gewesen.

„Willkommen zurück, Signorina.“ Dr. Ponti machte eine ironische kleine Verbeugung. „Darf ich mich vorstellen? Pino, für meine Freunde. Ich habe Sie und Ihren Chef heute auf der Konferenz gesehen. Er sieht ja aus wie Winston Churchill. Fehlen nur noch Melone und Zigarre.“

Was für ein frecher Kerl, dachte Lucy. Er scheint zu denken, ich sei Daddys Sekretärin. Er glaubt wohl, er kann sich alles erlauben, nur weil er so gut aussieht. Aus der Nähe wirkt er noch attraktiver, als im Kongresssaal.

„Allora! Come ti chiami?“ Er fragte sie nach ihrem Namen.

„Mi chiamo Lucy Hallcross“, antwortete sie. „Sono inglese.“

Er lachte. „Sie brauchen mir nicht zu erzählen, dass Sie Engländerin sind, Lucia. Das sieht man.“

Er sprach ihren Namen italienisch aus. Das c sprach er wie tsch, und ihr Name klang völlig anders als sonst.

„Sagen Sie mir, Lucia, wieso die englischen Teilnehmer die hübschesten Sekretärinnen haben?“, scherzte er.

Sie ignorierte seine Frage und blickte betont auf ihre Armbanduhr. „Entschuldigen Sie bitte, Dottore, können Sie mir den Weg zur Albergo Cicliami beschreiben?“, fragte sie auf Italienisch. Sie hatte zum Glück noch immer beeindruckend gute Schulkenntnisse der Sprache. Es sollte ihm hiermit klar sein, dass sie mit ihm kein Gespräch anfangen wollte, selbst wenn er ein attraktiver Arzt war, der sich anscheinend für unwiderstehlich hielt.

Ihm schien seine Aufdringlichkeit leidzutun, und er lächelte sie entschuldigend an.

„Ich begleite Sie gerne, Signorina.“

„Nein, das ist wirklich nicht nötig“, fing Lucy an, doch dann besann sie sich anders. In diesem Gassengewirr war es schwer, sich zurechtzufinden, und eine Wegbeschreibung würde ebenfalls schwierig sein. Sie entschloss sich, sein Angebot anzunehmen, und lächelte zurückhaltend.

Bellissima. Endlich scheint die Sonne in Ihrem Gesicht, Lucia. Gehen wir.“

Er griff nach ihrer Hand, doch Lucy zuckte zurück. Verlegen rückte sie ihren Handtaschenbügel auf der Schulter zurecht.

„Machen Sie viele berufliche Reisen?“, erkundigte Ponti sich bei ihr.

„Einige. Letztes Jahr war ich in Genf bei der Weltgesundheitsorganisation.“

„Ach, der Aids-Kongress.“ Er wirkte plötzlich ernster. „Ihr Chef hat es gut mit Ihnen“, sagte er nach einer Weile. „Ist die Zusammenarbeit mit ihm angenehm?“

Lucy hatte keine Lust, sich in ein Gespräch über ihre Arbeit verwickeln zu lassen. Diese Dinge gingen ihn nichts an. „Sir Peter ist der ideale Mann für seine Aufgaben“, sagte sie abwehrend. „Und was machen Sie, Dr. Ponti? Gefällt Ihnen die Arbeit als Allgemeinarzt?“

Er blickte sie amüsiert an. „Es vertreibt mir die Zeit.“

Sie hob die Augenbrauen. Anscheinend hatte auch er keine Lust, sich über seine Arbeit zu unterhalten. Schweigend gingen sie nebeneinander her.

„Verzeihen Sie, Lucia“, hob er schließlich an. „Ich bin nicht der einzige Mann, dem Sie auffallen. Dieser Begleiter Ihres Chefs kann die Augen nicht von Ihnen lassen. Sie sind sich aber noch nicht im Klaren darüber, ob Sie sich etwas daraus machen sollten, nicht wahr?“

Lucy war sprachlos über seine Unverschämtheit. Sie kniff verärgert die Lippen zusammen. „Dr. Ponti, ich habe nicht die geringste Absicht, persönliche Dinge mit Ihnen zu diskutieren“, sagte sie eisig. „Im Übrigen erkenne ich die Gegend hier wieder. Ich werde allein zum Hotel finden. Guten Tag.“ Sie stapfte wütend davon.

Ponti merkte, dass er sie ernsthaft beleidigt hatte, und bereute seine Offenheit. Schnell holte er mit ihr auf. „Entschuldigen Sie bitte vielmals, Lucia. Ich hatte vergessen, wie empfindlich die Engländer sind. Warten Sie doch bitte. Haben Sie heute Abend etwas vor? Was halten Sie von einem Ausflug zum Lido? Ich habe ein eigenes kleines Boot. Vielleicht darf ich Sie zum Essen einladen, um mein Vergehen wieder gutzumachen?“

Man konnte ihm sein Bedauern anhören, doch Lucy blickte ihn ungerührt an. „Ich werde tatsächlich heute Abend zum Lido fahren“, begann sie.

„Wunderbar“, unterbrach er. „Dann kann ich –“

„Nein, danke“, wehrte sie ab. „Ich kann auf Ihre Gesellschaft heute Abend gern verzichten. Ich treffe mich schon mit jemandem.“

Sie waren inzwischen an einer Brücke angekommen. Lucy ließ Dr. Ponti einfach stehen und überquerte die Brücke mit eiligen Schritten. Dann verschwand sie in einer Gasse, die zum ihrem Hotel führte.

Dr. Ponti schaute ihr nach, bis sie aus seinem Gesichtsfeld verschwunden war. Er stieß einen leisen Pfiff aus. Solch herablassende Behandlung war er von Frauen nicht gewohnt.

„Buona sera, signorina inglese“, murmelte er. „Molte grazie.“

2. KAPITEL

Unter der Dusche schloss Lucy die Augen und ließ das Wasser über den Kopf strömen. Wenn sie nur auf diese Weise ihre störenden Gedanken wegspülen könnte!

Leider war es ihr nicht möglich, auf diese Weise diesen unerträglichen Dr. Ponti aus ihren Gedanken zu verbannen. Es ärgerte sie, dass er sich einfach die Freiheit herausgenommen hatte, auf die Beziehung zwischen Aubrey und ihr anzuspielen. Was ging es ihn an, ob Portwood sich für sie interessierte?

Plötzlich wurde ihr klar, dass sie sich so über Ponti aufregte, weil er mit seinen Bemerkungen einen empfindlichen Punkt getroffen hatte. Wie bei seinem Vortrag hatte er nur eine harmlose Frage gestellt, und doch damit erreicht, dass sie sich ihrer Lähmung, Entscheidungen im Leben zu treffen, schmerzhaft bewusst wurde.

Nun, wenigstens hatte sie sich entschieden, was sie heute Abend tun würde. Sie hatte bis zum Abendessen noch drei Stunden Zeit, in denen sie über die Lagune fahren und Valeria im Krankenhaus auf dem Lido einen Überraschungsbesuch abstatten wollte.

Lucy zog sich einen warmen schwarzen Pullover und Leggins an. Dann band sie ein buntes Tuch um ihr frischgewaschenes Haar und zog sich die rote Jacke und flache Schuhe an. Nun fühlte sie sich ausreichend für eine windige Überfahrt auf einem der gewappnet. Diese Boote wurden als öffentliches Verkehrsmittel, wie in anderen Städten Busse und Straßenbahnen, eingesetzt und fuhren den ganzen Tag den Canal Grande auf und ab, überquerten die Lagune, und verbanden so die vielen kleinen Inseln des Archipels mit dem Festland.

Sie hinterließ an der Rezeption eine kurze Nachricht für Sir Peter, um ihm mitzuteilen, was sie vorhatte. Dann ging sie zur Piazza San Marco, von wo aus die vaporetti zum Lido abfuhren. Die barocke Kathedrale hier war ein beliebter Treffpunkt. Die Menschen wimmelten über den Platz, und auch die dichten Reihen der Cafétische am Rand des Platzes im Freien waren voll besetzt. Am Boden zwischen den Tischen pickten Hunderte von Tauben, es war ein malerisches Bild.

Lucy beobachtete einen jungen Mann, der unruhig auf und ab wanderte, und immer wieder auf die Turmuhr blickte. Als ein junges Mädchen auf ihn zulief, breitete er erleichtert die Arme aus.

Sie unterdrückte einen Seufzer. Venedig war eine Stadt für Liebende. Wehmütig erinnerte sie sich an David Rowan – doch was für einen Sinn hatte es schon, sich nach einem Mann zu sehnen, der eine andere geheiratet hatte?

Lucy hatte damals im Beltonshaw-Krankenhaus offen und naiv ihre Schwäche für ihn gezeigt und war dann zum Gespött aller Kollegen geworden, als er sich schließlich für eine kühle blonde Säuglingsschwester entschied. Danach war für sie alles schief gegangen …

Sie gab sich selbst einen Ruck. Alles war lange vorbei, und Selbstmitleid half ihr nicht weiter. Immerhin hatte sie mittlerweile einen glühenden Verehrer in Aubrey Portwood, der auch ihren Eltern genehm war. Vielleicht würde sich in der romantischen Atmosphäre Venedigs ja doch noch etwas zwischen ihnen entwickeln. Lucy hatte sich jedenfalls vorgenommen, ihre Zeit hier zu genießen.

Ein vaporetto wollte gerade ablegen, und Lucy ging an Bord. Ein dicker Mann mit dichten Augenbrauen kassierte von ihr die Fahrgebühr. Um diese Jahreszeit gab es noch nicht viele Touristen. Die meisten anderen Passagiere waren Berufstätige, die nach Hause zurückkehrten.

Vom Deck aus hatte sie eine berauschende Sicht auf den Dogenpalast, von dem aus die Seufzerbrücke zum alten Gefängnis führte. Die Bootsleute der Segeljollen und Motorboote auf der Lagune riefen sich zum Spaß kleine Frechheiten zu.

Sie waren mittlerweile in tieferem Wasser angelangt. Lucy stand an der Reling auf der Hafenseite. Ihr Blick wurde von einem schnittigen Motorboot gefangen, das das Wasser in derselben Richtung wie ihr vaporetto durchpflügte. Ein Mann mit einer weißen Seglermütze stand am Steuer.

Als das Boot näher kam erkannte sie, dass der Mann am Steuer Ponti war. Nun hatte auch er sie entdeckt und winkte ihr zu. Ungehalten wandte sie sich ab. Konnte man diesem Mann denn nirgendwo entkommen?

Rufe im vorderen Teil des Schiffes erregten ihre Aufmerksamkeit. Die Maschinen wurden gedrosselt. Ihr entfuhr ein unwillkürlicher Schrei, als sie das Segelboot der beiden jungen Männer von vorhin direkt vor dem vaporetto erblickte. Sie hatten Probleme mit dem Segel und konnten dadurch nicht manövrieren.

Einer der beiden zog an der Pinne, um das Boot vor den Wind zu drehen. Eine Bö ergriff unerwartet stark das Segel, und es schwang mit voller Wucht herum. Einer der Jungen wurde zum Entsetzen der Zuschauer am Hinterkopf getroffen und von Bord gefegt.

Der andere Junge hatte alle Hände voll zu tun, das schwankende Boot vor dem Kentern zu bewahren, und konnte einen Augenblick seinem Freund nicht helfen.

„Mann über Bord!“, erklangen laute Rufe, doch der Junge war nirgends zu sehen. Der Rettungsring, den man in seine Richtung geworfen hatte, dümpelte still auf dem Wasser.

Lucy strengte ihre Augen an. Da erblickte sie eine reglose Figur, die im Wasser trieb. Ihr wurde schlagartig klar, dass ein Rettungsring einem Bewusstlosen nichts nützen würde, und dass er unweigerlich bald ertrinken würde, wenn man ihm nicht half.

„Danilo, Danilo“, schrie der andere Junge hilflos entsetzt. Auch Lucy fühlte sich schrecklich hilflos. Der Bootsführer des vaporetto hatte den Motor völlig gedrosselt und ließ dreimal lautes Hupen erklingen, um andere Schiffe zu warnen.

Plötzlich erinnerte sich Lucy an Ponti. Sie rannte wieder auf die andere Seite des Schiffes, und schaute nach dem schnellen Motorboot aus, das sie mittlerweile überholt hatte. Ponti hatte das laute Tuten gehört und sich umgedreht. Er sah nun zu der wild winkenden, rot gekleideten Gestalt hin.

„Pino, Pino, kommen Sie zurück!“, schrie Lucy.

Er wendete in einem weiten Bogen. Dabei erblickte er das treibende Segelboot und den gestikulierenden Jugendlichen und erfasste sofort die Situation.

Er verlangsamte die Fahrt, als er sich dem Boot näherte und fuhr vorsichtig heran, von den Passagieren an der Reling des vaporetto geleitet. Lucy beobachtete, wie er den hell gekleideten im Wasser treibenden Jungen ausmachte und sein Boot dicht an ihn heranbrachte. Zweimal fasste er ins Leere, bis er ihn zu packen bekam und ihn unter Aufbietung aller Kräfte an Bord hievte.

Die Zeugen der Rettungsaktion applaudierten zaghaft, denn keiner war sich sicher, ob der Junge überhaupt noch am Leben war. Reglos lag er da, und Lucy beobachtete schweigend, wie die Männer vom vaporetto einen Teil der Reling beiseiteschoben und Ponti halfen, den leblosen Körper an Deck zu ziehen.

Lucy stand wie angewurzelt und beobachtete Ponti. Er kniete sich neben den Jungen und hob seinen Oberkörper an, sodass ihm Wasser aus Mund und Nase floss. Einige Passagiere meinten, dass das Wasser aus seinen Lungen kam, doch Lucy wusste, dass diese sich nicht so schnell mit Wasser füllten. Das Wasser stammte eher hauptsächlich aus dem Magen.

Ponti bat mit scharfer Stimme um Mithilfe. „Rianimazione, fate presto, pronto.“

Lucy löste sich sofort aus ihrer Erstarrung, so als ob er ihr persönlich befohlen hätte, bei der Wiederbelebung zu helfen. Sie kam an seine Seite, griff nach dem Kinn des Leblosen und steckte ihm zwei Finger in den Hals, bis er weiteres Wasser erbrach. Ponti blickte sie beifällig an.

„Wir müssen Mund-zu-Mund-Beatmung versuchen“, stieß er aus. Gemeinsam drehten sie den Jungen um, sodass er mit dem Gesicht nach oben lag. Ponti kniete auf der einen Seite und hob das Kinn an. Automatisch kniete sich Lucy auf der anderen Seite nieder und machte den Oberkörper des Jungen frei. Dann horchte sie am Brustkorb. Stille.

Ponti blickte sie fragend an.

„Ich bin mir nicht sicher“, sagte sie. „Fangen Sie mit Mund-zu-Mund-Beatmung an, ich übernehme die Herzmassage.“

Pino fing ohne Einwände sofort mit der künstlichen Beatmung an. Er bog den Kopf des Jungen zurück, verschloss ihm die Nase mit Daumen und Zeigefinger, und presst seine Lippen auf den offenen Mund. Es war sehr anstrengend, Luft in die Lungen zu pressen. Der Brustkorb hob sich nicht.

Ponti setzte sich schwer atmend auf, während Lucy nun traumwandlerisch sicher die Hände in die richtige Position auf dem Brustkorb brachte, und kräftig niederdrückte.

Eins-zwei-drei-vier-fünf, zählte sie mit. Jedes Mal wurde das Herz kurz und kräftig gedrückt, was es dazu bewegen sollte, wieder von allein zu schlagen.

Als sie sich wieder aufrichtete, beugte Ponti sich wieder vor, um den Jungen weiter zu beatmen. Dieses Mal bemerkte Lucy, wie sich der Brustkorb unmerklich hob. Ein paar Leute jubilierten, aber Lucy wusste nur zu gut, dass dies nichts weiter bedeutete. Es zeigte nur, dass Luft in die Lungen gelangt war. Trotzdem konnte es sein, dass der Junge längst tot war.

Wieder drückte sie fünfmal kräftig zu, bevor Ponti wiederum beatmete. Auch diesmal hob sich der Brustkorb.

Automatisch arbeiteten sie immer abwechselnd weiter. Lucy hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung versucht hatten. Sie hoffte nur inständig, dass ihre Bemühungen Erfolg hatten, bevor die Erschöpfung sie zum Aufgeben zwang.

Kurz bevor sie die Hoffnung verlor, hob sich plötzlich die Brust des Jungen von alleine. Er hatte angefangen, wieder selbstständig zu atmen. Seine Augenlider flatterten, und der Atem verursachte ein rasselndes Geräusch in seiner Kehle.

Lucy und Ponti sahen sich sprachlos an. Gemeinsam hievten sie den Jungen in eine aufrechte Position. Er stieß auf und erbrach noch etwas Wasser.

Lucy schlug ihm auf den Rücken. „Husten!“, befahl sie.

„Tossisci!“, wiederholte Ponti auf Italienisch.

Das Leben kehrte sichtlich in den jungen Mann zurück, wenn auch seine Nase und Ohren immer noch leicht blau gefroren blieben. Er schauderte leicht und blickte Lucy an. Sie schälte ihn aus seinen nassen Kleidern und umhüllte ihn mit einer warmen Decke.

Ponti untersuchte die Schwellungen an seinem Hinterkopf. Der Junge stöhnte leise und hielt sich an Lucy fest. Zum Glück schien er keine Fraktur zu haben, doch eine Röntgenaufnahme im Krankenhaus war auf jeden Fall unumgänglich.

Das Boot nahm die Fahrt zum Lido wieder auf. Über Funk informierte der Bootsführer die Wasserschutzpolizei, damit sie sich um den anderen Jugendlichen und um Pontis Motorboot kümmerte. Per Handy rief Ponti beim Krankenhaus an und bat um einen Krankenwagen an der Landestelle, wo sie in Kürze ankommen sollten.

Gleich nach der Ankunft wurde der zitternde Patient von zwei Pflegern auf eine Trage geladen. Ponti lächelte Lucy freundlich zu. „Ich werde mit zur Notaufnahme gehen. Sie sind jetzt frei, den Abend noch zu genießen“, sagte er.

Danilo protestierte. „Lassen Sie mich nicht allein, Signora“, bettelte er.

Lucy konnte seine Bitte nicht abschlagen, sie begleitete ihn in den Krankenwagen, setzte sich neben ihn, und hielt seine Hand.

„Wo ist mein Freund Giorgio?“

Sie beruhigte ihn, dass sein Freund nun auch bald gerettet würde, und dass sie sich nachher im Krankenhaus treffen würden.

Er schenkte ihr ein zittriges Lächeln. „Sie und der Doktor haben mein Leben gerettet“, sagte er auf Italienisch.

Doktor. Alle auf dem Boot waren erleichtert über die Anwesenheit eines Doktors, nämlich Ponti, gewesen. Es gab Lucy einen Stich, dass niemand von ihrer eigenen Qualifikation sprach.

Nach kurzer Zeit hatten sie das Ospedale Al Mare, das Krankenhaus auf dem Lido, das direkt am Meer lag, erreicht. In der Notaufnahme fühlte Lucy sich sofort zu Hause. Das geschäftige Durcheinander von Patienten, Angehörigen, Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern war ihr noch immer seltsam vertraut. Ponti schien sich hier sehr gut auszukennen und war anscheinend auch jedermann bekannt.

„Pino! Wen hast du denn diesmal aufgegabelt?“, wurde er von einem Pfleger begrüßt, wobei Lucy nicht ganz klar war, ob er auf sie oder auf Danilo anspielte.

Danilo sollte über Nacht im Krankenhaus unter Beobachtung bleiben. Gerade als er auf die Station gerollt wurde, kam die Wasserschutzpolizei mit seinem noch immer käsebleichen Freund Giorgio im Schlepptau.

Ponti wurde versichert, dass sein Boot an der Landestelle gut vertäut lag. Dann wollten die Polizisten ein Protokoll über den Unfall aufnehmen.

Die beiden Freunde lagen sich in den Armen. Giorgios Blick fiel auf Lucy und er strahlte. „Bellissima! Die Schöne von der Fondamenta Nuove!“

„Sie gehört mir“, warnte Danilo mit schiefem Lächeln. „Sie hat mein Leben gerettet.“

Lucy war erleichtert über diesen offensichtlichen Beweis, dass die Lebensgeister in den Jungen zurückgekehrt waren. Nun konnte sie sich beruhigt um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.

Sie erkundigte sich an der Rezeption nach Valeria. „Frau Dr. Corsini?“ Der Portier sah in seinem Plan nach. „Sie hat erst wieder morgen Dienst. Aber Sie können ihr eine Nachricht hinterlassen.“

Lucy warf ein paar hastige Zeilen aufs Papier, in denen sie Valeria ihre Hotelrufnummer hinterließ und sie um ein baldiges Treffen bat. Dann machte sie sich auf den Rückweg zu ihrem Hotel. Ihr Vater wartete sicherlich schon auf sie.

Unentschlossen blieb sie im Eingang des Krankenhauses stehen. Ihre Knie hatte plötzlich angefangen zu zittern, und sie musste sich an die Wand lehnen. Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen.

Das ist doch lächerlich, sagte sie sich, die Aufregung ist doch vorbei. Trotzdem konnte sie die aufsteigenden Tränen beim besten Willen nicht mehr unterdrücken. Es war so peinlich! Da stand sie nun mitten unter Fremden und weinte aus heiterem Himmel. Lucy wäre am liebsten im Erdboden versunken.

Jemand kam aus der Notaufnahme, und eilte ihr zur Seite. „Lucia!“, rief Pino atemlos. „Ich habe Sie überall gesucht. Wo waren Sie denn plötzlich?“ Er bemerkte ihre Verfassung und schloss sie spontan in die Arme. Leise murmelte er ihr beruhigende Worte ins Ohr. Lucy spürte seine starken Arme, hörte seine tiefe Stimme und genoss seine Wärme – er war ein sicherer Hafen in einer bedrohlichen Welt.

„Es ist alles in Ordnung, cara mia. Bei mir bist du sicher, weine nicht“, flüsterte er. Er lächelte sie an. „Nach der Heldentat solltest du eher stolz sein, als Tränen zu vergießen“, neckte er.

Lucy spürte, wie seine Fürsorge sie aufbaute. Sie vergrub das Gesicht in seinem Jackenaufschlag um noch einem Moment das Gefühl völliger Aufgehobenheit zu genießen. Er schloss sie noch fester in die Arme und sie verharrten auf diese Weise eine Weile ganz still.

In diesen Armen könnte ich die Zeit bis zum Ende meines Lebens verbringen, dachte Lucy plötzlich. Sie hatte aufgehört zu schluchzen und ihr Atem ging nun ruhiger.

„Geht es besser?“, fragte er besorgt.

Lucy hob den Kopf von seiner Schulter. Was um Himmels willen tue ich hier bloß, dachte sie verlegen. Ich kenne diesen Mann doch kaum. Sie schlug die Augen nieder und spürte, wie die Röte sich langsam über ihr Gesicht ausbreitete. Sie hätte im Erdboden versinken mögen.

„Es tut mir leid, Dr. Ponti“, stammelte sie. Von ihrer kühlen Arroganz ihm gegenüber von heute Nachmittag war nichts mehr übrig geblieben.

„Was tut Ihnen leid?“ Er war zum distanzierten Sie zurückgekehrt. „Lucia, hören Sie, Sie waren wundervoll! Ich konnte meinen Augen kaum trauen, als ich Sie bei der Herzmassage beobachtet habe. Alleine hätte ich es niemals schaffen können, aber gemeinsam haben wir den Jungen zurückgeholt.“ Er lächelte ihr strahlend zu. „Kommen Sie mit. Die Polizisten fahren mich zu meinem Boot. Dann bringe ich Sie nach Hause.“

Er nahm sie am Arm und führte sie zum wartenden Polizeiwagen. Die beiden Polizisten grüßten sie freundlich und beglückwünschten sie zu ihrer beherzten Hilfe. Während der Fahrt zur Anlegestelle legte Ponti den Arm um ihre Schulter. Lucy machte keine Einwände und genoss noch einmal den Trost seiner Nähe.

Am Anleger angekommen, nahm Ponti sie wiederum am Arm. „Bevor ich Sie aufs Festland bringe, müssen wir etwas gegen Ihren Schock unternehmen“, sagte er. Er führte sie in die kleine Bar neben dem Steg und bestellte für sie einen Cognac und eine Scheibe Panettone, einem italienischen Hefekuchen.

Dankbar nahm Lucy an. Der Cognac tat ihr gut.

„Wo haben Sie Ihre Erste-Hilfe-Maßnahmen gelernt?“, fragte Ponti neugierig. „Ich hätte solch eine Professionalität nicht von einer Sekretärin erwartet.“

Lucy war nicht danach ihm zu erzählen, dass sie ausgebildete Ärztin war. Sie fürchtete die Fragen, die dann unweigerlich kommen würden.

„Es war Teil meiner Ausbildung“, sagte sie ausweichend. „Ich bearbeite jetzt medizinische Statistiken im Gesundheitsministerium.“

„Das muss eine sehr gute Ausbildung gewesen sein“, bemerkte er.

Lucy biss ein Stück Panettone ab. „Der Kuchen schmeckt absolut wundervoll. Macht bestimmt dick“, murmelte sie ablenkend.

„Was ist mit Ihrer Verabredung heute Abend?“, fragte er unvermittelt. „Hatten Sie nicht was vor?“

Sie erinnerte sich verlegen an die schroffe Abfuhr, die sie ihm vorhin erteilt hatte. „Daraus ist nichts geworden. Ganz gut so, nach all der Aufregung ist mir nicht nach Ausgehen. Aber ich werde mittlerweile im Hotel zum Essen erwartet.“

Ponti bemerkte, dass sie nichts von sich preisgeben wollte, und akzeptierte es so. „Gut, Lucia. Dann können wir jetzt fahren. Getrauen Sie sich, die Lagune in meinem kleinen Motorboot zu überqueren?“

Das Boot wirkte wirklich ziemlich klein und schmal, aber als sie das Wasser in der beginnenden Dunkelheit durchpflügten, war Lucy über seinen Komfort überrascht. Es tat ihr fast leid, dass die Fahrt so schnell zu Ende war, als die Lichter des Festlandes nahegekommen waren.

Er begleitete sie noch bis zum Hotel. Lucy sank das Herz, als sie Aubrey Portwood schon unruhig auf der Treppe der Albergo Cicliami entdeckte.

Als er Lucy erblickte, warf er seine Zigarette erleichtert zu Boden und trat sie aus. „Gott sei Dank sind Sie endlich gekommen, Lucy. Ihr Vater hat sich über Ihre Verspätung Sorgen gemacht. Wo sind Sie denn so lange alleine gewesen?“

Ponti grinste amüsiert, weil wegen ihrer Verspätung so viel Aufhebens gemacht wurde, doch Lucy war es unangenehm, dass sie ihrem Vater Sorgen bereitet hatte.

„Es ist alles in Ordnung, Aubrey“, beschwichtigte sie. „Und ich war nicht ganz allein. Sie erinnern sich noch an Dr. Ponti von heute Nachmittag?“ Sie wies auf ihren Begleiter.

Ponti streckte die Hand aus. „Es ist mir eine Ehre.“ Er machte eine übertriebene Verbeugung. „Ihre Sekretärin hat heldenhaft einen fast Ertrunkenen wieder belebt“, fuhr er fort.

„Sekretärin?“, knurrte Aubrey Portwood. Er war nicht zu Späßen aufgelegt und fühlte sich von Ponti auf den Am genommen. „Wovon reden Sie? Lucy ist Sir Peters Tochter, und er macht sich große Sorgen wegen ihrer Abwesenheit.“

„Einen Moment, Aubrey.“ Ponti sah Lucy fest an. „Der Mann, der wie Churchill aussieht, ist also Ihr Vater“, stellte er fest.

„Tut mir leid, dass ich Ihnen das nicht schon vorhin erklärt habe, Dr. Ponti“, antwortete sie verlegen.

„Ihr Vater ist Sir Peter Hallcross-Spriggs, Parlamentsmitglied und Vizegesundheitsminister“, bellte Aubrey Portwood.

„O mio Dio!“ Ponti schlug die Hand vor den Kopf. „Sir Peter? Sind Sie dann etwa eine Adlige, Lucia?“

„Natürlich ist sie das“, mischte sich Portwood wichtigtuerisch ein. „Und sie heißt nicht Lucia, sondern Dr. Lucinda Hallcross-Spriggs.“

„Mein Gott, Aubrey, lassen Sie doch“, protestierte Lucy. Sie wagte es nicht, Ponti in die Augen zu sehen.

Dieser hatte bei Portwoods Ausführungen leicht durch die Zähne gepfiffen. Er machte eine weitere übertriebene Verbeugung. „Wenn ich nur gewusst hätte, mit wem ich es zu tun habe, hochverehrte Dottoressa, hätte ich anstelle der Seglermütze meine Krone getragen.“

Lucy war über die Unbeeindrucktheit des Italieners recht amüsiert, doch Portwoods Steifheit erstickte ihr Lächeln.

„Wir müssen uns verabschieden, Dr. Ponti“, sagte sie förmlich. „Ich weiß, Sie müssen zum Lido zurück …“ Sein schelmischer Blick brachte sie ins Stocken.

„Gute Nacht, Dottoressa“, antwortete er übertrieben würdevoll. „Danke für einen – aufschlussreichen – Abend. Sie waren wundervoll. Ciao, Aubrey.“

Lucy sah ihm mit gemischten Gefühlen hinterher.

„Liebe Lucinda. Es tut mir sehr leid, wenn ich vorhin etwas entgleist bin“, begann Aubrey. „Aber Ihr Vater –“

Lucy schnitt ihm das Wort ab. „Danke, Aubrey, aber manchmal wünschte ich, dass Sie und Daddy sich daran erinnerten, dass ich bereits erwachsen bin.“

Mit diesen Worten ließ sie ihn auf der Treppe stehen und stürmte ins Hotel, wo sie sich sogleich den besorgten Vorwürfen ihres wartenden Vaters stellen musste.

Männer! Manchmal waren sie einfach unmöglich.

Abends im Bett ließ sie sich noch einmal die Geschehnisse des Tages durch den Kopf gehen und dachte an Pontis Lob ihrer Geistesgegenwart im Notfall, durch die ein junges Leben gerettet worden war. Gab es etwas Schöneres?

3. KAPITEL

„Wie geht es dir heute Morgen, Liebes. Kannst du zur Konferenz kommen?“, erkundigte sich ihr Vater fürsorglich. „Und soll ich dir das Frühstück ans Bett bringen lassen?“

Lucy seufzte. „Natürlich kann ich zur Konferenz kommen. Deswegen bin ich doch hier. Ich komme gleich runter zum Frühstück.“

„Aber du musst dich nach den Anstrengungen des gestrigen Tages etwas ausruhen“, protestierte ihr Vater.

„Daddy, sei lieb und hör auf mich zu bemuttern. Bitte geh schon mal vor, ich komme gleich.“

Lucy fand es zwar nett, dass ihr Vater immer noch versuchte, sie wie ein kleines Schulmädchen zu verwöhnen, aber oft gab er ihr damit auch das Gefühl, dass ihre Arbeit gar nicht gebraucht wurde. Dass sie sich wirklich noch etwas erschöpft fühlte war kein Grund, nicht pünktlich um neun zum Kongress zu gehen.

Sie bürstete ihre dichten Haare und schlang sie zu einem eleganten Knoten, den sie mit einem Schildpattkamm feststeckte. Sie wirkte kühl und zurückhaltend. Niemals sollte Ponti ihr ansehen können, dass er ihre Gefühle durcheinandergebracht hatte.

Die Erinnerung daran, dass sie sich gestern im Krankenhaus an Pontis Schulter ausgeweint hatte, machte sie noch immer verlegen, auch wenn er sich ihr gegenüber äußerst fair verhalten hatte. Peinlich, dass Aubrey ihm dann auch noch erzählt hatte, dass sie eigentlich Ärztin war. Was mochte er nun wohl von ihr denken?

Der Morgen verging jedoch, ohne dass sie Ponti begegnete. Lucy wusste nicht, ob sie froh oder traurig darüber sein sollte. Wenn er gestern nur gekommen ist, um die Vorlesung für d’Arc zu halten, werde ich ihn wohl nicht mehr wieder sehen, dachte sie, doch die erwartete Erleichterung stellte sich nicht ein.

Sie musste sich sogar zusammenreißen, zu Aubrey Portwood nett zu sein, als er ihr im Laufe des Morgens einen Kaffee und ein paar englische Zeitungen brachte. Er fragte höflichst nach ihrem Befinden.

„Ich frage, weil ich Sie und Sir Peter heute gerne zum Essen ins L’Usignolo Argento einladen möchte“, sagte er. „Miss Elstone ist natürlich ebenfalls eingeladen.“

Wie praktisch, dachte Lucy im Stillen, dann kann Meg sich mit Daddy unterhalten, und Aubrey hat mich für sich allein.

„Soll ich um acht Uhr einen Tisch für vier bestellen?“

Lucy lächelte reserviert. „Ja, da wäre nett.“

„Danke, Lucinda.“ Portwood strahlte zufrieden. „Entschuldigen Sie mich bitte. Ich werde mich gleich darum kümmern.“

Ein Saaldiener brachte ihr ein tragbares Telefon. „Signorina, ein Anruf für Sie.“

Lucy meldete sich, und sofort breitete sich ein Lächeln in ihrem Gesicht aus.

„Valeria! Hallo, wie schön, dich zu hören. Ich habe dich leider gestern Abend im Krankenhaus nicht getroffen.“

Portwood hatte sich diskret zurückgezogen, konnte aber noch jedes Wort der Unterhaltung hören.

„Ja, natürlich möchte ich dich gerne heute Abend treffen. Es ist nur –“ Sie sah Portwood fragend an.

Er verstand sofort. „Liebe Lucinda, Ihre Freundin ist auf jeden Fall heute Abend eingeladen“, versicherte er ihr beflissen.

Lucy deckte kurz die Sprechmuschel zu. „Danke, Aubrey.“ Das L’Usignolo Argento war bekanntermaßen exklusiv und teuer. „Val, hör zu. Kommst du um acht Uhr mit zum Essen? Daddys Privatsekretär lädt uns ein.“

Sie verabredeten sich um sechs Uhr im Hotel, damit sie sich vor dem Essen noch in Ruhe unterhalten konnten. Lucy war froh über Valerias Kommen, denn so würde sie nicht nur von Aubrey alleine in Anspruch genommen werden. Im Moment hatte sie keine Lust, sich näher mit ihm abzugeben.

Sie musste sich endlich um ihr eigenes Leben kümmern. Die Erfahrung gestern Nacht hatte ihre Sehnsucht geweckt, wieder als Ärztin zu arbeiten. Ob sie es sich noch einmal getraute? Vielleicht würde ein Gespräch mit Valeria ihr helfen, diesbezüglich klar zu sehen.

Das Leben ihrer Freundin, die Behandlung von Patienten und der Austausch mit Kollegen, erschien ihr viel interessanter als ihre Arbeit im Ministerium.

Nach ihrer Enttäuschung mit David Rowan und ihrem beruflichen Versagen hatte sie sich nur zu gerne in die Sicherheit von Hallcross Park geflüchtet. Der Frieden in Wiltshire hatte ihr seelisches Gleichgewicht halbwegs wiederhergestellt, und nun ging sie mehr oder minder zufrieden einem Bürojob mit regelmäßigen Arbeitszeiten nach. Von ihren Freunden wurde sie sogar beneidet, da sie ihren Vater auf interessante Reisen begleiten konnte. Dennoch …

„Schön, dass deine Freundin heute Abend mitkommt“, meinte ihr Vater beim Mittagessen. „Aubrey hat auch noch diesen jungen Mann eingeladen, den wir Montag getroffen haben. Wie hieß er noch?“

„Dr. Scogliera? Der blonde Strahlenfacharzt?“

„Genau der. Netter Kerl. Dann sind wir zu sechst am Tisch, kann nicht besser sein.“

Lucy hatte den Verdacht, dass Aubrey Portwood den jungen Mann eingeladen hatte, damit er sich um Valeria kümmerte. So hatte er Lucy wieder für sich alleine. Er schien entschlossen zu sein, ihr den Hof zu machen. Sie wollte sich dadurch aber nicht die Laune verderben lassen. Das L’Usignolo Argento war ein sehr exklusives Restaurant, das für sein internationales gehobenes Publikum bekannt war, und sie freute sich schon darauf, einmal das venezianische Nachtleben zu erleben.

Nach dem Mittagessen flüchtete Lucy einen Moment an die frische Luft und schlenderte ein wenig auf dem weiten Platz vor dem Krankenhaus.

Drei Kinder spielten selbstvergessen mit einem Ball im Sonnenschein. Lucy entdeckte einen Eisverkäufer auf der anderen Seite des Platzes und konnte nicht widerstehen, die Kinder zu einem Eis einzuladen. In der Sonne schmolz ihr Eis recht schnell, und sie musste sich beeilen, es aufzuessen.

Sie genoss die Wärme und den Zauber des Ortes. Ich möchte wirklich nach dem Kongress noch einige Zeit hier bleiben und die jahrhundertealte Stadt etwas eingehender kennenlernen, dachte Lucy. Ich muss nur meinen Flug von Samstag umbuchen und eine etwas bescheidenere Unterkunft finden.

„Ich sehe, Sie haben unser gelato entdeckt. Unser italienisches Eis ist gut, nicht wahr?“

Lucy fuhr verlegen zusammen, als sie die tiefe Stimme neben sich hörte. Zu Hause hätte sie sich nie die Blöße gegeben, in der Öffentlichkeit ein Eis zu lutschen, doch Ponti schien nichts dabei zu finden. Er lächelte sie breit an.

„Buon giorno, dottore.“ Sie suchte nach Worten. „Ich habe Sie heute Morgen gar nicht auf der Konferenz gesehen.“ Sofort wünschte sie, es nicht gesagt zu haben. Er sollte nicht den Eindruck bekommen, sie hätte ihn vermisst.

„Ich hatte im Krankenhaus zu tun.“

„Wie geht es Danilo?“, erkundigte sie sich.

„Wahrscheinlich ist er schon entlassen worden. Er soll noch Antibiotika nehmen, damit er keine Infektion bekommt. Man darf die Wasserverschmutzung nicht unterschätzen.“

Lucy wusste nicht, wohin sie sehen sollte, denn er verschlang sie fast mit seinen Blicken. Sie schlug die Augen nieder.

„Und wie geht es Ihnen heute, Dottoressa?“

„Danke, mir geht es gut“, antwortete sie steif. „Danilo hatte Glück, dass Sie in der Nähe waren“, meinte sie ablenkend. Sie hatte kein Interesse daran, dass das Gespräch zu persönlich wurde. „Ich werde nie vergessen, wie Sie ihn herausgezogen haben. Ich fürchtete schon, Sie würden auch ins Wasser fallen.“

„Das dachte ich auch, ich musste mich mit ganzer Kraft dagegenstemmen.“ Er strich ihr unvermittelt zart über die Nasenspitze. „Eis“, erklärte er, und grinste.

„Oje.“ Hastig kramte sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. „Wie peinlich!“ Sie wischte sich Nase und Mund.

Er beobachtete ihre Hektik fröhlich lächelnd. Lucy war es in seiner Gegenwart kaum möglich, sich so würdevoll zu geben, wie es ihr als Tochter eines Adligen anerzogen worden war. Warum konnte sie dann nicht einfach sein Lächeln erwidern?

Er stellte die unvermeidliche Frage: „Lucia, warum wollten Sie mich in dem Glauben lassen, Sie seien Sekretärin, wo Sie doch Ärztin sind?“

„Es ging um ein Menschenleben, da erschien es mir nicht wichtig, meinen Status zu betonen. Was zählt ist, dass Sie Danilo wieder zum Atmen gebracht haben.“

„Nein, Lucia. Wir haben Danilo gemeinsam zum Atmen gebracht. Ohne Ihre Herzmassage wäre er nicht mehr wieder zu beleben gewesen. Sie haben wundervolle Arbeit geleistet.“

„Nein, Pino. Wir haben gemeinsam wundervolle Arbeit geleistet.“

Er warf den Kopf in den Nacken und lachte lauthals los. Sein offenes Hemd ließ den Blick frei auf seine kräftige schwarz behaarte Brust. Dieser Mann ist wirklich wahnsinnig attraktiv, dachte Lucy und senkte wieder den Blick.

„Ich muss wohl wieder zurück“, murmelte sie.

„Wahrscheinlich. Ich kann leider auch heute Nachmittag nicht dabei sein. Ich habe ein – O mio Dio!“

Er hatte jemanden über ihre Schulter hinweg erblickt, und ein besorgtes, aber strahlendes Lächeln veränderte sein Gesicht. Er lief an Lucy vorbei und schloss eine blonde, schmale junge Frau in die Arme. Sie begrüßten einander auf Italienisch und wirkten sehr vertraut miteinander.

„Gabriella, cara mia, meine Liebe.“

„Pino! Ich habe nach dir gesucht.“

„Bitte verzeih. Ich hatte dich noch nicht erwartet.“ Er ließ sie endlich los. Zwischen den beiden schien eine große Vertrautheit zu herrschen. Die junge Frau hatte große dunkelblaue Augen und einen Porzellanteint. Ihr seidiges blondes Haar war in einen sanften Knoten geschlungen und mit einem blauen Tuch aus Chiffon umwunden. Lucy war sich sicher, sie schon irgendwo einmal gesehen zu haben.

„Wie bist du mit dem Professor zurechtgekommen?“, erkundigte sich Ponti.

„Sehr gut. Er ist ja so charmant! Er hat mir Blut abgenommen, und auch Knochenmark entnommen. Am Montag muss ich wieder zu ihm. Dann sagt er mir, ob ich ins Krankenhaus muss oder nicht.“

Pontis Gesicht verdunkelte sich. „Hm, ja, gut“, murmelte er. Es schien, dass ihm die Nachricht nicht gefiel. Lucy hatte das Gefühl, sie solle nicht weiter mithorchen und zog sich zurück.

„Entschuldigen Sie bitte die grobe Unterbrechung, Signorina“, rief die junge Frau sofort schuldbewusst.

Lucy zögerte, und Ponti beeilte sich, sie einander vorzustellen.

„Lucia, dies ist Gabriella Rasi, eine liebe Freundin. Gabriella, ich darf dir Dr. Lucinda Hallcross aus England vorstellen.“

Die beiden Frauen lächelten sich an. Die unaffektierte Natürlichkeit der jungen Frau eroberte Lucys Herz im Nu. Sie wirkte so zerbrechlich und zart, als ob ein Windstoß sie schon hinwegfegen könnte. Lucy erinnerte sich plötzlich an ihr Gesicht.

„Gabriella. Habe ich Sie nicht letztens in einem Film über Vivaldis Leben gesehen? Sie haben eine seiner Schülerinnen gespielt, eine Waise.“

Gabriellas große Augen weiteten sich. „La figlia della Pietà? Hat der Film Ihnen gefallen?“

„Ja, sehr. Ich habe geweint, als Sie Ihren Geliebten verlassen haben, um Nonne zu werden.“

„Sie sind sehr nett, Lucia.“ Gabriella lächelte Pino unbefangen zu. „Findest du nicht auch?“

Lucy bemerkte, dass Ponti völlig abwesend war. Er schien sich um etwas Sorgen zu machen. Anscheinend hatte ihn die Nachricht über Gabriellas Untersuchung beunruhigt.

„Ich muss gehen“, sagte Lucy. Sie wollte nicht weiter stören.

„Wir sehen uns bestimmt wieder, Lucy“, versprach Gabriella. „Es ist fast so, als ob wir uns schon lange kennen.“

Sie gaben sich die Hand. Auch Lucy spürte so etwas wie eine unausgesprochene Freundschaft zu der jungen Frau und lächelte sie herzlich an.

„Komm, meine Liebe.“ Ponti nahm Gabriella am Arm. „Ich fahre dich über die Lagune, damit du ordentlich gepflegt wirst. Und wenn heute jemand in Wasser fällt, muss er sich selbst helfen.“ Er nickte Lucy zum Abschied zu.

Lucy kehrte nachdenklich in den Kongresssaal zurück. Es schien um die Gesundheit der jungen Frau nicht gut bestellt zu sein. Die Entnahme von Knochenmark ließ auf den Verdacht einer ernsthaften Blutkrankheit schließen. Anscheinend war ihr selbst jedoch die Ernsthaftigkeit ihres Falles nicht bewusst.

Wie die beiden wohl zueinanderstanden? Einerseits flirtete Ponti offen mit anderen Frauen, ohne dass es ihre Beziehung zu stören schien. Andererseits wurde es Lucy klar, dass sie sich besser nicht zu Träumen über Ponti hinreißen lassen sollte. Die feengleiche Schauspielerin schien ihm wirklich wichtig zu sein. Dass Lucy im Ospedale Al Mare in seinen Armen gelegen hatte, war für ihn wahrscheinlich nicht von Bedeutung. Lucy konnte sich vorstellen, dass er voller Unruhe auf die Laborbefunde am Montag wartete.

Am Ende des Konferenztages blieb Sir Peter noch zurück, um sich mit einigen holländischen Teilnehmern zu unterhalten. Lucy sollte mit Aubrey und Meg schon ins Hotel vorfahren.

„Keine Ausflüge zum Lido mehr, Liebes“, warnte er lächelnd und hob den Zeigefinger.

„Keine Sorge, Sir Peter, ich passe auf“, sagte Aubrey und nahm Lucy Besitz ergreifend am Arm. Meg Elstone wandte sich mit versteinertem Gesicht ab. Sie murmelte etwas von „… Briefe einstecken …“, und eilte davon.

„Was hat dieses Mädchen nur?“, seufzte Lucy. „Immer zeigt sie mir die kalte Schulter.“

„Machen Sie sich nichts draus“, beschwichtigte Aubrey. „Kommen, Sie, Lucinda. Lassen Sie uns einen alten Traum von mir wahr machen und in einer Gondel zum Hotel zurückkehren.“

„Ist das nicht wahnsinnig teuer?“, fragte Lucy.

„Machen Sie doch einem einsamen Mann, der sich nichts mehr wünscht, außer mit einem hübschen Mädchen in einer Gondel auf dem Canal Grande zu fahren, die Freude!“

Lucy konnte seine Bitte schlecht abschlagen und ließ sich die verwitterten Stufen hinunterführen. Die schwarzen Gondeln waren an gestreiften Pfählen angebunden. Ein Gondoliere mit schwarzem Schnurrbart und Strohhut half ihr zu ihrem Platz. Aubrey ließ sich neben ihr nieder.

Vom Kanal aus waren die wunderbaren Paläste, die die beiden Ufer säumten, richtig gut zu sehen. Aubrey zeigte ihr die besonderen Sehenswürdigkeiten.

„Dort, im Palazzo Justinian, hat Wagner Tristan und Isolde geschrieben. Und da drüben …“ Er erzählte in einem fort.

Lucy hörte mit halbem Ohr zu. Sie bewunderte die unglaublich beeindruckenden, säulengeschmückten geschnitzten Fassaden, die Balkone und gebogenen Fenster, und sie versuchte, den Moment still zu genießen.

Das heimliche Gefühl, dass bei all dem Zauber der Umgebung etwas an diesem Moment nicht ganz richtig war, ließ sie nicht los. Gondeln sind etwas für Liebespaare, dachte sie. Ihr war klar, dass sie den Mann an ihrer Seite nicht liebte, sondern ihn nur respektierte und schätzte. Seine Zuneigung konnte sie nicht erwidern.

Warum kann ich mich nicht in ihn verlieben, fragte sie sich. Er würde mich umsorgen und beschützen. Meine Eltern halten viel von ihm, und vom Altersunterschied abgesehen, passen wir gut zusammen.

Sie war gewissermaßen erleichtert, als sie am Anleger vor der Albergo Cicliami ankamen. Höflich bedankte sie sich für die angenehme Fahrt, schlug jedoch einen Drink an der Bar aus, weil sie Valeria Corsini bald erwartete.

Tatsächlich traf Valeria bald darauf ein. Die beiden junge Frauen fielen sich zur Begrüßung um den Hals.

„Hochverehrte Lucinda“, witzelte Valeria. „Du hast dich nicht ein bisschen verändert, wirkst immer noch so aristokratisch.“

„Ach, sei still, Val! Du weißt, dass ich mir aus meinem Titel nie etwas gemacht habe. Komm, wir gehen in eine kleine Bar. So können wir Daddy und seiner Gefolgschaft entgehen, und ein bisschen quatschen.“

„Mit wem gehen wir heute Abend aus?“, erkundigte sich Valeria bei Lucy, nachdem sie sich in einer kleinen Bar an einen Tisch gesetzt hatten.

„Wir sind von Aubrey Portwood, Daddys Privatsekretär, zum Essen eingeladen.“

„Klingt ja beeindruckend. Und ich soll dann Sir Peter beschäftigen, während du mit dem Gastgeber flirtest?“

„Ach Quatsch!“ Lucy grinste über die Unverfrorenheit ihrer Freundin. „Die Stenotypistin Meg Elstone und Dr. Scogliera, ein Strahlentherapeut, kommen auch mit.“

„Ach, Gianni Scogliera. Ich kenne ihn.“ Valerias Augen leuchteten. „Wir überweisen oft Patienten zur Bestrahlung. Sie bleiben danach in einem kleinen Pflegeheim für Strahlenpatienten, auf dem Lido. Es gehört einer verarmten Gräfin. Dort ist es netter als im Krankenhaus. Aber nun erzähl mal, Lucy, was machst du hier auf dem Kongress?“

Lucy starrte in ihren Kaffeebecher. „Eigentlich bin ich hier mit meinem Vater. Ich arbeite für ihn als Statistikerin.“ Sie zögerte. „Ich glaube, die Arbeit liegt mir mehr als das Krankenhaus“, sagte sie ohne Überzeugung.

„Wirklich? Hattest du nicht nach der Ausbildung in Manchester im Krankenhaus gearbeitet?“, fragte Val überrascht.

„Ja. Aber wenn ich ehrlich bin, möchte ich das lieber vergessen“, antwortete Lucy düster.

„Manchester ist weit weg“, sagte Val einfühlsam. „Erzähl der guten Tante Val, was los war.“

Lucy verspürte plötzlich Erleichterung darüber, sich endlich einmal einer Freundin mitteilen zu dürfen. Val hatte die gleiche Ausbildung wie sie und würde vieles ohne große Fragen verstehen.

„Ach, im Beltonshaw General ist einfach alles schief gegangen, Val. Ich habe mich total lächerlich gemacht, weil ich mich sofort in einen Arzt verliebt habe. Ehrlich, ich dachte, er erwidert meine Gefühle, aber als ich ihn für ein paar Tage nach Hallcross Park eingeladen habe, hat er sich gleich mit meiner Mutter angelegt. Sie ist sehr vornehm. Er hat ihr extra von seiner Kindheit im East End von London erzählt, von den schlechten Verhältnissen, aus denen er kam. Sie konnte nicht nachvollziehen, dass ich ihn dafür bewunderte, wie er seinen Weg trotzdem gemacht hat. Und dann hat er mich einfach fallen lassen und sich aus heiterem Himmel mit einer Säuglingsschwester verlobt. Natürlich wussten alle, wie verrückt ich nach ihm war, und sie haben sich hinter meinem Rücken kräftig über mich lustig gemacht. Es war so – demütigend.“ Ihre Stimme zitterte.

„Und dann? Hast du in der Gynäkologie weitergearbeitet?“

„Ja, aber es war die Hölle. Wir hatten zu viel zu tun, und oft war ich Tag und Nacht im Dienst. Manchmal war es mir total zu viel, ich konnte den Stress körperlich kaum mehr bewältigen. Besonders nach der Sache mit David. Weißt du, wir mussten noch zusammenarbeiten. Stell dir vor, er hat mich sogar zu seiner Hochzeit eingeladen …“

„Bist du hingegangen?“

„Natürlich nicht!“

„O Lucy, du Arme!“

„Und dann ist etwas wirklich Schlimmes passiert. Ich kann es kaum erzählen. Wir hatten eine schwangere Diabetikerin. Sie hatte schon seit Kindheit schwere Diabetes gehabt, und du weißt, dass die Krankheit in der Schwangerschaft völlig entgleisen kann. Sie war ständig unterzuckert, und wenn ihre Insulindosis verringert wurde, schwang das Ganze ins Gegenteil um, und sie wurde hyperglykämisch. Wir hatten sie wochenlang auf der Entbindungsstation.“

Lucy besann sich einen Moment. „Und dann?“, fragte Valeria gespannt.

„Eines Nachts um zwei erlitt sie einen hypoglykämischen Schock, und die Schwester piepte mich an. Sie weckte mich aus dem Tiefschlaf, denn ich hatte den ganzen Tag im OP verbracht.“

„Ich kann mir denken, was geschehen ist“, seufzte Val. „Du bist wieder eingeschlafen. Das kommt oft vor.“

„Ja, aber sie hat mich nicht noch mal geweckt, sondern den diensthabenden Oberart geholt – David Rowan. Er rauschte auf die Station, nahm Blut ab und stellte fest, dass der Blutzuckerspiegel rapide abgesunken war. Er verabreichte ihr intravenös Glukose, und sie ist sofort wieder zu sich gekommen. Sie war zwar etwas desorientiert, aber ansonsten völlig in Ordnung. Leider haben die anderen Patienten auch alles mitbekommen.“

Lucy biss sich auf die Lippen, und Val strich ihr beruhigend über die Hand. „Und, hat David irgendwas gesagt?“, fragte sie.

„Nein. Ich bin plötzlich aufgewacht und kam in völliger Panik im Bademantel auf die Station gerannt in dem Moment, als der Notfall vorbei war. David war sehr nett, aber die Patientin hat natürlich verstanden, dass ich nicht rechtzeitig gekommen bin. Sie hat es ihrem Mann erzählt, und der hat einen Riesenärger gemacht. Die Gesundheitsbehörde hat eine Untersuchung angeordnet, es war ein Albtraum. Ich wurde dann von dem Vorwurf der Fahrlässigkeit freigesprochen, weil nichts Schlimmes passiert war, und weil ich schon achtzehn Stunden Dienst hinter mir hatte, als es geschah.“

Valeria schüttelte mitfühlend den Kopf.

Lucy fingerte nervös in ihren Haaren. „Ich bekam eine Verwarnung, und musste mich bei der Patientin entschuldigen. Das schlimmste war, dass sie die Manchester News von allem Wind bekamen und die Sache in die Schlagzeilen kam. Ich bin Spießruten gelaufen. Ich war ein nervliches Wrack!“ Sie unterdrückte ein Schluchzen.

„O Lucy, du Arme, was musstest du nur durchmachen“, murmelte Val bestürzt. „Und was hast du dann gemacht?“

„Kurz darauf lief meinen Sechsmonatsvertrag in der Gynäkologie aus, und ich bewarb mich auf der Kinderstation.“

„Das war mutig.“

„Aber natürlich haben sie meinen Vertrag nicht verlängert. Da bin ich nach Hause zurückgekehrt und dort einfach zusammengebrochen. Ich konnte wochenlang nichts anfangen. Schließlich hat mir Daddy diesen Job im Ministerium gegeben. In der Statistik. Ich war immer gut in Mathematik, und es ist auch irgendwie interessant“, setzte sie ohne große Überzeugung hinzu. „Lass uns lieber über dich sprechen, Val.“

Valeria war über Lucys Geschichte sehr entsetzt. Im St. Margaret’s war Lucy eine begabte Studentin gewesen. Nur ihr hochmütig wirkender Oberklasseakzent hatte sie beim Pflegepersonal nicht gerade beliebt gemacht. Jetzt kam es ihr so vor, als ob die schlechten Erfahrungen der Vergangenheit Lucy menschlicher, normaler gemacht hatten. Sie wirkte nicht mehr überheblich, sondern ganz natürlich.

„Weißt du was, Lucy, ich denke, du solltest endlich dem Einfluss deiner Eltern entkommen“, brach es aus ihr heraus.

Lucy wurde rot. Valeria hatte ihre Gedanken erraten. Aber wie sollte sie es bewerkstelligen?

„Warum bleibst du nicht eine Weile in Venedig?“, schlug Valeria vor.

„Das wäre wundervoll. Aber was soll ich hier arbeiten?“

„Das ist doch keine Frage! Die Hotels sind voll von Touristen, besonders im Sommer. Sie kriegen alles, von Sonnenstich bis Herzinfarkt, deswegen werden Englisch sprechende Ärzte immer gebraucht.“

Lucy war nicht ganz überzeugt, doch Val gab nicht auf.

„Viele Hotels haben einen fest angestellten Arzt, doch auch niedergelassene Ärzte in der Gegend machen ein gutes Geschäft mit Touristen. Gerade hier auf dem Lido gibt es einen gut aussehenden Arzt, der sehr gefragt ist.“ Sie blickte Lucy aufmunternd an. „Denk drüber nach.“

Lucy lächelte und zuckte die Achseln. Vals Vorschlag gefiel ihr. Aber wie sollte sie es wohl Sir Peter und Lady Philippa Hallcross-Spriggs beibringen, dass sie eine ganze Saison in Venedig zu verbringen wünschte?

Aubreys Gäste gingen zu Fuß ins Restaurant. Sie begegneten Gruppen von Musikern und maskierten Tänzern. Manche trugen mittelalterliche Kostüme oder schillernde Fantasiekostüme mit Vogelköpfen. Dr. Gianni Scogliera erklärte, dass auf dem Markusplatz das Fest für einen Heiligen gefeiert würde.

Einen Moment lang dachte Lucy, Ponti in der Menge der gut gelaunten Entgegenkommenden zu entdecken, doch sie tat den Gedanken ab. Dann erkannte sie ihn tatsächlich, bei genauerem Hinsehen. Er hatte an jedem Arm ein lachendes Mädchen und schien sich prächtig zu amüsieren.

Der vorbestellte Tisch im Restaurant war kerzenbeleuchtet. Ein Blumengesteck mit einer silbernen Nachtigall, die L’Usignolo Argento seinen Namen gab, stand in der Mitte des Tisches.

Wie Lucy es vorausgesehen hatte, wurde sie den ganzen Abend von Aubrey Portwood unterhalten. Val schien das nichts auszumachen, sie verstand sich sehr gut mit Gianni Scogliera. Der armen Meg Elstone blieb nichts anderes übrig, als sich mit Sir Peter anzuschweigen.

Zwei Champagnerflaschen in Eiskübeln wurden auf den Tisch gestellt. Dann erhielten sie die Menükarten. Lucy wählte Farfalle, kleine schmetterlingsähnliche Nudeln, mit frischem Lachs in Sahnesoße, dazu Salat mit Oliven.

Sir Peter strahlte ab und zu mit väterlichem Stolz zu Aubrey und Lucinda hinüber. Er konnte sich keine bessere Verbindung für seine geliebte Tochter vorstellen.

Auch Aubrey schien von dem Moment inspiriert zu sein. „Vielleicht wird der Ausflug nach Venedig unser Schicksal besiegeln“, flüsterte er Lucy zu.

Eine Antwort blieb ihr erspart, denn in diesem Moment drang Sir Peters Stimme zu ihr hinüber. Er berichtete Gianni und Valeria über Lucys Abenteuer der letzten Nacht. „Eine schwierige Situation, Lucy musste jemandem an Bord eines Schiffes gestern Abend Mund-zu-Mund-Beatmung geben.“

„Nein, Daddy“, korrigierte Lucy. „Beatmet hat ihn Dr. Ponti, nachdem er ihn aus der Lagune gefischt hat.“

„Pino etwa?“, rief Valeria aus. „Weißt du, wie viele Mädchen dich um dein Abenteuer beneiden, Lucy? Er ist der Arzt, den ich vorhin erwähnt habe. Die Touristinnen sind verrückt nach ihm.“

„Besonders während der Filmfestspiele“, grinste Gianni. „Erinnerst du dich an die junge Schauspielerin letztes Jahr? Immer wenn er in der Nähe war, hatte sie Ohnmachtsanfälle.“

„Ach, es werfen sich ihm wirklich zu viele Frauen einfach an den Hals“, meinte Valeria abschätzig.

„Genau“, lachte Gianni. „Nach den Filmfestspielen musste er vor zwei Verlobten flüchten …“

„Bist du etwa neidisch?“, neckte ihn Valeria. „Bei echten Patienten ist Dr. Ponti aber sehr gut“, erklärte sie dann. „Lucy, erinnerst du dich an die verarmte Gräfin und ihr Pflegeheim? Sie ist ausgebildete Krankenschwester. Er arbeitet bei ihr, und er hat auch seine eigene Praxis in der Villa. Es ist alles ein bisschen heruntergekommen, aber die Atmosphäre ist angenehm und sie haben einen erstklassigen Koch.“

„Hat ganz schön Glück mit der Contessa, der Pino“, brummte Gianni.

Lucys Essen wurde inzwischen kalt. Aubrey bemerkte es und wirkte etwas verkniffen. „Sind die Farfalle nicht gut?“, fragte er sie spitz.

„Doch, doch“, versicherte sie eilig und nahm die Gabel schnell wieder auf. Sie hatte ein etwas schlechtes Gewissen, ihren Gastgeber so zu vernachlässigen.

Später führte Aubrey sie auf die kleine Tanzfläche, während die anderen sitzen blieben und ihnen zusahen. Lucy war über Aubreys Besitz ergreifendes Benehmen doch etwas verärgert, es schien, als ob er kein Wort mit seinen anderen Gästen geredet hätte. Zu ihrer Erleichterung löste sich die kleine Party bald auf, da Valeria zum Anleger musste, um noch ein vaporetto zum Lido zu bekommen.

„Hast du über meinen Vorschlag nachgedacht?“, fragte Valeria, als sie sich im Waschraum vor dem Spiegel trafen.

„Ich weiß nicht, Val“, seufzte Lucy.

Autor

Marian Mitchell
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