Romana Exklusiv Band 339

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WÜSTENNÄCHTE von VIOLET WINSPEAR
Bei einem Ausritt in die Wüste wird Lorna verschleppt – von dem attraktiven Scheich Kasim ben Hussayn. Wie magisch fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Wird in der luxuriösen Oase des atemberaubenden Wüstenprinzen ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht für sie wahr?

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  • Erscheinungstag 20.08.2021
  • Bandnummer 339
  • ISBN / Artikelnummer 9783751503228
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Violet Winspear, Melissa McClone, Carole Mortimer

ROMANA EXKLUSIV BAND 339

1. KAPITEL

Selbst am äußersten Ende der Hotelterrasse war die Musik, die aus dem Ballsaal drang, noch deutlich zu hören. Doch die junge Frau, die in einem blauen Abendkleid an der Brüstung stand und zum Sternenhimmel emporblickte, war viel zu sehr in Gedanken versunken, um sie wahrzunehmen.

Die Palmen in dem Garten, der zu ihren Füßen lag, verbreiteten ihren süßlichen, an Lavendel erinnernden Duft, der sich mit jenem mischte, den der Wind über die hohen Mauern trug, hinter denen die Wüste begann.

Genauso widersprüchlich wie diese Düfte waren auch die Gefühle, mit denen die junge Frau dem kommenden Tag entgegensah. Schon als kleines Kind hatte sie in den langen und einsamen Nächten im Internat davon geträumt, eines Tages zur Oase von Fadna zu reisen, wo ihr Vater viele Jahre gelebt und mit den Gemälden, die an diesem Ort fernab der Zivilisation entstanden waren, seinen Ruhm als Künstler begründet hatte. Doch nun, da dieser Tag unmittelbar bevorstand, wurde die Vorfreude schmerzlich von der Trauer darüber getrübt, dass ihr Vater sie nicht mehr begleiten konnte.

Auf einer seiner zahlreichen Reisen hatte er sich eine mysteriöse Infektion zugezogen, die sämtliche Ärzte in Paris ratlos gemacht hatte. Und obwohl seine Tochter ihn ein ganzes Jahr liebevoll umsorgt und gepflegt hatte, war der einst stattliche und kräftige Mann zusehends verfallen und eines Tages einem Fieberanfall erlegen.

Wenn der Zwanzigjährigen überhaupt ein Trost blieb, dann der, dass sie keine finanziellen Sorgen hatte, weil Peter Morel ihr ein beachtliches Vermögen hinterlassen hatte. Doch auch das konnte ihr über den Verlust des geliebten Vaters nicht hinweghelfen, den sie umso schmerzlicher empfand, als ihre Mutter bereits vor vielen Jahren gestorben war.

„Da bist du ja, Lorna!“ Die vertraute Stimme des jungen Mannes riss sie aus ihren trüben Gedanken. „Ich habe dich überall gesucht. Du schuldest mir noch einen Tanz.“

„Habe ich dir nicht deutlich genug gesagt, dass ich nicht die geringste Lust habe zu tanzen?“

So barsch es klang, es war noch milde ausgedrückt. Schließlich hatte sie sich auf den Balkon begeben, weil ihr die aufgesetzte Fröhlichkeit und die belanglosen Gespräche im hell erleuchteten Ballsaal des Hotels unerträglich geworden waren.

Umso mehr fragte sie sich, warum Rodney Grant sich die Mühe gemacht hatte, sie, Lorna, zu suchen, wenn rund um die Tanzfläche genügend andere junge Frauen saßen, die einer Aufforderung zum Tanz liebend gern nachgekommen wären.

„Das schon“, erwiderte Rodney lächelnd, „aber du bist viel zu attraktiv, als dass ich mich so schnell geschlagen geben würde.“

Trotz der Dunkelheit meinte Lorna zu erkennen, dass er errötete. Insgeheim amüsierte es sie, wie sehr es einen erwachsenen Mann in Verlegenheit bringen konnte, einer jungen Frau Komplimente über ihr Aussehen zu machen.

Zumal er ihr nichts Neues sagte, denn Lorna war sich durchaus bewusst, wie sehr sie sich mit ihrem hellblonden Haar, den blauen Augen und dem schmalen, anmutigen Gesicht von ihren Altersgenossinnen abhob.

Doch auf dem Internat, in dem sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, hatte man ihr von früh auf beigebracht, die Menschen nicht nach solchen Äußerlichkeiten, sondern nach ihren inneren Werten zu beurteilen.

Entsprechend heftig reagierte sie, als Rodney unvermittelt näher trat und nach ihrer Hand fasste. Kaum spürte sie auch nur die leiseste Berührung, wandte sie sich ab und legte die Hände auf die Balustrade.

„Ich werde nie verstehen, warum man seine Zeit mit solchen oberflächlichen Belanglosigkeiten vertut, wenn wenige Meter entfernt die wirklichen Abenteuer lauern“, sagte sie bestimmt, während sie wehmütig den faszinierenden Sternenhimmel des Orients betrachtete.

„Das trifft sich gut“, stimmte Rodney ihr mit unüberhörbarem Schalk zu. „Ich bin der Letzte, der gegen ein kleines Abenteuer etwas einzuwenden hätte.“

„Leider muss ich dich erneut enttäuschen“, erwiderte Lorna, ohne ihn anzusehen. „Wenn ich von Abenteuern sprach, meinte ich damit alles Mögliche, aber nicht das, an was du offenbar denkst.“

„Ist es denn verwerflich, wenn ich in der Nähe einer begehrenswerten jungen Frau den dringenden Wunsch habe, sie zu umarmen und zu küssen?“, fragte er und stellte sich neben Lorna. „Ein Flirt kann etwas ungeheuer Romantisches sein, und wenn du mir nicht glaubst, will ich dich gern davon überzeugen.“

„Die Mühe kannst du dir sparen, Rodney Grant“, sagte sie eisig. „Anders als viele andere weibliche Gäste des Ras Jusuf bin ich nicht nach Yraa gekommen, um mir einen Mann zu angeln.“

„Willst du mir immer noch weismachen, dass du die weite Reise in den Orient auf dich genommen hast, nur um die Wüste kennenzulernen?“

„Selbst du wirst zugeben müssen, dass sie jede noch so große Mühe wert ist – was sich von den Männern, die mir bislang begegnet sind, nicht behaupten lässt. Und da ich mittlerweile ein Reitpferd gefunden habe, kann ich morgen früh endlich aufbrechen und mir meinen sehnlichsten Wunsch erfüllen.“

„Das kommt nicht infrage!“, platzte Rodney heraus. „Es wäre der reine Wahnsinn, allein in die Wüste zu gehen – erst recht für eine Frau. Dort draußen herrschen andere Gesetze als in Paris, Lorna“, fügte er nachdrücklich hinzu. „Du wärst nicht die erste Frau, die ihren Leichtsinn teuer bezahlt.“

„Deine Schauergeschichten kannst du jemand anderem erzählen“, erwiderte sie spöttisch. „Mein Vater hat viel zu lange in der Wüste gelebt, als dass ich das Märchen von den wilden Beduinen, die junge Mädchen in ihren Harem entführen, noch glauben könnte. Und selbst wenn ein Fünkchen Wahrheit daran sein sollte, droht mir nicht die geringste Gefahr“, ergänzte sie selbstsicher. „Ich wäre ihnen sicherlich viel zu schlank.“

„Und wenn sie es weniger auf dich als vielmehr auf dein Geld abgesehen haben?“, wandte Rodney erbost ein. „Du wärst nicht die erste Touristin, die entführt und erst gegen Zahlung eines horrenden Lösegelds freigelassen wird – wenn überhaupt.“

„Dann werden meine Entführer rasch einsehen müssen, dass sie einen denkbar schlechten Fang gemacht haben“, wies Lorna seinen Einwand amüsiert zurück. „Ich nage zwar nicht am Hungertuch, aber viel zu holen ist bei mir auch nicht.“

„Wie kann man nur so uneinsichtig sein?“ Rodneys ratloser Gesichtsausdruck verriet, wie sehr ihn Lornas Entschlossenheit verunsicherte.

Entsprechend leise war seine Stimme, als er schließlich weitersprach. „Ich kenne dich zwar erst wenige Wochen, aber lange genug, um sagen zu können, dass ich einer Frau wie dir noch nie begegnet bin. Du bist so anders als alle deine Altersgenossinnen – und damit meine ich beileibe nicht nur die Tatsache, dass du ungern tanzt. Es ist vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, es zu sagen, aber dir dürfte kaum entgangen sein, was ich für dich empfinde. Und weil du mir alles andere als gleichgültig bist, werde ich nicht zulassen, dass du in dein Verderben rennst.“

„Und was gedenkst du dagegen zu unternehmen?“, fragte Lorna kühl.

„Ich werde dich morgen zur Oase von Fadna begleiten.“

„Das wirst du schön bleiben lassen“, erwiderte sie barsch. „Bei dem, was ich vorhabe, wärst du mir nur im Weg.“

Lornas schroffe und unmissverständliche Erwiderung schien Rodney im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben, denn er streckte die Arme aus und stützte sich auf der Brüstung der Terrasse ab.

„Ist das der Dank dafür, dass ein Mann dir offen gesteht, was er für dich empfindet?“, fragte er endlich.

„Es tut mir leid, wenn ich dir wehtun muss“, erwiderte Lorna ungerührt, „aber ich bin mir nicht bewusst, dir je irgendwelche Hoffnungen gemacht zu haben. Vielleicht tanze ich deshalb so ungern, weil ich es nicht mag, mir von einem Mann die Schritte vorschreiben zu lassen. Und in einer Beziehung, erst recht in einer Ehe ist es im Grunde genommen nicht anders. Letztlich ist sie doch nur ein Versprechen, auf dessen Einlösung man vergeblich wartet. Ich ziehe es vor, für mich selbst zu entscheiden und zu tun, was ich will. Ich will zum Beispiel im ersten Licht der Morgensonne im gestreckten Galopp durch eine einsame Landschaft reiten. Und genau das werde ich morgen früh machen.“

Rodney wirkte wie benommen, als er den Blick über die schlanke junge Frau im blauen Abendkleid gleiten ließ, die ihm plötzlich so fremd war wie eine Gestalt aus Tausendundeiner Nacht.

„Du musst selbst wissen, was du tust“, sagte er schließlich niedergeschlagen. „Von mir lässt du dich ja doch nicht umstimmen. Trotzdem solltest du eins bedenken, Lorna“, fügte er mit großem Ernst hinzu, „wer aus Eis ist, sollte sich davor hüten, in die Wüste zu gehen.“

2. KAPITEL

Als Lorna am nächsten Morgen das Hotel verließ, kündigte der im Osten rötlich gefärbte Himmel den nahen Sonnenaufgang an.

Kaum hatte sie den großzügigen Vorhof des Ras Jusuf erreicht, entdeckte sie den Stallburschen. „Salam aleikum“, begrüßte sie ihn in dessen Landessprache, doch ihr Blick galt einzig dem Fuchswallach, dessen Zügel er hielt.

„Salam aleikum“, erwiderte Mustafa und beobachtete mit einiger Skepsis, wie die junge Frau, die in ihrer Reitkleidung fast knabenhaft wirkte, eine Wasserflasche und etwas Proviant in der Satteltasche verstaute.

Doch seine Bedenken hinsichtlich Lornas abenteuerlichem Vorhaben schienen verflogen, als sie sich ebenso gekonnt wie elegant in den Sattel schwang.

„Chef lässt der Lella sagen, sie soll vorsichtig sein“, teilte er ihr in gebrochenem Französisch mit und überließ ihr die Zügel.

„Richte deinem Chef aus, dass ich vor Sonnenuntergang zurück bin“, erwiderte sie lächelnd, weil sie stillschweigend davon ausging, dass die Sorge des Stallbesitzers weniger ihr als vielmehr dem wertvollen Pferd galt.

Ohne eine Antwort abzuwarten, trieb sie den Fuchswallach an und ritt durch den großen Torbogen, der das Hotelgelände begrenzte. Im leichten Trab passierte sie die Palmen, die das ausgetrocknete Flussbett eines Wadis säumten, ehe sie das Pferd mit leichtem Schenkeldruck aufforderte zu galoppieren.

Als sie endlich die Wüste erreichte, machte sich ein grenzenloses Glücksgefühl in ihr breit. Die Sonne, die wie eine Scheibe allmählich am Horizont aufging, tauchte die unwirtliche Landschaft in betörende Farben, und das gleichmäßige Geräusch der Hufe auf dem steinigen Untergrund bestärkte Lorna in der Gewissheit, dass sie ihrem lang ersehnten Ziel näher kam.

Mit ihrem Vater hatte sie auch den letzten Halt verloren, der ihr geblieben war, und so erhoffte sie sich von ihrem Ausflug mehr als nur das Wissen darum, wie der Ort aussah, an dem er die vielleicht glücklichste Zeit seines Lebens verbracht hatte.

Vielmehr hatte sie die inständige und mitunter an Verzweiflung grenzende Hoffnung, an diesem fruchtbaren Fleckchen Erde inmitten der endlosen Einöde eine Antwort auf die Frage zu finden, wie sie ihr weiteres Leben gestalten sollte.

Denn nichts traf weniger auf sie zu als Rodneys Vorwurf, sie sei aus Eis. Das Gegenteil war richtig. Wie jede junge Frau kannte auch sie den Wunsch nach Zärtlichkeit und Geborgenheit, doch anders als die meisten ihrer Altersgenossinnen verabscheute sie jene beiläufigen und unverbindlichen Liebkosungen, die Rodney zu Recht als Flirt beschrieben hatte. Nicht minder verabscheute sie die Männer, die glaubten, mit einem flüchtigen Kuss, der zu nichts verpflichtete, ihr Herz erreichen zu können.

Noch hatte sie keinen Anlass, die Hoffnung aufzugeben, dass es auch andere Männer gab. Zu ihrem Leidwesen war sie jedoch bislang keinem begegnet, dessen Fantasie über plumpe Annäherungsversuche und leere Schmeicheleien hinausgegangen wäre. Doch ehe sie sich mit weniger zufriedengab, als ihr zustand, wollte sie lieber ihre Unabhängigkeit behalten, selbst wenn diese mitunter Züge von Einsamkeit trug.

Ähnlich ungeklärt wie ihre Zukunft in Hinsicht auf ihr Privatleben war auch die bezüglich ihres Berufslebens. Seit Längerem erwog sie, sich zur Krankenschwester ausbilden zu lassen. Nicht minder reizte sie der Gedanke, Medizin zu studieren oder Tierärztin zu werden.

Doch wie alle anderen Entscheidungen musste auch diese warten, bis ihr dringendstes Anliegen erfüllt war und sie mit eigenen Augen jenen Ort gesehen hatte, an dem schon das Leben ihres Vaters die entscheidende Wendung erfahren hatte.

Endlich tauchte vor ihr der lang gestreckte Rücken einer Hammada auf, jener dünenartigen Erhebungen, die der stetige Wind im Laufe der Jahrhunderte in der Wüste aufgeschüttet hatte. Dahinter, so wusste Lorna, lag ihr Ziel: die Oase von Fadna.

Mit klopfendem Herzen trieb sie das Pferd die Anhöhe hinauf, und je näher sie dem Scheitelpunkt kam, desto mehr konnte sie die sengende Hitze der Sonne spüren, die sich an dem wolkenlosen Himmel allmählich dem Zenit näherte.

Unwillkürlich richtete sie sich im Sattel auf, und noch ehe sie den Gipfel erreicht hatte, gerieten Palmenwipfel in ihren Blick. Als der Fuchs vorsichtig den Abstieg begann, musste sich Lorna den Hut tief ins Gesicht ziehen, so sehr blendete das gleißende Licht, das vom weißen Sand reflektiert wurde.

Erst als sie die Ebene erreicht hatte, konnte sie endlich das saftige Grün zu beiden Seiten des kleinen Wasserlaufs erkennen, der die Oase speiste. Erschöpft stieg sie vom Pferd und stellte sich in den Schatten einer Palme. Als sie den Hut absetzte, blieb ihr das Haar an der Stirn und den Schläfen kleben.

Doch der Anblick, der sich ihr bot, entschädigte sie augenblicklich für die Strapazen, die sie auf sich genommen hatte. Einen friedlicheren und schöneren Ort als diesen kleinen Garten Eden hatte sie nie zuvor gesehen. Trotzdem hatte sie das Gefühl, nach Hause zu kommen, so vertraut war ihr jedes Detail von den Bildern ihres Vaters, der die Oase in allen erdenklichen Perspektiven und im ständig wechselnden Licht der verschiedenen Tageszeiten gemalt hatte.

Deshalb fiel es Lorna auch nicht schwer, die Richtung einzuschlagen, in der das kleine Häuschen stehen musste, das er bewohnt hatte. Zielstrebig und voller ungeduldiger Vorfreude durchquerte sie den Palmenhain, als sie plötzlich wie erstarrt stehen blieb. Zwischen den Bäumen hindurch schimmerten die Überreste eines Hauses, das einzig noch den Tauben als Zuflucht dienen konnte, die den Eindringling mit lautem Gurren empfingen.

Lorna trat näher und betrachtete ungläubig die mit Kalk getünchten Steine, die einst die Wände gewesen und nun von wilden Pflanzen überwuchert waren. Noch schmerzlicher als der Anblick der Ruine traf sie jedoch die Gewissheit, dass damit auch eine heimliche Sehnsucht zerstört war. Denn insgeheim hatte sie mit dem Gedanken gespielt, nach ihrem ersten Besuch eines Tages zurückzukehren und längere Zeit hier zu leben, um ein wenig von jener inneren Kraft und Zuversicht zu erfahren, die ihr Vater hier gefunden hatte. Nun sah sie sich mit der bitteren Erkenntnis konfrontiert, dass ihr dieser Wunsch für immer versagt bleiben musste.

Um sich von der Trauer nicht überwältigen zu lassen, wollte sie sich von dem Bild der Zerstörung losreißen, als sie in einer Mauerspalte eine Lavendelblüte entdeckte. In einem Anflug von Verzweiflung bückte sie sich und pflückte sie, ehe sie sich umwandte, um zu ihrem Pferd zurückzugehen.

Es gab keinen Grund, länger zu bleiben, und Lorna wollte den unwirtlichen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen. Die Blüte, die sie in der Brusttasche ihres Hemdes verwahrte, sollte das einzige Andenken bleiben, das sie in Paris oder einem anderen Ort der Welt, an den es sie verschlagen würde, an jenes Glück erinnern würde, das sie in der Wüste Arabiens zu finden gehofft hatte.

Doch als sie die Stelle erreichte, an der sie das Pferd zurückgelassen hatte, konnte sie es nirgends entdecken. Die vage Hoffnung, dass sie sich verlaufen hatte, verflog, sobald sie die Hufspuren im Sand sah. Augenblicklich war ihr klar, dass sie versäumt hatte, den Fuchswallach anzubinden.

Eine Weile gelang es ihr, die aufkommende Panik zu unterdrücken, indem sie aufgeregt hin und her lief und dem Pferd pfiff, bis ihr schließlich bewusst wurde, in welche Situation sie sich gebracht hatte. Der Fuchs war im gestreckten Galopp zu seinem Stall zurückgekehrt, und ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als den weiten Rückweg durch die Wüste zu Fuß anzutreten.

Mit Schrecken dachte Lorna an die höhnischen Kommentare, mit denen man sie im Hotel empfangen würde. Nicht viel anders würde es ihr ergehen, falls man nach ihr suchen sollte, wenn das Pferd ohne seine Reiterin eintraf. So oder so waren die Aussichten niederschmetternd, und Lorna musste ihren eisernen Willen aufbieten, um nicht in Tränen auszubrechen.

Erschwerend kam hinzu, dass ihr Proviant noch in der Satteltasche steckte. Als einziger Trost blieb ihr, dass sie in den kommenden Stunden, die sie in der Oase ausharren musste, nicht verdursten würde. Denn sosehr sie sich auch wegsehnte, so klar war ihr, dass es unverantwortlich wäre, sich in der sengenden Mittagshitze auf den Weg nach Yraa zu machen.

„Wie kann man sich nur so dumm anstellen!“, schalt sie sich selbst und ließ sich deprimiert im Schatten einer Palme nieder, von wo aus sie die Umgebung überblicken konnte. Denn noch hielt sie es nicht für ausgeschlossen, dass ihr Pferd nur einen kleinen Ausflug gemacht hatte und unverhofft zurückkommen würde.

Diese Hoffnung wollte sie vor allem deshalb nicht aufgeben, weil ihr unvermittelt einfiel, wie nachdrücklich Rodney sie vor den Gefahren gewarnt hatte, die hier lauern konnten – zumal für eine junge Frau.

Erneut tröstete sie sich mit der Gewissheit, dass kein Beduine Gefallen an einer schlanken Europäerin finden würde, die zudem überaus widerspenstig sein konnte, wenn ein Mann sie bedrängte, an dem sie nicht das geringste Interesse hatte.

Dieser Gedanke beruhigte sie so sehr, dass sie für eine Weile einschlief und erst erwachte, als sie starken Durst verspürte. Schläfrig erhob sie sich und ging zu dem kleinen Wasserlauf, um sich zu erfrischen.

Kaum hatte sie sich niedergekniet, beschlich sie der eigentümliche Verdacht, dass jemand sie heimlich beobachtete. Sie schrieb es ihrer Erschöpfung zu und ließ sich das kühle Nass übers Gesicht laufen, um die Lebensgeister wieder zu wecken.

Doch selbst dann wollte sich die lähmende Angst nicht legen, die von ihr Besitz ergriffen hatte, und sie musste sich regelrecht zwingen, aufzustehen und sich davon zu überzeugen, dass ihr die Nerven einen Streich gespielt hatten.

Umso größer war ihr Entsetzen, als sie sich umdrehte und zwischen den Bäumen eine Gestalt entdeckte, die sie nicht aus den Augen ließ. Wie gelähmt musste Lorna mit ansehen, dass sich die Gestalt aus ihrer Erstarrung löste und auf sie zukam. Mit jedem Schritt, den er sich näherte, konnte sie deutlicher die Entschlossenheit des dunkelhäutigen Mannes erkennen, der in einen Burnus, den traditionellen Umhang der Beduinen, gekleidet war. Als er sie schon fast berühren konnte, nahm er unvermittelt sein Halstuch ab.

„Was haben Sie vor?“, schrie Lorna verzweifelt, auch wenn die Antwort dem finsteren Blick seiner dunklen Augen deutlich abzulesen war. Doch obwohl nicht der geringste Zweifel daran bestehen konnte, dass er sie entführen wollte, war sie außerstande, wenigstens den Versuch zu machen, davonzulaufen. Und den Schrei, den sie instinktiv ausstoßen wollte, erstickte er, indem er sie ergriff und mit dem Halstuch knebelte, ehe er ihr mit dessen Enden die Hände auf dem Rücken fesselte.

Erst als es zu spät war, legte sich Lornas Lähmung, doch ihr verzweifelter Fluchtversuch endete damit, dass sie stolperte und der Länge nach hinfiel. Nicht minder unsanft half ihr Entführer ihr wieder auf die Beine, um sie anschließend quer durch den Palmenhain zu treiben, bis sie schließlich den Rand der Wüste erreichten, wo ein prächtiger schwarzer Hengst an einem Baum angebunden war.

Als Lorna auf ihn zustolperte, scheute der Rappe, sodass sie deutlich die blutigen Striemen an seinen Flanken erkennen konnte, die von den Sporen stammten, die der Beduine trug. Genauso rücksichtslos, wie er sein Pferd behandelte, verfrachtete er Lorna auf den Rücken des Tieres, ehe er es losband und sich in den Sattel schwang.

Wie ein Berserker riss er an den Zügeln, und das geschundene Tier bockte vor Schmerzen, ehe es sich fügte und hinaus in die endlose Wüste galoppierte.

Obwohl ihre Lage nicht weniger hoffnungslos war als die des Pferdes, fragte Lorna sich unwillkürlich, wie ein Mensch eine Kreatur so behandeln konnte. Insgeheim war sie sich sicher, dass es wie sie selbst entführt worden war.

Der Gedanke daran, dass sie Rodneys Warnung verächtlich in den Wind geschlagen hatte, erfüllte sie noch nachträglich mit Scham, und in diesem Moment hätte sie alles darum gegeben, wenn sie in sein Angebot, sie zu begleiten, eingewilligt hätte. Doch diese Einsicht kam ebenso zu spät wie die Vorwürfe, die sie sich machte, weil sie ihr Pferd leichtsinnigerweise nicht angebunden hatte.

Dafür sah sie sich mit der bangen Frage konfrontiert, wo ihr Entführer sie hinbringen wollte. Trotz der sengenden Hitze trieb er den Rappen erbarmungslos vorwärts, und Lorna spürte deutlich, wie nah der rassige Hengst der Erschöpfung war.

Ihr selbst ging es nicht anders. Das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer, und die endlose Weite, die sich schemenhaft vor ihr auftat, erfüllte sie mit dem trostlosen Gefühl der Verlorenheit.

Schon hatte sie begonnen, innerlich Abschied von den wenigen Menschen zu nehmen, denen sie sich verbunden fühlte, als sie am Horizont auf einer kleinen Anhöhe einen Trupp Reiter erblickte.

Augenblicklich stellte sich ihr Lebensmut wieder ein, weil die Hoffnung in ihr aufkeimte, dass Rodney eine Patrouille zusammengestellt hatte, die nach ihr suchte. Wie abweisend sie ihn auch immer behandelt hatte, war er ihr in den vergangenen Wochen gleichwohl ein treuer Freund geworden. Nun war er der einzige Mensch auf Erden, der sie aus diesem Albtraum befreien konnte.

Inzwischen hatte auch ihr Entführer die Reiter bemerkt, die auf der Anhöhe verharrten und im Gegenlicht wie ein Scherenschnitt wirkten. Mit einem brutalen Riss an den Zügeln zwang er das Pferd, die Richtung zu wechseln. Um den Männern zu entkommen, die augenblicklich die Verfolgung aufnahmen, machte er rücksichtslos von den Sporen Gebrauch.

Doch weil der Rappe zwei Reiter tragen musste, war die Flucht von vornherein zum Scheitern verurteilt, und schon bald konnte Lorna erkennen, dass einer der Verfolger zu ihnen aufschloss. Sein Pferd war ebenso rassig wie das ihres Entführers, doch trotz des gestreckten Galopps führte der Mann die Zügel mit einer Hand, während die andere einen Gegenstand hielt, in dem Lorna ein Gewehr zu erkennen glaubte.

Schon erwartete sie einen lauten Knall, als der Reiter unvermittelt ausholte. Ein leises Zischen drang an ihr Ohr, ehe ihr Entführer unvermittelt aufschrie und wie von Geisterhand aus dem Sattel gehoben wurde.

Im selben Moment schloss der Reiter zu ihr auf, griff mit einer geschmeidigen Bewegung nach den Zügeln ihres Pferdes und brachte es zum Stehen.

Kaum war er aus dem Sattel gesprungen, hob er Lorna hoch und stellte sie auf die Füße. Doch anstatt sich um sie zu kümmern, übergab er sie der Obhut seiner Begleiter, um sich selbst unverzüglich dem geschundenen Tier zu widmen.

Während er sich ihm vorsichtig näherte, sprach er mit tiefer Stimme beruhigend auf das verängstige Pferd ein, bis es sich schließlich den Kopf streicheln ließ und nicht einmal scheute, als er sich bückte und die wunden Flanken untersuchte.

Erst als er sich wieder aufrichtete, konnte Lorna das Gesicht ihres Retters sehen, das bis dahin von der Kapuze seines Burnusses verhüllt gewesen war. Unwillkürlich erschrak sie, denn seine Miene verriet eine geradezu bedrohliche Bitterkeit und wilde Entschlossenheit. Der Mann presste die Lippen zusammen, ehe er sich ihrem Entführer zuwandte, den er mit seiner Peitsche vom Pferd gerissen hatte.

Mit angstvoll geweiteten Augen musste Lorna tatenlos zusehen, wie der Mann erneut die Peitsche hob und den Wehrlosen immer wieder den Lederriemen spüren ließ, bis er sich unter Schmerzen im Wüstensand wand.

Endlich ließ sein Peiniger von ihm ab, doch nur, um sich Lorna zuzuwenden und den Blick seiner braunen Augen, die von dunklen Brauen gekrönt wurden, über ihren bebenden Körper gleiten zu lassen.

Schon befürchtete Lorna, es könnte ihr dieselbe Strafe drohen wie ihrem Entführer, als der große, athletische Mann unvermittelt vortrat und ihr die Fesseln abnahm.

Erleichtert rieb sich Lorna die Handgelenke. Doch auch wenn sie nun nicht länger geknebelt war, verhinderte der eher Respekt als Furcht einflößende Blick ihres Befreiers, dass sie zunächst auch nur ein einziges Wort herausbekam.

„Wie kann ich Ihnen nur danken?“, fragte sie schließlich unsicher. Ohne sich zu besinnen, hatte sie ihr Gegenüber auf Französisch angesprochen. „Er hat mir in der Oase von Fadna aufgelauert – um Lösegeld zu erpressen, nehme ich an“, fügte sie mit Blick auf ihren Entführer hinzu.

„Bist du dir da so sicher?“, fragte ihr Befreier in akzentfreiem Französisch und betrachtete unverhohlen ihre helle Haut, die ihr Halsausschnitt freigab. „Mein Pferd hat er schließlich auch nicht in seinen Besitz gebracht, um es jemals wieder herzugeben.“

Erst diese Bemerkung machte Lorna klar, in welcher Gefahr sie geschwebt hatte. Doch dass zu dem Gefühl der Erleichterung keinerlei Anlass bestand, machte ihr vermeintlicher Retter ihr unmissverständlich klar, als er hinzufügte: „Umso mehr freue ich mich, dass ich mein Eigentum mitsamt einer reizenden Zugabe wiederbekomme.“

Sein Lächeln, das die weißen Zähne aufblitzen ließ, erschien Lorna wie blanker Hohn, denn während es anderen Menschen normalerweise sanftere Gesichtszüge verlieh, blieb das dunkle Gesicht dieses rätselhaften Mannes so undurchsichtig wie zuvor.

Doch dass er auf ein läppisches Lösegeld nicht angewiesen war, verriet nicht nur sein akzentfreies Französisch, das auf eine fundierte Bildung schließen ließ, sondern vor allem seine Ausstrahlung, die von einer unerschütterlichen Selbstsicherheit und einem ausgeprägten Machtbewusstsein kündete.

„Ich wäre Ihnen überaus dankbar, wenn mich einer Ihrer Männer ins Ras Jusuf nach Yraa bringen könnte“, bat sie höflich, aber bestimmt, um sich von ihrem Gegenüber nicht einschüchtern zu lassen. „Selbstverständlich werde ich Sie für Ihre Mühen angemessen entschädigen.“

„An was hattest du denn so gedacht?“, fragte er teils gekränkt, teils mit unverhohlenem Spott. „Einige Francs? Oder wie viel ist es deiner Meinung nach wert, wenn ein Mann eine junge Frau aus einer Gefahr rettet, in die sie sich durch ihren Leichtsinn selbst gebracht hat?“

Um seinem verächtlichen Blick auszuweichen, strich sich Lorna eine Haarsträhne aus der Stirn. „Ich bin mir durchaus im Klaren darüber, wie tief ich in Ihrer Schuld stehe“, erwiderte sie mit dem Mut der Verzweiflung. „Entsprechend großzügig werde ich mich für Ihre Hilfe erkenntlich zeigen, sobald ich wieder in meinem Hotel bin.“

Zu ihrer großen Überraschung schien sie den Mann überzeugt zu haben, denn unvermittelt wandte er sich um und sprach einen seiner Begleiter an, der daraufhin von seinem Pferd stieg und es seinem Anführer überließ, während er selbst die Zügel des schwarzen Hengstes nahm und sich in den Sattel schwang.

Sein Pferd sollte offensichtlich Lorna übernehmen, denn der rätselhafte Mann führte es zu ihr und forderte sie wortlos auf, aufzusitzen.

„Trink etwas“, befahl er, nachdem sie seiner Aufforderung nachgekommen war, und wies auf die Feldflasche, die am Sattelknauf hing. „Wir haben einen langen Ritt vor uns.“

Dankbar nahm sie das Angebot an und löschte den ärgsten Durst, ehe sie die Flache sorgfältig verschloss und zurück an den Sattelknauf hängte.

„Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mich persönlich begleiten wollen“, erwiderte sie erleichtert, weil sich ein Ende des Albtraums abzeichnete. „Es reicht jedoch völlig, wenn Sie einen Mann abstellen, der mich nach Yraa bringt.“

„Du hast mich offenbar missverstanden“, lautete seine niederschmetternde Antwort. „Wir reiten nicht in die Stadt, sondern zu unserem Lager.“

Wie gelähmt beobachtete Lorna, dass er sich ohne jedes weitere Wort umdrehte und auf sein Pferd stieg. Nur langsam drang ihr ins Bewusstsein, dass ihr Martyrium, das sie schon beendet geglaubt hatte, erst richtig beginnen sollte, weil sich ihr vermeintlicher Retter als ebenso skrupelloser Entführer erwies wie derjenige, aus dessen Händen er sie vor wenigen Minuten befreit hatte.

Doch wenn sie es bislang mit einem Einzelgänger zu tun gehabt hatte, gegen den sie sich möglicherweise zur Wehr hätte setzen können, so befand sie sich nun in der Gewalt eines unberechenbaren Mannes, der eine Horde ihm treu ergebener Männer anführte.

Die Aussichtslosigkeit ihrer Situation ließ ihr keine andere Wahl, als das Äußerste zu riskieren. Ohne sich lange zu besinnen, griff sie die Zügel ihres Pferdes und trieb es mit verzweifelter Entschlossenheit an. Zu ihrer großen Erleichterung gehorchte das Tier der fremden Reiterin und galoppierte mit ihr durch das Spalier der völlig überraschten Männer.

3. KAPITEL

Dank des Überraschungsmoments hatte Lorna schnell einen kleinen Vorsprung, und ein kurzer Blick über die Schulter bestärkte sie in der Hoffnung, dass sie ihren Häschern entkommen könnte, die noch nicht einmal die Verfolgung aufgenommen hatten.

Doch als sie sich wenig später erneut umsah, musste sie einsehen, dass sie sich zu früh gefreut hatte. Mit beängstigender Leichtigkeit holte der Anführer ihrer Verfolger Meter um Meter auf, bis er Lorna schließlich eingeholt hatte.

Anstatt sich jedoch die Mühe zu machen, ihr Pferd am Zaumzeug zu packen und zum Stehen zu bringen, hob er sie scheinbar mühelos aus dem Sattel.

Lornas verzweifelte Versuche, sich zur Wehr zu setzen, quittierte er mit einem spöttischen Lachen. Während er sie mit einem Arm umklammerte, nahm er mit der freien Hand die Zügel und parierte den Hengst, der gehorsam stehen blieb.

„Dein Mut in Ehren“, sagte er hämisch, als sie sich schließlich im Wüstensand gegenüberstanden, „aber hast du ernsthaft geglaubt, Kasim ben Hussayn ließe sich von einem halb verhungerten Mädchen überrumpeln, das außerdem noch grün hinter den Ohren ist?“

Lorna war viel zu wütend, um entscheiden zu können, ob sie sich mehr über seine Beleidigungen oder über die Tatsache ärgerte, dass ihr Fluchtversuch gescheitert war. „Was bilden Sie sich eigentlich ein, Sie brutaler Kerl?“, machte sie ihrer Empörung Luft.

Sie war es durchaus gewohnt, die Blicke der Männer auf sich zu ziehen, doch nie zuvor hatte es jemand gewagt, sie derartig unverhohlen zu mustern wie dieser Beduine. Denn anstatt etwas zu erwidern, taxierte er sie, als wäre sie sein Besitz. Und Lorna hatte die schreckliche Vorahnung, dass er sie auch so behandeln würde.

„Wollen Sie mich auspeitschen wie den Mann, der ihr Pferd entführt hat?“, ging sie in die Offensive, um sich nicht anmerken zu lassen, wie beklommen die Gegenwart dieses rätselhaften Mannes sie machte.

„Verdient hättest du es“, erwiderte er kalt, ehe sich sein Mund zu einem hochmütigen Lächeln verzog. „Doch in deinem Falle will ich Gnade vor Recht ergehen lassen.“

Schon hoffte Lorna, sich in ihm getäuscht zu haben, als er unvermittelt hinzufügte: „Zumal ich mir sicher bin, dass wir eine andere Lösung finden werden.“

Er ließ ihr keine Gelegenheit, etwas zu erwidern, sondern drehte sich um und befahl einem seiner Männer, die mittlerweile eingetroffen waren, ihr Pferd zu holen.

„Ich nehme kaum an, dass du dieselbe Dummheit ein zweites Mal begehen wirst“, sagte er drohend, ehe er Lorna in den Sattel half. Dennoch achtete er darauf, dass seine Männer sie in ihre Mitte nahmen, als sich der kleine Trupp schließlich in Bewegung setzte.

Widerwillig fügte sich Lorna in die Erkenntnis, dass ein erneuter Fluchtversuch kläglich zum Scheitern verurteilt wäre. Um trotzdem nicht zu verzweifeln, versuchte sie in den Gesichtszügen ihres Entführers Anzeichen von Güte und Milde zu finden, doch zu ihrem Erschrecken konnte sie nicht die geringsten Anhaltspunkte dafür entdecken, dass er zu Erbarmen überhaupt fähig wäre.

So hatte sie kaum einen Blick dafür, dass sich die Sonne dem westlichen Horizont näherte und die Wüste in ein prächtiges Farbenmeer verwandelte, ehe sie unterging und die Landschaft in tiefe Dunkelheit tauchte.

Im weißen Licht des Mondes ritten sie weiter, bis schließlich im flackernden Schein eines Lagerfeuers mehrere Zelte auftauchten. Als sie das Lager erreichten, wurden sie von zahlreichen Männern und Frauen begrüßt, die die Rückkehrer mit einem Stimmengewirr empfingen.

Doch auch wenn Lorna kein Wort verstand, war ihr augenblicklich klar, dass Kasim ben Hussayn der Anführer des Stammes war, denn jede der knappen Anweisungen, die er gab, wurde widerspruchslos ausgeführt. So wunderte Lorna sich nicht, als unvermittelt einer der Männer die Zügel ihres Pferdes nahm und sie wortlos aufforderte, abzusitzen.

Erst als sie unter dem nächtlichen Himmel im Wüstensand stand, merkte sie, wie sehr sie fror – was sie jedoch nicht der Temperatur zuschrieb, die mit dem Sonnenuntergang schlagartig gesunken war.

Dass eher abgrundtiefe Wut und namenlose Angst sie trieben, wurde für jeden ersichtlich, als ihr Entführer sich vor ihr aufbaute und mit einem triumphierenden Lächeln in die Runde seiner Untergebenen blickte, als präsentierte er ihnen eine Jagdbeute.

Ohne die drohenden Konsequenzen zu bedenken, hob Lorna die Hand und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige und gleich darauf eine zweite. Es war nicht auszuschließen, dass er sie zur Strafe für die öffentliche Demütigung köpfen lassen würde, doch das wäre ihr immer noch lieber, als sich willenlos zum Eigentum eines Wüstenscheichs erklären zu lassen und ein Leben in dessen Harem fristen zu müssen.

Doch anstatt sie augenblicklich abführen zu lassen, lachte er aus vollem Hals, um sie jedoch zugleich mit eisernem Griff zu umklammern. Unter den respektvollen Blicken der Umstehenden führte er Lorna zu einem großen Zelt, das ein wenig abseits des Lagers stand.

Ein schwerer Teppich dämpfte die Schritte seiner Reitstiefel, als er seine Gefangene ins Innere führte, wo er sie aus der Umarmung entließ. Doch der hochmütige Blick, mit dem er sie musterte, war nicht weniger unheildrohend als die körperliche Berührung zuvor.

„Ich warne Sie!“, begehrte Lorna mit dem Mut der Verzweiflung gegen ihren Peiniger auf. „Wenn Sie mir auch nur ein Haar krümmen, wird es Ihnen schlecht bekommen. Ich bin britische Staatsbürgerin, und …“

„Das ist kaum zu überhören“, unterbrach er sie unbeeindruckt. „Dein Akzent verrät deine Herkunft deutlich genug. Wenn du mir jetzt noch deinen Namen sagen würdest, wüsste ich alles von dir, was mich interessiert – vorläufig zumindest.“

Sein Bemühen, freundlich zu klingen, konnte Lorna nicht über die unterschwellige Drohung hinwegtäuschen, die seine Formulierung enthielt. Nicht minder besorgniserregend war sein spöttischer Blick, den sie im Schein der Messinglaternen deutlich erkennen konnte, die das Zelt mit einem aromatischen Sandelholzduft erfüllten. Das abschätzige Lächeln ihres Entführers sprach seinen gleichmäßigen und stolzen Gesichtszügen geradezu Hohn.

„Ich heiße Lorna“, erwiderte sie verlegen, weil die männlich entschlossene Ausstrahlung ihres Gegenübers sie zutiefst verunsicherte. „Lorna Morel.“

„Meinen Namen kennst du ja bereits, Lorna“, antwortete er ungerührt. „Und dass der Arm der englischen Regierung nicht überall hinreicht, sollte dir klar sein, auch ohne dass ich es ausdrücklich erwähne. Hier ist mein Wort Gesetz, nicht das der englischen Königin.“

Ein bedrohliches Funkeln lag in seinen Augen, das Lorna den Ernst ihrer Lage unmissverständlich klarmachte.

„Wollen Sie Geld?“, fragte sie in ihrer Verzweiflung. „Ich bin zwar nicht reich, aber wenn Sie mich freilassen, gebe ich Ihnen alles, was ich besitze.“

„Dein Geld interessiert mich nicht“, erwiderte er verächtlich. „Du wirst dir deine Freiheit auf andere Weise verdienen müssen.“

Die plötzliche Gewissheit, dass ihre schlimmsten Befürchtungen noch übertroffen werden sollten, traf Lorna wie ein Schock. „Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen“, unternahm sie den verzweifelten Versuch, sich gegen das Undenkbare zu sträuben, und suchte instinktiv die Umgebung nach einem Fluchtweg ab.

Ein samtener Vorhang verriet ihr, dass es in dem großen Zelt einen weiteren Raum geben musste. Doch sich dorthin zu flüchten wäre die denkbar schlechteste Lösung, denn sicherlich enthielt er jenen privatesten Teil des Wohnbereiches, dem sie um jeden Preis entkommen wollte.

„Wirklich nicht, Lorna?“ Die Eiseskälte, die ihr entgegenschlug, brachte sie jäh in die Wirklichkeit zurück. „Ich bin sicher, dass eine so bezaubernde junge Frau wie du sehr genau weiß, wie sie einen Mann gnädig stimmen kann – erst recht dann, wenn sie sich soeben darüber klar geworden ist, dass sie direkt vor seinem Schlafgemach steht.“

Mit angstvoll geweiteten Augen musste Lorna mit ansehen, wie er sich ihr in eindeutiger Absicht näherte, und unwillkürlich suchte sie Schutz, indem sie die Arme vor der Brust verschränkte.

Nie zuvor in ihrem Leben hatte ein Mann sie derart schamlos angesehen – und nie zuvor hatte ihr ein Mann allein durch seinen Blick zu verstehen gegeben, wie sehr er sie begehrte.

„Sicherlich hat man längst einen Suchtrupp nach mir ausgeschickt“, griff sie in ihrer Verzweiflung nach dem letzten rettenden Strohhalm, der ihr noch blieb. „Es käme Sie teuer zu stehen, wenn Sie … wenn mir etwas passierte.“

„Ich zittere vor Angst“, erwiderte er sarkastisch. Dann zwang er sie mit sanfter Gewalt, die Arme sinken zu lassen. In dem schlichten Hemd, dessen oberste Knöpfe geöffnet waren, und der Reithose kam sich Lorna plötzlich regelrecht nackt vor, und der Blick des Fremden, der unablässig auf ihren sinnlichen Lippen ruhte, verstärkte dieses Gefühl.

„Allzu viel Hoffnung solltest du dir nicht machen“, fuhr ihr Entführer ungerührt fort. „Ich bin sicher, dass man dich nachdrücklich davor gewarnt hat, allein in die Wüste zu reiten. Genauso sicher bin ich mir jedoch, dass du diese Warnungen sämtlich in den Wind geschlagen hast. Das Vorrecht der Jugend ist es, unvernünftig zu sein – doch von den Konsequenzen ihres Tuns ist auch sie nicht ausgenommen.“

Seine Worte trafen Lorna wie Nadelstiche, denn auch ohne seine zynischen Belehrungen machte sie sich selbst genügend Vorwürfe, dass sie nicht auf Rodney gehört hatte. Doch selbst wenn er nach ihr suchen sollte, war es so gut wie ausgeschlossen, dass er sie in den endlosen Weiten der arabischen Wüste jemals finden würde.

Als wollte er ihr die Aussichtslosigkeit ihrer Situation bestätigen, hob ihr Peiniger unvermittelt die Hand und umfasste ihren Nacken. „Allmählich solltest du dich damit abfinden, dass uns das Schicksal zusammengeführt hat“, sagte er leise und ließ den Blick über ihren Hals gleiten. „Und nichts ist vergeblicher, als sich gegen sein Schicksal zu sträuben.“

„Machen Sie sich nicht lächerlich!“, platzte Lorna panisch vor Angst heraus. „Von ‚Schicksal‘ kann keine Rede sein. Sie halten mich gegen meinen Willen gefangen, und wenn Sie mich nicht augenblicklich freilassen …“

Ein Blick von ihm reichte, um sie verstummen zu lassen. Schmerzlich berührt musste sie einsehen, dass sie nicht das geringste Druckmittel gegen diesen ebenso bedrohlichen wie faszinierenden Mann in der Hand hatte.

„Was dann?“, fragte er provozierend und legte ihr die Hand auf die Schulter.

Selbst durch den Stoff ihres Hemdes hindurch meinte Lorna zu spüren, dass ihre Haut unter der leichten Berührung Feuer fing.

Was ihm offensichtlich nicht entgangen war, denn ehe sie sich’s versah, beugte er sich vor und küsste sie auf den Hals. „Du zitterst ja“, meinte er amüsiert, als er die Verlegenheit bemerkte, in die er sie gestürzt hatte. „Du hast doch nicht etwa Angst vor mir?“

„Wie käme ich dazu?“, entgegnete Lorna empört. „Sie ekeln mich einfach nur an.“

Doch wenn sie auch nur im Entferntesten gehofft hatte, ihn mit ihrem Wutausbruch abschrecken zu können, so sah sie sich umgehend eines Besseren belehrt. „Du gefällst mir immer mehr, mein kleiner Wildfang“, sagte er sichtlich zufrieden und strich ihr sanft übers Haar. „Ich mag Frauen, die ihre Krallen zeigen. Nur wer leidenschaftlich zu kämpfen vermag, kann auch leidenschaftlich lieben.“

Lorna wollte widersprechen, kam aber nicht dazu, weil er sich unvermittelt umdrehte und das Zelt verließ. Erschöpft und verzweifelt setzte sie sich auf einen Diwan und schlug die Hände vors Gesicht. Von Weinkrämpfen geschüttelt, bebte sie am ganzen Körper. Doch die bittere Erkenntnis, dass sie einem Mann in die Hände gefallen war, dessen Wille unbeugsam und dessen Macht unumschränkt war, verlieh ihren Tränen nichts Erleichterndes.

Am härtesten jedoch traf Lorna, dass sie seiner finsteren Entschlossenheit ebenso wenig entgegenzusetzen hatte wie seiner männlichen Ausstrahlung und seiner geradezu verwegenen Schönheit.

Plötzlich nahm sie schemenhaft wahr, dass sich eine Gestalt ins Zelt drängte. Schon fürchtete sie, dass ihr Entführer zurückkommen würde, um seine Drohung wahr zu machen, als sie eine verschleierte Frau erblickte, die sich ihr näherte.

„Ich heiße Zahra“, stellte sie sich vor, nachdem sie den Schleier zurückgeschlagen hatte. „Nebenan ist ein heißes Bad für die Lella vorbereitet“, erklärte das junge Mädchen in erstaunlich gutem Französisch, „und anschließend erwartet mein Herr, der Scheich, Sie zum Essen.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Zarah zu dem samtenen Vorhang, schlug ihn zur Seite und forderte Lorna wortlos auf, ihr zu folgen. Widerwillig stand Lorna auf und betrat den Nebenraum des großen Zeltes, der sie mit einem Luxus empfing, den sie nicht erwartet hatte.

Dominiert wurde die Einrichtung von einem großen Bett, über dem eine reich bestickte Decke aus Brokatseide ausgebreitet war. Daneben stand ein flacher Tisch aus Ebenholz, in den feinste Intarsien eingelassen waren, und in einer Schale aus chinesischem Porzellan lagen köstlich aussehende exotische Früchte.

Der Boden war mit wertvollen, handgeknüpften Teppichen ausgelegt, auf denen eine reich verzierte Truhe aus Zedernholz und eine kostbare Frisierkommode standen. Über allem schwebte der aromatische Duft von Sandelholz, der den zahlreichen Messinglampen entströmte, deren flackernder Schein den Raum erleuchtete.

Die überaus erlesene und zugleich geschmackvolle Einrichtung rief Lorna schmerzlich in Erinnerung, dass sie in die Hände eines Barbaren gefallen war, der zugleich ein ungeheuer kultivierter Mensch war. Wie ihr ein Blick auf das Bücherregal bewies, las er zur Entspannung französische Bücher, ehe er den seidenen Pyjama anzog, der nun am Fußende des Bettes lag, und sich hinlegte.

Zahra schien Lornas Zögern missverstanden zu haben. „Ich hole Ihnen in der Zwischenzeit etwas anderes zum Anziehen“, sagte sie lächelnd und zog einen Vorhang beiseite, hinter dem eine große kupferne Badewanne stand. Ehe sie Lorna allein ließ, holte sie aus der Truhe zwei Badetücher und goss ein duftendes Öl in das heiße Wasser, mit dem die Wanne gefüllt war.

Nachdem Zarah gegangen war, überwand Lorna ihre Unsicherheit und zog sich aus. Es war eine Wohltat, nach all den Strapazen des Tages in das warme Wasser zu steigen und sich den Staub abzuwaschen, während das Aroma des Badeöls allmählich seine beruhigende Wirkung entfaltete.

Sie hatte sich gerade erst in eines der Badetücher gehüllt, als Zarah zurückkam und ihr stolz die Kleidung präsentierte, die sie für Lorna ausgesucht hatte. Nacheinander zeigte sie ihr ein seidenes Kleid, dessen Träger kaum stabiler waren als der durchsichtige Stoff, eine weite Hose aus demselben Material, einen fließenden Umhang aus Brokat und feinste und reich bestickte Schnabelschuhe.

Eine namenlose Wut stieg in Lorna auf, als ihr klar wurde, warum ihr das Mädchen ausgerechnet diese Kleidungsstücke ausgesucht hatte. Wenn sie darin ihrem rätselhaften Entführer gegenübertreten würde, wäre es das unmissverständliche Zeichen, dass sie sich widerstandslos in ihre Rolle als Haremsfrau gefügt hatte, die ihrem Herrn jederzeit und mit allem, was sie hatte, zur Verfügung stand.

„Das ziehe ich nicht an!“, sagte sie mit einer Bestimmtheit, die das junge Mädchen sichtlich erschreckte. Doch ohne dem weiter Beachtung zu schenken, wandte sie sich um und begann, sich ihre Reitkleidung anzuziehen. So staubig und unvorteilhaft sie auch sein mochte, wäre sie, Lorna, darin vor den Zudringlichkeiten des Scheichs Kasim ben Hussayn besser geschützt als in den fließenden Gewändern, die er ihr hatte bringen lassen. Und trotz der Angst, die sie vor ihm hatte, wollte sie sich nicht kampflos geschlagen geben.

Zarah sah verständnislos zu, wie Lorna sich vor den Spiegel stellte und gründlich ihr Haar bürstete. Dann erst wagte sie es, zu widersprechen. „Prinz Kasim wird sehr böse sein“, wandte sie ängstlich ein, und ihre Stimme klang beinahe flehend.

„Darauf kann ich leider keine Rücksicht nehmen – und wenn er der Kaiser von China ist“, erwiderte Lorna barsch und stieg in ihre Reitstiefel. Wer und was immer dieser Mann auch sein mochte, sie hatte sich schon viel zu lange in seinem Schlafgemach aufgehalten. Und so ließ sie das Mädchen einfach stehen und trat durch den schweren Vorhang in den Hauptraum des Zeltes.

Doch was sie dort sah, war wenig dazu angetan, sie zu besänftigen. Vor dem Diwan, auf dem sie noch vor wenigen Minuten gesessen hatte, stand nun ein festlich geschmückter Tisch mit zwei Gedecken.

Er scheint es zu lieben, sich wie ein Prinz aus Tausendundeiner Nacht aufzuführen, dachte Lorna verächtlich, als sie sich plötzlich der Bedeutung dessen bewusst wurde, was Zahra soeben gesagt hatte: Ihr Entführer lebte nicht nur wie ein Prinz aus dem Morgenland – er war ein Prinz aus dem Morgenland.

Und jeden Augenblick konnte er das Zelt betreten und sie mit dem durchdringenden Blick seiner braunen Augen ansehen, vor dem sie keine noch so unvorteilhafte und wenig frauliche Kleidung schützen würde.

4. KAPITEL

Die Einrichtung des Wohnbereichs verriet Lorna unschwer, dass ihr Entführer nicht nur den Titel eines Prinzen trug, sondern auch über entsprechende Einkünfte verfügen musste.

Die Zeltwände waren mit wertvollen Gobelins behängt, die farblich auf die kostbaren Teppichen abgestimmt waren, die den gesamten Boden bedeckten. Im trüben Schein der Öllampen waren zahlreiche erlesene Antiquitäten zu erkennen, darunter ein kleiner Tisch aus Ebenholz, auf dem ein handgeschnitztes Kästchen mit goldenen Beschlägen stand, das Lornas Aufmerksamkeit besonders erregte.

Als sie vorsichtig den Deckel anhob, fiel ihr Blick auf einen Satz kunstvoll geschnitzter Schachfiguren aus Elfenbein. Lorna kannte kaum mehr als die Grundregeln des Spieles, das sie in ihrer Jugend von ihrem Vater gelernt hatte. Und so entnahm sie eher wahllos eine Figur und hielt sie gegen das Licht, als ein Geräusch sie aufschreckte.

„Möchtest du eine Partie Schach spielen?“, fragte Kasim ben Hussayn. „Oder willst du mir etwas damit zu verstehen geben, dass du den schwarzen König so innig betrachtest?“

Verlegen sah Lorna auf das kostbare Stück, das in ihrer Hand lag, und voller Schreck musste sie feststellen, dass sie von den vielen Figuren, die auf Samt gebettet in dem Kästchen lagen, ausgerechnet jene herausgenommen hatte, die als Symbol für den Mann diente, der sie in ihrer Gewalt hatte.

Er hatte seine Reitkleidung ab- und stattdessen den traditionellen Kibr angelegt, einen schneeweißen Umhang, der von einem Brokatband in der Taille zusammengehalten wurde und den dunklen Teint seines Gesichts ebenso betonte wie das dichte schwarze Haar, das noch feucht war.

Lorna war von der Würde und unerschütterlichen Selbstsicherheit, die er ausstrahlte, viel zu eingeschüchtert, um etwas zu erwidern. Wortlos legte sie die Schachfigur in das Kästchen zurück und schloss den Deckel. Doch auch ohne den Prinzen anzusehen, spürte sie genau, dass er sie argwöhnisch betrachtete. Sicherlich missbilligte er ihre Weigerung, sich umzuziehen.

Umso überraschter war sie, als sie aufsah und erkennen musste, dass er mit ausdrucksloser Miene auf sie zukam. Mit jedem Schritt, den er sich näherte, wuchs Lornas Angst vor ihm, und doch kam sie nicht umhin, sich die Faszination einzugestehen, die von diesem athletischen und ungeheuer gut aussehenden Mann ausging.

„Keine Angst, ich fresse dich schon nicht auf“, sagte er sanft, als er schließlich so dicht vor ihr stand, dass sie seinen Atem auf ihrer Haut spüren konnte. „Auch wenn du es verdient hättest“, fügte er hinzu. „Oder gibt es einen vernünftigen Grund dafür, dass du nicht die Sachen angezogen hast, die ich dir habe bringen lassen?“

„Haben Sie ernsthaft geglaubt, ich würde mich freiwillig wie eine Ihrer Haremsdamen kleiden?“, erwiderte sie empört, auch wenn sie ihre Entscheidung insgeheim bereute. Die weiten, fließenden Gewänder hätten sie möglicherweise besser vor den zudringlichen Blicken geschützt, mit denen der Scheich die Konturen ihres Körpers abtastete.

„Zumindest hatte ich es gehofft“, gab er mit einem sanften Lächeln zu. „Eine junge Frau, die so schön ist wie du, sollte sich nicht wie ein Mann kleiden. Reine Seide würde deine weiblichen Reize sicherlich viel besser zur Geltung bringen als dieser lächerliche Aufzug. Und bequemer wäre sie obendrein.“

Sosehr sie das unverhohlene Kompliment, das er ihr machte, auch freute, ließ sich Lorna nicht über die Drohung hinwegtäuschen, die es enthielt. Denn dass ihr Entführer sie begehrenswert fand, machte die Gefahr, dass er sie wie eine Leibeigene behandeln würde, keinesfalls geringer.

Wie konkret diese Bedrohung war, wurde ihr unmissverständlich klar, als der Scheich die Hand hob. Schon meinte Lorna, seine Berührung zu spüren, als zu ihrer Erleichterung ein Diener das Zelt betrat.

Augenblicklich wandte sich Kasim um und gab einige Anweisungen. Daraufhin stellte der Diener das Tablett ab, das er trug, und verteilte mehrere Schüsseln auf dem Tisch. Dann füllte er eine grüne Flüssigkeit in zwei langstielige Kristallgläser.

Ohne ein einziges Mal zu Lorna gesehen zu haben, verneigte er sich schließlich vor seinem Herrn und verließ das Zelt wieder.

„Jetzt sollten wir uns erst einmal stärken“, sagte Kasim, als sie wieder allein waren.

„Ich … habe keinen Appetit“, erwiderte Lorna unsicher.

„Der Appetit kommt bekanntlich beim Essen“, lautete seine Antwort, und sein Lächeln ließ Lorna fürchten, dass sie so zweideutig gemeint war, wie sie sie verstanden hatte.

Widerwillig ließ sie sich von Kasim zum Diwan führen. Kaum hatte sie Platz genommen, setzte er sich neben sie und reichte ihr ein Glas. „Das ist der beste Durstlöscher, den es gibt“, erklärte er ihr den Inhalt. „Er besteht aus Limonensaft, wilder Minze und etwas Honig. Worauf wollen wir anstoßen?“, fragte er und hielt ihr lächelnd sein Glas entgegen.

„Tun Sie nicht so scheinheilig!“ Lornas Angst brach sich lautstark Bahn. „Ich weiß genau, was Sie mit mir vorhaben, und Sie werden kaum erwarten, dass ich mich widerstandslos in mein Schicksal füge.“

Kasim stellte das Glas ab und sah Lorna nachdenklich an. „Weißt du, woran du mich erinnerst?“, fragte er schließlich, um die Antwort umgehend selbst zu geben. „An ein junges, stolzes Fohlen, das in einen See sieht und vor seinem eigenen Spiegelbild erschrickt. Bist du dir deiner Schönheit wirklich so wenig bewusst? Oder schämst du dich ihrer sogar?“

Offensichtlich schien er auf seine Fragen keine Antwort zu erwarten, denn unvermittelt beugte er sich vor und nahm die Deckel von den Schüsseln, in denen sich Reis, Gemüse und verschiedene Sorten Fleisch befanden.

Lorna erschrak, als er mit den Fingern seinen Teller füllte und die verschiedenen Zutaten zu einem Brei vermengte, aus dem er schließlich eine kleine Kugel formte, die er genüsslich zum Mund führte.

„Wenn es dir unangenehm ist, mit den Fingern zu essen, kannst du gern das Besteck nehmen“, meinte er auf ihren verwunderten Blick hin. „Hauptsache, du isst überhaupt etwas“, fügte er hinzu. „Sonst verhungerst du mir am Ende noch. Außerdem würde es Hassan zutiefst kränken, wenn du unser Nationalgericht verschmähst, das er eigens dir zu Ehren gekocht hat.“

Widerwillig nahm Lorna das Silberbesteck auf, das neben ihrem Teller lag, und nahm sich etwas Reis und Gemüse.

„Zu einem richtigen Kuskus gehört unbedingt Fleisch“, sagte Kasim mit Begeisterung in der Stimme und legte Lorna ungefragt einige kleine Stücke davon auf den Teller.

Sie war sich sicher, dass er sie mit seinem Verhalten provozieren wollte, und der schalkhafte Blick, den er ihr zuwarf, bestätigte sie in der Überzeugung. Doch um nicht den Vorwurf auf sich zu ziehen, hochmütig zu sein, legte sie kurz entschlossen Messer und Gabel beiseite und aß so, wie es der Landessitte nach üblich war.

Kaum hatten sie das Essen beendet, kam Hassan, um den Tisch abzuräumen. Ehe er ging, trug ihm der Scheich nachdrücklich etwas auf, und obwohl Lorna nicht verstand, was er sagte, wusste sie instinktiv, dass es von nun an niemand mehr wagen würde, das Zelt zu betreten.

Umso stärker empfand sie plötzlich die ganze Ausweglosigkeit ihrer Situation, und erneut machte sie sich schwerste Vorhaltungen, dass sie Rodneys Warnung achtlos in den Wind geschlagen hatte.

„Woran denkst du?“ Ihr jäher Stimmungswechsel war Kasim nicht entgangen.

„An einen Mann“, gestand Lorna rundheraus. „Er wohnt wie ich im Ras Jusuf, und ich bin sicher, dass er sich große Sorgen um mich macht. Er weiß, dass ich zur Oase von Fadna reiten wollte, und sicherlich hat er längst einige ortskundige Männer angeheuert, um gleich nach Sonnenaufgang nach mir zu suchen.“

„Alles andere hätte mich auch enttäuscht“, erwiderte Kasim mit einem schalkhaften Lächeln. „Allerdings müsste dein Freund hellsehen können, um uns hier aufzustöbern. Bei Tagesanbruch werden sich nicht mehr die geringsten Spuren von uns finden, weil der Wind sie sämtlich verweht haben wird.“

„Rodney wird mich trotzdem finden“, behauptete Lorna trotzig und bestimmt, um gegen das Gefühl der Hoffnungslosigkeit anzukämpfen, das in ihr aufstieg.

„Mag dieser Rodney dich so sehr? Oder warum bist du dir deiner Sache so sicher?“

„Und ob er mich mag!“ Das entsprach sogar der Wahrheit – weshalb es umso leichtsinniger gewesen war, sein Angebot auszuschlagen, sie zu begleiten.

„Dann verstehe ich nicht, warum er zugelassen hat, dass du allein in die Wüste geritten bist“, erwiderte der Scheich und ließ den Blick prüfend über Lornas Gesicht gleiten. „Oder könnte es sein, dass du ihn gar nicht hast dabeihaben wollen?“

Ihr wurde schmerzlich bewusst, dass sich dieser ebenso rätselhafte wie faszinierende Mann nicht hinters Licht führen ließ. „Ich bin Ihnen zwar keine Rechenschaft schuldig“, sagte sie betont unfreundlich, „aber ich versichere Ihnen, dass Rodney ein höflicher, gut erzogener, kluger und gebildeter Mann ist, den ich einem Unhold wie Ihnen hundertmal vorziehe.“

„Allmählich beginne ich zu verstehen, warum du vor ihm davongelaufen bist“, erwiderte Kasim sarkastisch. „Wenn deine Beschreibung nicht täuscht, ist er ein ausgesprochen langweiliger Kerl. Mir hat bislang jedenfalls noch niemand nachgesagt, dass ich höflich sei, und wenn es nach mir geht, soll es dabei auch bleiben. Trotzdem muss ich dich enttäuschen“, fuhr er sichtlich amüsiert fort. „Mit dem ‚Unhold‘ ist es nicht so weit her, wie du glaubst. Der bin ich gewissermaßen nur zur Hälfte, denn meine Mutter stammt aus Cadiz, was, wie du sicherlich weißt, in Spanien liegt.“

Lorna sah ihn lange ungläubig an, bis sie sich endlich der Tragweite dessen bewusst wurde, was ihr Entführer soeben erzählt hatte. „Hat Ihr Vater Ihre Mutter etwa auch …?“

Sein lautes und ungehemmtes Lachen schnitt ihr das Wort ab. „Deine Fantasie geht allmählich mit dir durch“, sagte er, nachdem er sich wieder gefangen hatte. „Meine Eltern haben sich kennengelernt wie unzählige andere Ehepaare auch. Meine Mutter hat als Krankenschwester in Marokko gearbeitet, und auf einer Reise ist mein Vater ihr zufällig begegnet. Schon wenige Wochen später haben sie geheiratet.“

„Dann ist sie ihm wirklich freiwillig …?“

„Allerdings ist sie das“, unterbrach er sie wütend, „aber vielleicht ist es von einer unterkühlten und ahnungslosen Engländerin zu viel verlangt zu verstehen, dass eine Frau einem Mann aus Liebe überallhin folgt – selbst bis in die Wüste.“

Lorna sah ein, dass sie ihm mit ihrem Verdacht zu nahe getreten war. Dennoch war sie nicht bereit, sich von ihm beschimpfen und beleidigen zu lassen.

„Ganz so ahnungslos, wie Sie annehmen, bin ich keineswegs“, sagte sie betont kühl. „Das letzte Jahr habe ich in Paris gelebt, der Stadt der Liebe. Ein bisschen verstehe ich also durchaus davon.“

Unvermittelt hellte sich Kasims Miene auf. „Hast du wirklich in Paris gewohnt?“, fragte er begeistert. „Du musst mir unbedingt erzählen, wie es dir dort gefallen hat.“

„Paris ist eine Welt für sich“, erwiderte sie wehmütig. „Man muss es mit eigenen Augen gesehen haben.“

„Ganz meine Meinung“, pflichtete er ihr bei.

„Waren Sie denn schon einmal dort?“, fragte sie ungläubig.

„So würde ich es nicht nennen“, erwiderte Kasim, und sein Blick verriet deutlich, dass er eine Überraschung für Lorna bereithatte. Doch zunächst genoss er den verwunderten Gesichtsausdruck, mit dem sie ihn ansah, ehe er ihr mitteilte: „Ich bin dort viele Jahre zur Schule gegangen.“

Aus Scham darüber, wie sehr sie ihn unterschätzt hatte, wäre Lorna am liebsten im Boden versunken. Dabei hätte sie sich denken können, dass er sein akzentfreies Französisch nicht in der Wüste gelernt hatte.

Dem Scheich konnten die Schuldgefühle, die sie plötzlich empfand, nicht verborgen geblieben sein, und so wunderte es Lorna nicht, als er sich zu ihr hinüberbeugte und sie mit seinen ausdrucksvollen braunen Augen ansah.

Eher schon wunderte sie sich, dass sie nicht augenblicklich protestierte, sondern die unverhohlene Bewunderung, die in seinem Blick lag, sehr genoss.

Das änderte sich jedoch grundlegend, als er unvermittelt aufstand und ihre Hand nahm. „Es ist schon spät“, sagte er sanft, „und der Tag war für uns beide ziemlich anstrengend. Es wird höchste Zeit, ins Bett zu gehen.“

Wie in Trance ließ sich Lorna von ihm in sein Schlafgemach führen. Erst als sie vor dem Bett standen, kam sie schlagartig zur Besinnung. Mit der Kraft der Verzweiflung versuchte sie, sich von ihm loszumachen, doch der eiserne Griff seiner Hände erstickte ihren Fluchtversuch bereits im Keim.

„Wo willst du hin, kleiner Wildfang?“, fragte er, und sein freundlicher Tonfall kam ihr wie blanker Hohn vor. „Inzwischen müsstest du doch wissen, dass du mir nicht entkommst.“

„Lassen Sie mich sofort los, Sie ekelhafter Mensch!“, platzte sie heraus, und die ersten Tränen rollten ihr über die Wangen.

„Du weißt gar nicht, wie begehrenswert dein Starrsinn dich macht“, erwiderte er lächelnd. Doch anstatt ihr Flehen zu erhören und sie gehen zu lassen, warf er sie aufs Bett.

Als er sich über sie beugte, schloss Lorna die Augen und sehnte sich weit, weit fort. Doch zunächst geschah nichts weiter, als dass Kasim ihr die schweren Reitstiefel auszog.

Ängstlich und ungläubig schlug sie die Augen auf und sah direkt in sein ebenso stolzes wie entschlossenes Gesicht. „Den Rest schaffst du sicherlich allein“, sagte er mit einem Lächeln, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Ich lösche in der Zwischenzeit nebenan das Licht.“

Entsetzt blickte sie ihm nach, wie er durch den Vorhang verschwand, durch den er in wenigen Augenblicken erneut treten würde, um seine ungeheuerliche Drohung wahr zu machen.

Panisch vor Angst setzte sich Lorna auf und sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, als ihr Blick auf die Obstschale fiel, die ihr bereits am Nachmittag aufgefallen war. Doch nun entdeckte sie auch das kleine Messer, das gleich neben der Schale lag.

Ohne zu zögern, nahm sie es an sich – und das keinen Augenblick zu früh, wie ihr der Luftzug verriet, der die Rückkehr des Prinzen ankündigte. Augenblicklich nahm sie all ihren Mut zusammen und stieß das Messer in die Richtung, aus der sie ihn erwartete.

Ein kurzer, heftiger Aufschrei bestärkte sie in der verzweifelten Hoffnung, dass sie ihr Ziel nicht verfehlt hatte, als ein eiserner Griff ihr Handgelenk umklammerte und sie zwang, das Messer fallen zu lassen.

Die Überraschung über ihren Angriff stand Kasim deutlich im Gesicht geschrieben. Ohne Lorna loszulassen, sah er benommen auf das Blut, das aus den Falten seines Kibr trat und das weiße Leinen rötlich färbte.

„Das war äußerst unklug von dir, Lorna“, sagte er drohend und zog sie erbarmungslos an sich. „Ich brauche dir sicherlich nicht zu erklären, welche Strafe heimtückische Attentäter gewöhnlich erwartet.“

„Bitte nicht!“, flehte sie unter Tränen. „Sie haben mich doch geradezu gezwungen, mich zu verteidigen.“

Er sah sie mit derart versteinerter Miene an, dass Lorna schon jede Hoffnung auf Gnade aufgeben wollte, als sein Gesichtsausdruck unvermittelt milder wurde.

„Keine Sorge, ich habe nicht vor, dich wie einen gemeinen Pferdedieb auszupeitschen“, sagte er, doch sein Lächeln war nicht weniger bedrohlich als die Begründung, die er ihr gleich darauf nannte. „Wie du weißt, gibt es zwischen Mann und Frau andere Lösungen.“ Im selben Moment beugte er sich zu Lorna hinunter und presste ihr die Lippen auf den Hals.

Mit verzweifelter Entschlossenheit stieß sie ihn zurück und nutzte das Überraschungsmoment, um sich wie ein Ringkämpfer aufzubauen und den nächsten Angriff ihres Peinigers zu erwarten.

Ein regelrechtes Handgemenge entwickelte sich, das unvermittelt endete, als Kasims Blick auf eine Blüte fiel, die auf dem Teppich vor dem Bett lag.

„Woher hast du diese Blume?“, fragte er wutentbrannt und stieß Lorna aufs Bett, um sich zu bücken und die Blüte aufzuheben.

Lorna hatte nicht bemerkt, dass das Andenken an ihren Vater, das sie in der Oase von Fadna gepflückt hatte, aus der Brusttasche ihres Hemdes geglitten war. Umso weniger ertrug sie den Gedanken, die zarte Pflanze in den Händen ihres gewalttätigen Entführers zu wissen.

„Geben Sie sie mir sofort zurück!“, forderte sie ihn bestimmt auf und richtete sich auf, um zu verhindern, dass der Scheich das kostbare Erinnerungsstück achtlos zwischen den Fingern zerrieb.

„Du sollst mir sagen, wer dir diese Blume gegeben hat!“, verlangte er gebieterisch Auskunft und umfasste ihr Handgelenk mit eisernem Griff. „Etwa derselbe Hornochse, der dich allein in die Wüste hat reiten lassen?“

„Ich trage sie an meinem Herzen, weil sie mich an jemanden erinnert, den ich sehr, sehr liebe“, erwiderte sie stolz, auch wenn die Schmerzen, die er ihr zufügte, schier unerträglich waren.

„Ich wusste doch, dass dieser Rodney dahintersteckt.“ Sein Gesichtsausdruck war so bitter wie sein Tonfall, und einen Moment war er so sehr in Gedanken versunken, dass Lorna ihm die empfindliche Blüte aus der Hand nehmen konnte. Erleichtert stellte sie fest, dass keines der zarten Blätter fehlte oder auch nur beschädigt war.

„Denken Sie, was Sie wollen“, sagte sie mit neuem Mut. „Von mir erfahren Sie jedenfalls kein Sterbenswörtchen, selbst wenn Sie mir Gewalt antun.“

Doch anstatt sie zu zwingen, ihm den Namen des Mannes zu nennen, der ihr so viel bedeutete, ließ Prinz Kasim sie unvermittelt los. „Von mir aus kannst du dein Geheimnis für dich behalten“, erwiderte er verbittert. „Pass nur auf, dass du nicht eines Tages daran erstickst.“

Mehr als seine Worte erschreckte Lorna, dass er sich die Hand auf die Brust legte, als schmerzte ihn plötzlich die Wunde, die sie ihm mit dem Messer zugefügt hatte. Doch konnte diese Geste nicht auch bedeuten, dass er unter ihrer hartnäckigen Weigerung litt, sich ihm anzuvertrauen?

Ehe Lorna eine Antwort auf diese Frage gefunden hatte, wandte sich der Scheich unvermittelt um und ging zu dem Vorhang, der das Schlafgemach vom Wohnbereich trennte.

Ehe er sie verließ, drehte er sich jedoch noch einmal zu seiner Gefangenen um. „Du solltest jetzt versuchen zu schlafen“, sagte er mit fester Stimme. „Ich werde die Nacht nebenan verbringen. Für den Fall, dass du auf dumme Gedanken kommen solltest, lass dir gesagt sein, dass ich einen sehr leichten Schlaf habe.“

Nach dieser unmissverständlichen Warnung ließ er Lorna allein. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass ihr das Unaussprechliche erspart bleiben würde – zumindest in dieser Nacht.

Doch um wirklich erleichtert zu sein, stand sie viel zu sehr unter Schock, wie die Tatsache bewies, dass sie am ganzen Körper bebte. Ohne sich zu besinnen, zog sie das Hemd und die Reithose aus, legte sich unter die Decke und barg das Gesicht in den weichen Kissen.

Plötzlich drang das Heulen eines Schakals an ihr Ohr, das Lorna verriet, dass dort draußen in der Wüste ein Opfer weniger Glück gehabt hatte als sie.

Um das Gefühl der Verlorenheit zu bekämpfen, öffnete sie die Hand und betrachtete die blaue Blüte, die sie vor ihrem Peiniger in Sicherheit gebracht hatte. Doch unvermittelt kam ihr in den Sinn, dass es im Grunde umgekehrt war und die unschuldige Pflanze sie, Lorna, vor dem Schlimmsten bewahrt hatte.

Dankbar und erleichtert führte sie die Hand, in der sie die Blume wie ein Kleinod verwahrte, zum Gesicht und atmete den betörenden Duft der Freiheit ein, der ihr noch immer entströmte, ehe sie endlich erschöpft in einen bleiernen Schlaf fiel.

5. KAPITEL

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Lorna vom regen Treiben geweckt wurde, das vor dem Zelt herrschte.

Doch um nicht allzu jäh mit der schrecklichen Wirklichkeit konfrontiert zu werden, hielt sie die Augen noch eine Weile geschlossen und hing wehmütigen Gedanken an glückliche Zeiten nach.

Umso größer war ihr Schreck, als sie widerwillig die Augen öffnete und ihr Blick auf das Moskitonetz über dem Bett fiel. Jemand musste in der Nacht heimlich ins Zimmer gekommen sein und es aufgespannt haben. Und so wenig Lorna bezweifelte, dass es Kasim ben Hussayn gewesen war, so unerträglich war ihr der Gedanke, dass er sie heimlich beobachtet hatte, während sie schlief und sich gegen seine zudringlichen Blicke nicht wehren konnte.

Augenblicklich richtete sie sich auf, legte sich die Tagesdecke um und verließ das Bett. Doch der Raum, in dem sie sich befand, war nicht dazu angetan, sie zu beruhigen. Denn mit den Gegenständen, auf die ihr Blick fiel, stellte sich auch die Erinnerung an den Vorabend wieder ein. Und als sie in aller Deutlichkeit das Bild des rätselhaften und rücksichtslosen Mannes vor Augen hatte, in dessen Hände sie geraten war, spürte sie erneut die namenlose Angst, die sie vor ihm ausgestanden hatte.

Deshalb hätte ihr Entsetzen nicht größer sein können, als sich plötzlich der schwere Vorhang bewegte, der das Schlafgemach vom Wohnraum trennte. In ihrer Verzweiflung wollte Lorna um Hilfe rufen, als sie das Mädchen erkannte, das ihr zulächelte. Und dass es unverschleiert war, konnte nur bedeuten, der Prinz hatte das Zelt längst verlassen.

„Guten Morgen“, begrüßte Zahra sie freundlich, ehe sie zu der hölzernen Truhe ging und sie öffnete. Als sie sich wieder aufgerichtet und zu Lorna umgedreht hatte, hielt sie ein cremefarbenes Chiffonkleid in Händen. „Es müsste Ihnen eigentlich passen“, forderte sie Lorna indirekt auf, es anzuziehen.

Ein wenig beschämt drehte sich Lorna um. Dann erst ließ sie die Decke fallen und zog das Kleid an. Der weiche Stoff schmeichelte ihrer Haut, und der Duft, den es verströmte, war geradezu betörend.

„Wie kommt es, dass dein Herr ein solch kostbares Kleid in seinem Gemach verwahrt?“, erkundigte sie sich verlegen und ließ die Hände über die edle Seide gleiten.

„Er hat es für Turqeya gekauft“, erklärte ihr Zahra bereitwillig, auch wenn sie sich über die Frage ein wenig zu wundern schien. „Vor einer Woche ist eine Karawane vorbeigezogen, und der Prinz hat mehrere Kleider und französisches Parfüm erstanden, um es mit in den Palast zu nehmen und Turqeya zu überraschen.“

Von dem, was das Mädchen ihr erklärt hatte, verstand Lorna nur, dass es irgendwo einen Palast geben musste, in dem nicht nur der Prinz lebte, sondern außer ihm eine Frau, die den exotischen Namen Turqeya trug. Unwillkürlich hatte sie das Bild einer anmutigen und verführerischen jungen Frau vor Augen, deren schwarzes Haar ihr sanft über die Schultern fiel.

Ohne sich zu besinnen, zog sie das Kleid aus, dessen Stoff plötzlich auf ihrer Haut zu brennen schien, und hüllte sich wieder in die Decke.

„Gefällt Ihnen das Kleid nicht?“, erkundigte sich das Mädchen überrascht. „In der Truhe sind noch mehr. Sie können gern ein anderes …“

„Ich denke nicht daran“, fiel Lorna ihr barsch ins Wort. „Und jetzt würde ich gern ein heißes Bad nehmen.“

„Schon wieder?“, fragte Zahra ungläubig. „Sie haben doch erst gestern Abend …“

„Das weiß ich selbst.“ Erneut ließ Lorna sie nicht ausreden, als ihr plötzlich in den Sinn kam, warum ihr schlichter Wunsch das Mädchen so sehr befremdete. Schließlich befand sie sich nicht in ihrem Hotel, sondern in einem Zelt mitten in der Wüste, und Wasser war sicherlich ein überaus kostbares Gut, mit dem sie nicht verschwenderisch umgehen sollte.

„Ich wollte dir nicht zu nahe treten, Zahra“, entschuldigte sie sich, „aber wenn es sich irgendwie einrichten lässt, würde ich wirklich sehr gern ein Bad nehmen.“

„Wenn die Lella es wünscht, trage ich Hassan sofort auf, Wasser vom Brunnen zu holen“, sagte Zahra, und die Verunsicherung war ihr deutlich anzusehen. „In der Zwischenzeit kann die Lella frühstücken.“

Sie schien fast ein wenig erleichtert, dass sie den Raum für einen Moment verlassen konnte. Das Benehmen der jungen Frau, die ihr Herr dort einquartiert hatte, war ihr offensichtlich fremd.

Lorna nahm sich fest vor, Zahra ab sofort freundlicher zu behandeln, denn mit großer Wahrscheinlichkeit war sie die einzige Person im ganzen Lager, die ihr zumindest wohlgesonnen war.

Deshalb bückte sie sich, um das Kleid aufzuheben, das sie achtlos fallen gelassen hatte. Doch kaum spürte sie den weichen Stoff, überfiel die bittere Gewissheit sie, dass der Friede des Vormittags nicht lange währen würde. Schon bald würde der Scheich zurückkehren und sie erneut bedrängen. Nicht einmal die unbestreitbare Tatsache, dass irgendwo eine andere Frau auf ihn wartete, für die er wertvolle Geschenke ausgesucht hatte, würde ihn davon abhalten. Und anders als in der vergangenen Nacht wäre sie ihm hilflos …

„Ich wollte Sie wirklich nicht erschrecken.“

Erst Zahras Stimme machte Lorna klar, dass sie in ihrer Angst fantasiert hatte. Erschöpft setzte sie sich aufs Bett und beobachtete, wie das Mädchen ein Tablett auf den Tisch stellte und ihr frischen Kaffee einschenkte.

Dankbar nahm sie die Tasse entgegen. Doch als Zahra ihr einen Teller reichen wollte, machte sie eine abwehrende Handbewegung, selbst wenn die Rissolen, die einen aromatischen Duft verbreiteten, köstlich aussahen.

„Wenn Sie nicht frühstücken, wird Prinz Kasim denken, ich hätte mich nicht genügend um Sie gekümmert, und mich bestrafen“, wandte das Mädchen ein.

„Mit Strafen scheint Prinz Kasim schnell bei der Hand zu sein“, meinte Lorna sarkastisch und nahm widerwillig den Teller entgegen. Dabei blickte sie unwillkürlich zu Zahra auf, die sie befremdet ansah. Offensichtlich war sie nicht gewohnt, dass jemand es wagte, den Scheich offen zu kritisieren.

Vielleicht denkt das Mädchen ja genau wie ich, dachte Lorna, und plötzlich keimte in ihr die Hoffnung auf, dass es doch noch eine Chance geben könnte, ihrem Entführer zu entkommen.

„Zahra“, sagte sie ernst und versuchte, sich die Aufregung nicht anmerken zu lassen, „willst du mir nicht dabei helfen, aus dem Lager zu fliehen?“

Die junge Dienerin schreckte zurück, als wäre sie dem Teufel persönlich begegnet. Ihr Gesicht war aschfahl geworden, und um nicht laut aufzuschreien, schlug sie sich die Hand vor den Mund. „Das Wasser müsste jetzt heiß sein“, erwiderte sie endlich, und ohne auch nur mit einer Silbe auf Lornas Frage einzugehen, drehte sie sich um und verließ den Raum.

Lorna stellte den Teller ab und ließ deprimiert den Kopf sinken. Nach dem, was sie soeben erlebt hatte, war sie sich mehr als sicher, dass jeder aus dem Gefolge des Prinzen genauso wie das Mädchen reagieren würde. Seine Macht war unumschränkt, und aus Angst um Leib und Leben würde es niemand wagen, sich ihm zu widersetzen – schon gar nicht um einer jungen Engländerin willen, die in ihren Augen keinen Grund hatte, sich zu beklagen. Schließlich hatte der Prinz ihr die Ehre erwiesen, sie in sein Zelt aufzunehmen, und dass solche Sonderrechte mit gewissen Pflichten verbunden waren, hielten seine Leute sicherlich für eine Selbstverständlichkeit.

Der Verzweiflung nah, stand Lorna auf und setzte sich an die Frisierkommode. Als sie ihr Spiegelbild sah, erkannte sie sich kaum wieder, so wenig erinnerte das Gesicht, das sie vor sich hatte, noch an die junge Frau, die vor weniger als vierundzwanzig Stunden in die Wüste geritten war, um sich einen Lebenstraum zu erfüllen, und stattdessen in einen wahren Albtraum geraten war.

Als Zahra mit zwei gefüllten Kupferkesseln zurückkam, erschrak sie unwillkürlich, als sie Lorna sah. „Die Lella hat doch nicht etwa geweint?“, sagte sie sanft und begann, das heiße Wasser in die Wanne zu füllen. „Der Prinz ist ein guter Mann. Sie brauchen sich nicht vor ihm zu fürchten.“

Darüber dachte Lorna ganz eindeutig anders. Für sie gab es keine größere Bedrohung als einen Mann, der eine junge Frau in seine Gewalt brachte und erwartete, dass sie sich widerstandslos seinem Willen unterwarf.

Doch weil es ausgeschlossen schien, dem Mädchen ihre Sicht der Dinge verständlich zu machen, verzichtete sie auf den Versuch. „Du kannst jetzt gehen“, sagte sie stattdessen und beobachtete, wie Zahra ein duftendes Öl ins Wasser goss. „Ich komme schon allein zurecht.“

„Möchte die Lella denn nicht, dass ich ihr Rücken und Schultern massiere?“, fragte sie verwundert und zeigte Lorna einen speziellen Schwamm, wie er in orientalischen Badehäusern Verwendung fand. „Es gibt nichts Entspannenderes.“

„Ich will dich nicht von der Arbeit abhalten“, erwiderte Lorna verlegen, weil ihr der Gedanke, sich vor dem Mädchen auszuziehen, zutiefst unangenehm war.

Doch Zahra waren die wirklichen Gründe für Lornas Weigerung keinesfalls entgangen. „Wer einen so schönen Körper wie die Lella hat, braucht sich doch nicht zu genieren“, wandte sie lächelnd ein.

Lorna freute sich sehr über das Kompliment, und doch konnte sie nicht verhindern, dass sie leicht errötete, als sie sich schließlich auszog und in die Wanne stieg.

Bald konnte sie sich jedoch davon überzeugen, dass Zahras Ankündigung nicht übertrieben gewesen war, denn bei der Berührung mit dem rauen Schwamm prickelte ihr förmlich die Haut. Es regte nicht nur den Kreislauf an, sondern löste zugleich die Muskulatur.

Plötzlich spürte Lorna jedoch einen stechenden Schmerz, der sie kurz aufstöhnen ließ. Als sie auf ihren Oberarm sah, den Zahra massiert hatte, fiel ihr Blick auf einen großen blauen Fleck, der zweifelsfrei dem Wutausbruch des Prinzen zu verdanken war, mit dem er am Vorabend auf ihren Angriff reagiert hatte.

Lorna tröstete sich über die Verunstaltung und die Schmerzen mit der Gewissheit hinweg, dass auch er Spuren des Kampfes davongetragen hatte. Doch während sie den Vorfall ebenso schnell vergessen könnte, wie die hässliche Druckstelle verschwand, würde ihn die kleine Narbe auf seiner Brust zeitlebens daran erinnern, wie gefährlich es sein konnte, einer Frau gegen ihren ausdrücklichen Willen zu nahe zu kommen.

Autor

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