Romana Exklusiv Band 353

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SEHNSUCHT UNTER DEN STERNEN SIZILIENS von MAJA FRANKLIN
Für Hannah zählt nur ihre Arbeit, die sie ins sonnige Sizilien geführt hat. Doch als der heißblütige Herzchirurg Sergio Guscetti sie zärtlich küsst, spürt sie verzehrende Sehnsucht… Bis Sergio ihr nach einer wunderbaren Liebesnacht plötzlich die kalte Schulter zeigt!

HALT MICH FEST – FÜR IMMER! von REBECCA WINTERS
„Verbring das Wochenende mit mir!“ Andrea könnte auf der Stelle dahinschmelzen, als der griechische Milliardär Stavros Konstantinos sie in seine Luxusvilla auf Thasos einlädt. Aber sie muss ihr Herz schützen! Denn Stavros meint es auf Dauer nicht ernst mit ihr, oder?

VERSPRECHEN IN TIEFBLAUEN AUGEN von LIZ FIELDING
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  • Erscheinungstag 23.09.2022
  • Bandnummer 353
  • ISBN / Artikelnummer 9783751510820
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Maja Franklin, Rebecca Winters, Liz Fielding

ROMANA EXKLUSIV BAND 353

1. KAPITEL

Mit den Worten „Hier beginnt Privatbesitz, weiter fahre ich nicht“ hatte der Taxifahrer Hannah abgesetzt. Nun lag vor ihr eine Anhöhe, bewachsen mit Pinien. Zumindest gab es eine richtige Straße, das machte es leichter, den Koffer hinter sich her zu ziehen. Vom Meer wehte eine frische Brise heran, bewegte sanft die Baumspitzen und zupfte an ihren zu einem Zopf geflochtenen Haaren.

Obwohl es erst Anfang Mai war, herrschten auf Sizilien bereits sommerliche Temperaturen. Selbst das Shirt und die hellblaue Hose erschienen ihr nun zu warm. Zum Glück hatte sie genügend leichte Kleidung eingepackt.

Doch sie war nicht als Touristin hier, sondern zum Arbeiten. Noch konnte sie das Haus nicht sehen, aber laut Professor Gabriella Guscettis Beschreibung musste es direkt hinter den Bäumen liegen. Je näher sie kam, desto schneller schlug ihr Herz. Die Professorin arbeitete als Herzchirurgin in dem Krankenhaus, in dem auch Hannah tätig gewesen war, und hatte sie vorgewarnt, dass ihr Sohn Dr. Sergio Guscetti über ihr unerwartetes Erscheinen womöglich nicht erfreut sein würde. Vorsichtig hatte Hannah angemerkt, dass das nicht die besten Voraussetzungen für eine Therapie seien; sie konnte nur jemandem helfen, der sich auch helfen lassen wollte.

Doch davon hatte Gabriella Guscetti nichts hören wollen. Und das versprochene Honorar noch einmal erhöht. Das war vor einer Woche gewesen. Als Hannah die Adresse auf dem Vertrag las, hatte sie gestutzt. Der Name der Stadt klang Italienisch, und Professor Guscetti hatte bestätigt, dass sie in Sizilien in der Nähe von Palermo lag.

Auf ihre Frage, wieso ausgerechnet sie diesen Fall übernehmen sollte, hatte die Professorin nur gesagt, dass sie sehr viel Gutes über sie gehört habe und nur die beste Therapeutin für ihren Sohn wolle. Das Kompliment hatte sie verlegen und gleichzeitig auch ein wenig stolz gemacht.

Aber was sie wirklich dazu gebracht hatte, zuzusagen, war der Ausdruck im Gesicht der älteren Frau gewesen. Wenn sie von ihrem Sohn sprach, lag ein solcher Schmerz in ihrem Blick. Sie litt, weil er litt und sie ihm nicht zu helfen vermochte. Hannah hatte schlucken müssen. Normalerweise bewahrte sie stets eine professionelle Distanz zu ihren Patienten und deren Angehörigen, aber in diesem Fall fiel ihr das schwer. Sie konnte gut verstehen, wie Professor Guscetti sich fühlte, auch wenn ihre eigene Situation damals etwas anders gewesen war. Die Professorin setzte all ihre Hoffnungen in sie. Das machte die vor ihr liegende Aufgabe nicht einfacher.

Endlich oben auf dem Hügel angekommen, musste Hannah erst einmal Atem schöpfen. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Stirn und hoffte, noch einigermaßen frisch auszusehen. Aber gleich würde sie sich sicher ausruhen und etwas Kühles trinken können.

Ihr Blick wanderte über den weißen Steinbau. Es handelte sich offensichtlich um ein Familiendomizil: zweistöckig und mit einem ausladenden Seitenflügel. Mehrere der vielen Fenster standen auf Kipp. Links von ihr plätscherte ein Springbrunnen. Steinerne Engelsfiguren ließen Wasser durch ihre Hände fließen. In Kugelform geschnittene Buchsbäume standen neben der niedrigen Treppe zum Eingang.

An der Haustür befand sich ein schwerer Messingklopfer in Form eines Löwenkopfes. Hannah betätigte ihn und wartete. Als nichts geschah, klopfte sie erneut und hielt Ausschau nach einem Klingelknopf. Doch den gab es offensichtlich nicht.

Sie trat einige Schritte von der Tür zurück. „Hallo?“, rief sie laut.

Nichts rührte sich. Die Tür blieb verschlossen.

Hannah seufzte und setzte sich auf ihren Koffer. War Dr. Guscetti vielleicht gerade unterwegs? Aber seine Mutter hatte doch gesagt, dass er das Haus überhaupt nicht verließ. Folglich musste er daheim sein.

„Hallo!“, rief Hannah erneut und diesmal noch lauter. Heiß brannte ihr die Sonne auf den Kopf. Sie sehnte sich nach einem großen Glas eiskaltem Mineralwasser.

„Hallo!“, schrie sie noch einmal, so laut diesmal, dass ihre Kehle schmerzte.

Doch mit Erfolg, denn nur Sekunden später wurde die Haustür schwungvoll aufgerissen. Ein Schwall italienischer Worte ergoss sich über sie und ließ sie von ihrem Koffer aufspringen. Der Mann vor ihr sah aus, als bereite er sich auf eine Rolle in einem Horrorfilm vor. Sein schwarzes Haar stand ihm wirr vom Kopf ab, die ebenso dunklen Brauen waren zusammengezogen, und in den markanten Gesichtszügen ließ sich keine Spur von Freundlichkeit entdecken. Außerdem war er groß, deutlich über 1,80 m, dabei von athletischer Statur mit breiten Schultern.

„Entschuldigen Sie“, sagte Hannah auf Englisch und trat einen Schritt näher. Er mochte bedrohlich wirken, aber dass er ihr wirklich etwas tun würde, glaubte sie nicht. „Sie müssen Dr. Guscetti sein. Ich bin Hannah Ashford …“

„Das interessiert mich nicht“, unterbrach er sie, ebenfalls Englisch sprechend. Nur einen leichten Akzent konnte sie vernehmen.

Oh je, das fing ja schon gut an! Aber vielleicht hielt er sie für eine Staubsaugervertreterin oder dachte, sie wäre gekommen, um ihm eine Versicherung anzudrehen. „Ich will Ihnen nichts verkaufen, ich bin Physiotherapeutin.“

„Schön für Sie. Ich brauche keine. Wie kommen Sie überhaupt hierher? Hat meine Mutter Sie geschickt?“

„Ja.“ Signora Guscetti hatte sie ja vorgewarnt, aber dass er sie so ablehnend empfangen würde, hätte Hannah nicht vermutet. „Vielleicht beruhigen Sie sich erst einmal und wir …“

„Es gibt kein wir.“ Er spie das Wort aus, als sei es eine Beleidigung.

Der war tatsächlich eine harte Nuss! Hannah unterdrückte ein Seufzen. „Ich würde Ihnen wirklich gerne helfen, Dr. Guscetti.“

„Glauben Sie mir, bei mir würde Ihnen jede Freude direkt vergehen.“

So wie er sie ansah, glaubte sie ihm das wirklich. Und doch konnte sie nicht umhin, zu bemerken, was für ein attraktiver Mann er trotz dieses harten Zugs um seinen Mund war. Aber natürlich spielte das keine Rolle. Er war ihr Patient, nicht mehr und nicht weniger.

„Was ist nun?“, fragte er, da sie immer noch nicht geantwortet hatte.

Hannah behielt ihr Lächeln bei. „Es geht mir nicht darum, von Ihnen erfreut zu werden.“ Als sie die Worte ausgesprochen hatte, merkte sie, wie zweideutig sie klangen. Hitze stieg ihr ins Gesicht.

Was Dr. Guscetti ebenfalls registrierte, denn nun spielte ein spöttisches Lächeln um seine Mundwinkel. „Sie wären die erste Frau, die sich beschwert.“

Sein männliches Selbstbewusstsein weckte ebenso Ärger wie Verlangen in ihr. Rasch unterdrückte sie beides. „Ich bin erschöpft von der Anreise, und ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn wir diese Diskussion zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen könnten.“

„Den wird es nicht geben.“

Diesmal ließ sich das Seufzen nicht unterdrücken. „Gewähren Sie mir dann wenigstens für den Moment Ihre Gastfreundschaft?“

Sergio musterte die Frau. Das sah seiner Mutter ähnlich, dass sie ihm eine so junge und schöne Physiotherapeutin auf den Hals hetzte, statt eine, die zwanzig Jahre älter als er selbst war, hundert Kilo wog und von Warzen geplagt wurde. Leichter Wind zupfte an ihren geflochtenen Haaren, sodass einzelne Strähnen ihr nun ins Gesicht wehten und dazu einluden, die Hand auszustrecken, um sie ihr zur Seite zu streichen. Was für eine ungewöhnliche Farbe ihr Haar besaß. Nicht rot und nicht braun, eher so wie Zimtstangen. Ob es auch so gut roch?

Sofort verdrängte er diesen unerwünschten Gedanken. Es spielte keine Rolle, wie Hannah Ashford aussah oder wie ihr Haar roch. Sie sollte verschwinden, und das besser früher als später. Er wollte keine Therapie. Das brachte sowieso nichts, außer, dass er seine Zeit damit verschwendete, sich zu ärgern.

Aber eine Frau vor dem Haus stehen zu lassen, ging gegen seine Ehre. Er mochte nicht glücklich über ihre Anwesenheit sein, doch gab ihm dies noch lange nicht das Recht, sich wie ein ungehobelter Klotz zu verhalten.

Mit zwei Schritten war er bei ihr und wollte den Koffer nehmen.

Wie beschützend schlangen sich ihre schlanken Finger um den Griff. „Das kann ich schon allein.“

Natürlich, sie dachte an seine Verletzungen und glaubte, er würde es ohnehin nicht schaffen, einen Koffer ins Haus zu ziehen. Heißer Zorn wallte in ihm empor. Mehr noch, da er nicht sicher war, den Koffer tatsächlich greifen zu können.

Es beschämte ihn zutiefst, tatenlos daneben stehen zu müssen, während Hannah ihr Gepäck ins Haus zog. Auf seine guten Manieren war er immer so stolz gewesen. Charmant und höflich hatte er Frauen schwere Koffer abgenommen, Türen aufgehalten und Stühle vorgerückt. Und nun war er nicht einmal dazu fähig, seine Hände zu Fäusten zu ballen und irgendwo gegen zu schlagen, um den Schmerz des Schamgefühls zu überdecken.

Lediglich die Tür öffnen konnte er.

In der Diele blieb Hannah stehen und sah ihn fragend an. „Wohin?“

„Lassen Sie den Koffer einfach hier stehen.“ Er deutete nach links. „Kommen Sie, dort ist das Wohnzimmer.“

Er hielt ihr auch diese Tür auf und ließ sie vorangehen. Ihr leiser Pfiff brachte ihn zum Schmunzeln. Da er selbst nichts anderes gewöhnt war, fiel es ihm leicht, zu vergessen, wie luxuriös die Einrichtung auf jemanden wirken musste, der nicht von teuren Designermöbeln, Brokatkissen, exquisiten Teppichen und Originalgemälden umgeben war.

„Das ist so groß wie meine gesamte Wohnung“, murmelte Hannah, während sie sich umsah.

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ein eisgekühltes Mineralwasser vielleicht?“

„Das wäre wunderbar.“ Sie folgte ihm in die Küche, und als er den Schrank öffnete und ein Glas herausholte, schoss ihre Hand vor, um es ihm abzunehmen.

Sergio unterdrückte einen deftigen Fluch. Er hasste seine Eingeschränktheit, aber noch weit mehr hasste er es, wenn sie ihm so deutlich vor Augen geführt wurde.

„Alles in Ordnung?“ Hannah musterte ihn.

Nichts war in Ordnung! Doch er durfte sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihr Verhalten ihn erzürnte. Sie konnte ja nichts dafür. „Gläser kann ich durchaus noch anfassen.“

„Ich wollte doch nur …“ Sie verstummte und schien wohl zu begreifen, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

Sergio holte aus dem Kühlschrank die Wasserflasche, schraubte sie auf. Vielleicht verlieh ihm seine Wut diese Entschlossenheit, denn was sonst länger dauerte, klappte nun sofort. Beim Eingießen geriet er an seine Grenzen. Ein Großteil des Wassers schwappte auf die Arbeitsplatte.

Diesmal fluchte er laut. „Porca miseria!“

„Das macht doch nichts.“ Schnell griff Hannah nach der Küchenrolle, wischte das Wasser auf, nahm das Glas und trank einen Schluck.

Zumindest besaß sie genug Taktgefühl, nicht weiter darauf einzugehen, als sie ihm nun mit dem Glas zurück ins Wohnzimmer folgte.

Nachdem sie Platz genommen hatte, setzte auch Sergio sich, die Hände, wie er es mittlerweile in Gesellschaft gewohnt war, zwischen den Knien. Wie er es hasste, wenn jemand auf die Narben starrte, die Augen zusammenkniff, um genauer hinzusehen. Und sich dann dieses Mitleid in den Blick schlich, um den Mund ein bedauernder Zug entstand.

Doch Hannah sah ihm ins Gesicht. „Ich möchte mich wirklich nicht mit Ihnen streiten, Dr. Guscetti.“

„Sagen Sie Sergio.“ Er konnte es nicht ertragen, zu hören, wie sie ihn mit einem Titel anredete, der nun zu nichts mehr nutze war.

„Gut, Sergio.“ Ihm gefiel die Art, wie sie seinen Vornamen aussprach. Mit nicht ganz korrekter Betonung zwar, aber gerade das machte es besonders. „Sie wissen ja bereits, dass Ihre Mutter mich zu Ihnen geschickt hat.“

„Ja. Aber wenn Sie mit meiner Mutter gesprochen haben, wissen Sie, dass ich keine Therapie will.“

„Weil Sie keinen Sinn darin sehen.“

„So ist es.“ Stimmte sie ihm etwa zu? Einfach so? Ohne eine lange und anstrengende Diskussion?

Natürlich nicht. Sie holte tief Luft. „Wovor fürchten Sie sich?“

„Fürchten?“, wiederholte er und lachte spöttisch. „Sie denken, ich würde mich vor Ihnen fürchten? Das ist doch lächerlich.“

„Nicht vor mir. Davor, dass die Therapie anschlägt und Sie sich nicht mehr wie ein Maulwurf in dieser – wenn auch ausgesprochen hübschen – Einöde verkriechen können. Schließlich sind Ihre Hände eine gute Ausrede für so ziemlich alles. Sie müssen nicht am normalen Leben teilnehmen, keiner wird Sie belästigen, kurzum, Sie sind entschuldigt.“

„Schwachsinn“, knurrte er und kämpfte gegen die in ihm aufschäumende Wut. „Ich bin lediglich Realist. Mir kann keine Therapie helfen. Ich bin ein Krüppel. Sie wissen doch sicher um die Art meiner Verletzungen.“ Ganz bestimmt hatte seine Mutter sie in allen Details darüber aufgeklärt. Auf der rechten Seite war sein Schlüsselbein gebrochen, was den Plexus brachialis, das Armnervengeflecht, verletzt hatte. Linksseitig hatte er eine Muskelathrophie, verursacht durch eine infizierte Fraktur, die die Nerven geschädigt hatte. Dazu kamen die Narben, die seine Hände überzogen, hässlich, entstellend. Nie würde er den Blick vergessen, mit dem Charlaine ihn angesehen hatte, als sie zu ihm ins Krankenzimmer kam. Sie hatte ihn abstoßend gefunden. Dass sie nicht mit kranken oder behinderten Menschen umgehen konnte, wusste er. Charlaine schreckte schon davor zurück, wenn jemand nur einen gebrochenen Arm hatte, und entdeckte sie bei sich einen Pickel, so kam das für sie einer Katastrophe gleich. In ihrer Welt zählten nur perfekte Körper. Sie zierte die Cover angesehener Magazine und besuchte in ihrer Heimatstadt Paris nur die exklusivsten Clubs. Und Sergio vermutete, dass sie nach dem Unfall dort nicht mehr mit ihm hätte auftauchen wollen.

Hannahs Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Plexusverletzungen können sehr lang anhaltende Lähmungen und Sensibilitätsstörungen verursachen. Aber Sie wissen, dass die peripheren Nerven sich regenerieren können. Die Chance wächst, je mehr Sie üben. Darum sollten wir möglichst bald damit anfangen.“

Wollte sie ihn belehren? Danach sah es aus. Das war doch wohl die Höhe. Sie wusste garantiert, was er beruflich gemacht hatte. „Sparen Sie sich Ihre Erklärungen. Meine Hände sind beeinträchtigt – nicht mein Gehirn.“

Sie nickte und sah ihn ruhig an, während sie weitersprach. „Umgekehrt wäre es viel einfacher für mich.“

Sergio blieb der Atem weg. So hatte noch niemand mit ihm gesprochen. Nach seinem Unfall hatte ihn jeder wie ein rohes Ei behandelt. Selbst seine Geschwister schienen unsicher, wie sie mit ihm umgehen sollten, legten jedes Wort auf die Goldwaage. Und seine Mutter hatte das ständige Bedürfnis, ihn zu umsorgen. Sie hatte sich nach seinem Unfall mehrere Wochen unbezahlten Urlaub genommen, um bei ihm sein zu können. In Hannahs Gegenwart fühlte er sich zum ersten Mal, seit er im Krankenhauszimmer das Bewusstsein wiedererlangt hatte, nicht als Invalide. Sie behandelte ihn, als hätte er diese Behinderungen gar nicht.

Sein Schweigen nutzte sie, um gleich weiterzusprechen. „Sehen Sie mich bitte nicht als Ihre Feindin an.“

„Meine Feinde sehe ich in der Tat anders an“, bemerkte er und ließ seinen Blick über ihren schlanken Körper wandern.

„Dann sind Sie also bereit, eine Therapie zu versuchen?“

„Moment, davon habe ich kein Wort gesagt.“

„Sie haben mich in Ihr Haus gelassen und reden mit mir. Das ist sogar mehr, als ich erwartet hatte, nach dem, was ich über Sie zu hören bekam.“

Er musterte sie, um herauszufinden, ob sie die Wahrheit sagte. Wirkte er auf seine Mitmenschen tatsächlich so schrecklich? Darüber hatte er sich bisher gar keine Gedanken gemacht. Alles, was er wollte, war seine Ruhe. Doch das akzeptierte ja keiner.

Hannah brauchte all ihre Selbstdisziplin, um ruhig und gelassen zu bleiben. Sergio weckte eine wahre Gefühlsflut in ihr. Zum einen Zorn, dass er sich so hängen ließ, zum anderen wirkten seine dunklen Augen so faszinierend, dass sie sich stark konzentrieren musste, um nicht zu vergessen, was sie eigentlich sagen wollte.

Zudem kam Angst dazu; sie fürchtete, dass er recht hatte und sie wirklich nicht in der Lage war, ihm helfen zu können. Seine Verletzungen waren zwar nicht lebensgefährlich gewesen, aber die Schädigung der Nervenbahnen gravierend. Als Herzchirurg würde er nie mehr arbeiten können, und die Narben würden für immer bleiben. Wenn er sich auf die Therapie einließ, konnte sie ihm die Beweglichkeit seiner Finger zurückgeben und so auch seine Lebensqualität erhöhen. Falls es nur die Hände waren. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass die sichtbaren Verletzungen nur die Spitze des Eisbergs bildeten.

„Was haben Sie schon zu verlieren, wenn Sie es versuchen?“

„Sie geben wohl nicht so leicht auf, was?“

Sie lächelte. „Natürlich nicht.“ Schon gar nicht, wenn ihr Fall eine solche Herausforderung wie Dr. Sergio Guscetti darstellte. Er würde nicht nur ihr berufliches Können, sondern auch ihre Selbstbeherrschung erfordern. Was genau sie reizte, vermochte sie nicht zu sagen. Aber sie spürte, dass sie diesen Fall unbedingt übernehmen musste.

Er schüttelte den Kopf und seufzte leise. Einen Moment glaubte Hannah schon, er würde nachgeben, aber da hatte sie sich getäuscht. „Es ist Zeitverschwendung; Ihre noch weit mehr als meine. Sie sind doch sicher irgendwo fest angestellt. Also behalten Sie den Vorschuss, den meine Mutter Ihnen bestimmt gezahlt hat, und kehren Sie an Ihren ursprünglichen Arbeitsplatz zurück.“

„Das geht nicht; dort habe ich vor einigen Wochen gekündigt. Ich plane, mir eine eigene Praxis aufzubauen. Und ganz sicher werde ich kein Geld behalten, das mir nicht zusteht.“

„Meine Mutter wird schon nichts dagegen haben.“

„Sie wird aber etwas dagegen haben, dass ich einfach so verschwinde.“

Ein harter Zug bildete sich um seinen Mund. „Sie müssen es ihr eben erklären. Sagen Sie, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin, das will sie ja seltsamerweise nicht wahrhaben. Man kann nichts machen bei Verletzungen wie meinen.“

„Ach ja? Und woher wollen Sie das wissen?“

Sein Lächeln wirkte herablassend. „Ich bin Arzt.“

„Sie sind Herzchirurg. Oder haben Sie zufällig auch eine Ausbildung in Physiotherapie?“

„Nein, aber …“

„Nun, ich schon. Daher weiß ich, dass es möglich ist, Ihnen die Beweglichkeit Ihrer Hände zurückzugeben. Was wurde bisher an Therapien gemacht?“

„Nichts.“

„Nichts?“, wiederholte sie ungläubig.

Er zuckte leicht mit den Schultern. „Ich habe mich geweigert, eine Physiotherapie zu beginnen.“

„Also bleiben Sie lieber in dieser schönen großen Wanne voller Selbstmitleid sitzen und baden weiter darin. Aber dazu sollten Sie dann auch ganz offen stehen. Und wenn ich mich so umsehe, ja, hier kann man es sicher aushalten. Na gut, vielleicht ein bisschen umständlich, kaum etwas selbst machen zu können, doch bei Ihrem finanziellen Rückhalt können Sie sich ja sicher problemlos eine Putzfrau, einen Gärtner, einen Koch und was sonst noch so gebraucht wird, leisten. Und sich weiter darauf ausruhen und damit entschuldigen.“

Er knirschte mit den Zähnen, und Hannah wusste, dass sie gerade einen sehr empfindlichen Punkt getroffen hatte. „Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass das Unsinn ist. Wenn ich denken würde, es bringt etwas, hätte ich mich ja schon längst in eine entsprechende Behandlung begeben.“

„Und ich glaube Ihnen erst, wenn ich sehe, dass es aussichtslos ist. Bis dahin werde ich mich keinen Schritt von hier rühren.“

„Bitte, wenn es Ihnen so gut auf der Couch gefällt. Das Haus hat ja noch elf andere Zimmer, da muss ich dieses nicht weiter nutzen.“

„Es ist mein voller Ernst, Sergio. Ich werde nicht gehen, bis wir nicht zumindest versucht haben, Ihre Hände zu therapieren“, sagte sie ruhig, ohne auf seinen provozierenden Ton anzuspringen.

„Sie haben mindestens vierzig Pfund weniger als ich und sind fast einen Kopf kleiner – wie wollen Sie mich zu irgendetwas zwingen?“

„Oh, ich habe da meine Methoden …“

„Da bin ich ja gespannt.“

„Ach, jetzt doch?“

Er merkte wohl, dass er ihr in die Falle getappt war, dennoch schien er darüber nicht verärgert, auch wenn es in seinen dunklen Augen blitzte. „Zugegeben, Sie sind durchaus unterhaltsam.“

„Soll das etwa ein Kompliment sein?“

„Nein, selbstverständlich nicht.“

„Natürlich, wie hätte ich auch glauben können, von Ihnen ein nettes Wort zu hören.“

„Ich habe Sie ja vorgewarnt, dass ich nicht nett bin.“

„Also, wann fangen wir mit der Therapie an?“

„Moment, so weit waren wir noch nicht.“

„Genau, noch nicht. Ich denke aber, das können wir abkürzen. Heute werde ich Sie schonen, Sie sind ja schon geschockt genug, dass ich hier bin.“

„Diesen Eindruck mache ich auf Sie?“

„Ich denke, für Sie ist es schwer, zu akzeptieren, dass es einen Weg aus Ihrer bequemen Einsiedelei gibt“, sagte sie und lächelte dabei lieb.

Er schnaubte. „Zwei Wochen.“

„Bitte?“

„Ich gebe Ihnen zwei Wochen. Dann verschwinden Sie aber von hier.“

„Sergio, Sie wissen genauso gut wie ich, dass eine Physiotherapie nicht innerhalb von zwei Wochen zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden kann.“

„Physiotherapie bedeutet auch, den Patienten so weit zu unterweisen, dass er selbstständig die Übungen durchführen kann. Das werden Sie mir innerhalb von zwei Wochen ja wohl beibringen können.“

„Ein Vorschlag: Nach den zwei Wochen schauen wir, welche Fortschritte Sie gemacht haben. Und wenn Sie zufrieden sind, dann bleibe ich. Wie klingt das?“

„Grässlich.“

„Ah, wir sind also wieder an dem Punkt, dass Sie gar nicht gesund werden wollen.“

„Na schön“, knurrte er. Hoppla, da hatte sie wohl wirklich eine empfindliche Stelle erwischt. „Zwei Wochen.“

„Mehr verlange ich doch gar nicht.“ Aber sie fühlte sich längst nicht so sicher, wie sie hoffentlich klang. Dieser Fall würde für sie der schwerste ihrer bisherigen beruflichen Laufbahn werden. Und was, wenn Sergio sich schon morgen früh weigerte, wirklich mitzumachen? Oder sie tatsächlich rauswarf? Schließlich war das hier ja sein Haus, sie konnte schlecht gegen seinen Willen bleiben.

Sie brauchte diesen Job unbedingt. Nicht allein wegen des Geldes, obwohl das ebenfalls eine Rolle spielte, denn eine andere Einkommensquelle hatte sie zurzeit nicht. Sie würde es nicht ertragen, wenn sie auch in diesem Fall versagte. Zumal sie bei Sergio wusste, dass sie sich in der Lage befand, ihm helfen zu können.

2. KAPITEL

Die erste Therapiestunde fand im Fitnessraum statt. Was in einer Physiotherapie gemacht wurde, wusste Sergio, jedenfalls im Groben. Auch, dass die trainierten Muskelgruppen anfangs schmerzen würden. Doch davor fürchtete er sich nicht. Viel schlimmer fand er Hannahs Feststellung, dass er in dem langärmeligen Hemd nicht die nötige Beweglichkeit hatte und sie ihn bat, es auszuziehen.

Hätte er sich doch bloß heute Morgen direkt ein T-Shirt übergezogen! Aber dazu war es nun zu spät. Und sie hier stehen zu lassen, um sich umziehen, kam auch nicht infrage. Das würde ja aussehen, als schäme er sich, vor ihr sein Hemd abzulegen.

Seine Finger nestelten an den Knöpfen herum, schafften es nicht, sie zu fassen und durch die Löcher zu schieben.

Schon trat Hannah vor. „Lassen Sie mich das machen, dann geht es schneller.“

Vermutlich wollte sie nur freundlich sein, doch in ihm kochten Zorn und Scham. Am liebsten hätte er ihre Hände zur Seite geschoben. Aber da hatte sie bereits die obersten Knöpfe gelöst. Ihre Fingerknöchel streiften seine Brust.

Scharf sog Sergio die Luft ein.

Hannah stockte in der Bewegung, blickte ihm in die Augen.

Er schluckte und versuchte nicht daran zu denken, wie nah sie vor ihm stand und wie verführerisch ihr weicher Mund aussah. Volle, leicht geschwungene Lippen, zum Küssen einladend …

Die Hände noch an seiner Brust trat Hannah einen Schritt zurück. Rasch löste sie die restlichen Knöpfe und streifte ihm das Hemd von den Schultern. Er wusste, was sie nun sah: die scheußlichen Narben. Auch seine Arme waren damit überzogen.

Doch zu seiner Überraschung entdeckte er keine Abscheu in Hannahs Gesicht. Ihr Blick ruhte eine Spur zu lange auf seinem Oberkörper.

Dann nahm sie seinen rechten Arm und tastete an den Muskeln und Sehnen entlang, bewegte seine Finger. „Sagen Sie es, wenn es zu sehr wehtut.“

„Ich bin kein Jammerlappen.“

Sie hob eine Braue, als wolle sie widersprechen, und unwillkürlich dachte er daran, wie verbittert er auf sie wirken musste. Aber er würde ihr schon zeigen, dass sie sich täuschte. Schließlich musste er ja nur die paar Tage durchhalten, die sie hier verbrachte.

Sie nahm zwei Bälle und gab ihm in jede Hand einen. „Hier, die sind zum Training für Ihre Muskeln. Die behalten Sie und nehmen sie bitte immer wieder in die Hand. Möglichst gleichzeitig. Sie werden merken, dass es Ihnen leichter fällt, wenn beide Hände das Gleiche machen.“

„Ja, ja.“

Ihren strengen Blick beantwortete er mit einem Lächeln. Sofort entspannten sich ihre Gesichtszüge. Das musste er sich merken. Und wenn sie sah, wie er kooperierte, vielleicht reiste sie dann sogar früher ab als ausgemacht.

Ein lauter Schrei weckte Hannah am nächsten Morgen.

Mit einem Satz sprang sie aus den Federn. Der Schrei war von unten gekommen. Was mochte Sergio passiert sein? Ohne sich darum zu kümmern, dass sie bloß ein übergroßes T-Shirt trug, lief sie barfuß die Treppe hinunter.

„Sergio? Sergio, wo sind Sie?“

„Verschwinden Sie!“ Das kam aus dem Bad. Aber zumindest lebte er noch und war bei Bewusstsein, anderenfalls hätte er nicht so wütend herumbrüllen können.

Sie riss die Badezimmertür auf und erstarrte. „Sergio, was haben Sie nur getan?“

Schaumwolken zierten Wände und Boden. Auf Sergios nackter Brust flockten weiße Tupfen. Von seiner Wange tropfte Blut. Am Boden lagen eine Rasierklinge und eine Dose Rasierschaum.

„Sie sollen verschwinden!“, knurrte Sergio. „Ich komme schon alleine zurecht.“

„Ja, das sehe ich.“ Sie griff nach einem Handtuch und wischte ihm den Schaum ab. „Haben Sie hier irgendwo Höllenstein?“

„Dort im Schrank, aber Sie werden nicht …“ Der Rest seiner Worte ging in einem italienischen Fluch unter, denn in diesem Moment drückte Hannah den blutstillenden Stift auf die Schnittverletzung.

„Tut mir leid“, sagte sie ohne viel Mitgefühl. „Ist schon vorbei.“

„Dann gehen Sie jetzt endlich“, knurrte er.

„Warum, damit Sie sich als Nächstes die Kehle durchschneiden?“

„Ich muss mich rasieren. Das werde ich schon hinbekommen.“

„Sicher doch, fehlende Feinmotorik und Rasierklingen sind die beste Kombination überhaupt.“

Seine dunklen Augen loderten, und er brummte etwas in seiner Muttersprache.

„Wo ist denn der elektrische Rasierapparat?“ Damit würde er sich zumindest nicht verletzen können.

„Ich besitze keinen.“

„Haben Sie sich bisher etwa mit Klingen rasiert?“ Ein Wunder, dass er noch lebte.

„Nein. Das hat der Gärtner gemacht. Aber der kommt nicht mehr.“

„Haben Sie ihn rausgeekelt?“

„Es war ein Missverständnis und geht Sie nichts an.“

So wie er sie empfangen hatte, konnte sie sich bildlich vorstellen, wie dieses Missverständnis ausgesehen hatte. Sie suchte sich zusammen, was sie brauchte.

„Was soll das, was haben Sie vor?“

„Sie zu rasieren.“ Im Schrank fand sie mehrere Packungen Rasierklingen so wie einen Vorrat an Rasierschaum. Sie wies ihn an, sich zu setzen, und legte ihm ein frisches Handtuch um die nackten Schultern. Dann machte sie sich ans Werk. „Nicht reden, sonst kann ich für nichts garantieren“, warnte sie, als er zu weiterem Gemurmel ansetzte.

Tatsächlich blieb er still, doch sein Blick erschwerte es ihr, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Und seine Nähe … Er saß vor ihr, nur mit Boxershorts bekleidet und einem Handtuch um die Schultern. Dann wurde ihr bewusst, dass sie selbst auch nicht viel anhatte und Sergio immer wieder auf ihre nackten Beine schaute. Eine Hitzewelle durchflutete sie.

Wie gut ihre Haut duftete. Und dann ihr Haar, das bei jeder Bewegung seinen linken Arm streifte. Jetzt beugte Hannah sich dichter zu ihm, um ihm vorsichtig auch die andere Wange zu rasieren. Dabei kamen ihre Brüste ihm noch näher, nur verhüllt von einem weißen T-Shirt. Die Knospen schimmerten hindurch. Und nun berührte ihr nacktes Bein seinen Oberschenkel.

Scharf sog Sergio die Luft ein.

„Ich habe Sie nicht geschnitten“, sagte Hannah und strich Schaum von der Rasierklinge ab.

„Sind Sie noch nicht fertig? Meine Güte, in der Zeit hätte ich mich dreimal rasiert“, knurrte er und hoffte, sie damit zu vertreiben.

„Sie wollen doch ordentlich aussehen. Also halten Sie still und schweigen Sie, dann bin ich eher fertig.“

Schweigen, okay, das würde er noch hinbekommen. Aber stillhalten? Während sie halb nackt an ihm hantierte und sich so reckte, dass ihre Brüste nur zentimeterweit von seinem Mund entfernt waren? Er bestand schließlich nicht aus Stein, auch wenn ein Körperteil sich gerade genau so anfühlte.

Sie griff nach der Flasche mit dem Rasierwasser, gab eine großzügige Portion auf ihre Hände und strich damit seine Wangen ein. Es brannte auf der frisch rasierten Haut, aber weit stärker loderte das Feuer des Verlangens in ihm.

„So, das war’s schon.“ Sie trat einen Schritt zurück und musterte ihr Werk. „Ja, das sieht doch richtig gut aus.“ Die letzten Worte hatte sie mehr zu sich selbst gemurmelt. War sie mit ihrem Werk so zufrieden, oder gefiel ihr, was sie da sah? Aber besser, er fragte nicht nach.

„Danke“, sagte er und blieb sitzen. Wenn er aufstand, würde sie sehen, was sie angerichtet hatte.

„Gehen Sie ruhig und ziehen sich was an, ich sorge hier schon für Ordnung.“ Hannah nahm ein weiteres Handtuch und machte sich daran, den bereits trocknenden Schaum von den Wänden zu entfernen. Sie streckte sich, wodurch das T-Shirt hochrutschte und darunter ihr kleiner, aber wohlgerundeter fester Po zum Vorschein kam, verpackt in einen weißen Slip.

Sergio schluckte und konnte den Blick nicht abwenden. Und nun bückte sie sich auch noch! Er bekam mehr zu sehen, als gut für ihn war. Jetzt drehte sie sich zu ihm um! War das eine besonders raffinierte Art der Folter? Irgendwie musste ihr T-Shirt Wasserspritzer abbekommen haben, jedenfalls war es vorne an einigen Stellen nahezu durchsichtig. Und diese Stellen befanden sich ausgerechnet genau an ihren Brüsten. Er sah die rötlich schimmernden Spitzen. Hannah schien das nicht zu bemerken. Entweder war sie wirklich dermaßen abgebrüht, oder ihr wurde nicht bewusst, wie sie auf ihn wirkte.

„Sehr nett von Ihnen, aber das kann doch auch die Putzfrau erledigen.“ Falls sie noch kam. Sie war ein bisschen reizbar gewesen, nachdem er sich mit dem Gärtner gestritten hatte. Da die beiden miteinander verheiratet waren und der Gärtner schon gestern nicht aufgetaucht war, nahm er an, dass die Loyalität der Putzfrau ihrem Mann gehörte.

„Ach was, das geht doch schnell.“ Sie sah nicht auf, und Sergio nutzte diesen Moment, um, das Handtuch sicherheitshalber vor dem Schritt haltend, zu verschwinden.

Erleichtert atmete er auf, als er sein Schlafzimmer erreichte. Das war ja gerade noch mal gut gegangen! Durch seine eingeschränkte Feinmotorik dauerte das Anziehen länger und erforderte seine gesamte Konzentration, was ihm ausnahmsweise einmal recht war.

Er warf einen kritischen Blick in den Spiegel. Hannah hatte wirklich gute Arbeit geleistet, das musste er zugeben. Sie hatte ihn gleichmäßig rasiert. Und sie hatte ihn dabei kein einziges Mal geschnitten.

Kaffeeduft drang durch die geschlossene Tür bis zu ihm. Jetzt ein starker Espresso wäre genau das Richtige. Noch ein kurzer prüfender Blick in den Spiegel, dann machte er sich auf den Weg nach unten. Hoffentlich hat Hannah sich inzwischen auch angezogen, überlegte er auf der Treppe. Zu seiner Erleichterung lächelte sie ihm in Jeans und einem dunkelblauen T-Shirt entgegen, als er die Küche betrat.

„Ich kümmere mich nachher gleich darum, einen neuen Gärtner und eine neue Putzfrau einzustellen“, murmelte Sergio. Am besten kein Paar, wenn dann einer von ihnen etwas missverstand, blieb wenigstens noch der andere. Und besser als eine Putzfrau wäre eine Haushälterin, die sich auch ums Kochen kümmerte und dafür sorgte, dass die Vorräte stets aufgefüllt waren.

„Mir macht es nichts aus, Sie jeden Morgen zu rasieren.“

Das würde er nicht überleben! Er hatte sich vorhin schon wie ein mit seinen Hormonen kämpfender Teenager gefühlt. Wahrscheinlich lag es daran, dass er so lange keinen Sex mehr gehabt hatte. Aber den wollte er ja auch nicht. Affären gab es für ihn keine mehr, ohne Beruf und mit diesen Narben. Und nach dem Desaster mit Charlaine hatte er sich geschworen, sich auf keine Beziehung mehr einzulassen.

Zum Glück schien Hannah nicht bemerkt zu haben, welche Wirkung sie auf ihn im Bad gehabt hatte. Selbst jetzt spürte er davon noch einiges. Sie mochte angezogen sein und ihr Haar zum Pferdeschwanz gebunden haben, aber sein Körper reagierte schon wieder. Verdammt, er kam sich vor wie ein für seine Lehrerin schwärmender Schüler. Hannah war absolut tabu für ihn, und das nicht nur, weil sie seine Therapeutin war.

Sie hielt ihm das Holzbrett mit dem bereits in Scheiben geschnittenen Ciabatta hin. Sergio rechnete es ihr hoch an, dass sie kein einziges Mal versuchte, einzugreifen, als er Pinienhonig darauf strich und sich dabei dunkelgoldene Tropfen über den Teller verteilten.

„Übrigens gibt es im Keller einen Swimmingpool, falls Sie mit mir Aqua-Training machen möchten oder einfach selbst einige Runden schwimmen wollen.“ Verdammt, warum hatte er das nun gesagt? Schon zeigte seine Fantasie ihm Hannah im knappen Bikini. Fast hätte er aufgestöhnt. Unmerklich verlagerte er seine Sitzposition.

Dann bemerkte er den erschrockenen Ausdruck in ihren Augen. Innerlich fluchte er. Bestimmt hatte sie etwas gemerkt. Fieberhaft suchte er nach einer Ausrede oder zumindest einer lockeren Bemerkung.

Swimmingpool! Allein das Wort schickte Hannah eine Gänsehaut über die Arme und den Rücken. Sie fühlte, wie ihr Herz zu rasen begann, und zwang sich zur Ruhe. Sergio hatte eine zahlreiche Verwandtschaft, das wusste sie inzwischen. Sicher erwartete sie nur ein kleiner Pool, so flach, dass man ohne Sorge auch Kinder dort planschen lassen konnte.

Sie musste also keine Angst haben, darin zu ertrinken, sicherlich würde ihr das Wasser nicht mal bis zu den Schultern reichen. Trotzdem wollte sie nichts riskieren. „Ich denke, wir kommen auch so zurecht. Und im Chlorwasser schwimmen ist nicht so mein Fall, ich mag den Geruch nicht.“

„Stimmt, das Meer riecht wirklich weit besser. Das steht Ihnen natürlich auch jederzeit zur Verfügung, wenngleich es im Moment vielleicht noch etwas zu frisch sein mag für jemanden, der nicht daran gewöhnt ist.“

Sie hätte ihn küssen können für diese wunderbare Vorlage zur Ausrede. „Bei mir muss Wasser immer badewannenwarm sein, von daher verzichte ich lieber“, sagte sie lächelnd.

Zu ihrer Erleichterung ging er auf das Thema nicht näher ein. Und es sah so aus, als hätte er nicht gemerkt, was seine Bemerkung in ihr auslöste. Ihr Herzschlag normalisierte sich.

„Wie wäre es, wenn Sie heute mit mir spazieren kommen?“, fragte sie. „Das Haus liegt so einsam, dass wir sicherlich keinem Menschen begegnen.“ Sie hatte erst in weiter Ferne das nächste Gebäude sehen können, als sie gestern in nördlicher Richtung gegangen war.

„Hm“, brummte Sergio.

„Ach kommen Sie schon“, sagte Hannah. „Das wird Ihnen gut tun.“ Es wurde höchste Zeit, dass er hier herauskam, bevor er sich noch weiter in diese Einsamkeit vergrub. Ihr Plan sah vor, ihn mit kurzen Spaziergängen vorzubereiten und dann, in einigen Tagen, in die nächste Stadt zu locken.

„Na schön, meinetwegen.“

Hannah strahlte. Ein weiterer Schritt war geglückt. Auch wenn Sergio sehr wortkarg blieb, während sie das Geschirr in die Spülmaschine räumte. Begeistert sah er nicht aus, allerdings schien es sowieso nichts zu geben, was ihn erfreute. Nun gut, das würde sich bestimmt von selbst legen, wenn er seine Beweglichkeit und damit auch seine Lebensfreude zurückgewann.

„Gehen Sie ruhig, ich komme hier schon zurecht“, sagte sie. Er würde ihr ohnehin nicht helfen können.

„Das ist unnötig. Ich kümmere mich sofort darum, dass ein Gärtner und jemand für den Haushalt eingestellt werden. Lassen Sie doch einfach alles stehen.“

„Solche Unordnung mag ich nicht.“

„Ich gehe trotzdem jetzt telefonieren.“

Und weg war er. Hannah seufzte leise und stellte die Butter zurück in den Kühlschrank. Aus dem Wohnzimmer drang Sergios Stimme in schnellem Italienisch. Zwar verstand sie kaum ein Wort, doch der Klang gefiel ihr ausnehmend gut.

Ein paar Minuten später kam er zu ihr. „So, alles erledigt. Ab morgen kommt eine Haushaltshilfe und wird sich um alle entsprechenden Arbeiten kümmern. Ein neuer Gärtner fängt übermorgen an.“

„Prima. Hier bin ich auch fertig, dann können wir ja jetzt los.“

„Ja.“ Das kam mehr als Knurren heraus, aber Hannah überging es. Im Vorübergehen kontrollierte sie im Flurspiegel noch rasch ihr Aussehen, dann folgte sie Sergio nach draußen.

Nebeneinander gingen sie den Pfad an der Vorderseite des Hauses hinab.

„Wollen Sie am Strand entlanggehen oder hier über die Wiesen? Weiter nördlich wird es hügeliger“, erklärte Sergio.

„Ist mir ganz egal. Aber Strand klingt doch nett. Sturmfluten gibt es hier keine, oder?“

„Nicht, dass ich wüsste.“ In seinen dunklen Augen blitzte es. „Aber falls doch, sind Sie dafür verantwortlich, wenn wir auf einer Holzplanke aufs offene Meer treiben. Hoffentlich können Sie dann laut genug schreien, damit die Küstenwache uns hört.“

Sein harmloser Scherz verursachte einen Kloß in ihrem Hals. Strandspaziergänge mochte sie, aber die Vorstellung, wirklich auf dem Wasser zu sein, verursachte ein beklemmendes Gefühl in ihrer Brust. „Hat Ihre Familie schon immer hier gelebt, Sergio?“, lenkte sie vom Thema ab.

„Nein, erst meine Großmutter kaufte dieses Anwesen. Sie war eine italienische Gräfin, die mit ihrem Liebsten durchbrannte. Der war weit unter ihrem Stand, ein einfacher Soldat und noch dazu Engländer. Ehe er sie heiraten konnte, fiel er im Krieg. So kam mein Vater unehelich auf die Welt, was für die Familie zu der damaligen Zeit einen Skandal darstellte. Angeblich versuchte man sie dazu zu überreden, einen alten, verarmten Grafen zu ehelichen, damit ihr Kind einen Vater hatte. Doch davon wollte sie nichts wissen, kaufte dieses Anwesen, blieb Zeit ihres Lebens ohne einen Mann und zog meinen Vater alleine groß.“

Das klang viel sympathischer, als sie sich seine Familie bisher vorgestellt hatte. „Ihre Großmutter muss diesen Mann wirklich geliebt haben, wenn sie bereit war, alles für ihn aufzugeben, und nach ihm keinen anderen mehr wollte.“

Er zuckte leicht mit einer Schulter. „Sie war sehr jung damals, gerade erst achtzehn. Und es herrschte Krieg. Vielleicht hat sie sich da auch an ein Wunschbild von ihm geklammert. Wer weiß, wenn er nicht gefallen wäre, wären sie womöglich nach einigen Jahren getrennt gewesen.“

„Romantisch veranlagt sind Sie nicht, hm?“

„Ich sehe keinen Sinn darin, naiven Vorstellungen hinterherzuhängen. Was nicht bedeutet, dass meine Großmutter naiv war. Im Gegenteil, sie muss eine enorm willensstarke Frau gewesen sein und traf stets ihre eigenen Entscheidungen.“

„Haben Sie sie noch kennengelernt?“

„Ich erinnere mich leider kaum an sie. Als sie starb, war ich erst vier.“ Er schwieg einen Moment. „Mein Vater heiratete dann eine Frau aus einer angesehenen italienischen Familie. Diese missbilligte die Wahl ihrer Tochter, doch das war meiner Mutter egal; auch sie setzte sich über alle Konventionen hinweg und ehelichte ihn, heimlich, still und leise.“

„Scheint Tradition in Ihrer Familie zu sein.“

„Ja, könnte man glauben. Aber weder meine Geschwister noch ich führen diese Tradition fort. Sieht auch nicht danach aus, als würde sich das ändern.“

„Sind Sie der Älteste?“

„Zweitältester. Mein Bruder Ric ist nur anderthalb Jahre älter als ich.“ Sie hatten die Klippen erreicht. „Vorsicht, hier geht es ein wenig steil nach unten.“

„Soll ich Sie dann besser an die Hand nehmen?“, fragte Hannah. Die Bemerkung war nur halb als Scherz gemeint. Sie wunderte sich über ihren eigenen Mut.

„Das wollte ich Ihnen gerade auch vorschlagen“, konterte er. Und lächelte. Zum ersten Mal ein echtes Lächeln.

Was für ein Fortschritt! Sie reichte ihm die Hand. „Halten wir uns doch einfach aneinander fest.“

Er schien erstaunt über diesen diplomatischen Vorschlag, ergriff dann aber ihre Hand. Hannah verflocht ihre Finger mit seinen, so musste er sich nicht darauf konzentrieren, ihre Hand zu umschließen.

Als sie am Strand angekommen waren, machte Sergio keine Anstalten, seine Hand zurückzuziehen. Und auch Hannah dachte nicht daran, ihn loszulassen. Dazu fühlte es sich viel zu gut an.

„Sie sind zum ersten Mal auf Sizilien, nicht wahr?“

„Ja.“ Sie war kaum gereist bisher. In ihrer Kindheit hatte es keine Möglichkeit dazu gegeben, eine fremde Umgebung hätte den Zustand ihrer Mutter verschlechtern können. Und als sie aus dem Haus war, hatte sie ihr Geld lieber gespart. Reisen kostete zu viel, das konnte sie sich erst erlauben, wenn sie eine eigene gut gehende Praxis hatte. „Sie sind sicherlich schon viel herumgekommen.“

„Ein wenig. Wobei wir als Kinder alle Ferien hier verbrachten. Wahrscheinlich, weil meine Eltern uns hier relativ unbesorgt laufen lassen konnten. Wir waren eine ziemlich wilde Horde.“

„Und wie groß war diese Horde?“

„Fünf, vier davon Jungen. Das kann so manchem Kindermädchen den Schweiß auf die Stirn treiben.“

Das glaubte sie ihm aufs Wort. Selbst hatte sie zwar keine Geschwister, aber allein die Vorstellung, vier Jungen beaufsichtigen zu müssen, fand sie hochgradig erschreckend.

„Das waren immer meine liebsten Ferien, am Strand herumzutoben, mit meinen Brüdern zu raufen.“

Hannah blickte auf das Meer. Von dieser Position aus wirkte es nicht bedrohlich, ganz sanft nur rollten die mit kleinen weißen Schaumkämmen besetzten Wellen an den Strand. „Das Meer mit allem drum und dran ist noch da, das Haus auch, Sie könnten Ihre Brüder einladen. Und Spaß mit ihnen haben.“

„Oh nein, ich bin vierunddreißig, das ist viel zu alt, um sich im Sand herumzuwälzen.“

„Was einem Spaß macht und gut tut, sollte man immer genießen. Und wenn es im Sand herumwälzen ist.“

Nachdenklich betrachtete Sergio sie. „Vielleicht haben Sie recht. Aber ich denke, so viel Spaß wie mit dreizehn würde mir das heute ohnehin nicht mehr machen.“

„Probieren Sie es aus. Ich bin sicher, Ihre Brüder würden sich über eine Einladung freuen.“ Seine Mutter hatte ihr erzählt, dass er seit dem Unfall niemanden aus der Familie an sich heranließ.

„Wussten Sie übrigens, dass Sizilien durch seine zentrale Lage im Mittelmeer ein wichtiger Stützpunkt für Seefahrt und Handel war?“

„Sie lenken ab.“

„Ach was, ich will Ihnen lediglich eine langweilige Familiengeschichte ersparen. Und Sizilien bietet so viel Interessantes. Noch heute finden sich Spuren der Eroberer, die in alter Zeit auf der Insel landeten, sich mit der bereits ansässigen Bevölkerung vermischten und ihre Kultur mit einbrachten. Es gibt sogar griechische Tempel auf Sizilien. Zum Beispiel den Concordiatempel in Agrigent, er ist der besterhaltene griechische Tempel auf der Insel.“

„Ich würde ihn mir gerne einmal ansehen.“

Sergio schien zu merken, dass er sich soeben selbst eine Falle gestellt und mitten hinein getappt war. „So schön ist er auch wieder nicht, eben diese typischen alten Säulen, langweilig. Hat man einen davon gesehen, weiß man, wie die anderen aussehen.“

„Ich habe noch nie einen griechischen Tempel besichtigt.“ Sie konnte auch nicht behaupten, bisher den Wunsch dazu verspürt zu haben. Aber hier bot sich eine ideale Möglichkeit, Sergio zu einem Ausflug zu locken.

„Dann sollten Sie das am besten nachholen. Einen Führerschein haben Sie?“

„Ja.“

„Wunderbar. Sie können ruhig den Familienwagen nehmen, der steht zurzeit sowieso nur in der Garage.“

„Würden Sie denn mitkommen?“

„Nein, ich habe kein Interesse daran.“

Es würde nichts nützen, ihn zu fragen, woran er dann Interesse hätte; er wollte sich nicht herauslocken lassen. Und bei weiteren Fragen riskierte sie nur, dass er etwas über sie wissen wollte. Das war ihr zu heikel, ihre Vergangenheit sollte lieber nicht zur Sprache kommen. Aber zumindest hatte sie ihn ja schon zu diesem Spaziergang überreden können. Gerade wollte sie erneut versuchen, ein Gespräch zu beginnen, da bemerkte sie etwas. Eine Bewegung schräg links vor ihnen. Was war das? Sie kniff die Augen zusammen, schirmte mit einer Hand die Sonne ab.

Dann ließ sie Sergio los und rannte.

„Hannah? Was ist denn?“, hörte sie ihn hinter sich rufen.

Sie wurde langsamer, wollte das arme Tier nicht durch schnelle Bewegungen erschrecken. Hilflos hüpfte die Seemöwe auf dem Sand und stieß Hannah ins Herz schneidende Schreie aus.

„Ganz ruhig“, murmelte sie und näherte sich ihr weiter. Der rechte Flügel stand ab, mit dem linken flatterte das Tier wild.

„Hannah, lassen Sie sie“, sagte Sergio, der sie erreicht hatte.

Sie fuhr zu ihm herum. „Sie braucht Hilfe. Ihr Flügel sieht aus, als sei er gebrochen.“

„Ja.“ Seine Augen verschatteten sich. „Aber leider können wir da gar nichts tun.“

„Natürlich können wir! Geben Sie mir Ihr Hemd.“

„Was?“

Da er nicht reagierte, griff Hannah beherzt nach den Knöpfen und hatte ihm im Nu das Hemd abgestreift. Sie breitete es aus, näherte sich der verletzten Seemöwe und warf es über sie. Mit einer schnellen Bewegung packte sie das Tier.

Die Möwe schrie laut und ängstlich, sperrte weit den orangegelben Schnabel auf.

„Ist ja gut“, murmelte Hannah. „Wir helfen dir. Hab keine Angst.“

Sie ging mit der Möwe zu Sergio.

„Sehen Sie mich nicht so an“, sagte er und hob abwehrend die Hände. „Ich bin kein Tierarzt, ich kann ihr bestimmt nicht helfen.“

„Sie hat einen gebrochenen Flügel. Den müsste man schienen und sie so lange versorgen, bis sie ihn wieder benutzen kann.“

„Mein Fachgebiet ist das menschliche Herz – nicht die Fortbewegungsmittel von Seevögeln. Außerdem weiß ich doch gar nicht, was eine Möwe so frisst.“

Das wusste Hannah auch nicht. „Gibt es hier in der Nähe einen Tierarzt?“

„Ja, im nächsten Dorf ist einer. Meine Schwester hatte als Kind Kaninchen, die auch immer mit uns reisten, daher gab es im Garten extra einen großen Auslauf. Und wenn eines krank war, sind wir damit zum Tierarzt gefahren.“

„Gut. Kommen Sie.“ So rasch sie mit der Möwe gehen konnte, lief Hannah los. Als sie an dem felsigen Aufstieg ankamen, legte Sergio ihr einen Arm auf den Rücken und stützte sie so.

Seine Nähe ließ ein leicht schwindeliges Gefühl in ihr entstehen. Immer wieder warf sie einen Seitenblick auf ihn. Im Sonnenlicht schimmerte seine Haut, bei jedem Schritt konnte man die Bewegungen der Muskeln erkennen.

Zum Glück forderte die Seemöwe ihre gesamte Aufmerksamkeit. „Haben Sie irgendwo einen Käfig?“, fragte sie, als sie das Haus erreichten.

„In der Abstellkammer müsste noch einer sein. Den brauchten wir, wenn eins der Kaninchen zum Tierarzt musste.“

„Bitte holen Sie ihn. Oder soll ich suchen und Sie passen auf die Möwe auf?“

„Ich gehe schon“, rief er, während er bereits loslief.

Hannah setzte sich mit der Möwe auf dem Schoß auf die Couch und redete beruhigend auf das Tier ein. Von dem Flügel abgesehen, schien sie sonst nicht weiter verletzt zu sein.

Sergio kam zurück, den Käfig unterm Arm. „Setzen Sie sie hinein, ich hole schon mal die Autoschlüssel.“

Vorsichtig legte Hannah die Möwe in den Käfig, ließ ihr das Hemd, damit sie es weicher hatte.

„Hier.“ Auf der flachen Hand reichte Sergio ihr die Autoschlüssel und ging mit ihr zur Garage. „Sie müssen nur der Straße folgen, dann kommen Sie ins Dorf. Die Praxis ist direkt am Marktplatz.“

„Ich soll alleine fahren?“

„Sie können sich wirklich nicht verfahren. Es gibt keine einzige Abzweigung.“

„Ich spreche kaum ein Wort Italienisch! Wie soll ich mich da verständlich machen?“ Diese Gegend war kein Touristengebiet, daher wollte sie sich lieber nicht darauf verlassen, dass man im Dorf Englisch beherrschte.

„Irgendetwas wird Ihnen schon einfallen. Außerdem ist doch zu sehen, dass der Flügel gebrochen ist, da wird der Veterinär schon wissen, was zu tun ist.“

„Kommen Sie mit, bitte“, fügte sie hinzu. Und wie um ihre Worte zu unterstreichen, öffnete die Möwe ihren Schnabel und stieß einen flehenden Laut aus.

3. KAPITEL

Sergio schwankte. Die Möwe tat ihm leid, vermutlich fühlte sie sich mit ihrem gebrochenen Flügel ebenso schrecklich wie er selbst mit seinen nutzlosen Händen. Aber mitzufahren würde bedeuten, dass er unter Leute musste, mit Menschen sprechen musste. Und ganz sicher waren welche dabei, die ihn kannten. Fragen stellen, seine Hände mustern und sich angeekelt abwenden würden.

Erneut stieß die Möwe ihren klagenden Laut aus. Sergio sah in Hannahs hellblaue Augen und wusste, dass er verloren hatte. Knapp nickte er, lief los, um sich rasch ein neues Hemd zu holen, und kehrte ins Wohnzimmer zurück.

In Windeseile schloss Hannah die Knöpfe. Sergio protestierte nicht; jetzt war nur die Möwe wichtig, alles andere musste zurückstehen, auch sein persönliches Unbehagen über so viel Nähe und vor dem, was ihm wohl gleich alles bevorstand. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen folgte er Hannah nach draußen zum Wagen.

Er kletterte auf den Beifahrersitz und ließ sich von Hannah den Käfig geben, um ihn auf dem Schoß zu halten.

Sehr aufmerksam fuhr sie, den Blick starr auf die schmale Straße gerichtet.

Im Dorf angekommen, beschrieb Sergio ihr den Weg zur Praxis. Hannah parkte direkt davor.

Sergio atmete tief durch. Nun würde er also aussteigen müssen. Er spürte, wie sein Herz zu rasen begann und die Innenflächen seiner Hände feucht wurden.

Hannah nahm ihm den Käfig ab und blickte ihn prüfend an. „Sergio? Alles in Ordnung?“

Er kämpfte das Gefühl der Beklemmung nieder und stieg aus. Doch während er die wenigen Stufen hoch zur Praxistür ging, meldete sich das Unbehagen erneut. Es kostete ihn all seine Konzentration, den Fluchtreflex unter Kontrolle zu halten.

Im Wartezimmer befanden sich drei Personen, zwei davon Hundehalter. Vor einer älteren Frau stand zwischen deren Füßen ein Transportkorb mit einer fauchenden Katze darin.

Rasch informierte Sergio die junge Frau an der Rezeption über die verletzte Seemöwe.

Sie warf einen Blick auf den Käfig und bat Sergio und Hannah dann, mit ihr zu kommen.

Der Tierarzt war derselbe, den Sergio schon von den Kaninchen-Einsätzen her kannte, das Haar inzwischen schlohweiß und das gutmütige Gesicht voller Falten. Ob er umgekehrt auch ihn erkannte, wusste Sergio nicht.

„Das ist ein glatter Bruch, das lässt sich leicht schienen und wird problemlos verheilen, wenn sie gut gepflegt wird“, sagte der Veterinär, nachdem er die Möwe untersucht hatte. Er wies seine Assistentin an, alles Notwendige zu holen, und machte sich mit routiniertem Geschick an die Behandlung.

„Was ist denn nun mit ihr? Können wir sie wieder mitnehmen?“, flüsterte Hannah Sergio zu.

Mitnehmen? Die Möwe? Aber Hannah meinte das ernst. Und Sergio musste sich eingestehen, dass er zu dem Tier bereits eine gewisse Verbundenheit fühlte und es nur ungern zurücklassen würde. Er fragte den Tierarzt, ob sie sich selbst um die Möwe kümmern dürften. Dem stimmte der Veterinär gern zu, gab ihm eine Liste, was sie dafür brauchten und wie sie zu füttern sei, dann durften sie gehen.

Kaum standen sie wieder im Sonnenschein, sagte Hannah lächelnd: „Jetzt brauchen wir nur noch Futter und einen Namen. Wir dürfen sie doch mitnehmen und gesundpflegen, nicht wahr?“

Natürlich, sie hatte ja sicherlich kaum ein Wort verstanden und sich wohl zusammenreimen müssen, was gesagt worden war. „Ja, dürfen wir. Aber ein Name ist doch unnötig. In ein paar Wochen müssen wir sie ohnehin frei lassen.“

„Sie wird aber bei uns leben, und ich möchte sie nicht nur Möwe rufen. Oder was heißt denn Möwe auf Italienisch?“

Bei uns – die Worte klangen in Sergios Kopf nach. Das klang so … intim, vertraut. Und löste ein Prickeln bei ihm aus. Das war nicht gut. Nein, gar nicht gut. Er bemerkte Hannahs fragenden Blick und erinnerte sich daran, dass sie ja noch mehr gesagt hatte. „Gabbiano. Aber kommen Sie bloß nicht auf die Idee, die Möwe Gabby zu nennen. Meine Mutter heißt Gabriella mit Vornamen, und jeder ihrer Freunde und alle in der Familie sagen nur Gaby. Sie wäre sicherlich nicht begeistert, eine geflügelte Namensvetterin zu haben.“

„Aber unsere geflügelte Gabby spricht man doch etwas anders aus. Und Gabby klingt niedlich, das passt.“

Sergio seufzte. „Na schön, bleibt es eben bei Gabby.“ Seine Mutter würde hoffentlich in nächster Zeit ebenso wenig zu Besuch kommen wie sonst jemand aus seiner Familie. Er hatte ihnen ja gesagt, dass er seine Ruhe haben wolle. Und bisher hielten sich da alle dran, von den Anrufen einmal abgesehen. Damit konnte er leben. Und was Hannah anging, so würde er schon achtgeben, sie ebenfalls auf Abstand zu halten.

Gabby ist das Beste, was uns passieren konnte, dachte Hannah zwei Tage später. Denn was ihr selbst nicht geglückt war, gelang der Möwe. Sergio taute auf, sprach mit Gabby. Italienisch zwar, aber das war nicht wichtig; es schien ihm gut zu tun, und das allein zählte. Außerdem half er, Gabby zu füttern, wodurch er ebenfalls gezwungen war, seine Hände zu benutzen. Und er hatte keine Anflüge von Selbstmitleid mehr.

Auch Gabby fühlte sich wohl. Sie zeigte keine Scheu vor ihnen, fraß ihnen sogar aus der Hand.

Vielleicht war es nur Wunschdenken, aber Hannah hatte das Gefühl, dass Sergio zugänglicher wurde. Nicht nur gegenüber ihr, er sprach auch mit dem Gärtner und der Haushaltshilfe. Was sie sagten, konnte Hannah nur andeutungsweise verstehen, doch es klang freundlich.

Er hatte ihr die Frau vorgestellt, sie hieß Lucia, sprach kein Wort Englisch. Sie hatte ein nettes Lächeln und Augen, die wirkten, als würde sie damit alles im Blick behalten können. Hannah mochte sie auf Anhieb und bedauerte, sich aufgrund der Sprachbarriere nicht mit ihr unterhalten zu können. Sergio übersetzte bei der Vorstellung.

Luigi, den Gärtner, stellte er ihr ebenfalls vor. Er sah wie sechzig aus, auch wenn das wettergegerbte Gesicht täuschen konnte. Er verstand zwar ein wenig Englisch, schien jedoch kein Freund vieler Worte.

Dafür wirkte Sergio nun zugänglicher. Gestern Abend war er sogar ans Telefon gegangen, als seine Mutter anrief, und hatte sich über eine halbe Stunde mit ihr unterhalten.

Die Therapiestunden liefen nun besser, er grummelte nicht mehr vor sich hin, und als Hannah ihn fragte, ob sie zusammen einen Ausflug nach Palermo unternehmen könnten, stimmte er sogar ohne lange Diskussion zu.

„Waren Sie schon oft in Palermo?“, wollte Hannah wissen, als sie nach Sergios Anweisung losfuhr. Da er sich sehr gut auf der Insel auskannte, benötigten sie keine Karte.

„Einige Male, meist dann, wenn jemand von außerhalb die Stadt sehen wollte. So wie Sie jetzt.“

„Wenn ich so einen kundigen Fremdenführer habe, muss ich das doch auch ausnutzen.“ Sie verkniff sich die Frage, ob die anderen seine Freundinnen gewesen waren. Sicherlich hatte Sergio schon viele Frauen mit hierhergenommen. Was ja kein Wunder war; er sah blendend aus, war zudem finanziell mehr als nur gut gestellt, beruflich ausgesprochen erfolgreich; wahrscheinlich musste er nur einmal blinzeln, und schon lagen ihm sämtliche Frauen seufzend zu Füßen.

„Ich bin kein guter Fremdenführer.“

„Ich wette, Sie kennen all die Ecken, an denen es schön ist.“ Und wo man gut miteinander allein sein kann. Hitze stieg ihr in die Wangen. Besser nicht weiter darüber nachdenken.

„Ein paar.“ Seine dunkle Stimme verstärkte die Hitze in ihr noch. Ebenso wie der Blick, den sie von ihm auffing, als sie kurz zur Seite sah. Himmel, er schaute sie an, als wisse er genau, was ihr gerade durch den Kopf gegangen war.

„Das ist ja oft so“, fuhr er fort, „man wohnt dort, wo andere Leute Urlaub machen, und sieht sich die Sehenswürdigkeiten vor der eigenen Nase nur an, wenn jemand von außerhalb zu Besuch ist.“

„Ja, das stimmt wohl. Ich bin in London geboren und aufgewachsen.“ Allerdings hatte es bei ihnen weder Besucher noch Trips zu Sehenswürdigkeiten gegeben. Nur selten hatten sie als Familie etwas unternehmen können.

„Fahren Sie dort entlang“, wies er sie an und deutete nach rechts, als sie der Stadt näher kamen.

„Führt diese Straße denn auch in die Stadt?“

„Nein, sie führt zum Monte Pellegrino, und von dem aus hat man einen wunderbaren Ausblick auf die Stadt. Den dürfen Sie sich nicht entgehen lassen. Außerdem wollen Sie doch sicher zur Santa Rosalia.“

„Santa Rosalia?“

„Oh, ich nahm an, dass Sie wie die anderen Touristen sind, die nach Palermo kommen und unbedingt in die Grotte wollen.“

„Ich muss zugeben, bislang noch nicht mal von dieser Santa Rosalia gehört zu haben.“

„Sie lebte im 12. Jahrhundert und ist die Schutzheilige Palermos. Die Grotte wurde nach ihr benannt. Dort lebte sie als Einsiedlerin und erschien lange nach ihrem Tod manchem als Geist.“

Hannah wollte ihm nicht sagen, dass sie nicht an Geister glaubte. Und die Vorstellung, durch eine Grotte zu wandern, nicht besonders verlockend fand. Solche Höhlengänge waren bestimmt kalt, zugig und düster. „Ist sie wenigstens ein netter Geist?“

„Sie wurde schon lange nicht mehr gesichtet. Aber ja, sie ist doch eine Heilige, die sind immer nett.“

„Gut zu wissen.“

„Oder wollen Sie etwa nicht zur Grotte?“

„Doch, doch, warum nicht. Ich war noch nie in einer.“

„Dort vorne können Sie parken“, wies Sergio sie an.

Hannah parkte den Wagen und stieg ebenso wie Sergio aus. Sie befanden sich nun ein ganzes Stück oberhalb der Stadt. Wie Sergio versprochen hatte, konnte man eine weite Fläche überblicken.

Bis an den Hafen heran standen aus hellem Stein erbaute Häuser. Dort lagen Jachten vor Anker und einige größere Schiffe. Und in der Ferne erhob sich in hellem Graubraun die Bergkette des Monte Catalfano.

„Das ist wirklich ein fantastischer Anblick.“ Hannah wandte sich zu Sergio und strahlte ihn an.

„Wir müssen ab hier zu Fuß weiter, die Grotte liegt etwas höher, da hinten. Sehen Sie?“

Ihr Blick folgte seinem ausgestreckten Arm. Viel Grün zeigte sich am Berg, dazwischen blitzten jedoch helle Mauern auf. Eine Kirche vermutlich.

Neben Sergio ging Hannah den Weg hinauf. Im Näherkommen bemerkte sie erst richtig die Schönheit dieses Ortes. Die alten Mauern verströmten einen rustikalen Charme, das Grün der Sträucher leuchtete voller Frische und Leben.

Mehrere Stände mit Souvenirs befanden sich neben den Außenmauern der Kirche. Hannah blieb stehen, um die Auslagen näher in Augenschein zu nehmen, und griff nach einer gläsernen Schildkröte.

„Das ist überteuerter Kitsch“, raunte Sergio ihr ins Ohr.

„Mir gefällt sie. Ich sammle Schildkröten.“

„Schildkröten?“

„Keine echten natürlich. Aus Glas, aus Holz, Stein oder was auch immer ich finde. Hab schon eine ganze Vitrine damit voll.“ Sie sah, wie er die Augen verdrehte. Das hatte sie sich ja denken können. Und warum musste sie ihm das auch direkt auf die Nase binden? Hätte sie bloß geflunkert! Als Geschenk für eine spleenige Tante hätte er zu der Schildkröte sicherlich nichts gesagt.

Rasch stellte sie die Figur zurück und ging weiter. Sergio blieb dicht neben ihr.

„Das da vorne ist der Eingang zur Grotte“, erklärte er.

Eine bunt gekleidete Zigeunerin trat ihnen in den Weg. Der Blick ihrer schwarzen Augen traf erst Sergio, dann musterte sie Hannah. „Sie werden drei Kinder bekommen. Zwei Jungen und ein Mädchen, das so schön sein wird wie Sie, aber die schwarzen Haare seines Vaters haben wird.“ Bei den letzten Worten sah sie wieder Sergio an. Sie hatte Englisch gesprochen, wohl weil Hannah so offensichtlich nicht wie eine Italienerin aussah.

Hannah erstarrte, Sergio seufzte und verdrehte erneut die Augen. „Glauben Sie diesen Schwachsinn doch nicht, Hannah. Alles, was sie will, ist unser Geld. Das machen die hier immer so, sagen einem irgendwas Schönes, und wenn man darauf eingeht, wird es teuer.“

Er hatte sich gar nicht bemüht, leise zu sprechen, wahrscheinlich traf ihn deshalb nun erneut der Blick der Zigeunerin. „Ihr Leben wird eine drastische Wendung nehmen. Nichts wird mehr so sein, wie es mal war.“

„Das genügt!“ Nun verwandelte sich der genervte Ausdruck auf seinem Gesicht in puren Zorn. Eine Hand an ihren Rücken gelegt, drängte er Hannah zum Weitergehen.

„Das war unheimlich.“ Eine Gänsehaut bedeckte ihre Arme. Wie diese Frau sie angesehen hatte … Und noch mehr, was sie gesagt hatte …

„So ein Unsinn! Hannah, Sie werden dieses Gefasel doch wohl nicht glauben.“ Sergio ging langsamer, denn nun hatten sie die Grotte erreicht. Kühle Luft wehte ihnen entgegen, aber es war nicht so dunkel wie befürchtet. Eine Skulptur der Heiligen befand sich direkt hinter dem Eingang an der rechten Seite. Sie lag in einem gläsernen Sarg und bestand aus weißem Stein, bekleidet mit einem goldenen Gewand.

„Aber was, wenn diese Frau recht hat?“ Sergios Leben zumindest hatte sich bereits geändert. Für ihn war nichts mehr wie vorher.

„Sie hat uns für ein Paar gehalten und uns drei Kinder prophezeit. Das werden Sie doch wohl nicht für bare Münze nehmen.“

„Nein, natürlich nicht.“ Die Vorstellung, mit ihm zu schlafen, zuckte durch ihre Fantasie. Rasch verdrängte sie die Bilder von Sergio, der sie küsste und sie mit zärtlicher Leidenschaft liebte. Sergio hatte recht, sie konnte unmöglich glauben, was die Zigeunerin ihnen gesagt hatte. Sie waren so weit davon entfernt, ein Liebespaar zu werden, wie die Sonne vom Mond.

„Denken Sie am besten nicht mehr daran.“ Sergio klang nun freundlicher. „Wahrscheinlich werden Ihnen hier noch öfter Zigeuner begegnen und Ihnen etwas prophezeien wollen. Oder das ungefragt einfach machen, so wie diese Dame eben. Den Frauen sagen sie immer voraus, dass sie bald einen gut aussehenden reichen Mann kennenlernen und heiraten werden. Und wenn ihnen ein Pärchen über den Weg läuft, prophezeien sie ihm eine Menge Kinder. Mit dreien war sie da noch sehr zurückhaltend.“

Nun musste Hannah doch lachen. „Sie meinen, normalerweise hätte sie mir eine halbe Fußballmannschaft vorausgesagt?“

„Mindestens.“ Um seine Mundwinkel zuckte es.

Die Anspannung fiel von ihr ab. Sicher hatte Sergio recht, und die Zigeunerin sagte in genau diesem Augenblick einem anderen Paar Kindersegen und Reichtum voraus. Doch kaum zu Ende gedacht, erschreckte der Gedanke sie; sie hatte von sich und Sergio als Paar gedacht. Nur eine unglückliche gedankliche Formulierung.

„Wir befinden uns hier im Vorraum zur Grotte. Sehen Sie, da ist die Statue der heiligen Rosalia. Gläubige legen hier Geschenke ab“, erklärte Sergio und gewann damit ihre Aufmerksamkeit. Gut so; das hielt sie davon ab, weiter über Prophezeiungen und Paare nachzudenken.

„Opfergaben?“

„Dankesgaben. Wenn sie einen Wunsch hatten und zu Santa Rosalia beteten und der Wunsch wurde erhört, dann bedanken sie sich auf diese Art.“

Bis heute hatte sie noch nie von Santa Rosalia gehört, und sie selbst war alles andere als gläubig. Aber es konnte sicher nicht schaden, die Heilige um ihren Beistand zu bitten, und so formulierte Hannah in Gedanken ein kleines Gebet.

Sergio sprach leise auf Italienisch, vor der Statue stehend. Als er wieder zu Hannah trat, schien er ein wenig entspannter. Doch dann fing sie seinen Blick auf. In dem schwachen Licht der Grotte wirkten seine Augen wie schwarzes Feuer. Irgendetwas tief in ihr drängte ihren Verstand beiseite.

Aber davon durfte sie sich nicht beeinflussen lassen. Zumal sie seine Therapeutin war und nun die Verantwortung trug. Auch wenn Sergio im Moment gar nicht den Eindruck machte, als brauche er ihre Unterstützung. Er wirkte keine Spur unsicher. Gut. Das war sogar sehr gut.

Hannah empfand ehrliche Freude und ein kleines bisschen Stolz über diesen Fortschritt. Besonders, als Sergio ohne mit ihr zu diskutieren oder Unmut zu zeigen, zustimmte, sich den Normannenpalast im Herzen Palermos anzusehen.

„Haben Sie genug gesehen?“, fragte er, als sie aus dem Palast zurück auf die Straße traten. Immer noch brannte die Sonne heiß, doch durch den leichten Wind ließ sich die Wärme gut ertragen.

„Fürs Erste.“ Hannah wollte ihn nicht überfordern. „Aber ein wenig spazieren gehen würde ich gern noch, in der Stadt, irgendwo.“

„Wie wäre es mit dem Hafen?“, schlug Sergio vor. „Da können Sie Jachten bestaunen, die mehr kosten als ein Zweifamilienhaus.“

Solange sie nicht an Bord gehen musste … „Klingt gut.“

Der Weg zum Hafen war so deutlich ausgeschildert, dass Hannah ihn auch ohne Sergios Anweisungen fand. Sie parkte im Schatten einer Kaimauer und stieg aus. Frischer Seewind wehte ihr um die Nase. Mehrere Fähren nahmen ganze Heerscharen an Touristen auf.

„Die machen hier fast stündlich Hafenrundfahrten“, erklärte Sergio. „Wollen Sie mit? Ich würde solange hier warten.“

Die Vorstellung, auf eines der Schiffe zu gehen, ließ sie innerlich zusammenzucken. „Ist doch so schon genug vom Hafen zu sehen; dicht an dicht wie eine Sardine in der Dose mag ich nicht mit den ganzen Touristen stehen.“

„Oh, das ist nicht auf allen Schiffen so. Wenn man die etwas exklusiveren Fähren wählt, kann man sehr angenehme Kreuzfahrten erleben. Besonders wenn es abends ein wenig schaukelt, kann das ein sehr sinnliches Erlebnis sein.“

Ihr wurde heiß, und vor ihrem inneren Auge tauchten erotische Bilder auf. Sie und Sergio, in einer solchen Kabine, wie sie sich auf dem Bett leidenschaftlich liebten, sanft geschaukelt von den Wellen. Und diese Wellen setzten sich in ihrem Körper fort.

Fast hätte sie aufgestöhnt. Unsicher warf sie einen Blick zu Sergio. Hatte er gemerkt, was ihr gerade durch den Kopf ging? Da war etwas in seinem Blick, etwas Undefinierbares …

Schreie ließen sie zusammenzucken.

„Das kommt von da vorn!“, rief Sergio und rannte bereits los. Hannah blieb an seiner Seite. Mit Schrecken sah sie, dass er genau aufs Wasser zulief. Schon fühlte sie, wie die Panik in ihr emporkroch.

„Sie ertrinkt! Hilfe! Hilfe!“ Sergio hörte die Schreie, schrill und nah an der Grenze zur Hysterie. Mithilfe seiner Ellenbogen kämpfte er sich durch die gaffende Menge. Es platschte, einer der Anwesenden musste ins Hafenbecken gesprungen sein.

Nah am Steg steckte jemand den Kopf über die Wasseroberfläche, schnappte nur kurz nach Luft und tauchte wieder. Eine Frau jammerte und schrie, eine andere hielt sie mit den Worten „Bleib hier, du kannst nicht schwimmen, willst du etwa auch noch ertrinken?“ davon ab, hinterherzuspringen.

„Ich finde sie nicht“, rief der Mann im Wasser. Die Frau schrie noch lauter, eine andere begann zu beten, eine dritte rief verschiedene Heilige an.

Wieder tauchte der Mann ab. Die Anspannung ließ sich deutlich spüren. Sergio warf einen schnellen Blick zu Hannah. Starr wie eine Salzsäule stand sie keine Schrittlänge entfernt von ihm, das Gesicht wächsern, die Augen weit aufgerissen.

Doch ehe er etwas sagen konnte, tauchte der Schwimmer wieder auf. Und diesmal hielt er etwas im Arm. Sofort eilten zwei Männer an den Steg, nahmen den leblosen Körper entgegen. Ein anderer half dem Mann aus dem Wasser.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Sergio, dass Hannah aus ihrer Reglosigkeit erwacht war und ihm folgte.

Auf dem Steg lag ohnmächtig ein Mädchen. Wasser breitete sich um es herum aus, glänzte auf seinem bleichen Gesicht und tropfte aus dem schwarzen Haar. Eine Frau, vermutlich die Mutter, schrie und jammerte. Jemand redete auf sie ein, hielt sie fest. Weitere Leute standen um sie herum, blieben auf Abstand, als fürchteten sie sich, näher zu kommen.

Die aus dem Wasser gerettete Kleine konnte höchstens acht Jahre alt sein. Sergio kniete sich neben sie, untersuchte sie, soweit er das mit seinen steifen Fingern vermochte. Keine Atmung. Verdammt, das war nicht gut. Sofort begann er mit der Wiederbelebung. Leise zählte er mit. Seine Hände drückte er mit so viel Kraft, wie er gerade noch einzusetzen wagte, auf den zarten Brustkorb. Dreißig Mal, dann zwei Beatmungen. Und wieder dreißig Herzdruckmassagen. Zwei Beatmungen. Weiter mit der Herzdruckmassage, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig …

Endlich regte das Mädchen sich, hustete und rang nach Luft.

„Hannah, schnell, nimm sie und halt sie zur Seite“, befahl er. Seine Hände waren dafür nicht zu gebrauchen. Er hasste diese Unfähigkeit, doch seine Finger gehorchten ihm nicht so, wie es nötig gewesen wäre.

Hannah packte das Mädchen, half ihm, das Wasser auszuspucken. Selbst war sie mindestens ebenso blass wie die Kleine.

Sergio atmete tief durch, beobachtete Hannah. Doch trotz ihrer unübersehbaren Nervosität handelte sie ruhig und sicher.

Die Kleine begann zu weinen. Ihre Mutter stürzte nach vorne, schlug die Hände zusammen und schien sich nicht zu trauen, ihr Kind anzufassen.

„Sie lebt“, wandte Sergio sich auf Italienisch an die Frau. Er spürte, dass alle Umstehenden ihn anstarrten, und wollte nur noch fort. Aber er durfte das Mädchen nicht im Stich lassen. Zwar atmete es nun selbstständig, doch es musste unbedingt weiter medizinisch versorgt werden. Zu groß war die Gefahr, dass die Atmung noch einmal aussetzte. „Nehmen Sie Ihre Tochter, beruhigen Sie sie.“

Daraufhin zog die Mutter ihr Kind an sich.

Endlich hörte er das vertraute Geräusch der Sirene. Jemand hatte die Ambulanz gerufen. Die Menge teilte sich, um die Sanitäter mit der Trage hindurch zu lassen. Sergio informierte sie rasch und wartete, bis das Mädchen im Rettungswagen war, dann wandte er sich Hannah zu. Noch immer stand ihr der Schrecken deutlich ins Gesicht geschrieben. Er berührte sie am Arm. „Komm, verschwinden wir von hier.“ Nach dem, was sie gerade zusammen erlebt hatten, erschien ihm die vertrautere Anrede angemessener.

Sie lief neben ihm, schien dabei gar nicht darauf zu achten, wohin. Zum Glück hatte er sich gemerkt, wo sie geparkt hatte. Allerdings bezweifelte er, dass es eine gute Idee war, wenn sie jetzt Auto fuhr. Ein Taxi zu nehmen wäre kein Problem, am Eingang zum Hafen standen sogar mehrere und warteten nur darauf, Touristen in ihre jeweiligen Ferienunterkünfte zu bringen.

Als sie den Wagen erreichten, legte Sergio die Hände an Hannahs Schultern. „Was ist mit dir?“

Sie blickte ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Doch langsam schien sie aus diesem seltsamen tranceähnlichen Zustand zu erwachen. „Geht es dem Mädchen gut?“

„Die Kleine wird bestmöglich versorgt. Bestimmt ist sie jetzt schon im Krankenhaus. Man wird sie dort behalten und in den nächsten Stunden überwachen.“ Es erstaunte ihn, wie sehr dieser Vorfall Hannah mitnahm. Sicher, als Physiotherapeutin erlebte sie keine Notfälle, andererseits arbeitete sie doch mit Kranken und Verletzten. Und dieser Fall war wirklich glimpflich ausgegangen, das Mädchen hatte überlebt und war bei seinem Sturz ins Hafenbecken nicht verletzt worden.

Kaum sichtbar nickte Hannah. „Gut. Das ist gut. Du hast ihr das Leben gerettet.“

„Nein, das hast du getan. Mir war es nicht möglich.“ Er hob seine Hände und spürte, wie die wohlbekannte Verbitterung in ihm emporquoll. „Ich konnte allein nicht alles tun, was nötig gewesen wäre.“

„Aber ohne deine Hilfe würde sie wahrscheinlich nicht mehr leben.“

Vielleicht. Aber darüber würde er nicht mit ihr diskutieren. Prüfend sah er sie an. „Du stehst unter Schock, Hannah. Du solltest jetzt nicht fahren.“ Er überlegte, was am besten für sie wäre. Vermutlich würde es genügen, wenn sie einfach ein bisschen zur Ruhe kam, auf andere Gedanken und nicht mehr das Bild des ertrinkenden Mädchens vor sich hatte. Allerdings hatte er nicht viel Lust, hier zu bleiben, bis Hannah sich so weit sammelte, dass sie fahren konnte.

„Ich schaffe das schon“, murmelte sie.

„Nein.“ Er atmete tief durch. „Ich werde fahren.“ Die Straße bis zum Haus wurde kaum genutzt, es gab außerdem nur wenige Kurven.

„Sergio, nein, das ist unverantwortlich.“

„Im Moment bin ich derjenige von uns, der weit mehr in der Lage dazu ist, ein Auto zu steuern. Außerdem hat der Wagen Servolenkung, den könnte ich vermutlich sogar mit der Nase bedienen.“

Um ihre Mundwinkel zuckte es. „Versuch es bitte dennoch mit deinen Händen.“

„Wusstest du, dass Leute ohne Arme mit den Füßen lenken?“

„Darüber will ich, glaube ich, lieber nichts Näheres erfahren.“

Doch er sah, wie ein Teil der Anspannung von ihr abfiel. Sie stiegen ein.

Als er hinter dem Lenkrad saß, kam ein Gefühl des Unbehagens in ihm auf. Seine letzte Fahrt hatte tragisch geendet, auch wenn er selbst keine Schuld an dem Unfall trug. An seinem rechten Arm spürte er eine Berührung.

Hannah blickte ihn aus großen Augen besorgt an. „Soll ich nicht doch lieber fahren?“

„Nicht nötig. Außerdem – gehört das denn nicht zu meiner Therapie?“

Autor

Maja Franklin
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Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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Liz Fielding
<p>In einer absolut malerischen Gegend voller Burgen und Schlösser, die von Geschichten durchdrungen sind, lebt Liz Fielding in Wales. Sie ist seit fast 30 Jahren glücklich mit ihrem Mann John verheiratet. Kennengelernt hatten die beiden sich in Afrika, wo sie beide eine Zeitlang arbeiteten. Sie bekamen zwei Kinder, die inzwischen...
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