Romana Extra Band 106

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GEFÄHRLICHE ROMANZE IN SPANIEN von ALLY EVANS
Bei einem Dorffest mit ausgelassenem Tanz im süßen Duft der Mandelblüten ist es um Vicky geschehen: Sie verliert ihr Herz an den geheimnisvollen Alejandro! Ohne zu wissen, wer der attraktive Spanier wirklich ist, den sie im Flugzeug nach Málaga kennengelernt hat …

ZÄRTLICH VERFÜHRT UNTER PALMEN von MEREDITH WEBBER
Auf einer paradiesischen Südseeinsel will die hübsche Ärztin Fran eine Enttäuschung vergessen. Und verliebt sich Hals über Kopf in ihren Kollegen Steve Ransome! Doch Liebeskummer scheint erneut vorprogrammiert. Denn Steve will etwas, das Fran ihm niemals geben kann …

IST ES DIESMAL FÜR IMMER? von CATHY WILLIAMS
Zauberhafte Urlaubstage verbringt Rebecca mit dem attraktiven Nicholas an der Loire. In romantischen Nächten scheint der Mann ihrer Träume ihre Gefühle endlich zu erwidern. Doch wie wird es weitergehen, wenn sie nach London zurückkehren? Ist es zwischen ihnen diesmal für immer?

DAS GEHEIMNIS DES ITALIENISCHEN PLAYBOYS von ANNIE CLAYDON
Warum Milliardär Gabriel DeMarco Beziehungen ablehnt, ist sein dunkelstes Geheimnis. Aber dass die schöne Clara ihn nach stürmischen Liebesstunden verlässt, passt dem italienischen Playboy überhaupt nicht! Zum ersten Mal beschließt er, um eine Frau zu kämpfen …


  • Erscheinungstag 13.04.2021
  • Bandnummer 106
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500227
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Ally Evans, Meredith Webber, Cathy Williams, Annie Claydon

ROMANA EXTRA BAND 106

ALLY EVANS

Gefährliche Romanze in Spanien

Wie kann er sich nur in die größte Feindin seines Vaters verlieben? Zum ersten Mal in seinem Leben fühlt sich Alejandro hilflos. Er will die bezaubernde Vicky – aber was, wenn sie erfährt, wer er ist?

MEREDITH WEBBER

Zärtlich verführt unter Palmen

Solange Steve denken kann, ist eine große Familie sein Herzenswunsch. Jetzt hat er die richtige Frau gefunden: die wunderschöne Fran. Doch als er ihr seine Sehnsucht verrät, erstarrt sie …

CATHY WILLIAMS

Ist es diesmal für immer?

Obwohl Rebecca nicht weiß, ob es für immer ist, wird sie Nicholasʼ Geliebte. Jede Stunde ihres Urlaubs genießt sie. Denn in London wartet die schöne Fiona auf Nicholas – wird er sich für sie entscheiden?

ANNIE CLAYDON

Das Geheimnis des italienischen Playboys

Liebe im Job kommt für Clara nicht infrage. Als Bodyguard des Milliardärs Gabriel DeMarco konzentriert sie sich nur auf seine Sicherheit. Bis ein heißer Kuss des attraktiven Italieners alles ändert!

1. KAPITEL

Verdammt, sie kam zu spät!

Das Taxi fuhr viel zu langsam. Im Schritttempo quälte es sich durch den Verkehr von San Francisco.

Aber sie musste doch unbedingt den Flieger bekommen!

Unruhig rutschte Vicky auf der Rückbank hin und her. Die kalifornische Nachmittagssonne brannte unbarmherzig vom Himmel herab und sorgte dafür, dass sie fast auf dem schwarzen Kunstleder anklebte. Zum Glück umspielte der zarte Kleiderstoff ihre Oberschenkel vollständig, sodass die vor dem direkten Kontakt mit dem schmuddeligen Bezug geschützt waren.

Das Kleid hatte sie sich extra für die Hochzeit ihrer besten Freundin Celia gekauft. Es war ein malvenfarbener Traum aus Seide und stand ihr hervorragend, denn es betonte ihre schlanke Figur und zeigte ihre Kurven, ohne allzu aufreizend zu wirken. Vicky hatte darin als Brautjungfer direkt neben Celia gestanden und ihrer Freundin dennoch nicht die Show gestohlen.

Das Kleid war perfekt – ganz anders als ihre jetzige Situation. Gerade musste das Taxi schon wieder halten, diesmal knapp vor der Abfahrt vom Highway. Himmel, das konnte doch nicht wahr sein! Ungeduldig trommelte Vicky mit den Fingern auf die Armlehne und sah angespannt zum Fenster hinaus. Der Flughafen war bereits in Sichtweite, aber der triste Anblick der grauen Zweckgebäude verbesserte ihre Laune auch nicht gerade. Reizvoll war allenfalls, dass der gesamte Komplex so nahe am Meer lag, dass einige der Start- und Landebahnen geradewegs ins Wasser zu führen schienen.

Das konnte tatsächlich abenteuerlich werden, vorausgesetzt, sie verpasste den Flieger nicht doch noch.

Dreißig bis vierzig Minuten, das hatte ihr der Fahrer versichert, als sie vor ihrem Hotel in das eilig herbeigerufene Taxi gesprungen war. Und jetzt waren sie schon fast sechzig Minuten unterwegs. Vicky ärgerte sich maßlos über sich selbst. Wäre sie pünktlich aufgebrochen, dann hätte sie es geschafft, das Kleid im Hotel noch in Ruhe zu wechseln. Aber sie hatte ja unbedingt bis zur letztmöglichen Sekunde bleiben müssen.

Und warum das alles, Victoria Williams? Weil du auf keinen Fall den Wurf des Brautstraußes verpassen wolltest!

Hätte sie nur ein kleines bisschen nachgedacht, wäre ihr klar gewesen, dass die Blumen den langen Flug nach Málaga sowieso nicht überstehen würden. Denn – wie hätte es anders sein können – natürlich hatte sie den Strauß gefangen. Würde sich damit nun ebenso bewahrheiten, dass sie als Nächste heiratete? Wen denn?

Johnny kam dafür sicher nicht infrage, auch wenn der Kollege furchtbar gern mal mit ihr ausgegangen wäre und sie in letzter Zeit immer so verliebt anschaute, dass Vicky seiner stummen Bitte kurz vor ihrer Abreise nach Kalifornien schließlich nachgegeben hatte. Ja, sie würde sich von ihm ausführen lassen, demnächst, aber keineswegs zu einem romantischen Dinner. Ein Pub in London mit krachlauter Musik, Bier und Ausschankschluss musste reichen. Damit Johnny nicht doch noch auf falsche Ideen kam. Er war ein netter Bursche, mehr aber auch nicht.

Endlich bog das Taxi in die Spur zu ihrem Terminal ein. Und schon bevor es richtig hielt, öffnete Vicky die Tür. Heiße Luft strömte in die Fahrgastkabine, wenigstens gab es dadurch einen leichten Windzug. Schnell stieg sie aus, ging an den Kofferraum, in dem ihr Trolley und der kleine Reiserucksack verstaut waren, und versuchte, die Klappe selbst zu öffnen.

Halt, der Brautstrauß! Der lag noch im Auto. Während der Taxifahrer ihr Gepäck aus dem Kofferraum hob, lief Vicky wieder zurück und angelte den Strauß roter und lachsfarbener Rosen von der Rückbank. Sie drückte dem Fahrer einen Geldschein in die Hand und rannte los.

Ihre Absätze klackerten hektisch auf dem glatten Material des Terminalbodens. Sie orientierte sich kurz und hastete dann weiter. Einfach mit dem Handy einzuchecken, dafür war leider keine Zeit mehr. Gott sei Dank wurde ganz hinten gerade ein Schalter ihrer Fluglinie frei. Glück gehabt!

Allerdings wohl doch nicht genug Glück, wie sich jetzt herausstellte. Die Bedienstete schaute auf ihr Ticket und zuckte dann bedauernd mit den Schultern. Ihrem anschließenden Redeschwall entnahm Vicky, dass das Flugzeug hoffnungslos überbucht war. Eine Methode, die Fluglinien vor allem bei langen Flügen über die Ozeane häufig einsetzten, um zu vermeiden, dass Plätze leer blieben. Eigentlich eine Frechheit, denn wer zuletzt kam, hatte auf diese Weise trotz eines gültigen Tickets das Nachsehen.

Das würde sie sich jedoch nicht bieten lassen! Ihr Kampfgeist erwachte. Sie knallte den Brautstrauß auf den Tresen und begann, leidenschaftlich mit der jungen Frau zu diskutieren. Die Tonlage ihres britischen Englischs schraubte sich dabei in ungeahnte Höhen, aber das war ihr egal. Sie musste diesen Flieger bekommen. Unbedingt! Sonst schaffte sie den Anschlussflug nicht und kam zu spät zur Beerdigung ihrer Großmutter, ihrer abuela, die überraschend gestorben war.

Vicky hielt erschöpft inne. Tiefe Traurigkeit überkam sie. Seit mehr als zwanzig Jahren hatte sie ihre Großmutter väterlicherseits nicht gesehen. Im Grunde hatte sie gar keine Beziehung mehr zu ihren spanischen Verwandten, denn ihre Mutter hatte die Verbindung nach dem plötzlichen Tod von Vickys Vater abreißen lassen.

Dass sie jetzt allerdings durch eine simple Überbuchung daran gehindert werden sollte, ihrer Großmutter wenigstens die letzte Ehre zu erweisen, das kam überhaupt nicht infrage.

Mit erhitzten Wangen begann sie erneut auf die Frau einzureden. Oh ja, wenn sie etwas haben wollte, konnte sie sich durchsetzen, das hatten schon einige Leute erfahren müssen. Und sie war nicht gewillt, gerade jetzt klein beizugeben.

Schließlich gab die Flughafenangestellte hinter dem Schalter nach. Sie nahm Vickys Ticket entgegen und tippte etwas in den Computer. Ein kurzer Augenblick, dann summte der Drucker und spuckte ein neues Ticket aus. Die Frau schob es zu ihr herüber. Abermals summte es, jetzt wurden die Klebebänder für das Gepäck ausgedruckt. Vicky wagte einen schnellen Blick darauf. Ja, es war immer noch dieselbe Flugnummer, dem Himmel sei Dank!

In einem spontanen Entschluss zog sie eine rote Rose für sich aus dem Brautstrauß und reichte den Strauß als kleines Dankeschön an die Frau hinter dem Schalter weiter. Dann sprintete sie los.

Vicky war mehr als erstaunt, als die junge Stewardess, die sie am Eingang des Fliegers empfing, sie nicht nach rechts, sondern nach links in die Flugkabine bat. Dort befanden sich doch nur das Cockpit und die teuren Plätze – Plätze, die sie sich niemals leisten konnte, denn als angestellte Landschaftsgärtnerin verdiente sie nicht viel.

Verwundert und noch immer ziemlich atemlos folgte sie der Flugbegleiterin, die weiterhin lächelte und sie tatsächlich ganz nach vorn führte, vorbei an den Passagieren der ersten Klasse, die sie interessiert musterten.

„So, Miss Williams, hier wäre dann Ihr Platz“, sagte sie und wies auf einen ausladenden Sitz – ach was, auf einen wirklich riesigen weichen Ledersessel, der vom Nachbarsessel durch eine mehr als breite Armlehne getrennt war.

Hier würde man sich niemals ins Gehege kommen, weder mit den Armen noch mit den Beinen. Vicky staunte. Die Bedienstete vom Schalter hatte ihr offensichtlich ein Upgrade auf die Businessklasse gewährt – und das, ohne einen einzigen Cent mehr zu verlangen.

Noch mehr allerdings staunte sie über den Fluggast, der den Nachbarsessel belegte. Mein Gott, und neben diesem Mann sollte sie die nächsten elf Stunden sitzen? Vicky fühlte, wie sie bis unter die Haarwurzeln errötete. Der Mann saß lässig in seinem Sessel. Sicherlich hatte er damit gerechnet, den gesamten Flug ohne einen Nachbarn verbringen zu können, denn auf dem freien Sitz neben ihm lagen bereits ein Laptop, eine schwarze Ledermappe und mehrere Papiere.

Er trug ein weißes Hemd, das über seiner breiten Brust leicht – aber nur ganz leicht – spannte, und einen maßgeschneiderten Anzug, dessen Jacke er abgelegt hatte. Schätzungsweise Mitte dreißig, war seine Erscheinung tipptopp. Er hatte eine gerade Haltung und breite Schultern, außerdem – so viel ließ sich ebenfalls erkennen – eine sehr athletische Figur. Seine Gesichtshaut war sommerlich braun, die Haare schwarz und glänzend, das Kinn markant und die Augen … Himmel, diese Augen!

Vicky wusste nicht, wo sie hinschauen sollte, während sie den interessierten Blick des Mannes auf sich spürte. Hatte sie eben wirklich noch geglaubt, ihre Jacke aus dem Rucksack holen zu müssen, um sich vor der Klimaanlage zu schützen? Jetzt musste sie hoffen, dass der leichte Luftzug es schaffte, sie über elf lange Stunden hinweg genügend abzukühlen.

Der Flug ging über Zürich, und vielleicht hätte sie doch lieber der umständlicheren Verbindung mit zwei Umstiegen in Kanada und Frankfurt den Vorzug geben sollen, die noch dazu billiger gewesen wäre. Allerdings wäre sie dann zu spät zur Beerdigung gekommen, denn in Kanada hätte sie einen sehr langen Aufenthalt gehabt. Überdies hätte sie ja heute lediglich ein bisschen pünktlicher von der Feier verschwinden müssen, in dem Fall wäre sie gar nicht erst in diese verrückte Situation geraten.

Bis eben hatte Alejandro noch geglaubt, auch den Nachbarsitz in Anspruch nehmen zu können. Was ihm für seine Arbeit nur recht gewesen wäre, denn er verstand den Begriff Businessklasse genau so, wie er gemeint war: Die Ausstattung dieser Sitzplätze gab den Passagieren – natürlich für einen geharnischten Aufpreis – die Möglichkeit, während des Fluges bequem an ihren Geschäften weiterzuarbeiten.

Alejandro war nicht gewillt, sich auf dem Flug auszuruhen oder sich anderweitig ablenken zu lassen, denn das wäre herausgeschmissenes Geld. Geschäftliche Entscheidungen mussten getroffen, bestimmte Konsequenzen durchkalkuliert werden, und zwar möglichst noch bis zur Landung in Zürich, wo er einen angehenden Geschäftspartner treffen wollte. Anschließend würde er nach Málaga weiterreisen.

Und nun stand diese junge Frau vor ihm, in einem umwerfenden Kleid – wie nannte man diese Farbe eigentlich? –, aus einem Stoff, der sich wunderbar weich an ihren Körper schmiegte und ihre Rundungen mehr als nur erahnen ließ. Alejandro fühlte, wie sein Vorsatz, die Flugzeit arbeitend zu verbringen, bei diesem Anblick gefährlich ins Wanken geriet.

Als sein Blick weiterglitt, über ihr faszinierendes Dekolleté hin zu ihrem Gesicht mit den wachen blauen Augen, die ihn ein bisschen erschrocken ansahen, war es um seinen guten Vorsatz so gut wie geschehen. Ihr Blick hatte etwas Scheues und Herausforderndes zugleich. In einer Hand hielt sie eine rote Rose, die genauso voll und rot war wie ihre Lippen.

„Möchten Sie vielleicht ablegen?“, fragte er und stand auf, um ihr beim Verstauen des Rucksacks im Gepäckfach zu helfen, wobei er zuerst mit wenigen Handgriffen ihren Platz von seinen Sachen freiräumte.

„Vielen Dank“, sagte sie und überließ ihm zögerlich den Rucksack.

Das Gepäckstück war leicht und aus einem billigen Material, sodass Alejandro sich einen kurzen Moment wunderte und sich fragte, ob sie zuvor schon mal in der Businessklasse geflogen war. Ihr Kleid sprach dafür, auch wenn man sich für einen Flug normalerweise nicht so anzog, der Rucksack hingegen … So etwas benutzen eher Backpacker, die jeden Euro, Dollar oder Cent sparen wollten. Er war praktisch, um es mal neutral auszudrücken.

Aber diese elegante Rose …

Samtrot, üppig und taufrisch, wenn auch mit einem relativ kurzen Stil, war sie genauso makellos wie die Haut der jungen Frau, die sie in ihren Händen hielt. Mit Rosen kannte er sich nicht aus, doch das dies keine billige Sorte war, war ihm klar. Alejandro musterte seine Sitznachbarin erneut. Sie gefiel ihm. Sogar sehr. Allein mit ihrer Figur und den großen blauen Augen hätte sie ihn zu allerlei Dummheiten verführen können.

„Wollen wir den Steward fragen, ob er sich bis zum Ende des Fluges um Ihre Rose kümmert?“ Er nahm sie ihr aus der Hand und wandte sich damit dem Flugbegleiter zu, der eben den Gang entlangkam.

„Geht das denn?“, fragte sie erstaunt.

„In der Businessklasse geht alles“, erwiderte er, während er dem Steward die Rose reichte, der ihm zunickte und damit hinter einem Vorhang verschwand. Alejandro lächelte. Er hatte recht gehabt mit seiner Annahme. Die junge Frau war das Fliegen in diesem Preissegment nicht gewohnt.

Das konnte ja heiter werden. Jetzt waren sie schon fast eine Stunde in der Luft, und Vickys Herz hörte einfach nicht auf zu rasen. Dabei war der Start ruhig und ohne Turbulenzen verlaufen. Die Nachmittagssonne schien durchs Fenster. Mittlerweile war die endgültige Flughöhe erreicht, und man hatte ihnen gesagt, dass sie die Gurte lösen durften. Kein Grund also, die Finger immer noch in die Armlehnen zu krallen, als litte sie an Flugangst.

Das tat sie auch gar nicht. Sie hatte einfach nur keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte. Ringsherum saßen zum größten Teil männliche Geschäftsleute und blätterten in irgendwelchen Papieren. In der ganzen Kabine herrschte konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Aus dem Fenster schauen konnte sie aber leider nicht, denn diese Sicht versperrte ihr der attraktive Mann neben ihr, der sich inzwischen ebenfalls seinen Unterlagen zugewendet hatte.

Alejandro hieß er, so viel hatte sie sich gemerkt, als er sich ihr vorgestellt hatte. Hatte er ihr dabei eigentlich auch seinen Nachnamen genannt? Falls ja, dann hatte sie ihn in ihrer Aufregung schon wieder vergessen.

Am besten, sie tat so, als beeindrucke sie die ganze Situation überhaupt nicht. Dass der Stewart erneut vorbeigekommen war, um ihnen heiße Frotteetücher zu reichen, mit denen sie ihre Hände säubern konnten, und ihnen außerdem Zeitungen sowie ein Glas Sekt zur Begrüßung gebracht hatte, war hier vermutlich ebenfalls nichts Besonderes.

Der Sekt! Aber natürlich! Bestimmt lag es am Sekt, dass ihr Gesicht jetzt so glühte und ihr Herz so aufgeregt schlug. Es wäre besser gewesen, sie hätte das Getränk nicht angenommen, genau wie der attraktive Fremde neben ihr, der sich wahrscheinlich mit klarem Kopf seinen Geschäftspapieren widmen wollte. Mit aufmerksamem Ausdruck las er gerade in einem Geschäftsbericht.

Lesen! Das war vielleicht eine Möglichkeit. Doch dazu müsste sie noch einmal aufstehen und ihren Rucksack, in dem das Buch steckte, wieder aus dem Gepäckfach hervorholen. Das Fach war leider sehr hoch, und sie hätte sich dabei weit über ihren Sitz beugen müssen, um es zu erreichen. Das war in einem Kleid mit diesem Ausschnitt unmöglich. Warum nur hatte sie vorhin nicht gleich daran gedacht, das Buch herauszunehmen, als der Mann ihr geholfen hatte, den Rucksack zu verstauen?

Eindeutig hatten seine dunklen Augen sie verwirrt.

„Brauchen Sie etwas? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte er in diesem Moment.

Seine Stimme klang so, dass ihr Herzschlag sich sofort wieder beschleunigte. Tief und dunkel, ein bisschen geheimnisvoll, weckte sie Gefühle bei ihr, die nicht beschreibbar waren.

„Oh nein, danke!“, sagte sie schnell. „Oder vielleicht doch, Entschuldigung! Mein Buch ist leider noch oben in meinem Rucksack“, fügte sie erklärend hinzu und deutete zum Gepäckfach.

„Kein Problem.“ Er stand auf, wobei er sie haarscharf streifte.

Die feinen Härchen auf Vickys Armen richteten sich auf. Alejandros Aftershave stieg ihr in die Nase. Es roch herb, sportlich, ein bisschen erdig – und doch, da war auch der Hauch einer orientalischen Note. Was war das? Zeder? Muskat? Eine Spur Sandelholz?

Vicky musste aufpassen, die Luft nicht allzu hörbar einzuziehen. Als Landschaftsgärtnerin, die sich mit exotischen Bäumen und Blumen auskannte, hatte sie eine sehr feine Nase.

An irgendetwas erinnerte sie dieser Duft. Tatsächlich stieg nach wenigen Augenblicken ein Bild in ihr auf. Als kleines Kind hatte sie mit ihren Eltern gern hinter den Glasscheiben von Flughäfen gestanden und den startenden Flugzeugen nachgewinkt. Ihr Vater hatte sie dabei oft auf den Arm genommen. Beinahe meinte Vicky, seine Körperwärme und die breiten Schultern wieder zu spüren.

Die Erinnerung musste über zwanzig Jahre alt sein, denn so lange lag der Unfall ihres Vaters nun schon zurück. Schnell schüttelte sie das Bild ab. Es half nichts, sich in der Vergangenheit zu verlieren. Was damals passiert war, spielte keine Rolle mehr, auch wenn es ihr Leben natürlich beeinflusst und zum Negativen verändert hatte, denn nach dem Unglück hatte sie mit einem Schlag alle Sicherheiten verloren. Aber das ging bei einem Schicksalsschlag schließlich vielen Menschen so.

Es sei denn, man gehörte zu den Leuten, die jederzeit Businessclass fliegen konnten.

Alejandro holte den Rucksack aus dem Fach und reichte ihn ihr. Vicky griff danach, wobei sie erneut rot wurde. Das Teil war uralt, und sie hätte ihn eigentlich schon lange aussortieren sollen. Dann kam jedoch überraschend der Anruf ihrer besten Freundin Celia, die vor Jahren nach Kalifornien ausgewandert war und die sich sie als Brautjungfer zu ihrer Hochzeit wünschte. Das Flugticket war nicht ganz billig, zudem hatte Vicky natürlich ein Hochzeitsgeschenk gekauft, und außerdem hatte sie vorgehabt, nach der Hochzeit noch ein bisschen durch Amerika zu reisen und sich einige Nationalparks anzusehen. Für solche Ausflüge wäre der alte abgeschabte Rucksack perfekt gewesen.

Doch dann hatte vor zwei Tagen ihre Mutter angerufen und sie vom Tod der Großmutter informiert, und Vicky hatte ihren Rückflug sofort auf die nächstmögliche Verbindung umgebucht. Statt nach England zurückzukehren, flog sie nun nach Málaga – dorthin, wo ihre abuela in der Nähe eines Dorfes einen kleinen Hof besessen hatte. Für sie war es selbstverständlich, dass sie ihrer Großmutter, obwohl sie kaum Kontakt miteinander gehabt hatten, die letzte Ehre erwies.

Deshalb saß sie nun in der Businessklasse neben einem unverschämt gut aussehenden Kerl, der noch dazu eine umwerfende Stimme hatte und außerdem so gut duftete, dass ihr Herz einfach nicht mehr zur Ruhe kam. Nach wie vor pumpte es machtvoll in ihrem Brustkorb, sodass Vicky Angst hatte, Alejandro würde ihr die Aufregung anmerken. Und sie am Ende womöglich auf sich beziehen! Gott, das wäre wirklich peinlich.

Mit rotem Kopf kramte sie das Buch aus dem Rucksack. Es war ein Liebesroman, irgendeine Geschichte, die letztendlich natürlich gut ausging. In diesen Romanen bekamen die Heldinnen zum Schluss immer, was sie wollten. Im wahren Leben sah das leider ganz anders aus.

Alejandro warf, während er ihren Rucksack wieder im Gepäckfach verstaute, einen kurzen Blick auf das Buchcover, auf dem ein junger Mann auf Knien einer jungen Frau eine Rose überreichte. Vicky wusste nicht, ob das Lächeln, das daraufhin auf seinem Gesicht erschien, freundlich oder arrogant war. Sicher hielt er sie jetzt auch noch für naiv. Aber was war verkehrt daran, von der großen Liebe zu träumen? Herausfordernd legte sie den Kopf in den Nacken und sah ihn an.

Wieder streifte er nahe an ihr vorbei, als er sich auf seinen Platz zurücksetzte, und erneut stieg ihr dabei der Duft seines Aftershaves in die Nase. Vicky schloss die Augen und schnupperte. Ja, da war definitiv eine Spur von Sandelholz, Bergamotte und Ambra. Sie gaben der Duftkomposition den schweren orientalischen Touch.

„Das scheint ja ein besonders spannendes Buch zu sein“, sagte Alejandro schmunzelnd.

Sein Englisch hatte einen samtigen, südländischen Akzent, der Vicky jetzt erst auffiel und sie ebenfalls an ihren Vater erinnerte. Der Spott in seiner Stimme verletzte sie jedoch.

„Ja und?“, erwiderte sie. „Zumindest ist es spannender als die Zahlen, die Sie da in einem fort lesen.“

Auf seinem Gesicht erschien ein erstaunter Ausdruck. Vicky hatte keine Ahnung, ob wegen der Heftigkeit ihrer Antwort, oder ob er tatsächlich in Betracht zog, dass ein Liebesroman spannender sein könnte als ein Geschäftsbericht.

„Meinen Sie?“, fragte er und legte die Papiere, die er gerade wieder in die Hand genommen hatte, zur Seite. „Dann erzählen Sie doch mal.“

Das hatte sie nun davon.

„Ach, es ist die alte Geschichte. Junge trifft Mädchen und verliebt sich in sie oder sie sich in ihn, das ist egal. Aber dann kommt etwas Schreckliches dazwischen, und die beiden werden getrennt. Für den Rest des Buches versuchen sie dann gegen alle Schwierigkeiten, doch noch zusammenzukommen.“

„Aha. Gegen alle Schwierigkeiten. Das scheint mir der Hauptpunkt zu sein, was?“

„Ja, klar. Sonst wäre die Geschichte ja langweilig.“

„Verstehe. Aber sie schaffen es natürlich?“

„Ja, sicher. Ansonsten wäre die Geschichte enttäuschend. Das will keiner lesen. Das Leben ist enttäuschend genug.“

„Wirklich? Ist es das?“

Vicky schwieg. Warum hatte sie das gesagt? War ihr Leben tatsächlich so enttäuschend?

Im Grunde schon. Nach dem Tod ihres Vaters war ihre Mutter in eine tiefe Depression gestürzt, die, wenn man es genau betrachtete, bis heute anhielt. Außerdem hatten sie seither finanzielle Schwierigkeiten. Sie waren aus dem aufregenden London in das kleine Warwick gezogen, und seitdem stagnierte ihr Leben. Nicht, dass es ihr keinen Spaß mehr machte, so war es nicht. Aber das große Abenteuer fehlte, etwas, das ihr Herz rasen ließ – so wie jetzt zum Beispiel der Blick in Alejandros Augen.

Allerdings war er vermutlich nur ein blasierter, wenn auch ziemlich attraktiver Typ, in dessen Liga sie ohnehin nicht spielte. Während er in der Businessklasse um die Welt jettete, würde sie sich nach ihrer Rückkehr nach Warwick wieder um die Vorgärten irgendwelcher Leute kümmern und als Höhepunkt des Jahres mit Johnny ein Bier trinken gehen. Nein, Abenteuer sah anders aus.

„Falls ich Sie mit meiner Frage irgendwie verletzt haben sollte, tut es mir leid“, hörte sie in diesem Moment seine Stimme neben sich und kehrte zurück in die Gegenwart.

„Es ist schon gut“, sagte sie hastig. „Ich … bin nur etwas traurig.“ Verlegen biss sie sich auf die Lippen. Das hatte sie ihm eigentlich nicht auf die Nase binden wollen. Eindeutig brachte er sie viel zu schnell zum Reden.

„Oh, das tut mir leid. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann …“

„Vielen Dank, aber das können Sie nicht“, erwiderte Vicky vor Verlegenheit schroffer als gewollt.

Alejandro sah ihr forschend in die Augen und nickte langsam, dann wandte er sich seinen Papieren zu. Vicky schlug ihr Buch auf und begann zu lesen. Allerdings konnte sie sich irgendwie nicht konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab, von der Hochzeitsparty, die sie vor wenigen Stunden so überstürzt verlassen hatte, hin zu ihrer spanischen Großmutter, von der sie gar kein richtiges Bild mehr hatte, und dann zu dem Mann, der im Moment neben ihr saß und in seinen Papieren blätterte.

Er arbeitete tatsächlich die ganze Zeit durch. Er schien überhaupt kein Problem zu haben, sich in dieser Situation zu konzentrieren, wohingegen sie nicht mal wusste, was sie in ihrer Aufregung mit ihren Händen anfangen sollte. Wenn sie weiterhin so schwitzte, würde sie damit noch die Blätter ihres Buches durchweichen.

Zum Glück kam das Abendessen bald, nachdem der Steward ihnen erneut heiße Frotteehandtücher für die Hände gereicht hatte. Das Mahl war exquisit und bestand aus drei Gängen, die nacheinander serviert wurden. Zuvor hatte Vicky sich ihr Menü selbst zusammenstellen dürfen.

Nach dem Essen vertiefte Alejandro sich sofort in seine Papiere. Nur einmal sprach er sie noch an, denn ihm war aufgefallen – obwohl er die ganze Zeit arbeitete! –, dass sie hin und wieder mit leerem Blick Löcher in die Luft starrte. Also bot er ihr an, die Plätze zu tauschen, damit sie bei ihren Träumereien den Vollmond betrachten konnte, der inzwischen das Wolkenmeer unter ihnen beleuchtete. Träumereien, das sagte er tatsächlich so.

Unglaublich! Wie schaffte man es eigentlich, auf so etwas angemessen zu reagieren, fragte sie sich und nahm sich vor, bei seinem nächsten Spruch unbedingt schlagfertiger zu sein. Er sollte bloß nicht glauben, dass er sie so einfach beeindrucken konnte.

Leider kam es dazu nicht mehr, denn Alejandro ließ sie tatsächlich in Ruhe, ganz so, wie sie es gefordert hatte.

Die Nacht war nicht lang, denn sie flogen dem Morgen entgegen. Relativ kurze Zeit später gab es bereits ein exquisites Frühstück. Alejandro packte seine Papiere, an denen er schon wieder arbeitete, zur Seite, wünschte ihr einen guten Appetit und begann zu essen. Anschließend las er weiter.

Als das Flugzeug über Zürich zur Landung ansetzte, ging es auf Mittag zu. Vicky hörte die Landeklappen brummen, als die Räder ausfuhren. Ihr Herz zog sich zusammen. Nicht wegen der bevorstehenden Landung, davor hatte sie keine Angst. Aber ihr wurde plötzlich bewusst, welche Schwierigkeiten in den nächsten Tagen auf sie warteten.

Sie war mit fünf Jahren das letzte Mal in Spanien gewesen, unmittelbar vor dem tragischen Unfalltod ihres Vaters. Ihre Mutter war daran zerbrochen und hatte seither keinen Fuß mehr in das Land seiner Herkunft gesetzt, wodurch mit der Zeit auch der Kontakt zu ihrer Großmutter abgerissen war. Alles, was Spanien betraf, war für Vicky unter einem dunklen Schleier verborgen.

Normalerweise hätte sie den Landeanflug auf Zürich erwartungsvoll verfolgt, aber jetzt senkte sie den Kopf und schaute traurig auf ihre Hände.

Alejandro deutete ihre Bewegung weg vom Fenster falsch.

„Keine Angst, Señorita“, sagte er beruhigend und legte eine Hand auf ihre. „Sie haben es gleich geschafft.“

Vicky fühlte, wie ein Schauer über ihre Haut lief. Alejandros große Hand auf ihrer fühlte sich warm und fest an, und seine Stimme verursachte ihr eine Gänsehaut. Verdammt, mussten die Armlehnen hier denn so breit sein? Alejandro saß gefühlt einen halben Meter von ihr entfernt. Sie konnte weder vorgeben, dass sich ihre Arme zufällig berührten, noch konnte sie sich scheinbar verängstigt ein kleines bisschen an seine Schulter schmiegen. Was hätte sie dafür gegeben, in diesen letzten Minuten mit ihm in den engen Reihen in der Economyclass zu sitzen.

Das Flugzeug setzte auf und raste einige Sekunden über die Landebahn, ehe der Rückschub einsetzte, der sie in den Sessel presste. Der Druck wurde jedoch bald geringer, die Geschwindigkeit ebenfalls. Schließlich rollte das Flugzeug die letzten Meter ruhig über die Landebahn, hin zum Terminal, wo bereits die langen Schläuche der Fahrgastbrücken herangerollt wurden. In der Kabine entstand Bewegung.

Alejandro ließ sie los, löste seinen Gurt und stand auf. Die Stelle, auf der seine Hand eben noch gelegen hatte, fühlte sich mit einem Mal kalt an. Vicky spürte, wie unangenehme Leere sie erfasste. Elf Stunden hatte sie jetzt neben ihm gesessen, seine Stimme gehört, sein Aftershave gerochen und zuletzt sogar geglaubt, seine Körperwärme spüren zu können. Aber nun war es vorbei.

Er öffnete das Gepäckfach und reichte ihr ihren Rucksack herunter, dann zog er sein Sakko an und packte seine Papiere in seine Tasche. Vicky stand ebenfalls auf und kramte ihre leichte Jacke aus dem Rucksack sowie ein Tuch, das farblich einigermaßen zum Kleid passte.

Der Steward kam. In der Hand hielt er ihre Rose, die immer noch genauso frisch aussah wie vor elf Stunden, als er sie in Empfang genommen hatte. Er hatte tatsächlich gut auf sie achtgegeben. Mit einem Schmunzeln gab er sie an Alejandro zurück. Der lächelte und drehte sich zu ihr um.

Ihre Blicke trafen sich. Für einen kurzen Augenblick schien die Zeit stillzustehen, und Vicky fühlte, wie ihre Atmung aussetzte. Eine verrückte Sekunde lang hatte sie die Vorstellung, Alejandro würde vor ihr auf die Knie gehen, während er die Rose an sie weiterreichte.

Dann war der Moment vorbei. Alejandro nahm sein Handgepäck, nickte ihr noch einmal zu und ging zum Ausgang, der für die Passagiere der Businessclass zuerst geöffnet wurde. Vicky sah ihm nach und nahm schnell ihren Rucksack.

War das schon der Abschied?

2. KAPITEL

In der Transithalle war es kühler als erwartet. Aber das war kein Wunder für Anfang März. Außerdem war Zürich nicht Kalifornien. Vicky fröstelte in ihrem dünnen Kleid und zog die Jacke fester um sich.

Jetzt rächte es sich doppelt, dass sie in San Francisco so überhastet aufgebrochen war. Zum Glück betrug der Aufenthalt in Zürich nur knappe zwei Stunden, bevor ihre Reise weiterging ins warme Málaga. Das Flughafengebäude musste sie zum Umsteigen nicht verlassen. Leider wurde ihr Koffer direkt ins nächste Flugzeug verladen, sonst hätte sie sich für den Weiterflug wenigstens eine Hose, einen Pullover und vor allem andere Schuhe heraussuchen können.

Alejandro war in Richtung Sicherheitsschleuse verschwunden, demnach flog er nicht nach Spanien weiter. Er würde also wirklich nur eine kurze Episode in ihrem Leben bleiben, eine Elf-Stunden-Begegnung, deren Bild in ihrer Erinnerung hoffentlich schnell wieder verblasste.

Mit glühenden Wangen saß sie im Transitraum zwischen den anderen Passagieren und wartete auf ihren Aufruf zum Boarding, in einem Kleid, das so dermaßen nicht in die Situation passte, dass sich einige Passagiere zu ihr umdrehten und sie unverhohlen musterten. Vicky achtete nicht darauf. Die Rose in der Hand und den Liebesroman ungeöffnet auf dem Schoß, starrte sie aus dem Fenster, hinter dem in regelmäßigen Abständen Flugzeuge starteten und landeten.

In ihr tobten widerstreitende Empfindungen. Jetzt, wo sie ganz allein hier saß, brandete das Gefühl der Verlassenheit, das sie seit dem Anruf ihrer Mutter und dem hastigen Aufbruch in San Francisco unterschwellig verspürt hatte, mit voller Wucht in ihr Bewusstsein. Nun waren von der Familie nur noch sie und ihre Mutter übrig, von der väterlichen Linie existierte niemand mehr.

Und gleichzeitig war sie heute dem aufregendsten Mann begegnet, den sie sich vorstellen konnte. Ein ganz klein wenig hatte er sie sogar an ihren Vater erinnert.

Alejandro saß im Restaurant des Hilton, das nur fünf Minuten vom Airport Zürich entfernt lag. Das Hotel war eine willkommene Adresse für Geschäftsleute, da man hier problemlos einen Businesstermin zwischen zwei Flüge schieben konnte. Da er nicht den nächsten, sondern erst den übernächsten Flieger nach Málaga gebucht hatte, standen ihm vier Stunden zur Verfügung.

Seltsam, da hatte er gerade elf Stunden lang im Flugzeug gesessen, aber die waren ihm diesmal viel kürzer vorgekommen. Und das lag nicht daran, dass er die ganze Zeit durchgearbeitet hätte, wie es ursprünglich sein Vorsatz gewesen war.

Alejandro stützte den Kopf in die Hände, obwohl er nicht müde war. Im Gegenteil: Irgendwie fühlte er sich merkwürdig wach, fast schon ein bisschen überdreht. Hatte das mit den guten Geschäftsabschlüssen in Kalifornien zu tun? Das war möglich, aber tief in seinem Inneren wusste er, dass der Fall anders lag. Die junge Frau aus dem Flugzeug ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Victoria, Vicky. Ein schöner Name. Er bedeutete die Siegerin, und genau so hatte sie auf ihn gewirkt. Anfangs war sie zwar etwas verlegen gewesen, wahrscheinlich wegen der für sie ungewohnten Situation, doch auf seine leicht spöttische Bemerkung zu ihrem Buch hatte sie ziemlich schlagfertig geantwortet.

Eigentlich hatte er vermutet, dass sie aus England kam, denn ihr Akzent war eindeutig britisch. Aber hätte sie dann nicht einen Direktflug nach Heathrow oder Gatwick genommen, anstatt über Zürich zu fliegen? Es gab schließlich genug Airlines, die die Strecke San Francisco – London direkt bedienten.

Er selbst hatte nach dem Geschäftsgespräch im Hilton noch ungefähr drei Stunden Flug vor sich. Aber das war in Ordnung, so konnte er wenigstens die Durchsicht der Geschäftsberichte abschließen. Das hatte er vorhin im Flieger nicht geschafft, denn während er vorgegeben hatte zu arbeiten, waren seine Gedanken immer wieder zu der jungen Frau gewandert, die neben ihm saß. Irgendein Kummer schien sie zu beschäftigen, doch da sie ihm so deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte, hatte er sie, bis auf das Angebot, den Platz zu tauschen, nicht noch einmal angesprochen. Schade eigentlich.

Es war schon seltsam. Normalerweise benahm er sich Frauen gegenüber nicht so rücksichtsvoll. Die allermeisten liefen ihm nach, deshalb waren keine Anstrengungen seinerseits nötig. Einige legten es sogar direkt darauf an, mit ihm im Bett und möglichst in den Klatschspalten diverser Gazetten zu landen. Nicht wenige hofften, auf diese Weise Teil des Jetsets zu werden.

Wenn er sich in Ibiza, Monaco oder Nizza aufhielt, waren die Strände, Bars und Hotels voll von entsprechenden Möglichkeiten, er brauchte lediglich auszuwählen. Und das hatte er auch oft genug getan. Meist beendete er solche Abenteuer jedoch so schnell wieder, wie er sie anfing, spätestens wenn er bemerkte, dass die entsprechende Frau es tatsächlich darauf anlegte, ihn einzufangen. Das hatte bis jetzt noch keine geschafft, und er sah keinen Grund, wieso sich das in nächster Zeit ändern sollte.

Das Flugzeug landete pünktlich in Málaga. Es war später Nachmittag, aber die Sonne stand noch hoch genug, dass Vicky in ihrem dünnen Kleid nicht fröstelte, als sie aus dem Flughafengebäude trat.

Sie hob die Nase und schnupperte. Frühling! Der Wind vermischte den Duft der Blüten zu einem unvergleichlichen Bukett. Sie erkannte den feinen Geruch von Mandel-, Orangen- und Zitronenblüten, untermalt von Holunder und Jasmin. Auch einige Wildkräuter mussten gerade in der Blüte sein.

Vicky atmete tief durch. Sie fühlte, wie ihr Herz heftig zu klopfen begann. Schon vorhin auf dem Weg durch den Zoll hatte ein seltsames Gefühl sie erfasst. Sie war das letzte Mal mit fünf Jahren in Spanien gewesen, aber dennoch hatte sie alles verstanden, was der Zollbeamte sie auf Spanisch gefragt hatte. Irgendwo tief in ihrem Inneren musste die Sprache ihres Vaters noch lebendig sein.

Optimistisch machte sie sich auf den Weg zur Autovermietung, die nicht weit vom Flughafengebäude ihr Büro hatte. Hier war es allerdings schon deutlich schwieriger, sich verständlich zu machen. Die Reservierung hatte sie von San Francisco aus vornehmen lassen, vom gleichen Unternehmen, das sich auch um die Umbuchung ihres Fluges nach Málaga gekümmert hatte. Vicky legte den Voucher vor und bekam das Auto. Von den Erklärungen verstand sie zwar nicht alles, aber was sollte schiefgehen? Sie bat die Bedienstete, eine Frau mit seltsam rauer Stimme, noch, ihr das Navi auf die entsprechende Adresse zu programmieren, dann konnte die Reise losgehen.

Die ersten Kilometer kosteten sie einige Anstrengung, denn der Verkehr war hier viel chaotischer als in England, außerdem war sie das Fahren auf der rechten Seite nicht gewohnt. Aber nachdem sie den Stadtverkehr hinter sich gelassen hatte, wurde es leichter. Vicky atmete auf und öffnete trotz Klimaanlage das Fenster, um den kühlen Fahrtwind direkt in das Auto zu lassen. Um diese Jahreszeit war Spanien noch nicht so trocken wie im Sommer, überall zeigte sich junges frisches Grün. Ein wunderbar süßer Duft lag über der gesamten Landschaft.

Als sie sich nach einer knappen Stunde ihrem Ziel näherte, fühlte Vicky, dass Aufregung sie erfasste. In den letzten Minuten hatte sich etwas verändert, die Landschaft kam ihr mit einem Mal seltsam vertraut vor. Eindeutig kannte sie diese Gegend. Die Häuser waren auf eine bestimmte Art aus Natursteinen gebaut, sie meinte die wohltuende Kühle, die in den heißen Sommern darin herrschte, förmlich spüren zu können.

Allerdings schien das Navi sie gleich wieder aus dem Ort hinausführen zu wollen. Einen Moment war Vicky irritiert, dann kam ihr unvermittelt ein Bild in den Sinn, auf dem der Hof ihrer Großmutter tatsächlich von ausgedehnter Landschaft umgeben war. Vertrauensvoll ließ sie sich weiterhin führen und erreichte nach wenigen Minuten einen schmalen Weg, der beidseitig von blühenden Sträuchern gesäumt war. Sie folgte ihm bis zum Ende und kam unmittelbar vor einem kleinen Gartentor zum Stehen, über dem ein Holzschild angenagelt war.

El jardín de las almendras …

Der Mandelgarten. Aber natürlich! So hatte ihre Großmutter ihr kleines Paradies immer genannt. Vicky fühlte, dass ihr Tränen in die Augen traten. An diesem Ort, das spürte sie in diesem Moment deutlich, hatte sie ihre glücklichsten Augenblicke erlebt. An der warmen Hand ihrer abuela war das Leben ein einziges Fest gewesen, jeder Tag neu und aufregend, jede kleine Entdeckung ein spannendes Abenteuer. Die tiefe Stimme ihres Vaters kam ihr in den Sinn, die glücklichen Augen ihrer Mutter und das knarzige Lachen ihres Großvaters, wenn sie hier alle zusammen am Abend am Tisch vor dem Haus gesessen und den tiefen Frieden genossen hatten, der über der Landschaft lag.

Himmel, wie hatte sie das alles fast zwanzig Jahre lang vergessen können?

Eine alte rundliche Frau mit wachen Augen tauchte vor ihr auf. Sie musterte sie und das Auto misstrauisch, dann ging ein Leuchten über ihr Gesicht. Sie öffnete schnell das kleine Gartentor und trat an den Wagen.

„Bienvenida! Tu es Victoria?“

Vicky nickte.

Die alte Frau deutete auf sich selbst. „Soy Marta. Marta Gonzales! Ich …“

Natürlich, Marta! Sie und ihr Mann Gustavo lebten in dem kleinen Steinhaus gleich neben dem Haus ihrer Großmutter. Ursprünglich als Wanderarbeiter über das Land ziehend, hatte der damals etwa vierzigjährige Gustavo für die Zeit der Mandelernte auf ihrem Hof angeheuert. Da Gustavo auch in den folgenden Jahren immer wiedergekommen war und dabei manchmal seine Frau Marta mitbrachte, hatte Vickys Großmutter dem netten kinderlosen Paar schließlich das kleine Steinhaus überlassen. Über die Jahre waren Marta und Gustavo auf diese Weise zu einem Teil der Familie geworden.

Vicky sprang aus dem Auto und drückte der alten Frau die Hände.

„Hallo Marta. Ja, ich bin es, Vicky. Ach, wie ich mich freue, dich zu sehen!“

„Gustavo!“, rief die alte Frau nach hinten in den Hof. „Gustavo! Schau, wer hier ist! Unsere kleine Vicky! Dios mío, wie schön, dich wiederzusehen.“ Marta nahm sie in die Arme. „Und sieh nur, wie groß und hübsch du geworden bist!“

Aus dem Haus kam ein alter Mann humpelnd auf das Gartentor zu. Als er es erreicht hatte, blieb er erstaunt stehen.

„Ist es denn möglich?“, fragte er und kam langsam näher. „Ist das wirklich unsere kleine Vicky? Ich schwöre bei Gott, wenn du mir unten im Dorf begegnet wärst, hätte ich dich nicht erkannt.“

Das glaubte Vicky ihm gern, denn zwischen dem kleinen, strohblonden, spillerigen Mädchen und der eleganten Erscheinung, die jetzt vor den beiden Alten stand, lagen Welten. Ihre Haare waren mittlerweile nachgedunkelt und hatten nun einen brünetten Farbton. Einzig ihre großen blauen Augen erinnerten noch an früher.

Sie hingegen hätte Gustavo überall wiedererkannt. Natürlich war auch er älter geworden, seine Haut war wettergegerbt und die Haare inzwischen grau, aber seine Augen leuchteten wie eh und je aus seinem freundlichen Gesicht.

„Gustavo!“, rief Vicky glücklich und gab dem alten Mann die Hand. „Es ist so schön, euch wiederzusehen.“ Sie hatte keine Ahnung, ob sie das eben auf Englisch oder Spanisch gesagt hatte, aber die beiden Alten hatten sie offenbar verstanden. Gustavo, ganz Galan alter Schule, machte sich am Kofferraum zu schaffen und holte ihr Gepäck aus dem Auto, während Marta sie unterhakte und auf den Hof führte.

Marta hatte ihr die Schlüssel auf den Tisch in der Küche gelegt und war danach wieder gegangen. Außerdem lagen dort einige Papiere. Vicky warf einen kurzen Blick darauf, während sie die Rose in ein Glas mit Wasser stellte. Dann stieg sie mit klopfendem Herzen die alte Holztreppe hinauf, wo unter dem Dach das Zimmer lag, das sie früher immer mit ihren Eltern bewohnt hatte.

Direkt daneben lag das Schlafzimmer ihrer abuela. Die Tür stand offen. Vicky trat zögernd auf die Schwelle und wagte einen Blick hinein. Das Bett und der große Spiegel waren verhängt, die Standuhr angehalten, die Vorhänge zugezogen. Vicky hätte sie gern geöffnet und etwas frische Luft in den Raum gelassen, aber sie kannte sich mit den hiesigen Trauerbräuchen nicht aus und wollte auf keinen Fall einen Fehltritt begehen. Auch wenn die beiden Alten sie eben freundlich empfangen hatten, sie war hier dennoch nur Gast.

Sie ging hinüber in das andere Zimmer, öffnete dort das Fenster und setzte sich aufs Bett. Das ganze Haus fühlte sich seltsam leer an. Früher hatte die Anwesenheit ihrer Großmutter alle Räume belebt, egal, ob sie in der Küche gestanden, im Keller Wäsche gewaschen oder draußen auf dem Hof gearbeitet hatte, erinnerte Vicky sich plötzlich. Jetzt hingegen wirkte alles, als hätte es seine Seele verloren.

Sie sah auf ihre Uhr. Es war kurz nach sieben. Für neun Uhr hatten Marta und Gustavo sie hinüber in ihr kleines Haus zum Abendessen eingeladen. Es mussten einige Dinge besprochen werden, unter anderem das Testament. Es hatte mit den Papieren auf dem Küchentisch gelegen, und Vicky hatte nach einem Blick darauf begriffen, dass sie als Alleinerbin des Mandelgartens eingesetzt war.

Das war ein Schock. Nun musste sie nicht nur die Beerdigung ihrer Großmutter organisieren, sondern auch den Verkauf des Anwesens arrangieren, denn dass sie sich nicht von Warwick aus darum kümmern konnte, war klar. Ihre Mutter hatte nach dem Unfall ihres Mannes mit dem spanischen Teil ihrer Vergangenheit abgeschlossen, sie hingegen wurde gerade wieder von ihm eingeholt.

Aber jetzt brauchte sie erst einmal eine erfrischende Dusche. Unten neben der Küche hatte jemand ein kleines Badezimmer eingebaut. Das war neu, früher hatten sich ihre Großeltern in einer alten Zinkwanne gewaschen, das Wasser dazu hatten sie auf dem holzangefeuerten Herd erwärmt. Glücklicherweise gab es nun anscheinend warmes Wasser aus dem Hahn.

Vicky kramte ihre Waschsachen aus ihrem Rucksack. Die wichtigsten Dinge, Duschbad, Zahnputzzeug und ein Handtuch, hatte sie immer im Handgepäck. Der Liebesroman fiel ihr entgegen. Sie nahm ihn in die Hand und schaute auf das Cover, wo der junge Mann seiner Angebeteten die Rose überreichte.

Die Szene erinnerte sie an die sinnliche Situation im Flugzeug, daher lief sie hinunter in die Küche, holte die Rose und stellte sie auf das kleine Nachtschränkchen neben ihrem Bett. Warum, wusste sie nicht genau.

Als Alejandros Flieger um kurz vor zwanzig Uhr landete, war die Sonne gerade untergegangen. Am Himmel glühte noch ein flammendroter Streifen, ansonsten zeigten sich bereits die ersten Sterne.

Es war schön, wieder zu Hause zu sein. Diese Gegend hier vereinte alles, was Spanien ausmachte: die heiße Sonne, eine wunderbare Landschaft, die prächtigsten Pferde, die der Erdball überhaupt zu bieten hatte, den exotischen Baustil der Gebäude und natürlich den leidenschaftlichen Flamenco.

Das Auschecken war schnell erledigt und so saß er schon knapp eine halbe Stunde später in seinem Sportwagen, den er am Flughafen geparkt hatte. Selbstverständlich hätte er sich auch von einem der Bediensteten abholen lassen können, aber selbst zu fahren, hatte seinen Reiz, zumal nach dieser langen Zeit im Flieger. Außerdem liebte er es, das Steuer in der Hand zu halten – das galt für alle Lebensbereiche.

Nachdem er Málaga hinter sich gelassen hatte, trat er aufs Gas. Auf diese Weise dauerte es nicht lange, bis der Familienlandsitz am Horizont auftauchte. Es handelte sich um ein ansehnliches Anwesen, in dessen Mitte ein herrschaftliches Gebäude in maurischem Stil stand. Alejandros Vorfahren hatten sich bei seiner Errichtung an der Bauweise der Araber orientiert, die für mehrere Jahrhunderte in Al Andalus geherrscht hatten.

Überall am Haupthaus gab es die charakteristischen Rundbögen mit den kleinen Spitzen, außerdem Türmchen und steinerne Trennwände, die von filigranen geometrischen Mustern durchbrochen wurden. Die Fußböden und die Säulen im Gebäude waren mit Mosaiken in leuchtendem Blau, Türkis und Gold gefliest.

In der Mitte befand sich ein Atrium, ein Innenhof, in dem Kübel mit Zitronen-, Orangen- und Avocadobäumchen standen. Ergänzt wurde das Ensemble von blühenden Feigenkakteen, einer großen Bougainvillea, Hibiskus und einigen Rosenstöcken, die seine Mutter mit Hingabe pflegte. Es war eine Orgie an Farben und Gerüchen. Den Mittelpunkt bildete gemäß der orientalischen Vorstellung vom Paradies ein kleiner plätschernder Springbrunnen.

In der Eingangshalle begegnete Alejandro seinem Vater. Fernando Martinez schien schon auf ihn gewartet zu haben.

„Wie lief es in Kalifornien?“, fragte er.

„Sehr gut.“ Alejandro folgte seinem Vater auf dessen Wink in ein kleines Seitenzimmer, das während gesellschaftlicher Anlässe im Festsaal für Gespräche genutzt wurde, die nicht für aller Ohren bestimmt waren. In dem Zimmer stand auf einem Sideboard eine auserlesene Auswahl alkoholischer Getränke.

Fernando hob eine Flasche und sah ihn fragend an. „Whisky?“

„Gern“, erwiderte Alejandro. Einen Drink konnte er nach dieser Reise gut brauchen.

Fernando goss erst ihm, dann sich selbst ein und setzte sich.

„Dann erzähl mal. Wie war es auf der Messe? Sind die Kalifornier wirklich so viel besser?“

Alejandro nahm den ersten Schluck und ließ sich Zeit mit der Antwort. Kalifornien war Spaniens größter Konkurrent im Mandelanbau, von ihm wurden die Preise auf dem Weltmarkt bestimmt. In den Augen seines Vaters war es ein ungleicher Wettbewerb.

„Sie sind nicht schlecht. Ich habe mich umgesehen. Sie haben riesige Felder, die sie mit Maschinen bewirtschaften können, wodurch sie natürlich effektiver sind. Aber ihnen fehlt … wie soll ich sagen … das Feuer, die Leidenschaft. Das Herz, verstehst du? El corazón! Ich habe ein paar neue Baumsorten mitgebracht, damit wir nicht ins Hintertreffen geraten, aber ich denke, wir sollten uns in Zukunft mehr auf unsere alten Sorten konzentrieren.“

Sein Vater nickte bedächtig. „Das dachte ich mir. Und langsam begreifen es hoffentlich auch die Leute.“

Alejandro nickte ebenfalls. „Ich habe zusätzlich noch ein paar Container Wildmandeln eingekauft, vor allem aus Turkmenistan und der Levante, für unsere Öle. Aber die Hauptsache: Ich habe einen großen Abnehmer für unsere Mandelseife gewinnen können. Eine Schweizer Hotelkette.“

„Gut gemacht, Junge. Und was die alten Sorten betrifft, weißt du, wer endlich gestorben ist? Die alte Rosalie Gimenez. Verstehst du, was das heißt? Jetzt werde ich mir ihr Grundstück einverleiben können, und zwar ganz legal!“

„Gimenez?“ Alejandro überlegte. Stimmt, da gab es dieses Gehöft, etwa zwanzig Kilometer entfernt, dessen Existenz seinem Vater in den letzten Jahrzehnten mehrfach die Galle hatte überlaufen lassen. Es ragte in eins ihrer Mandelfelder hinein, aber das war nicht der Grund. Die alte Frau, der es gehörte, hatte sich mit einer an Sturheit grenzenden Vehemenz geweigert, den Boden zu verkaufen, sogar als Fernando ihr den dreifachen Grundstückspreis geboten hatte.

Natürlich ging es Fernando Martinez dabei nicht um die paar hundert Quadratmeter, sondern um die alten Mandelbäume, die darauf standen. Die waren Gold wert.

„Rosalie Gimenez? Vom Mandelhof?“

„Genau die. Jetzt werde ich mir das Grundstück sichern. Mein Anwalt hat das entsprechende Kaufangebot schon aufgesetzt.“

„Wer ist denn der Erbe?“

„Keine Ahnung.“ Sein Vater zuckte mit den Schultern und verzog geringschätzig den Mund. „Was ich weiß, ist nur, dass die alte Frau dort allein lebte, nachdem ihr Mann und ihr Sohn damals den Unfall hatten. Es dürfte wohl nicht allzu schwer sein, herauszubekommen, an wen der Hof jetzt gegangen ist. Und dem mache ich ein Angebot, das er nicht wird ablehnen können.“ Fernando rieb sich zufrieden die Hände. Endlich würden die wertvollen alten Bäume ihm gehören.

Alejandro nickte. „Gut. Dann lasse ich dir die Kaufverträge und Geschäftsberichte gleich hier. Was mich betrifft, ich ziehe mich erst mal zurück. Der Tag war anstrengend.“

Er stand auf und wandte sich zum Gehen. Allerdings war er, wie er in diesem Moment verblüfft feststellte, eigentlich noch ziemlich munter. Sein Herz schlug kräftig, als würde es unablässig Adrenalin durch seine Adern pumpen, und er fühlte sich so wach und kraftvoll, dass er Bäume hätte ausreißen können. Nach Ruhe war ihm jetzt am allerwenigsten zumute. Vielleicht sollte er zurück in die Stadt fahren? In einer Bar würde er keine zehn Minuten allein am Tresen sitzen. Oder er rief gleich Sylvie an, eine seiner letzten Bekanntschaften, die bisher noch nicht allzu sehr an ihm klammerte.

Aber schon während er das dachte, flimmerte ein malvenfarbenes Kleid in seiner Erinnerung vorbei, und zum ersten Mal kam Alejandro der Gedanke, dass es vielleicht doch nicht ganz egal war, mit welcher Frau man das Bett teilte. Selbst wenn man sie nicht gleich zu heiraten gedachte.

Er durchquerte den kleinen Paradiesgarten im Atrium, um in sein Zimmer zu gelangen, und brach sich unterwegs von einem der Rosenstöcke eine tiefrote, samtene, wunderbar duftende Blüte ab.

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen erwachte Vicky in dem alten knarzenden Bett und brauchte einige Augenblicke, bis sie wieder wusste, wo sie sich befand. Es war noch früh, das erste Tageslicht stahl sich schwach durch die Gardinen. Sie hatte das Fenster in der Nacht offen gelassen, daher herrschte im Zimmer wunderbar frische Kühle, allerdings war die Luft etwas feucht und machte das Bettzeug klamm.

Vicky hob den Kopf vom Kissen. Ein paar Vögel zwitscherten zaghaft, ansonsten war alles still. Sie lauschte einige Augenblicke, dann dehnte und streckte sie sich ausgiebig. Dabei geriet die Rose auf dem Nachttisch in ihr Blickfeld. Die samtige Blüte, nach wie vor frisch, kam ihr jetzt vor wie ein Relikt aus einem anderen Leben. Kalifornien und Celias Hochzeit waren weit weg.

Die Rose allerdings erinnerte sie noch an eine andere Begegnung; eine, die sie am liebsten schnell wieder vergessen hätte. Denn was machten die dazugehörigen Bilder in ihrem Kopf jetzt noch für einen Sinn? Menschen trafen sich, manchmal für Monate, Wochen oder Jahre, zuweilen aber auch nur für Stunden.

Gestern im Flieger hatte sie die verrückte Erfahrung gemacht, dass die Dauer einer Begegnung nichts mit ihrer Qualität zu tun hatte. Anscheinend war nicht mal die Menge der Worte, die dabei gewechselt wurden, von Belang – wie hätte es sonst sein können, dass sich Alejandros Bild hartnäckig immer wieder vor ihr inneres Auge schob, obwohl sie alles tat, um die Erinnerung an ihn zu verscheuchen?

Jetzt allerdings gab es erst mal wichtigere Dinge zu tun, die Beerdigung ihrer abuela würde in wenigen Stunden stattfinden. Anschließend hatte sie einen Termin bei einem Notar.

Gestern beim Abendessen hatte sie von Marta und Gustavo erfahren, dass sich das Ehepaar um alles gekümmert hatte, was mit der Bestattung zusammenhing. Dem Himmel sei Dank! Nun konnte sie sich einfach zu Gustavo ins Auto setzen und sich zur Kapelle im Dorf mitnehmen lassen, in der der Gottesdienst stattfinden sollte.

Mit dem Testament war es jedoch eine andere Sache. Auch darüber hatten sie gestern ausgiebig gesprochen. Vickys Großmutter hatte ihr tatsächlich den gesamten Mandelgarten überlassen, einschließlich aller Gebäude, die darauf standen – das Hauptgebäude, Gustavos und Martas kleines Haus, den alten Hofladen, der allerdings schon länger nicht mehr in Gebrauch war. Das alles gehörte jetzt ihr. Und offensichtlich war es eine Menge wert.

Schon am Todestag der Großmutter, so hatten Marta und Gustavo erzählt, hatte ein Schreiben im Briefkasten gelegen, in dem darum gebeten wurde, dass sich der Erbe des Mandelgartens unverzüglich mit einem bestimmten Notar in Verbindung setzte. Gustavo hatte bereits da angerufen und erfahren, dass in der entsprechenden Kanzlei ein Kaufangebot für den Hof vorlag. Vickys Einverständnis vorausgesetzt, wollte er gleich nach der Beerdigung mit ihr dort vorbeifahren, um das Gebot einzusehen.

Der gute alte Gustavo! Bestimmt war die Situation für ihn nicht leicht, trotzdem legte er ihr keine Steine in den Weg, sondern war ihr sogar noch behilflich, wenn es um den Verkauf des Mandelgartens ging. Vickys Großmutter Rosalie hatte ihm und Marta damals das kleine Haus fast mietfrei überlassen. Dafür hatte sich Gustavo um die alten Mandelbäume gekümmert und die Gebäude instandgehalten. Marta hatte bei der Ernte und im Hofladen mitgeholfen.

Was würde jetzt mit den beiden passieren, wenn der neue Käufer den Hof nur in vollständig geräumtem Zustand übernehmen wollte? Wo sollten sie in ihrem Alter noch hin? Als Wanderarbeiter war Gustavo früher in ganz Spanien unterwegs gewesen, aber seit er Marta vor Jahrzehnten auf den Mandelhof nachgeholt hatte, hatten sie in Spanien keinen anderen Wohnsitz.

Die Beerdigung verlief feierlich. Vicky bekam Gänsehaut, als die Leute in der Kirche zu singen begannen. Von der Rede des Priesters verstand sie nicht viel, aber doch mehr, als man nach so vielen Jahren Abwesenheit hätte vermuten können. Offenbar erinnerte sich ihr Unterbewusstsein gut an die zweite Sprache ihrer Kindheit.

Was Vicky außerdem erstaunte, war die Menge der Menschen, die sich in der kleinen Kirche zusammengefunden hatten. Die Männer trugen allesamt ihre besten Anzüge, die Frauen lange Kleider und Kopftücher aus schwarzer Spitze. Offensichtlich war ihre Großmutter im Dorf beliebt gewesen.

Beim Gang über den Friedhof zur letzten Ruhestätte formte sich eine Prozession, die gar nicht enden wollte. Zahllose Menschen aus dem Ort und sicherlich auch aus den Nachbardörfern folgten dem Sarg und schüttelten ihr sowie Marta und Gustavo anschließend am Grab die Hand.

Danach verabschiedete sich Marta von ihr und Gustavo. Sie hatte nicht die Nerven, sich jetzt mit einem Notar über ihre Zukunft auseinanderzusetzen, was Vicky gut verstehen konnte. Daher brachten sie die alte Spanierin zu Freunden im Dorf und machten sich dann zu zweit auf den Weg zum Notar.

Dessen Büro befand sich in Málaga. Den ganzen Weg in die Stadt sprach Gustavo nicht viel, aber Vicky hatte das Gefühl, seine Gedanken lesen zu können. Er machte sich Sorgen um seinen und Martas Lebensabend. Bis jetzt hatten weder er noch Marta nachgefragt, wie sie den Verkauf des Mandelgartens handhaben wollte, obwohl ihnen die Frage sicher ständig auf der Zunge brannte.

Das Anwaltsbüro befand sich in einem vornehmen Gebäude im angesehensten Teil der Stadt. Derjenige, der den Notar beauftragt hatte, musste über viel Geld verfügen. Über sehr viel Geld! Vicky bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Gustavos krummer Rücken sich straffte, als sie die Treppe zum Büro hinaufstiegen, aber er sagte auch weiterhin nichts, was sie in irgendeiner Weise beeinflusst hätte.

An der Tür des Notariats wurden sie von einer Dame empfangen, die sie sofort in das Büro ihres Chefs weiterleitete. Der stand schon im Türrahmen und schüttelte ihr und Gustavo die Hand. Vicky fühlte, wie dabei sein aufmerksamer Blick über sie glitt. Sicherlich versuchte er in Sekundenschnelle einzuschätzen, mit wem er es hier zu tun hatte.

Sie merkte, wie die alte Unsicherheit sie ergriff. Wieder befand sie sich in einer Situation, von der sie nicht wusste, wie man sich am besten verhielt. Es war das Gleiche wie gestern in der Businessclass. Heute allerdings gelang es ihr besser, ihre Unsicherheit zu verbergen. Sie lehnte den Kaffee und den ebenfalls offerierten Whisky ab, genau wie Gustavo, und verlangte stattdessen selbstbewusst ein Glas Wasser. In den nächsten Minuten musste sie unbedingt einen klaren Kopf bewahren.

„Mit wem habe ich die Ehre des Verhandelns?“, fragte der Notar, nachdem er Platz genommen hatte.

Vicky hob leicht die Hand, und der Mann grinste zufrieden. Wahrscheinlich hatte er darauf gehofft, dass sie seine eigentliche Ansprechpartnerin sein würde und nicht der alte erfahrene Spanier an ihrer Seite. Mit einer jungen Frau, noch dazu einer Ausländerin, glaubte er, leichter fertigwerden zu können.

„Wäre es in dem Fall nicht angebracht, dass wir uns erst einmal allein über die Höhe des Angebots verständigen?“, fragte er tatsächlich.

Vicky, die sein Spanisch nicht gut genug verstand, bat ihn, langsamer zu sprechen, aber stattdessen wiederholte er seine Frage in tadellosem Englisch. Der Mann war gewitzt. Sicher lag sein Honorar deutlich über dem eines durchschnittlichen Notars, und das nicht nur wegen seiner Mehrsprachigkeit. Ganz offensichtlich versuchte er, sie zu überreden, ohne Gustavos Beistand zu verhandeln und ihre Position dadurch noch weiter zu schwächen.

„Ich möchte Señor Gonzales gern miteinbeziehen“, lehnte sie den Wunsch rundheraus ab und legte eine Hand auf die von Gustavo. Gustavos Hand war rau und rissig von der vielen Arbeit, die er in seinem Leben schon geleistet hatte.

Vicky spürte mit einem Mal großes Mitgefühl für den alten Mann, der sich immer noch nicht einmischte, obwohl hier über seine Zukunft verhandelt wurde. Über ihre eigene zwar auch, aber die konnte ja – egal, wie viel Geld sie für den Mandelgarten bekommen würde – nur besser werden. Für Gustavo und Marta hingegen stand alles auf dem Spiel. Vicky räusperte sich vernehmlich.

„Und außerdem“, fügte sie hinzu, „möchte ich, dass Sie Ihre und meine Aussagen jeweils auch ins Spanische übersetzen, damit Herr Gonzales immer genau versteht, wovon die Rede ist.“

Der Notar nickte – leicht säuerlich, wie sie meinte – und ließ sich das Testament zeigen, um zu prüfen, ob sie wirklich die Alleinerbin des Mandelhofes war. Nachdem Vicky und Gustavo sich dann noch einmal ausgewiesen hatten, legte er einen Umschlag auf den Tisch, öffnete ihn und begann das darin befindliche Schriftstück vorzulesen.

Vicky sah, wie Gustavo neben ihr blass wurde. Was war los? Als der Notar den Text anschließend auf Englisch wiederholte, wurde ihr klar, was Gustavo das Blut aus dem Gesicht getrieben hatte. Dieses Angebot konnte sie nicht ausschlagen! Mit einem Rutsch würde sie sämtliche finanziellen Sorgen los sein, und nicht nur das. Damit konnte sie sogar ihre Mutter aus der dumpfen Wohnung holen, in der die seit dem Umzug von London nach Warwick immer noch lebte. Sie selbst wohnte zwar, seit sie arbeitete, nicht mehr dort, ihre eigene Bleibe war jedoch ebenfalls klein und im Winter meist etwas klamm. Da sie aber viel mit ihren Freundinnen unterwegs war und den größten Teil ihrer Arbeitszeit an der frischen Luft verbrachte, war das bisher kein Problem für sie gewesen.

Trotzdem. Mit der angebotenen Summe würde sie sich ihr Leben um einiges komfortabler gestalten können.

Vicky räusperte sich mehrmals, bevor sie zum Sprechen ansetzte: „Das Angebot ist bedenkenswert“, sagte sie langsam und hoffte, dass der Notar und Gustavo nicht bemerkten, wie heftig ihr das Blut durch die Adern pulste. „Allerdings gäbe es da noch eine Sache. Eins der Häuser, das kleinere, ist bewohnt.“

„Das muss natürlich geräumt werden“, erklärte der Notar emotionslos. „Aber das dürfte ja für Sie kein Problem sein. Kündigen Sie den alten Mietern einfach. Sie können dabei gern die Hilfe unserer Kanzlei in Anspruch nehmen, falls es Schwierigkeiten geben sollte.“

Vicky schluckte und fühlte, wie ihre Vision vom neuen Zuhause für ihre Mutter zusammenbrach.

„Dann muss ich das Angebot leider ablehnen“, erklärte sie mit krächziger Stimme.

Der Notar sah sie an. „Für diesen Fall“, sagte er, schrieb eine Zahl auf einen Zettel und schob ihn ihr hin, „habe ich die Erlaubnis, das Angebot noch um einen gewissen Betrag zu erhöhen.“

Vicky warf einen Blick auf den Zettel und spürte, wie ihr Herz beinahe aussetzte. Gustavo neben ihr setzte sich kerzengerade auf. Auch ihm schien es für einen Moment den Atem zu verschlagen. Die Zahl war unglaublich.

Dann aber fühlte Vicky, wie Zorn in ihr aufwallte. Hier ging offenbar jemand davon aus, dass sie als Erbin des Mandelgartens käuflich war. Es musste jemand sein, der Geld in Hülle und Fülle besaß und der deshalb glaubte, dass man einen Preis nur hoch genug ansetzen musste, um jeden Menschen dazu zu verleiten, Ehre und Ideale zu verraten.

Aber nicht mit ihr! Herausfordernd verschränkte sie die Arme über der Brust. Wer immer es war, der ihr hier so viel Geld anbot, jetzt würde er sich erst recht eine Absage einhandeln. Es sei denn, er bot Gustavo und Marta Sicherheit für ihren gesamten Lebensabend, und zwar auf dem Mandelhof.

Das geschah aber nicht, und so musste Vicky schließlich auch das zweite Gebot ablehnen. Sie tat es schweren Herzens, doch ihr war klar, dass sie Marta und Gustavo sonst um ihr Zuhause gebracht hätte. Der Notar schien ihren Beweggrund nicht nachvollziehen zu können, kopfschüttelnd packte er den Kaufvertrag wieder ein und geleitete sie aus dem Büro.

Draußen vor dem herrschaftlichen Haus sah sie Gustavo an.

„Gustavo, ich verspreche dir hier in die Hand“, sagte sie mit bebender Stimme und kratzte dafür all ihre Spanischkenntnisse zusammen, „dass ich den Hof an niemanden verkaufen werde, der euch nicht zumindest ein lebenslanges Wohnrecht in eurem Haus einräumt.“

Während Gustavo sie mit Tränen der Erleichterung in den Augen ansah und sie in die Arme schloss, fühlte Vicky, wie ihr trotz allem ein Stich durchs Herz ging. Gewiss würden ihr durch diese noble Geste sehr gute Angebote entgehen. Und ob überhaupt noch einmal ein so lukratives wie dieses dabei sein würde, das sie eben ausgeschlagen hatte, war fraglich. Aber das konnte sie Marta und Gustavo einfach nicht antun.

Alejandro stand in der Box seines Lieblingspferdes. Es war – natürlich – ein Andalusier, rabenschwarz, mit stolzer Haltung und feurigem Temperament. El Capitano, der beste Zuchthengst in der Gegend, der ihn mit volltönendem Schnauben begrüßte.

Alejandro klopfte ihm den muskulösen Hals. Den ganzen Tag hatte er sich auf den Ausritt gefreut. Er sattelte den Hengst, legte ihm das typische andalusische Zaumzeug an und führte ihn aus dem Stall.

Normalerweise übernahmen Stallburschen diese Arbeiten, aber bei seinem besten Pferd machte er das, das war Ehrensache. Um seinen wertvollsten Besitz kümmerte man sich immer selbst, egal wie viel Geld man hatte. Alejandro hielt nichts von Menschen, die ihren Reichtum dadurch demonstrierten, dass sie andere Leute pausenlos hin und her scheuchten, nur weil sie dafür bezahlen konnten. Das zeugte von schlechtem Stil.

Kurz überlegte er, wohin er reiten sollte, dann schwang er sich gekonnt in den Sattel und lenkte den Hengst in Richtung Westen, der Abendsonne entgegen. Dorthin, wo das größte Mandelbaumfeld der Familie Martinez lag.

El Capitano schnaubte und streckte sich, als er die Zügel lockerte. Wie der Wind galoppierte er die Feldwege entlang, die Hufe wirbelten Staub auf. Nach dem langen Stehen im Stall genoss der Hengst, endlich wieder so schnell laufen zu dürfen, wie er wollte.

Genauso genoss Alejandro den Wind, der ihm bei diesem Tempo ins Gesicht blies. Den ganzen langen Tag hatte er sich im Büro um die Bücher gekümmert. Die kalifornischen Einkäufe mussten verbucht, Angebote und Kaufverträge für verschiedene Produkte erstellt und die Helfer für die Herbsternte organisiert werden. Weitsicht war alles, genau deshalb waren die Martinez’ die erfolgreichsten Mandelbauern in ganz Spanien. Sie waren ihren Mitbewerbern stets um eine Nasenlänge voraus.

Außerdem musste er den Kopf freikriegen. Immer noch spukte darin ein malvenfarbenes Kleid herum, das seiner Besitzerin so gut gestanden hatte, dass er gestern Abend lange keinen Schlaf gefunden hatte. Das Lächeln seiner schönen Sitznachbarin, ihre großen blauen Augen und ihr herausfordernd-trotziger Ton, als er es gewagt hatte, über das Cover ihres Romans eine spöttische Bemerkung zu machen, waren süß gewesen, doch irgendwie auch selbstbewusst.

In dieser jungen Frau steckte eine Kämpferin. Leider hatte er den Moment verpasst, sie nach ihrer Telefonnummer zu fragen. Einen kurzen Augenblick hatte er gestern Abend im Bett daran gedacht, die Fluglinie zu kontaktieren. Aber was hätte er denen sagen sollen? Die Herausgabe von Kundendaten zu fordern, dafür hatte er keinen wirklichen Grund. Außer dem vielleicht, dass ihm nach der Bekanntschaft mit der jungen Frau die Lust auf seine bisherigen Affären vergangen war. Zumindest hatte er gestern weder Sylvie noch irgendeine andere Frau sehen wollen. Aber das interessierte die Fluggesellschaft natürlich nicht. Es war zum Verzweifeln.

In der Ferne kam ein Flecken in Sicht, der in das große Mandelbaumfeld der Martinez’ hineinragte, das sich ansonsten bis zum Horizont zog. Das Viereck hätte störend wirken konnten, aber das tat es nicht, denn es handelte sich um ein besonders wertvolles Stück Land, den Mandelgarten der alten Rosalie Gimenez. Auf diesen paar Hektar standen die besten Mandelbäume, die es in der Gegend überhaupt gab.

Die alte Bäuerin hatte sich damals dem allgemeinen Trend, alte Bäume zu fällen und dafür die neuen EU-Sorten anzupflanzen, nicht gefügt, sondern stur ihre kleine Plantage weiterbewirtschaftet. Und die Zeit hatte ihr recht gegeben. Inzwischen hätte man mit den Mandelsorten von Rosalie Gimenez stolze Preise heraushandeln können. Stattdessen aber hatte die alte Frau weiterhin nur ihre Mandelseifen und -öle produziert und sie in ihrem Hofladen viel zu billig verkauft. Den Rest der Ernte hatte sie bei Festen sogar oft an die umliegenden Dörfer verschenkt.

Alejandro konnte – genau wie sein Vater – nicht verstehen, wie jemand einen so offensichtlichen Gewinn nicht vollständig ausschöpfte. Es war kein Wunder, dass sein Vater auf die alte Frau nicht gut zu sprechen war.

El Capitano stob dahin, seine Kräfte schienen nicht nachzulassen. Ja, das war ein echter Andalusier! Diese Pferde hatten Kraft, Ausdauer und Temperament, genau wie die Menschen hier. Und sie waren genauso stolz.

Einige Minuten später zügelte Alejandro sein Pferd trotzdem. Inzwischen war er ziemlich nahe an den Mandelgarten herangekommen.

Das Gehöft schien nach wie vor bewohnt zu sein. Er war schon lange nicht mehr hier gewesen. Der neue Besitzer musste etwas vom Mandelanbau verstehen, sonst hätte er das Angebot seines Vaters heute Morgen nicht ausgeschlagen. Anscheinend hatte er bei der Übernahme des Hofes sofort gesehen, welche Schätze dort herumstanden.

Alejandro musste zugeben, dass er beeindruckt war. Der Familie Martinez widersetzte man sich normalerweise nicht, schon gar nicht, wenn sie zusätzlich mit Geld winkte. Ansonsten konnte Fernando Martinez ziemlich ungemütlich werden. Die Bauern ringsumher wussten das, zumindest die, die sich geweigert hatten, die besten Teile ihrer Mandelhaine an die Martinez’ zu verkaufen.

Demnach kam der neue Besitzer des Mandelhofes nicht aus dieser Gegend, denn er kannte sich definitiv nicht mit den hiesigen sozialen Strukturen aus.

In dem Moment bemerkte Alejandro, dass auf dem Hof Bewegung entstand. Drei Personen kamen aus dem Haupthaus. Leider war er zu weit entfernt, um sie genau erkennen zu können. Dem Gang nach waren zwei davon ältere Leute. Das musste dieses Wanderarbeiterpaar sein, das schon seit Jahrzehnten auf dem Hof lebte und die alte Rosalie Gimenez immer unterstützt hatte.

Die dritte Person hingegen schien jung und – Alejandro kniff die Augen zusammen – eine Frau zu sein. Und die war nun die Besitzerin des Mandelhofes und hatte seinem Vater Paroli geboten? Unwillkürlich pfiff er durch die Zähne. Die Frau hatte was, ihr Gang war stolz. Entfernt erinnerte sie ihn an seine gestrige Flugzeugbekanntschaft, es fehlte nur noch, dass sie ebenfalls ein malvenfarbenes Kleid getragen hätte. Zum Glück hatte diese Frau hier nur Jeans und ein weißes T-Shirt an.

El Capitano warf den Kopf und stampfte mit den Hufen. Ihm schien es nicht zu gefallen, so lange auf einer Stelle verharren zu müssen. Alejandro verstand den Hengst. Es fühlte sich nicht gut an, wenn man sich einem fremden Willen unterordnen musste.

Während er den Rückweg einschlug, fragte er sich, ob er die Frau nicht doch zum Verkauf des Mandelhofes an die Martinez’ überzeugen konnte. Wenn sein Vater es mit Geld nicht schaffte, vielleicht schaffte er es mit … Charme?

4. KAPITEL

In den nächsten Tagen versuchte Vicky, sich mit dem Mandelgarten vertraut zu machen. Es würde nicht einfach werden, einen Käufer zu finden, der den Hof mit einer Bleibegarantie für Marta und Gustavo übernahm. Warum das alte Paar dem ersten Interessenten mit dem hohen Angebot ein Dorn im Auge war, hatte Gustavo ihr inzwischen erklärt. Jemand wollte sich wahrscheinlich an den alten Sorten des Mandelgartens schadlos halten und brauchte dafür freie Hand.

Dass die Bäume, die ihre Großmutter mit solcher Hingabe gehegt hatte, so wertvoll waren, hatte Vicky bisher nicht gewusst.

Zusammen mit Marta und Gustavo machte sie in den folgenden Tagen eine Bestandsaufnahme. Was war das Haus wert, was der Hofladen, was der Rest? Je länger sie hier war, desto mehr spürte sie, wie alte Erinnerungen zurückkamen. Hier hatte sie mit ihrem Opa zusammengesessen, wenn er ihr ein neues Spielzeug schnitzte, dort hatte die Großmutter ihre selbst gesammelten Kräuter getrocknet. Sogar an den alten Brunnen erinnerte sie sich wieder, der inzwischen durch eine Wasserleitung, die direkt ins Haus führte, ersetzt worden war.

Je mehr sie den Hof wiederentdeckte, umso stärker fühlte sie eine Verbindung zu ihrer Großmutter und zu ihrem Vater, der vor zwanzig Jahren hier in Spanien bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Mehr und mehr regte sich die spanische Seite in ihr, und es fiel ihr immer leichter, die Sprache zu sprechen. Mit jedem Tag wurde ihr aber auch der Gedanke unangenehmer, dass sie bald wieder nach Warwick zurückkehren und den Verkauf von dort aus regeln musste.

Musste der Mandelgarten denn überhaupt verkauft werden? Gab es nicht vielleicht jemanden, der ihn einfach nur pachten wollte?

Tatsächlich meldete sich ein Paar bei ihr, das den Hof gern gepachtet hätte, aber erneut zögerte Vicky – und verstand selbst nicht genau, wieso. Was war los mit ihr? Inzwischen hatte sie sich ihren Urlaub von ihrem Arbeitgeber in Warwick verlängern lassen. Bezahlt wurden ihr diese zusätzlichen Wochen natürlich nicht, und so verfiel sie auf die Idee, den Hofladen vorübergehend wieder zu öffnen. Vielleicht kam auf diese Weise etwas Geld in die Kasse und sie würde den Mandelgarten noch ein paar weitere Wochen oder gar Monate halten können, ohne überstürzt eine Entscheidung treffen zu müssen.

Marta, die natürlich von Vickys Versprechen wusste, fand die Idee gut und tat alles, um sie zu unterstützen.

Die rote Rose auf ihrem Nachttisch war inzwischen verblüht, und Vicky hatte sie schließlich schweren Herzens auf den Kompost geworfen. Dort würde sie jetzt zu Erde werden und konnte damit zumindest andere Rosen zum Blühen bringen.

Es war wie im wahren Leben, dachte sie wehmütig. Oft ernteten andere, was man säte. Den Brautstrauß jedenfalls, den sie auf Celias Hochzeit gefangen hatte, hatte am Ende auch jemand anderes bekommen, nämlich die junge Frau am Flughafenschalter. Hoffentlich hatte er wenigstens ihr Glück gebracht.

Marta und Gustavo bemerkten, dass sie immer stiller wurde, obwohl sich ihr Spanisch stetig verbesserte. Um sie ein bisschen aufzumuntern, schlugen sie vor, am Wochenende zum Mandelblütenfest zu gehen, das unten im Dorf stattfand.

„Aber nur, wenn ihr mitkommt“, meinte Vicky. Sie füllte gerade zusammen mit Marta die Regale im Hofladen auf, den sie in der nächsten Woche wieder öffnen wollten.

„Ach, Kind“, entgegnete Marta. „Was sollen denn wir alten Leute dort? Das ist ein Fest für die Jugend. Da wird sich getroffen, um die nächsten Hochzeiten anzubahnen!“ Sie lachte, während sie das nächste Regalbrett abwischte. „Gustavo und ich haben uns damals auf so einem Mandelblütenfest kennengelernt. Wer weiß, vielleicht ist morgen ja auch für dich der Richtige dabei.“

„Für mich?“, fragte Vicky. „Wie kommst du denn auf so was? Es könnte doch außerdem sein, dass ich schon längst in festen Händen bin“, fügte sie hinzu und sortierte die kleinen Fläschchen mit Mandellikör in das gesäuberte Regalfach ein.

„Na, das wüsste ich aber“, erwiderte Marta, die den nächsten Regalboden zu schrubben begann. „Hättest du denn dann einfach so deinen Urlaub verlängert, ohne dass dich hier zumindest mal jemand besuchen kommt? Du führst ja nicht mal stundenlange Telefonate mit irgendjemandem! Nein, meine Liebe, einer alten Frau wie mir machst du nichts vor. Da ist niemand.“

Vicky senkte den Kopf, und Marta erschrak.

„Oder ist in England was passiert? Hat es vielleicht mit dieser Rose zu tun?“, fragte sie vorsichtig.

„Mit welcher Rose?“

„Na, die du so lange auf deinem Nachttisch stehen lassen hast. Dabei hätte ich dir jeden Morgen eine frische bringen können. Aber irgendwie schien es mir, als würde dir diese Rose etwas bedeuten.“

„Nein, da ist nichts“, sagte Vicky schnell. „Ein bisschen Sentimentalität vielleicht. Nicht der Rede wert.“

Sie seufzte und gab sich einen Ruck. „Aber so ein Mandelblütenfest ist wahrscheinlich tatsächlich eine gute Idee, Marta. Kommt doch bitte mit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die alten Leute hier wirklich alle zu Hause sitzen, während die Jugend feiert.“

„Nein, da hast du recht“, erwiderte Marta vergnügt. „Gustavo und ich waren einfach nur der Meinung, du solltest endlich mal wieder was für dich allein machen. Du arbeitest die ganze Zeit hier, um uns zu helfen. Aber wenn du unbedingt willst, begleiten wir dich natürlich gern.“

Es schien, als wäre zum Mandelblütenfest die gesamte Bevölkerung der Gegend auf den Beinen. Die Frauen trugen allesamt bunte Kleider, Blüten im Haar und viel Schmuck, die Männer schwarze Hosen und weiße Hemden. Das ganze Dorf war mit Mandelblütenzweigen geschmückt, in jeder Tür hingen geflochtene Arrangements, hinter allen Fenstern standen Krüge mit großen Sträußen. Außerdem waren rund um den Dorfplatz Marktstände aufgebaut, in denen Händler die Waren der Region feilboten: Mandelseife, Mandelöl, Mandellikör, riesige Bleche mit Mandelkuchen, Mandelwein, Mandelsirup, Mandelessig.

Sogar Handwerkskunst konnte man kaufen: Töpferwaren, gewebte Tischtücher und Läufer, Kopftücher aus zartester Spitze, Körbe und Bürsten sowie Besen aus Mandelreisern.

Dazu spielte Musik. Typisch andalusische Klänge wehten über den Platz, kraftvoll, aber auch wehmütig. Die Menschen amüsierten sich, lachten, aßen Gebäck und Süßigkeiten, tranken Wein, tanzten und flirteten.

Alejandro spürte, wie sein Herz höher schlug. Das hier war seine Welt. Egal, wie oft und wie lange er auf Geschäftsreise war, immer war die Rückkehr überwältigend schön. Und Feste wie dieses liebte er besonders. Er hatte sich heute ebenfalls festlich gekleidet, schwarze Hose, schwarze Schuhe, dazu ein blütenweißes Hemd, wie es die Männer zu solchen Gelegenheiten gern trugen. Diese Kleidung hatte Stil und Eleganz, war aber ganz ohne Farben, denn die waren den Frauen an ihrer Seite vorbehalten, deren Schönheit und Glanz dadurch noch mehr strahlen sollten.

Das war eigentlich klug gedacht, nur dass er heute Abend keine Frau an seiner Seite hatte. Irgendwie war ihm nicht danach gewesen, eine seiner Bekanntschaften einzuladen – nicht einmal Sylvie, die ihn wahrscheinlich liebend gern begleitet hätte. Aber er hatte einfach keine Lust auf ihre Gesellschaft, er wusste selbst nicht genau, warum. Zudem hatte sich in den letzten Tagen leise Melancholie auf sein Gemüt gelegt.

Allerdings war das nichts, was eine neue Bekanntschaft nicht hätte ändern können. Eventuell begegnete er heute ja der Erbin des Mandelhofes. Vielleicht schaffte er es sogar, sie mit seinem Charme so einwickeln, dass sie den Hof doch noch verkaufte. Und zwar an ihn.

Leider hatte er keine Ahnung, wie die Frau aussah, denn ihr Gesicht hatte er neulich nicht erkennen können. Andererseits hatte er oft genug die Erfahrung gemacht, dass sich die Dinge irgendwie fügten. Das Glück spielte ihm häufig in die Hände. Außerdem war er ein Sonntagskind. Also würden sie sich schon irgendwann über den Weg laufen. Falls nicht heute, dann in den nächsten Tagen. Es hatte keine Eile.

Er kaufte ein Glas Wein, lehnte sich an die Wand eines Hauses und trank einen Schluck. Den kühlenden Stein im Rücken betrachtete er die vorbeiflanierenden Menschen. Besonders aufmerksam musterte er die jungen Paare oder besser gesagt, die Frauen. Generell schaute er Frauen gern hinterher, das entsprach seinem Naturell. Alle hatten sie sich heute in ihre schönsten Kleider geworfen, die in allen Farben leuchteten, flammendes Rot, Sonnengelb, maifrisches Grün, Malve, Himmelblau.

Moment, Malve? Vor Überraschung riss Alejandro die Augen auf. Einen Augenblick lang fragte er sich sogar, ob er nicht träumte. Er blinzelte kurz und schaute dann erneut hin, aber es war kein Zweifel möglich. Etwa drei Meter entfernt schlenderte die junge Frau aus dem Flugzeug an ihm vorbei.

Alejandro brauchte einige Sekunden, um sich von der Überraschung zu erholen, dann stellte er das Glas auf den Boden, stieß sich von der Hauswand ab und ging langsam hinter ihr her. Sie war nicht allein, zwei ältere Leute begleiteten sie, von denen er aber nicht wusste, wer sie waren, da er ihre Gesichter von hinten nicht sehen konnte.

Was machte sie hier? Auch wenn er eben noch über sein Glück nachgedacht hatte, dieser Zufall schien ihm eindeutig zu groß zu sein. Vorsichtig folgte er ihr, sorgsam darauf bedacht, dass sie ihn nicht bemerkte. Ihre Hüften schwangen aufreizend vor seinen Augen, ihr Rock, der kurz unterhalb der Knie endete, gab den Blick auf atemberaubende Beine frei, und von ihrem Dekolleté hatte er sich ja neulich im Flieger schon ein Bild machen können.

Das brünette Haar hatte sie hochgesteckt, dadurch sah man ihre wunderbar schlanke Halslinie. Feine Härchen schimmerten im goldenen Licht der Sonne in ihrem Nacken. Sie lösten das Bedürfnis bei ihm aus, mit den Fingerspitzen ganz leicht über den zarten Flaum zu streichen.

Alejandro fühlte, wie ihm unvermittelt heiß wurde. Er beschleunigte seinen Schritt.

Irgendwie hatte Vicky plötzlich das Gefühl, verfolgt zu werden. Obwohl Marta und Gustavo völlig normal neben ihr gingen, stellten sich ihre Nackenhaare auf. Das Gefühl war aber nicht unangenehm, im Gegenteil. Es war eher wie ein feiner elektrischer Strom, der langsam ihren Rücken hinunterkroch und dabei ein Prickeln auf der Haut zurückließ. Etwa so, als streichele die Hand eines Liebhabers ganz zart ihre Wirbelsäule hinab.

Die Empfindung war so stark, dass Vicky für einen Moment die Augen schloss. Als die Intensität nicht nachlassen wollte, öffnete sie die Augen wieder, drehte sich um – und fuhr zusammen. Hinter ihr stand der Mann aus dem Flugzeug! Alejandro.

Vor Überraschung bekam sie keinen Laut heraus. Auch Marta und Gustavo hatten abrupt gestoppt und sich umgewandt. Vicky sah, wie sich auf Gustavos Stirn eine steile Falte bildete, aber er sagte nichts.

Verwirrt versuchte sie, ihren Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen. Himmel, wie gut Alejandro wieder aussah! Das weiße Hemd stand ihm ausgezeichnet, es passte hervorragend zu seiner braunen Haut, den schwarzen Haaren und zu … Herrgott, diese Augen!

Was machte er hier? Er war doch in Zürich durch den Zoll gegangen. Daher hatte sie geglaubt, dass er in der Schweiz zu Hause sei.

Was sollte sie jetzt überhaupt sagen? Die Situation überforderte sie gerade. Zum Glück enthob er sie aller weiteren Überlegungen.

„Und, wie ist es ausgegangen?“, fragte er und sah sie mit einem Funkeln in den Augen an.

„Was?“, fragte Vicky irritiert. „Was ist wie ausgegangen?“

„Die Liebesgeschichte in Ihrem Buch. Haben sich die beiden noch gekriegt?“

Vicky zuckte unbestimmt mit den Schultern. „Das Thema hatten wir doch schon. In Büchern kriegen sie sich immer.“

Alejandro lachte. Dann erst schien er Gustavo und Marta wahrzunehmen und deutete ihnen gegenüber eine Verbeugung an. Gustavo erwiderte sie mit einem kurzen Nicken, während Marta die Augen niederschlug. Vicky hatte den Eindruck, dass den beiden die Begegnung unangenehm war, aber das konnte auch Einbildung sein.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich Sie noch einmal wiedersehe“, fuhr Alejandro fort.

„Tja, so kann man sich täuschen“, sagte sie mit kratzender Stimme.

Ein erstaunter Ausdruck legte sich auf Alejandros Gesicht. Vermutlich hatte er mit einer freundlicheren Antwort gerechnet. So schroff hatte sie eigentlich auch gar nicht reagieren wollen. Wahrscheinlich hatte es damit zu tun, dass er so verdammt lässig vor ihr stand und dabei aussah, als mache ihm die ganze Situation gar nichts aus, wohingegen sie vor Verlegenheit kaum einen vernünftigen Satz denken konnte.

Überhaupt schien er ziemlich von seiner Wirkung überzeugt, so unverschämt, wie er seinen Blick jetzt über ihre Figur gleiten ließ. Verdammt, was nahm er sich heraus? Wollte er, dass sie rot wurde?

Vicky sah aus dem Augenwinkel, wie Gustavo und Marta sich bedeutungsvoll anschauten. Wahrscheinlich stimmte sich das alte Paar wortlos darüber ab, ob es sich zurückziehen oder lieber bleiben sollte. Aber offensichtlich waren sich die beiden nicht einig.

Das eigentlich Verrückte war allerdings, dass Vicky selbst nicht genau wusste, was sie wollte. Alejandros Blick machte sie verlegen, doch gleichzeitig fühlte er sich gut an. Er schmeichelte ihr, schließlich war ihr bewusst, wie sie in diesem Kleid aussah. Sie hatte beim Einkauf lange genug vor dem Spiegel gestanden.

Einen kurzen Augenblick hatte sie überlegt, ob das Brautjungfernkleid für das Dorffest nicht zu elegant war, aber dann hatte sie sich doch dafür entschieden. Zu Recht, wie sich jetzt herausstellte, denn erstens schien es Alejandro zu gefallen, und zweitens trugen die Frauen heute samt und sonders ihre allerbesten Kleider.

Und was Marta und Gustavo betraf, sie hatte die beiden zwar extra gebeten, sie auf das Mandelblütenfest zu begleiten, aber im Moment wäre sie doch lieber allein mit Alejandro … Sie schluckte.

„Ihr Kleid gefällt mir gut“, sagte er nun, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Das hat es übrigens auch neulich im Flugzeug schon.“

Gustavo zog Marta zur Seite. „Wir werden uns mal kurz ein Glas Wein holen“, erklärte er dabei und sah sie mit einem seltsam durchdringenden Blick an. „Dort hinten sind unsere Freunde, die müssen wir noch begrüßen. Aber natürlich nehmen wir dich nachher wieder im Auto mit.“

Vicky überlegte einen Moment und schüttelte dann den Kopf.

„Nein, danke, Gustavo. Das ist lieb, doch ihr braucht euch nicht um mich zu kümmern. Das kurze Stück kann ich später zu Fuß gehen.“

„Na, so kurz ist es auch wieder nicht“, sagte Gustavo und runzelte die Stirn.

„Ich schaffe das schon“, erklärte Vicky mit belegter Stimme.

„Aber du hast für alle Fälle dein Handy bei dir?“, vergewisserte Gustavo sich. Offenbar war ihm nicht wohl dabei, sie mit Alejandro allein zu lassen. „Du kannst uns ja später noch anrufen.“

„Ich denke, ich komme klar, Gustavo. Danke für das Angebot.“

Das war jetzt wirklich schräg. Hatte sie eben tatsächlich Gustavo und Marta weggeschickt, um mit Alejandro allein sein zu können? Wobei von Alleinsein keine Rede sein konnte. Von allen Seiten schoben sich Menschen an ihnen vorbei.

Was, um alles in der Welt, war plötzlich in sie gefahren? Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, ihr Puls flog, und ihr Atem ging auf eine Weise schneller, dass es ihrem Dekolleté deutlich anzusehen war. Jedenfalls verweilte Alejandros interessierter Blick einige Augenblicke länger darauf, als es angebracht gewesen wäre.

Und als wäre das alles nicht genug, fiel ihr jetzt auch noch die Szene im Flugzeug ein, als sie sich für einen Moment vorgestellt hatte, dass er mit der Rose vor ihr niederkniete. In der Realität stand er allerdings auf beiden Füßen vor ihr und hatte weiterhin diesen spöttischen Zug um den Mund. Dazu kam das Funkeln in seinen Augen. Er legte es offensichtlich darauf an, sie nervös zu machen.

Entschlossen straffte Vicky die Schultern.

„Was mein Kleid betrifft, so gehöre ich nicht zu den Frauen, die sich für jeden Anlass ein neues zulegen müssen“, erklärte sie kratzbürstig. „Es gibt nämlich eine Erfindung namens Waschpulver, die es einem erlaubt, Sachen, die man mag, mehrmals zu tragen.“

„Ach tatsächlich? Wie praktisch! Das trifft sich gut, ich mag das Kleid nämlich auch. Es bringt Ihre Figur sehr vorteilhaft zur Geltung. Vor allem an den richtigen Stellen.“

Wie bitte? Das war doch nicht zu fassen! Bevor Vicky sich eine passende Antwort überlegen konnte, wechselte Alejandros Gesichtsausdruck. Der Spott verschwand und machte ehrlicher Bewunderung Platz. Ihm gefiel wirklich, was er sah. Das versöhnte sie mit seiner flapsigen Bemerkung, obwohl die Anspielung auf ihre Reize schon sehr direkt gewesen war.

Andererseits … Hatte sie beim Anblick seiner breiten Schultern, dem glänzenden schwarzen Haar und der dunklen Augen über Alejandros innere Werte nachgedacht? Na bitte! Als ihr das klar wurde, musste sie lachen.

„Hab ich gerade was Richtiges gesagt?“, erkundigte er sich.

„Vielleicht“, gab Vicky zu.

„Dann sollten wir darauf mit einem Wein anstoßen. Ich weiß zufällig, welcher Stand hier den besten hat.“

Vicky nickte, und so führte er sie zu einer Bude, wo er sich zwei Gläser Wein einschenken ließ und eins davon an sie weiterreichte.

„Salud!“, sagte er, ließ sein Glas gegen ihres klingen und sah ihr tief in die Augen.

Vicky nahm einen Schluck. Alejandro hatte recht, der Wein schmeckte fantastisch.

„Na?“, erkundigte er sich.

„Maravilloso“, erwiderte sie und seufzte. „Er ist wirklich wunderbar.“

Sie fühlte, wie ihr Herz schneller klopfte. Alejandro sah verdammt gut aus. Unter dem Stoff seines weißen Hemds zeichneten sich starke Brust- und Armmuskeln ab, zudem war es auf Taille geschnitten und betonte dadurch seine athletische Figur. Wie es wohl wäre, die Arme um diese Schultern zu legen?

Verdammt, konnte sie denn an nichts anderes mehr denken?

5. KAPITEL

Alejandro musste zugeben, dass sein Plan, heute auf dem Mandelfest nach der Erbin des Mandelgartens zu suchen, gescheitert war. Es war schon ein verrückter Zufall, dass ihm ausgerechnet die junge Engländerin aus dem Flugzeug wieder über den Weg gelaufen war. Aber im Moment verdrängte dieser Umstand alle anderen Pläne.

Sie hieß Victoria, Vicky, so viel wusste er noch, denn der Name war ihm in den letzten Tagen ein paarmal unverhofft in den Kopf gekommen. Auch das war etwas, worüber er sich wunderte. Normalerweise hinterließen Frauen bei ihm nicht so schnell einen nachhaltigen Eindruck.

Dazu war sie wirklich hübsch. Sogar noch schöner als in seiner Erinnerung. Das malvenfarbene Kleid stand ihr ausgezeichnet. Jetzt hatte er auch Gelegenheit, sie genauer anzuschauen, ohne dass es allzu auffällig war. Ihre Haare hatten einen Farbton, der irgendwie an brünett erinnerte, doch jedes Mal blitzten feine goldene Reflexe auf, sobald sie den Kopf wandte. Und dann diese Augen! Groß, blau und glänzend, als wären zwei Sterne hineingefallen.

Am reizvollsten aber war ihr Mund. Mit den vollen Lippen wirkte er einladend und verführerisch. So sehr, dass Alejandro erst einmal einen tiefen Atemzug nehmen musste, um sich nicht anmerken zu lassen, dass ihm unvermittelt ein heftiges Feuer in die Lenden geschossen war.

Schon neulich im Flugzeug hatte sie ihn nachhaltig am Arbeiten gehindert, allerdings ohne es zu merken. Und jetzt hatte er Mühe, sich in ihrer Gegenwart zusammenzureißen. Zu gern hätte er ihr zumindest eine Hand auf die Taille gelegt oder um ihre Schultern, deren Haut schimmerte, wie sie es nur bei jungen Frauen tat, weich und samtig wie ein Pfirsich.

Da kam ihm eine Idee, und er räusperte sich. „Würden Sie vielleicht mit mir tanzen?“

Er sah, wie sie errötete, als sie sich zur Tanzfläche umsah. Dort tanzten gerade einige Frauen, während die Männer den Rhythmus mit den Händen klatschten und mit den Füßen stampften. Anschließend wirbelten die Paare am begeisterten Publikum vorüber.

„Ich glaube, diesen Tanz kann ich nicht“, sagte sie und wirkte ein bisschen eingeschüchtert.

„Das brauchen Sie auch nicht“, erklärte er schnell. „Ich kann ihn. Das Angenehme beim Tanzen ist ja, dass Sie sich als Frau nur führen lassen müssen, dann funktioniert es von ganz allein.“

Diese Antwort schien allerdings eher ihren Widerspruchsgeist anzusprechen als sie zu beruhigen.

„Ach ja?“, fragte sie und schaute ihn herausfordernd an. „Und was ist, wenn der Mann überhaupt kein Rhythmusgefühl hat?“

„Gibt es das denn?“ Er wandte sich schon in Richtung Tanzfläche. „Haben Sie schon mal einen Spanier erlebt, der überhaupt kein Rhythmusgefühl hat?“

Gegen ihren Willen musste Vicky lachen, wobei auf ihren Wangen zwei Grübchen erschienen. Es stand ihr gut.

„Keine Ahnung“, bekannte sie. „Auf jeden Fall haben wir Frauen das Nachsehen, wenn sich der Mann beim Tanzen nicht vernünftig bewegen kann.“

„Davor brauchen Sie bei mir keine Angst zu haben“, raunte er ihr ins Ohr. „Ich kann es definitiv. Außerdem, was ist beim Tanzen schon vernünftig?“

In diesem Moment beendeten die Musiker das Lied, das sie eben gespielt hatten, und machten eine kleine Pause. Alejandro reichte ihr die Hand und führte sie auf den Dorfplatz, der an diesem Abend zur Tanzfläche umfunktioniert worden war. In der Mitte stand der alte Dorfbrunnen, um den sich die Paare eben noch gedreht hatten. Er legte sich ihre rechte Hand auf seine Schulter, dann umfasste er ihre Taille.

Ihr Körper fühlte sich gut an, straff und fest. Gleichzeitig lag die Rundung ihrer Hüfte angenehm sanft in seiner Hand. Ihren Atem spürte er nah an seinem Hals, der Duft ihrer Haare stieg ihm in die Nase. Das erzeugte erneut eine Reaktion in seinen Lenden, und er hoffte inständig, dass Vicky sie nicht mitbekam, als er sie jetzt noch ein bisschen näher zu sich heranzog.

In diesem Moment setzte die Musik wieder ein. Mit seiner Hand in ihrem Rücken machte er die ersten Schritte und stellte fest, dass sie sich tatsächlich gut führen ließ. Leicht wie eine Feder lag sie in seinem Arm. Eigentlich hatte er mit mehr Widerstand gerechnet, aber es war perfekt. Sie schienen zu harmonieren, als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes getan, als miteinander zu tanzen.

Was passierte hier mit ihr? Vicky fühlte, wie Alejandros Schritte länger und kraftvoller wurden. Eng aneinandergeschmiegt wirbelten sie um eine imaginäre Achse, die sich irgendwo zwischen ihnen befand, und gleichermaßen über den Dorfplatz.

Es war unglaublich. Es war fantastisch. Es war wie Fliegen! Ihr Herz raste. In Alejandros Armen zu liegen war unfassbar aufregend, es war wie ein Rausch. Fühlte er auch die elektrisierende Spannung, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte und sich von Sekunde zu Sekunde noch erhöhte? Menschen, Stände, Häuser, alles drehte sich um sie und verschmolz zu einem einzigen, unscharfen Bild. Genauso unscharf rauschte die Musik an ihren Ohren vorüber, irgendwer klatschte Beifall, einige Rufe erschallten.

Autor

Cathy Williams
<p>Cathy Willams glaubt fest daran, dass man praktisch alles erreichen kann, wenn man nur lang und hart genug dafür arbeitet. Sie selbst ist das beste Beispiel: Bevor sie vor elf Jahren ihre erste Romance schrieb, wusste sie nur wenig über deren Inhalte und fast nichts über die verschiedenen Schreibtechniken. Aber...
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