Romana Extra Band 110

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PRICKELNDES SPIEL AN DER CÔTE D’AZUR von PENNY ROBERTS
Anwältin Mia soll Lorenzo Conti überzeugen, auf das Weingut seines Großvaters in Italien zurückzukehren. Nichts leichter als das, denkt sie! Doch gleich am ersten Abend an der Côte d’Azur verlangt der sexy Hotelier eine pikante Gegenleistung von ihr …

SCHENK MIR EINE ZWEITE CHANCE von SUSAN CARLISLE
Wie soll es Macie nur gelingen, dem neuen Arzt im Tropenhospital von Saipan aus dem Weg zu gehen? Sie kennt Landon Cochran von Hawaii – wo er nach einer leidenschaftlichen Nacht verschwand und ihr das Herz brach. Das darf ihr nicht ein zweites Mal passieren!

WIE ZWEI INSELN IM STURM von SUSAN STEPHENS
Trauminsel in Gefahr! Der Millionär Alexander Kosta hat Pläne, die Lefkis zerstören könnten. Aber da hat er nicht mit der Naturschützerin Ellie gerechnet! Erbost stellt sie ihren griechischen Widersacher zur Rede – und sieht plötzlich atemlos die Leidenschaft in seinen Augen …

TAUSEND ROSEN FÜR DEN MILLIARDÄR von JOSS WOOD
Für den südafrikanischen Unternehmer Radd Tempest-Vane hängt viel von dem Society-Event ab, das in seinem Luxushotel veranstaltet wird. Edler Blumenschmuck gehört unbedingt dazu! Und schon verliebt Radd sich rettungslos in die geheimnisvolle Floristin Brinley …


  • Erscheinungstag 03.08.2021
  • Bandnummer 110
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500265
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Penny Roberts, Susan Carlisle, Susan Stephens, Joss Wood

ROMANA EXTRA BAND 110

PENNY ROBERTS

Prickelndes Spiel an der Côte d’Azur

„Macht doch Urlaub in meinem Château in der Provence.“ Soll Lorenzo Conti die Einladung annehmen? Sein väterlicher Freund glaubt irrtümlich, dass Lorenzo und die hübsche Anwältin Mia ein Paar sind …

SUSAN CARLISLE

Schenk mir eine zweite Chance

Was kann er bloß tun, damit Macie ihm eine zweite Chance schenkt? fragt sich Dr. Cochran. Es könnte so schön sein, sich mit ihr in dem Inselparadies Saipan zu versöhnen! Aber noch scheint das unmöglich …

SUSAN STEPHENS

Wie zwei Inseln im Sturm

Endlich – Lefkis gehört ihm! Millionär Alexander Kosta hat geheime Pläne mit der griechischen Insel. Doch kaum will er sie umsetzen, hat er eine ebenso erboste wie begehrenswerte Widersacherin …

JOSS WOOD

Tausend Rosen für den Milliardär

Die Nacht mit dem attraktiven Milliardär Radd ist etwas Besonderes für Brinley. Weil er sie in seiner Lodge unter den Sternen zärtlich verwöhnt – und weil es ihre einzige gemeinsame Nacht bleiben muss!

1. KAPITEL

Tu es einfach, Mia. Du schaffst das!

Mit zitternden Fingern strich Mia Varese ihren knielangen, anthrazitfarbenen Bleistiftrock glatt, obwohl der absolut faltenfrei saß. Ebenso wie die makellos weiße Bluse und der taillierte Blazer, den sie dazu trug. Das wusste sie deshalb so genau, weil sie es in ihrem Hotelzimmer, im verspiegelten Lift, vor der Abfahrt im Hotel und dann noch einmal nach dem Aussteigen aus ihrem Mietwagen überprüft hatte.

Sie atmete tief durch, hob die rechte Hand und betätigte den Türklopfer.

Selbst der Eingang der riesigen Villa war einschüchternd. Mit seinen zwei Flügeln, schwarz mit eingelassenen Milchglasscheiben und einer Metallstange als Griff, wirkte er wie die Pforte zu einem Palast. Und irgendwie passte das ja auch, denn der Mann, der hier lebte, war so etwas wie der Hotelkönig der Côte d’Azur. Mit einem einzigen Haus hatte er begonnen und besaß nun eine ganze Kette von Luxushotels, in denen sich die Mitglieder aus dem Jetset die Klinke in die Hand gaben.

Nervös trommelte sie mit den Fingern auf ihrem Oberschenkel, unterdrückte den Drang jedoch sofort, als sie sich dessen bewusst wurde. Sie wollte souverän und professionell erscheinen. Wie jemand, der gut in seinem Job war. Jemand, den man in allen Rechtsbelangen um Beistand bitten konnte und wollte.

Jemand, der sie eigentlich sein sollte, aber nicht war.

Vielen Dank auch, Clint …

Hinter einer der größeren Milchglasscheiben bewegte sich ein Schatten. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet und sie sah sich einem Mann gegenüber, den sie lediglich von Fotos kannte.

Sie kam nicht umhin festzustellen, dass die Titelbilder der Klatschmagazine ihm nicht gerecht wurden. Er war noch um einiges attraktiver.

Sein Haar war dunkel und wellig, seine Haut hatte einen tiefen Bronzeton. Seine Züge wirkten wie in Marmor gemeißelt, die Nase war gerade, die hohen Wangenknochen markant, die Lippen eher schmal. Sein hervorstechendstes Merkmal aber waren seine Augen, beschattet von dichten, dunklen Wimpern und so hellgrün, dass sie fast zu leuchten schienen.

Von diesen Augen schwärmten Frauen wie Männer, die ihn anhimmelten. Funkelnd wie Smaragde. Das hatte Mia in einem Artikel gelesen. Grün wie die Hügel der Toskana nach einem warmen Mairegen. Sie selbst fand solche Beschreibungen eher albern – im Fall von Lorenzo Conti musste sie aber zugeben, dass sie durchaus zutreffend waren.

Besonders freundlich schauten diese faszinierenden Augen allerdings nicht drein – ganz im Gegenteil sogar.

„Oui? Que voulez-vous? Je n’ai pas toute la journée!“

Mia stand da und starrte ihn an. Ihr war durchaus klar, dass sie keineswegs den ersten Eindruck erweckte, den sie eigentlich vermitteln wollte, doch sie konnte nicht anders.

Es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder im Griff hatte. Sie räusperte sich und strich sich mit der Zunge über die Lippen. „Signore Conti, mein Name ist Mia Varese“, sagte sie auf Italienisch. Ihr Französisch war zwar gut, sie bezweifelte jedoch, dass sie jetzt gerade in der Lage wäre, einen zusammenhängenden Satz zu bilden.

Er runzelte die Stirn. „Ich würde ja gern sagen, dass es mir ein Vergnügen ist, Signorina Varese, aber ich ziehe es vor, nicht zu lügen. Und nun schlage ich vor, Sie erklären mir, warum Sie hergekommen sind, damit wir uns beide möglichst bald wieder anderen Dingen widmen können.“

Mia holte tief Luft. Es kostete sie alle Willenskraft, die sie aufbringen konnte, nicht mit den Fingern auf ihren Oberschenkel zu trommeln. Etwas sagte ihr, dass er das als Zeichen von Schwäche interpretieren würde – was es im Grunde ja auch war.

„Wie schon gesagt, mein Name ist Mia Varese und ich wurde von Ihrem Großvater beauftragt …“

Lorenzo Conti hob eine Hand, und sie verstummte überrascht. „Stimmt etwas nicht?“, fragte sie schließlich.

„An dieser Stelle würde ich unsere Unterhaltung gern beenden“, erklärte er, sein Tonfall, der zuvor schon nicht besonders freundlich gewesen war, klang jetzt regelrecht eisig. „Ich kann mir denken, warum mein Großvater Sie geschickt hat, denn Sie sind nicht die erste Person, die er auf mich angesetzt hat, und ich fürchte, Sie werden auch nicht die letzte sein.“

Er richtete sich zu voller Größe auf, was bedeutete, dass er sie um bestimmt zwei Köpfe überragte.

War dies der falsche Moment, festzustellen, dass er sehr groß war? Und athletisch gebaut, was der Sitz seines maßgeschneiderten schwarzen Anzugs noch betonte?

„Sie können ihm gern ausrichten, dass er sich die Mühe sparen kann. Ich werde nicht nach Italien zurückkehren. Nicht jetzt und auch in Zukunft nicht. Und nun wünsche ich Ihnen einen angenehmen Nachmittag. Au revoir.

Alles ging so schnell, dass Mia nur instinktiv reagierte und einen Fuß vorschob, als er ihr die Tür vor der Nase zuschlagen wollte.

Wenn er vorher schon ärgerlich gewirkt hatte, schienen seine grünen Augen nun regelrecht Funken zu sprühen.

„Hören Sie“, sagte er, „ich war bislang wirklich geduldig, doch so langsam reicht es mir. Habe ich mich nicht klar und deutlich ausgedrückt? Salvatore Conti mag mein Großvater sein, aber ich wünsche keinerlei Kontakt zu ihm. Daran können weder Sie noch sonst irgendjemand etwas ändern, Signorina Varese.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß, dass es nicht Ihre Schuld ist. Sie sind lediglich einer von Salvatores Handlangern, deshalb war ich nachsichtig mit Ihnen. Doch Sie überstrapazieren meine Gastfreundschaft, Signorina. Ich bitte Sie jetzt noch einmal höflich zu gehen. Sollten Sie sich jedoch weiterhin weigern, werden Sie eine Seite von mir kennenlernen, die Ihnen nicht gefallen dürfte.“

Irgendwie bezweifelte Mia, dass er eine solche Seite hatte – zumindest rein äußerlich. Im nächsten Moment schalt sie sich für einen derart oberflächlichen Gedanken. Was war bloß mit ihr los? Sie war doch sonst nicht so leicht zu beeindrucken. Nur weil ein Mann gut aussah, bedeutete das noch lange nicht, dass er deswegen auch ein angenehmer Zeitgenosse war.

Genau genommen schien Lorenzo Conti ein Beweis für das Gegenteil zu sein, denn freundlich oder gar zuvorkommend zeigte er sich nun wirklich nicht.

Wenn er glaubte, dass sie sich davon einschüchtern ließ, dann täuschte er sich allerdings. Und zwar nicht, weil sie besonders mutig war, sondern weil ihr schlicht und einfach keine andere Wahl blieb.

Salvatore Conti hatte ihr eine Chance gegeben, als es so aussah, als würde sie ihre Karriere als Anwältin an den Nagel hängen müssen, noch ehe sie richtig begonnen hatte. Er war ein einflussreicher Mann, und wenn sie es schaffte, ihn zu beeindrucken, konnte sie sich auf eine glanzvolle Zukunft freuen. Brachte sie die gewünschten Ergebnisse jedoch nicht …

Nein, es hatte keinen Sinn, auch nur darüber nachzudenken. Conti hatte sie damit beauftragt, seinen Enkelsohn zu ihm nach Italien zu bringen. Nicht mehr und nicht weniger.

Und genau das würde sie tun.

Was bildete sich diese Person eigentlich ein?

Sie konnte von Glück reden, dass Lorenzo dazu erzogen worden war, seine Mitmenschen mit Respekt zu behandeln. Das galt insbesondere für die bedauernswerten Leute, die gezwungen waren, für seinen Großvater zu arbeiten.

Es war viele Jahre her, dass Lorenzo Italien und damit seiner Familie endgültig den Rücken gekehrt hatte. Damals war er gerade siebzehn gewesen – rückblickend betrachtet ein halbes Kind, auch wenn er sich bereits als Mann gefühlt hatte. Sein Großvater Salvatore Conti war der Grund, weswegen er alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte. Er hatte es einfach keine Sekunde länger zusammen mit ihm unter einem Dach ausgehalten. Der alte Mann hatte sich einmal zu oft in seine Angelegenheiten eingemischt. Außerdem war Lorenzo sich ziemlich sicher, dass etwas an der Geschichte von dem Unfall, bei dem seine Eltern ums Leben gekommen waren, nicht stimmte …

Aber jetzt war wohl kaum ein geeigneter Zeitpunkt, sich darüber Gedanken zu machen. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Frau auf seiner Türschwelle zu.

Zumindest besaß sie den Anstand, erschrocken über ihre eigene Courage zu wirken. Er bedachte sie mit einem eisigen Blick. „Entfernen Sie bitte Ihren Fuß aus meiner Tür, Signorina Varese. Ich bin mir nicht sicher, ob mein Großvater die Kaution bezahlen wird, wenn Sie wegen Hausfriedensbruchs festgenommen werden. Sie sollten daher lieber vorsichtig sein.“

„Nicht, ehe Sie mich nicht wenigstens angehört haben“, entgegnete sie.

Ihm fiel auf, wie bleich sie war. Also war sie am Ende wohl doch nicht so selbstbewusst, wie sie wirken wollte.

„Ich wüsste nicht, weshalb ich das tun sollte. Ich habe bereits genug gehört, als Sie den Namen meines Großvaters in den Mund nahmen. Er hat Sie geschickt, damit ist das Thema für mich erledigt. Ich habe den Kontakt vor vielen Jahren abgebrochen, und ich habe nicht das geringste Interesse daran, ihn wieder aufleben zu lassen. Es gibt nichts – absolut gar nichts –, was Sie sagen könnten, um meine Haltung zu ändern. Dessen ist sich Salvatore übrigens vollkommen bewusst. Er hat Ihnen eine Aufgabe gestellt, die Sie unmöglich erfüllen können.“ Er schüttelte den Kopf. „Typisch für ihn. Ich weiß nicht, was er Ihnen im Gegenzug versprochen hat, aber was immer es ist, vergessen Sie’s.“

Ihre Unterlippe – eine überaus sinnliche Unterlippe, wie sein Unterbewusstsein ungefragt anmerkte – fing an zu beben. Langsam wurde er neugierig, was für einen Deal sie wohl mit seinem Großvater ausgehandelt haben mochte. Es schien ihr auf jeden Fall wichtig zu sein, ansonsten wäre sie vermutlich nicht so hartnäckig.

Die Finger der Hand, mit der sie sich durchs Haar strich, zitterten leicht.

„Hören Sie“, sagte sie, „ich weiß, Sie haben keinen Grund, irgendetwas für mich zu tun, aber …“

„Tut mir leid“, fiel Lorenzo ihr ins Wort. „Ich kann Ihnen nicht helfen. Mein Großvater liebt es, solche Spielchen mit Menschen zu spielen. Ich bedaure, dass Sie dem zum Opfer gefallen sind, doch ich habe im Augenblick wirklich andere Sorgen.“

„Bitte, Signore Conti, nur fünf Minuten!“

Lorenzo seufzte. Irgendwie tat sie ihm schon ein wenig leid. Was er gesagt hatte, stimmte jedoch. Er hatte tatsächlich andere Sorgen. Und die hatten mit dem Mann zu tun, dessen mitternachtsblaue Mercedes-Limousine ausgerechnet jetzt die Auffahrt heraufkam.

Das hatte ihm gerade noch gefehlt …

Der Wagen hielt unterhalb der Außentreppe, auf der Mia Varese stand. Kurz darauf stieg der Chauffeur aus, öffnete die hintere Tür und half seinem Fahrgast beim Aussteigen.

„Jean-Pierre“, rief Lorenzo und zwang ein Lächeln auf seine Lippen. „Was für eine Überraschung. Warum hast du nicht angerufen? Ich hätte einen Tisch für uns reserviert.“

„Genau deshalb habe ich es nicht getan. Du sollst dir meinetwegen keine Umstände machen, Junge. Ich weiß doch, wie beschäftigt du bist. Vor allem jetzt, wo du neben der Arbeit auch noch deine entzückende Verlobte hast.“

Jean-Pierre wandte sich Mia Varese zu und schenkte ihr ein Lächeln, das ihn mindestens ein Jahrzehnt jünger wirken ließ als seine neunundsiebzig Jahre. Mit ausgreifenden Schritten, die über sein Alter hinwegtäuschten, ging er auf sie zu, ergriff ihre Hand und hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken.

„Es ist mir eine Freude, Sie endlich kennenzulernen. Lorenzo hat bisher ein großes Geheimnis aus Ihrer Beziehung gemacht. Aber jetzt, wo ich Sie sehe, verstehe ich das – immerhin muss er ja befürchten, dass jemand Sie ihm wegstiehlt, bevor er mit Ihnen vor den Traualtar treten kann.“

Oh nein!

Lorenzo wusste, er musste unbedingt etwas sagen, um die Dinge klarzustellen – doch ihm fehlten die Worte.

Mit dieser Entwicklung hatte er nicht gerechnet, und es kam nicht gerade häufig vor, dass man ihn auf dem falschen Fuß erwischte. Er rühmte sich eigentlich dafür, dass er stets für alle Eventualitäten vorausplante. Der heutige Tag schien sich jedoch zu einem riesigen Fiasko zu entwickeln.

Alles hatte mit dem Anruf von Beatrice vor zwei Stunden begonnen. Beatrice Lacroix war eine entfernte Bekannte von ihm, die er auf einer Vernissage in Nizza kennengelernt hatte. Sie hatten sich gut verstanden, sowohl im Bett als auch außerhalb. Sie gab nicht vor, jemand zu sein, der sie nicht war, und das wusste er zu schätzen. Die meisten Frauen, mit denen er zu tun hatte, taten so, als würde es ihnen nicht nur um sein Geld und seinen Einfluss gehen. In der Hinsicht war Beatrice erfrischend anders gewesen.

Sie hatte von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass ihr der Luxus und all die Annehmlichkeiten gefielen, die er ihr bot. Und sie schien damit klarzukommen, dass er nie etwas versprach, von dem er wusste, dass er es nicht einhalten konnte.

So etwas wie eine richtige Beziehung beispielsweise.

Lorenzo war mit den Frauen, mit denen er schlief, stets völlig offen, mehr als eine kurzlebige Affäre kam für ihn nicht infrage. Er war ein heißblütiger Mann und hatte entsprechend Bedürfnisse, aber das bedeutete nicht, dass er sich deswegen auf irgendeine Form von Beziehung einließ.

Nein, so etwas konnte nur in einer Katastrophe enden. Er war kein Mann für feste Bindungen, und Beatrice schien das begriffen zu haben.

Nun, zumindest hatte er das angenommen.

Deshalb hatte er sich für sie entschieden, als es darum ging, eine seiner weiblichen Bekanntschaften um einen … etwas ungewöhnlichen Gefallen zu bitten.

Jean-Pierre Hainaults achtzigster Geburtstag stand bevor, und sein väterlicher Freund wünschte sich eines mehr als alles andere auf der Welt – nämlich, dass er, Lorenzo, neben seinem beruflichen Erfolg endlich auch privat das ganz große Glück fand.

Dummerweise würde es dazu niemals kommen. Schon allein, weil er es nicht zuließ. Doch Jean-Pierre war ein alter Mann und wenn irgend möglich wollte er ihn glücklich und zufrieden sehen. Deshalb hatte er sich überlegt, zum Schein eine Beziehung einzugehen, um Jean-Pierre eine Freude zu machen.

Beatrice war sofort einverstanden gewesen, seine Verlobte zu spielen. Sie hatte zuvor nie irgendwelche besitzergreifenden Tendenzen gezeigt, und er hatte ihr – ebenso wie jeder anderen Frau in seinem Leben – unmissverständlich klargemacht, dass er an einer echten Beziehung nicht interessiert war. Umso überraschender kam es für ihn, als sie plötzlich anfing, von gemeinsamen Urlauben, einem gemeinsamen Haus und am Ende sogar von Heirat und Kindern zu reden.

Spätestens in dem Moment wusste er, dass er dringend die Notbremse ziehen musste. Offensichtlich hatte er sich in Beatrice getäuscht. Als Helferin für seinen Plan kam sie auf jeden Fall nicht mehr infrage.

Heirat und Kinder? Ganz sicher nicht mit ihm!

Das hatte er ihr klipp und klar so gesagt.

Dummerweise bedeutete dies, dass sie nun nicht mehr für sein Vorhaben zur Verfügung stand und er sich dringend etwas anderes einfallen lassen musste.

Und zwar pronto.

Das war zumindest der Stand der Dinge, bevor diese Frau plötzlich vor seiner Tür aufgetaucht war. Als es geklingelt hatte, war er gerade dabei gewesen, auf der Suche nach einer neuen Kandidatin für seine kleine Scharade die Kontaktliste in seinem Smartphone durchzugehen.

Jean-Pierres Eintreffen machte das Chaos nun endgültig perfekt. Vor allem, da er anzunehmen schien, Mia Varese sei die Verlobte, von der er ihm erzählt hatte.

Lorenzo wollte die Dinge gerade klarstellen – zumindest, soweit es ihm möglich war, ohne dass er gleich seinen ganzen Plan auffliegen ließ –, da ergriff die junge Frau das Wort.

„Ich freue mich ebenfalls“, entgegnete sie und nahm die Hand, die ihr entgegengestreckt wurde. „Mia Varese“, fuhr sie mit einem strahlenden Lächeln fort. „Aber Sie dürfen mich selbstverständlich Mia nennen.“

Entgeistert starrte Lorenzo sie an.

Che diavolo …

Jean-Pierre legte ihr eine Hand auf den Rücken und führte sie durch die Tür ins Haus hinein. Genau jene Tür, die Lorenzo ihr bis vor ein paar Minuten noch versperrt hatte. Und ihm blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

„Wissen Sie, ich bin ein wenig überrascht“, hörte er Jean-Pierre sagen. „Sie sind so anders als die Frauen, mit denen sich Lorenzo sonst umgibt.“

Sie lachte auf. Lorenzo sah sie im Profil und konnte nicht umhin festzustellen, wie lang und graziös ihr Hals war, was durch den lässigen Knoten, zu dem sie ihr Haar am Hinterkopf zusammengefasst hatte, noch betont wurde. Einige Strähnen hatten sich daraus gelöst und fielen ihr in sanften Wellen über die Schultern.

Als er sich dabei ertappte, wie er sie anstarrte, schüttelte er den Kopf. Das gehörte jetzt hier nicht her.

„Tatsächlich? Was unterscheidet mich denn so sehr von diesen … anderen Damen?“, fragte Mia.

Sie hatte sich inzwischen bei Jean-Pierre untergehakt, sodass man kaum merkte, dass sie mit dem Grundriss des Hauses nicht vertraut war.

Clever, dachte Lorenzo fast schon ein wenig widerwillig. Aber was bezweckte sie mit dieser Scharade? Warum gab sie vor, etwas zu sein, was sie nicht war?

Um mir zu helfen?

Wohl kaum, beantwortete er sich seine Frage selbst. Sie hatte keinerlei Veranlassung, irgendetwas für ihn zu tun. Es sei denn …

Oh ja, natürlich!

Er presste die Lippen zusammen und runzelte die Stirn. Sie mochte keinen Grund haben, ihm zu helfen – aber sie hatte ganz sicher jeden Grund, sich in sein Haus einzuschleichen. Immerhin hatte er ihr gerade deutlich zu verstehen gegeben, dass er nicht vorhatte, sie auch nur anzuhören.

„Nun“, begann Jean-Pierre, und das Lächeln war sogar in seiner Stimme zu hören, „ich will es einmal so ausdrücken, dass diese Damen in der Regel etwas … einfacher gestrickt sind. Sie hingegen scheinen mir durchaus … patent.“

Wieder dieses Lachen, das irgendwas tief in ihm auslöste. Es fühlte sich an, als würden winzige elektrische Blitze über seine Haut tanzen. Ein merkwürdiges Gefühl, aber nicht unangenehm.

Jean-Pierre und Mia Varese hatten inzwischen das Wohnzimmer erreicht. Lorenzos Smartphone lag auf dem Couchtisch, wo er es abgelegt hatte. War das wirklich noch keine zehn Minuten her? Es kam ihm länger vor. Doch das lag vermutlich daran, dass in der Zwischenzeit so viel geschehen war.

„Können wir Ihnen etwas zu trinken anbieten?“, fragte Mia, die anscheinend die Rolle der Gastgeberin übernommen hatte. „Einen Kaffee? Tee?“

„Leider hat mir mein Arzt strengstens untersagt, Kaffee zu trinken“, entgegnete Jean-Pierre mit einem tiefen Seufzen und ließ sich auf die niedrige cognacfarbene Ledercouch sinken. „Das Herz macht nicht mehr so recht mit, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber einen Tee nehme ich sehr gern, vielen Dank.“ Er grinste, was ihm trotz seiner Falten ein jungenhaftes Aussehen verlieh. „Vielleicht haben Sie ja einen schwarzen Tee? Von dem sollte ich zwar vermutlich ebenfalls besser die Finger lassen, doch was mein Arzt nicht weiß, macht ihn nicht heiß.“ Er lachte.

Sie nickte lächelnd und verließ das Wohnzimmer. Nach kurzem Zögern folgte Lorenzo ihr, da ihm einfiel, dass sie keine Ahnung hatte, wo sich die Küche befand. Außerdem war dies eine gute Gelegenheit, unter vier Augen mit ihr zu sprechen.

Wie sich herausstellte, wartete sie außer Sichtweite am Ende des Korridors auf ihn. Er packte sie fest am Handgelenk und zog sie mit sich durch die offenstehende Küchentür, die er dann mit dem Fuß hinter ihnen zustieß.

„Sie haben zehn Sekunden“, grollte er. „Was soll das alles?“

Sie entzog ihm ihre Hand, hielt sie vor ihre Brust und massierte das Gelenk. Dabei bedachte sie ihn mit einem finsteren Blick. „Komisch, dasselbe wollte ich Sie auch gerade fragen. Wieso hält Ihr Freund da draußen mich für Ihre Verlobte?“

Er verschränkte die Arme. „Weil Sie es nicht für nötig befunden haben, ihn zu korrigieren, nehme ich an.“

Sie neigte den Kopf ein Stück zur Seite und hob eine Braue. „Ebenso wenig wie Sie, möchte ich feststellen. Also raus mit der Sprache. Was genau geht hier vor? Wenn Sie mir nicht die Wahrheit sagen, kann ich Ihnen nicht helfen.“ Betont gleichgültig zuckte sie die Achseln. „Ihre Entscheidung.“

„Wer sagt, dass ich Ihre Hilfe brauche oder will?“, schoss er zurück. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, in welche Richtung sich dieses Gespräch entwickelte. Noch viel weniger gefiel ihm allerdings die unmögliche Lage, in die sie ihn gebracht hatte.

Sie hatte ihn mit ihrem Verhalten überrumpelt, und nun steckte er sogar tiefer in der Klemme, als es zuvor bereits der Fall gewesen war. Er konnte schlecht zu Jean-Pierre gehen und sagen: Haha, das war alles nur ein Scherz, ich kenne diese Frau in Wahrheit überhaupt nicht.

Nein, das kam nicht infrage. Was bedeutete, dass Mia Varese ihn praktisch in der Hand hatte.

„Wie ich schon sagte, es ist ganz allein Ihre Entscheidung. Ich kann auch jetzt gleich da rausgehen und Ihrem Freund reinen Wein einschenken. Oder aber Sie erklären mir die Situation, und dann unterhalten wir uns darüber, was Sie im Gegenzug für mich tun, wenn ich Ihnen helfe.“

Frustriert ballte Lorenzo die Hände zu Fäusten. Schließlich sagte er: „Also schön, ja, Jean-Pierre hält Sie für meine Verlobte. Er liegt mir schon eine halbe Ewigkeit damit in den Ohren, dass ich endlich eine Frau finden und eine Familie gründen soll.“

„Aber das wollen Sie nicht“, schlussfolgerte sie.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, will ich nicht. Ich habe mich bereits vor langer Zeit entschieden, dass dergleichen für mich nicht infrage kommt. Allerdings ist Jean-Pierre fest davon überzeugt, dass ein Mann sein Glück nur dann finden kann, wenn er die richtige Frau an seiner Seite hat.“

„Und seine Meinung ist Ihnen so wichtig – warum?“

Er runzelte die Stirn. „Mein Großvater hat Sie geschickt, um mich zurück nach Italien zu holen, daher wissen Sie vielleicht, dass ich mit meiner Familie gebrochen habe.“ Als sie nickte, fuhr er fort: „Ich war siebzehn, als ich einige Sachen in meinen Rucksack packte und meiner Wege ging. Ich kam hierher nach Frankreich, hatte ein paar Hundert Euro in der Tasche und keinen Plan, wie es weitergehen sollte. Es war reiner Zufall, dass Jean-Pierre mich am Strand vor Nizza auflas, an dem ich schon einige Nächte verbracht hatte. Ich habe keine Ahnung, wieso er den Entschluss fasste, mir zu helfen, aber er tat es. Er nahm mich bei sich auf und gab mir einen Job in seinem Flaggschiffhotel. Bei ihm lernte ich alles, was ich über das Hotelbusiness weiß. Er war es auch, der mir die Chance eröffnete, mein erstes eigenes Hotel zu kaufen. Und nur ihm verdanke ich es, dass ich heute eine der größten Hotelketten an der französischen Riviera besitze. Überhaupt habe ich ihm alles zu verdanken. Alles. Und wenn er sich jetzt etwas von mir wünscht …“

Sie schien einen Moment lang darüber nachzudenken. Dann nickte sie. „Verstehe. Sie wollen ihm also vorspielen, dass Sie sich in einer glücklichen Beziehung befinden. Und was dann? Wie stellen Sie sich vor, wie es weitergehen soll? Eine solche Lüge kann man schließlich nicht auf unbegrenzte Dauer durchhalten.“

„Nein, natürlich nicht, aber …“ Er schüttelte den Kopf. „Es schadet doch niemandem, und es macht Jean-Pierre glücklich. Seit er in den Ruhestand getreten ist, verbringt er die meiste Zeit des Jahres auf Korsika, wo er eine Villa besitzt. Die Verlobte muss also theoretisch nur alle paar Monate in Erscheinung treten.“

Sie nickte, dann wandte sie sich ab und öffnete einen der Küchenschränke. Als sie dort nicht fand, wonach sie suchte, nahm sie sich den nächsten vor.

„Was tun Sie da?“, fragte er irritiert. Er hatte damit gerechnet, dass sie etwas zu dem sagen würde, was er ihr erzählt hatte. Dass sie stattdessen seine Küche durchsuchte, kam gänzlich unerwartet.

„Wonach sieht es denn aus?“ Sie nahm drei weiße Tassen aus dem Hängeschrank über der Spüle. „Ich bin eine gute Gastgeberin. Machen Sie sich nützlich und verraten mir, wo ich den Tee finde?“

„In der Schublade vor Ihnen“, entgegnete er und runzelte die Stirn. „Ist das alles, was Sie zu sagen haben?“

Sie füllte Wasser in den Wasserkocher, den er noch nie benutzt hatte, und stellte ihn an. Dann drehte sie sich zu ihm um und lehnte sich mit der Hüfte an die Granitarbeitsplatte.

„Sie brauchen also jemanden, der für ein paar Wochen im Jahr Ihre Verlobte spielt. Zumindest so lange, bis Sie eine Alternative gefunden haben, um Ihren Ziehvater glücklich zu machen.“

Er nickte. Das Wasser im Gerät hinter ihr begann blubbernd Geräusche von sich zu geben.

„Ich denke, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was ich im Gegenzug von Ihnen erwarte, sollte ich mich bereit erklären, bei dieser kleinen Scharade mitzuspielen, oder?“

Lorenzo holte tief Luft. Nein, das musste sie in der Tat nicht. Was sie wollte, war klar: Er sollte mit ihr nach Italien kommen. Auf das Weingut seines Großvaters.

Verdammt.

Seine Jugend in der Toskana unter Salvatores strengem Regiment erschien ihm heute wie ein anderes Leben. Er dachte nur ungern daran zurück, auch wenn es durchaus einige Aspekte gab, die er vermisste. Nicht so sehr allerdings, dass er jemals hätte zurückkehren wollen.

Und war das nicht der beste Beweis dafür, was für ein gefühlskalter, beziehungsunfähiger Mensch er war? Irgendwo da draußen lebten seine beiden Brüder Armando und Vittorio, die er seit mindestens einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen hatte. Und war er auch nur einmal auf den Gedanken gekommen, Kontakt mit ihnen aufzunehmen?

Wenn er ganz ehrlich war, dann lautete die Antwort Ja, hin und wieder. Er hatte sich manchmal dazu hinreißen lassen, ihnen kurze Nachrichten zu schicken, in denen er ihnen mitteilte, dass es ihm gut ging. Aber der Drang war nie stark genug gewesen, um tatsächlich in den nächsten Flieger zu steigen und sich seinem Großvater zu stellen. Und das wollte er auch jetzt nicht. Er hatte die Vergangenheit hinter sich gelassen, und er war glücklich mit seinem Leben, so wie es war.

Sehr glücklich.

Er atmete tief durch. „Ich bin sicher, dass wir eine Regelung finden werden, mit der wir beide leben können“, sagte er. „Wenn Sie mir den Gefallen tun und für Jean-Pierre meine Verlobte spielen, werde ich …“

Sie hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Sie wissen, was ich will. Und nein, wir finden keine andere Regelung. Wenn ich Ihre Verlobte spiele, begleiten Sie mich zu Ihrem Großvater. Es tut mir leid, aber diesbezüglich bin ich zu keinen Kompromissen bereit.“

„Jeder Mensch hat seinen Preis“, sagte er, doch irgendwie ahnte er, dass der Fall bei ihr ein wenig anders lag. Und vielleicht konnte er genau dort ansetzen.

Sobald er herausgefunden hatte, was sie wirklich wollte.

„Ich bin nicht an Ihrem Geld interessiert“, erwiderte sie erwartungsgemäß. „Also? Was sagen Sie?“

„Dass wir vermutlich damit aufhören sollte, uns zu siezen, wenn wir Jean-Pierre davon überzeugen wollen, dass wir ein Paar sind“, entgegnete er trocken.

Sie räusperte sich. „Dann … sind wir uns einig?“

„Betrachten Sie den heutigen Abend als eine Art Generalprobe. Wenn es gut läuft, lasse ich von meinem Anwalt einen Vertrag aufsetzen.“ Ein Fehler wie mit Beatrice würde ihm nicht noch einmal unterlaufen. Wenn er das hier durchzog, durften keine Fragen offenbleiben.

Ein Vertrag würde dafür sorgen.

Jedes Detail ihrer vorgeblichen Beziehung musste darin genau niedergelegt werden. Auf diese Weise ließen sich etwaige Missverständnisse vermeiden.

Hoffentlich.

Das Wasser im Wasserkocher blubberte immer lauter, und schließlich schaltete sich das Gerät ab. Sie drehte sich um, holte drei Teebeutel aus der Schublade und legte sie in die Tassen. Dann übergoss sie sie mit heißem Wasser, ehe sie sich ihm wieder zuwandte.

Zu seiner Überraschung streckte sie ihm die Hand entgegen.

„Schlagen Sie ein“, sagte sie, als er nicht reagierte.

„Schlag ein“, korrigierte er sie.

Sie blinzelte irritiert, nickte aber. „Ih… Deinen Anwalt brauchst du übrigens nicht zu bemühen. Ich kann bis morgen Mittag einen Vertrag aufsetzen, den du dir dann nur noch ansehen und unterschreiben musst.“

Du willst den Vertrag aufsetzen?“

„Ich bin selbst Anwältin“, erklärte sie und begegnete seinem Blick fest. „Deshalb hat dein Großvater mich engagiert.“

Er hob eine Braue. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das der einzige Grund ist“, entgegnete er. „Dazu kenne ich meinen Großvater zu gut.“

Die Art und Weise, wie sie den Blick abwandte, und die leichte Röte, die ihre Wangen überzog, sagte ihm, dass er geradewegs ins Schwarze getroffen hatte.

„Wie auch immer. Der Tee ist fertig, und es wäre unhöflich, Jean-Pierre noch länger warten zu lassen, findest du nicht?“

Lorenzo atmete tief durch und nahm ihr das Tablett ab, auf das sie die Tassen gestellt hatte. Er nickte in Richtung Tür. „Nach dir …“

2. KAPITEL

„Der Tee ist wirklich gut.“ Jean-Pierre stellte seine Tasse auf der Untertasse ab, sodass es leise klickte.

Sie hatten draußen auf der Terrasse Platz genommen, wo sie im Schatten eines weißen Sonnensegels um einen runden Glastisch herumsaßen. Das Wasser des riesigen Infinity-Pools plätscherte leise, und die Luft war erfüllt vom süßen Duft des Jasmins, der an einer Seite der Terrasse die Wand hochrankte.

„Aber ich muss zugeben“, fuhr er mit einem schiefen Lächeln fort, „Kaffee ist mir immer noch lieber.“

Mia lachte. „Das versteh ich gut. Ich brauche morgens auch mein Koffein, um so richtig in die Gänge zu kommen. Vor meiner ersten Tasse bin ich zu nichts zu gebrauchen.“

Der ältere Mann lehnte sich zur Seite und klopfte Lorenzo, der neben ihm saß, auf die Schulter. „Das ist eine Frau ganz nach meinem Geschmack. Lorenzo trinkt ja lieber Tee. Und ich spreche hier nicht etwa von schwarzem oder grünem Tee – die haben in gewisser Weise wenigstens eine Daseinsberechtigung –, sondern von Kräutertees.“ Er winkte ab. „Doch das wissen Sie ja sicher längst.“

Mia verzog das Gesicht. „Allerdings. Und wenn Sie mich fragen, Kräutertees sind nichts anderes als fade Blattsuppe.“

Einen Moment lang sah Jean-Pierre sie mit offenem Mund an, dann schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch und lachte laut auf. „Blattsuppe! Der ist gut, den muss ich mir merken.“

Mia spürte, wie ihre Wangen warm wurden. Sie mochte den alten Mann. Er hatte Sinn für Humor, war freundlich und zuvorkommend. Umso unwirklicher kam es ihr vor, dass sie hier saß und ihm die Verlobte seines Ziehsohnes vorspielte.

Bei dem Gedanken verspürte sie einen Stich. Es gefiel ihr nicht, dass sie lügen musste, um den Auftrag, mit dem Salvatore Conti sie nach Frankreich geschickt hatte, zu erfüllen. Doch was blieb ihr anderes übrig? Lorenzo war nicht mal bereit gewesen, sie anzuhören. Jetzt hatte sie die erste Hürde überwunden. Und morgen hatte sie, sofern alles glattlief, vielleicht sogar schon einen Vertrag in den Händen, der sicherstellte, dass sich Lorenzo an seinen Teil der Vereinbarung hielt.

Ihr Herz klopfte heftig.

Lorenzo.

Er war so vollkommen anders als Jean-Pierre. Kühl. Unnahbar. Sie konnte an einer Hand abzählen, wie oft sie ihn im Laufe des Abends lächeln gesehen hatte. Und wenn, dann stets nur als Reaktion auf etwas, das sein väterlicher Freund gesagt hatte.

Zweifelsohne lag der ältere Mann ihm sehr am Herzen. Er mochte so tun, als würde ihn nichts berühren, doch Mia erkannte es als das, was es war: eine Fassade. Warum sonst sollte er dieses ganze Theater veranstalten? Er hatte ja selbst zugegeben, dass er damit seinen Ziehvater glücklich machen wollte.

Das machte es ihr ein wenig leichter, sich in ihre Rolle einzufinden. Leichter ja, aber keineswegs leicht. Denn die Verlobte eines Mannes zu spielen, der nicht nur aussah wie eine lebendig gewordene griechische Marmorstatue, sondern auch das dazu passende Gefühlsspektrum an den Tag legte, war wirklich nicht einfach.

Daran würde sich etwas ändern müssen, wenn sie diese Scharade weiter fortsetzen wollten. Sie konnte nicht die Einzige sein, die dafür arbeitete, die Fassade einer glücklichen Liebesbeziehung aufrechtzuerhalten. Wenn sie als Paar überzeugen wollten, dann musste Lorenzo ebenfalls seinen Teil dazu beitragen.

Zum Glück schien Jean-Pierre bisher nichts Ungewöhnliches an seinem Ziehsohn bemerkt zu haben. Vielleicht trübte aber auch seine Freude darüber, dass Lorenzo endlich sein vermeintliches Liebesglück gefunden hatte, seine Wahrnehmung.

Daran, dass er froh war, bestand in Mias Augen keinerlei Zweifel. Der ältere Mann strahlte regelrecht. So sehr, dass sie gleich wieder ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken bekam, ihn anlügen zu müssen.

Aber es ging nicht anders. Sie musste diesen Job für Salvatore Conti zu einem erfolgreichen Abschluss bringen. Sie musste einfach. Tat sie es nicht, hätte Clint gewonnen. Und dazu würde sie es nicht kommen lassen.

„Wie kommt es eigentlich, dass du schon jetzt hier bist, Jean-Pierre?“, fragte Lorenzo und riss Mia damit aus ihren Grübeleien. „Wolltest du ursprünglich nicht erst kurz vor deiner Geburtstagsfeier anreisen?“

„Ach, mein lieber Junge, da ist so viel vorzubereiten. Ich weiß, dass du mir angeboten hast, dich um alles zu kümmern, aber … Ich mag ja alt sein, doch es gibt Dinge, die ich trotzdem gern selbst erledige. Und man wird immerhin nur einmal im Leben achtzig. Außerdem …“ Er lächelte entschuldigend. „Du kennst mich. Ich bin nicht der Mensch, der sich einfach zurücklehnt und andere für sich arbeiten lässt. Vermutlich bin ich deshalb noch immer halbwegs fit.“

„Halbwegs fit?“ Lorenzo schnaubte. „Du wirkst keinen Tag älter als siebzig. Ich kenne Männer, die sind halb so alt wie du und können doch nicht mit dir Schritt halten. Du musst wirklich niemandem etwas beweisen.“

Jean-Pierre lachte. „Nun, vielleicht muss ich es ja mir selbst beweisen, wer weiß? Aber ich verspreche dir, dass ich dich um Hilfe bitte, wenn es mir zu viel wird. Wobei es ja nicht so ist, als müsste ich alles alleine schaffen. Deine Leute kümmern sich darum, vom Buffet über die Getränke bis hin zur Musik. Im Grunde genommen überwache ich lediglich das ganze Prozedere – und sogar das ist eigentlich unnötig. Deine Leute sind allesamt Profis.“ Lächelnd schob er seinen Stuhl zurück und erhob sich schwerfällig. „Und jetzt lasse ich euch Turteltäubchen mal allein. Ich bin sicher, ihr jungen Leute habt Besseres zu tun, als mich alten Narren zu unterhalten.“

Lorenzo erhob sich ebenfalls und Mia tat es ihm nach. Über einen Weg, der um das Haus herumführte, gelangten sie zur Vorderseite des Gebäudes. Bei dem Gedanken, dass sie nach Jean-Pierres Verabschiedung mit Lorenzo allein sein würde, wurde ihr ganz flau im Magen. Vorhin in der Küche hatte sie sich noch mutig und entschlossen gefühlt. Allmählich verflüchtigte sich aber ihre Courage.

Bevor sie sich in einen Anfall von Panik steigern konnte, drehte Jean-Pierre sich zu ihr um. Er kam auf sie zu, ergriff ihre Hand und hob sie an seine Lippen.

„Ich bin sehr froh, dass Lorenzo Sie getroffen hat. Ich glaube wirklich, dass Sie ihm guttun werden. Er kann mitunter ein ziemlicher Sturkopf sein, aber im Grunde seines Herzens ist er ein guter Kerl.“

„Ich weiß“, sagte sie leise. „Ich bin auch froh.“

„Es war mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Mia.“ Der alte Mann hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken. „Bonsoir.“

Damit ging er langsam die zwei Stufen zur Auffahrt hinunter und trat an seinen Wagen. Sein Fahrer öffnete ihm die Tür, und er stieg ein. Kurz darauf rollte die dunkelblaue Limousine davon.

Mia sah dem Wagen nach, bis die Rücklichter von der Dunkelheit verschluckt wurden. Dabei war sie sich Lorenzos Nähe überdeutlich bewusst. Auch wenn sie ihn nicht sah, wusste sie doch, dass er unmittelbar hinter ihr stand. Sie fühlte seine Körperwärme, spürte seinen Atem in ihrem Nacken. Der wohlige Schauer, der ihr deshalb über den Rücken rieselte, ließ sich nicht so leicht ignorieren, wie sie es sich vielleicht gewünscht hätte.

„So, dann können wir uns ja jetzt unterhalten“, sagte er und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Die Berührung war völlig harmlos, doch ihr Herz fing sofort an, schneller zu schlagen.

Sie holte tief Luft und drehte sich um. Seine Hand glitt von ihrer Schulter.

„Kommst du?“, fragte er.

Sie folgte ihm in die Küche. Um sich zu beschäftigen, setzte sie erneut Wasser auf.

„Das musst du nicht tun“, protestierte er. „Außerdem ist mir nicht nach Tee. Ich brauche etwas Stärkeres.“ Er trat an einen der Hängeschränke, öffnete ihn, nahm ein Whiskyglas heraus und sah sie an. „Willst du auch einen?“

Mia trank nur selten Alkohol, und wenn, dann allerhöchstens ein Glas Wein zum Abendessen. Heute Abend hatte sie jedoch das Gefühl, einen Drink gut gebrauchen zu können, daher nickte sie. Er goss je einen Fingerbreit der bernsteingelben Flüssigkeit in die Gläser und reichte eins davon ihr.

Mia hob es an die Lippen und zögerte, als ihr der scharf-würzige Geruch des Whiskys in die Nase stieg. Doch dann überwand sie sich und stürzte ihn mit einem Schluck hinunter, was sie gleich darauf bereute.

Ihre Kehle brannte wie Feuer und sie hustete und keuchte.

Was war das bloß für ein Teufelszeug?

Wegen des Schocks vergaß sie vollkommen, weiterhin angewidert zu sein, als sich von hinten eine Hand auf ihre Schulter legte. Die Reaktion ihres Körpers auf die Berührung war so unmittelbar wie unerwünscht. Es fühlte sich wie Elektrizität an, die direkt unter ihrer Haut knisterte. Ihre Knie wurden weich und es kostete sie all ihre Willenskraft, ein leises Seufzen zu unterdrücken.

„Geht es wieder?“, fragte Lorenzo.

Der spöttische Klang seiner Stimme holte sie zurück auf den Boden der Tatsachen.

Was war bloß mit ihr los, dass sie schon bei der kleinsten Berührung völlig die Kontrolle verlor? Das war überhaupt nicht ihre Art. Mit Clint war ihr so etwas jedenfalls nie passiert, und mit dem war sie immerhin liiert gewesen. Oder vielmehr, sie war sein schmutziges kleines Geheimnis gewesen, von dem niemand etwas wissen durfte, was in diesem Zusammenhang jedoch keinen Unterschied machte.

Der Sex mit ihm war … schön gewesen. Befriedigend. Oder zumindest besser als die Erfahrungen, die sie zuvor gemacht hatte. Aber niemals hatte eine einzige Berührung ein solches Feuer bei ihr entfacht.

Es stimmte sie besorgt, dass es ausgerechnet bei Lorenzo Conti anders sein sollte.

Sie war keine Närrin. Natürlich hatte sie sich vor dem Antritt ihrer Reise nach Frankreich über den Enkel von Salvatore Conti informiert. Schwierig war es nicht gewesen, das Internet war voll von Fotos, Gerüchten und dem üblichen Klatsch und Tratsch. Konsens war, dass Lorenzo zwar ein Bild von einem Mann war, aber gleichzeitig unfähig oder unwillig, eine Bindung einzugehen.

Er wurde regelmäßig mit verschiedenen wunderschönen Frauen gesehen. Doch keine blieb länger als zwei oder drei Wochen an seiner Seite. Die Liste seiner Verflossenen war ebenso schillernd wie lang. Und Mia gedachte nicht, zu einer weiteren Kerbe in seinem Bettpfosten zu werden.

Nicht, dass diesbezüglich irgendeine Gefahr bestand. Sie spielte wohl kaum in derselben Liga wie die Frauen, mit denen er sich sonst umgab. Jean-Pierre hatte es freundlich ausgedrückt, indem er sagte, sie sei anders als Lorenzos übliche Gespielinnen. Denn sie war anders, da gab sie sich keinerlei Illusionen hin.

Mit diesen spindeldürren Mannequins, die den ganzen Tag auf einem einzigen Salatblatt herumkauten, konnte sie nicht mithalten. Sie hatte vermutlich ein paar Kilo mehr auf den Rippen als notwendig, aber sie fühlte sich wohl in ihrem Körper, und das war ihr wichtiger als perfekte Maße.

Sie bezweifelte allerdings, dass ein Mann wie Lorenzo Conti das genauso sah.

Sie holte tief Luft und stellte das Whiskyglas auf der Küchenarbeitsplatte ab. „Ja, alles in Ordnung. Ich bin einfach nur nicht an harten Alkohol gewöhnt.“

„Nun, in dem Fall solltest du wohl besser die Finger davon lassen“, lautete sein leicht herablassend klingender Rat. „Und nun lass uns zum Thema kommen. Ich hatte den ganzen Abend über Zeit, darüber nachzudenken, und ich bin zu einem Entschluss gekommen.“

„Und der wäre?“

„Ich werde mich nicht auf einen Deal mit dir einlassen.“

Mia starrte ihn an. „Das kann nicht dein Ernst sein“, stieß sie hervor, als sie wieder in der Lage war, einen zusammenhängenden Satz zu formulieren. „Ich dachte, wir wären uns einig gewesen!“

Lorenzo verschränkte die Arme vor der Brust und unterdrückte den heftigen Drang, sich zu rechtfertigen. Aber warum sollte er? Er hatte ihr nichts versprochen. Ganz im Gegenteil sogar. Er hatte den heutigen Abend als Probe bezeichnet, und genau so wollte er es auch behandeln. Als Probe. Die fehlgeschlagen war.

Nun, vielleicht nicht fehlgeschlagen in strengem Sinne. Er musste zugeben, dass Mia sich wunderbar geschlagen hatte. Er hatte beinahe selbst geglaubt, dass es seine Verlobte war, die neben ihm am Tisch saß.

Und genau da lag das Problem.

Sie war ihm zu nahegekommen. Und wenn sie dieses Geschäft durchzogen, würden sie einander unweigerlich noch näherkommen.

Das durfte nicht geschehen.

Auf gar keinen Fall.

„Es ist mir sogar absolut ernst“, erwiderte er. „Ich bin dir sehr dankbar, dass du heute Abend so unvorbereitet als meine Verlobte eingesprungen bist. Aber wie schon gesagt, ich habe darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es keine gute Idee ist, weiterzumachen.“

„Und wie willst du das Jean-Pierre erklären? Er denkt doch jetzt, dass wir ein Paar sind.“

Sie hatte die Arme wie einen Schutzpanzer um ihren Körper geschlungen. Das Kinn gereckt, sah sie ihm geradewegs in die Augen.

„Würde mich ja schon interessieren, wie du dich aus der Geschichte herauswinden willst.“

Tja, das wusste er leider selbst noch nicht so genau. Fest stand nur, dass er eine Lösung finden musste.

Eine, die den Faktor Mia Varese nicht mit einschloss.

„Lass das ruhig meine Sorge sein“, entgegnete er kühl. „Das braucht dich nicht zu kümmern. Und weil du mir geholfen hast, möchte ich dir einen Rat mit auf den Weg geben: Mach einen großen Bogen um meinen Großvater. Ich weiß nicht, was er dir versprochen hat im Gegenzug dafür, dass du mich zu ihm nach Italien bringst, aber Salvatore Conti ist kein Mensch, der irgendetwas ohne Hintergedanken tut.“

„Was du wiederum meine Sorge sein lassen solltest.“ Sie funkelte ihn an „Das hattest du von Anfang an so geplant, oder? Du hast mich glauben lassen, du würdest auf meine Bedingung eingehen. Aber jetzt, wo es ernst wird, bekommst du kalte Füße.“

Er ballte die Hände zu Fäusten. „Du hast doch überhaupt keine Ahnung. Du kennst mich nicht und du weißt nichts über mich. Und vor allem weißt du nichts über meinen Großvater.“

„Ich weiß genug“, konterte sie energisch. „Ich weiß, dass er ein wohlhabender und äußerst einflussreicher Mann ist, der versucht, seine Familie wieder zusammenzubringen, und der deshalb zu verzweifelten Mitteln greift.“ Sie straffte die Schultern. „Was ich übrigens gut verstehen kann.“

„Wie wunderbar. Und du findest vermutlich, dass ich die Vergangenheit ruhen lassen und mich mit Salvatore aussöhnen sollte, wie?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Was spricht dagegen?“

„Alles.“ Als sie überrascht die Augen aufriss, schnaubte er. „Du hast keine Ahnung von den Umständen, unter denen ich Italien verlassen habe. Und ehrlich gesagt habe ich auch keine Lust, sie vor dir auszubreiten.“ Er schüttelte den Kopf. „Warum rede ich überhaupt mit dir? Die Tatsache, dass mein Großvater dich geschickt hat, sagt im Grunde doch schon alles. Entweder bist du rücksichtslos und berechnend wie er – oder einfach nur unglaublich naiv.“

„Unverschämtheit!“, protestierte sie. „Ich versichere dir, dass ich weder naiv noch berechnend bin. Ich will bloß meinen Job machen.“

„Tut mir leid, aber das kannst du vergessen. Ehe ich nach Italien zurückkehre, friert die Hölle zu!“

Sie begegnete seinem Blick fest, auch wenn in ihren Augen Tränen der Frustration schimmerten.

„Nun, wenn dein Entschluss feststeht, bleibt mir wohl nichts anders übrig, als zu gehen.“ Sie wandte sich ab und verließ die Küche, ohne sich noch einmal umzublicken.

Kurz darauf hörte Lorenzo, wie die Haustür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel.

Seufzend strich er sich mit dem Handrücken über die Augen.

Er hatte die richtige Entscheidung getroffen, so viel stand fest.

Jetzt musste es ihm nur noch gelingen, sich selbst davon zu überzeugen.

„Nein, Signore Conti, ich kann Ihnen noch nichts Konkretes sagen“, erklärte Mia ausweichend. „Ich hatte bisher nur kurz Gelegenheit, mit Ihrem Enkel zu sprechen und … Nein, als ich ihm sagte, dass Sie mich schicken …“ Sie atmete tief durch, hielt den Hörer ein Stück von ihrem Ohr fort und verstand Salvatore Conti trotzdem ohne Probleme. Sie wartete, bis er seinem Ärger Luft gemacht hatte, ehe sie wieder das Wort ergriff: „Ich versichere Ihnen, dass ich nichts unversucht lassen werde, um Ihren Enkel zu überzeugen“, erklärte sie, froh darüber, dass sie überzeugter klang, als sie sich fühlte.

Sie bezweifelte mittlerweile ernsthaft, dass Lorenzo ihr noch eine Chance geben würde, ihn umzustimmen.

Drei Tage war es nun her, seit sie im Streit aus seiner Villa gestürmt war. Drei Tage, in denen sie mehr oder minder tatenlos herumgesessen und die Hände in den Schoß gelegt hatte.

Das Problem war, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie weiter vorgehen sollte. Ihr Plan – wenn man es so nennen wollte – hatte vorgesehen, dass sie vor seiner Tür auftauchte, ihm kurz ihr Anliegen schilderte und er dann bereitwillig mit ihr in den nächsten Flieger stieg.

Rückblickend war sie vielleicht ein wenig zu optimistisch gewesen, aber das ließ sich nun nicht mehr ändern. Irgendwie musste sie es schaffen, wieder mit Lorenzo in Kontakt zu kommen. Nur wie? Er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er nicht vorhatte, sie zu seinem Großvater zu begleiten. Das bedeutete, sie würde ein wirklich gutes Argument brauchen, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

Nein, kein Argument – ein Wunder. Und ihrer Erfahrung nach konnte man auf Wunder nicht bauen.

„Ja, sicher, Signore Conti. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mir diese Chance gegeben haben. Sie können sich auf mich verlassen, ich werde Sie nicht enttäuschen.“

Ein paar Minuten später endete das Telefonat und Mia ließ sich erschöpft auf ihr Hotelbett sinken. Mit diesem Mann war wirklich nicht gut Kirschen essen. Sie schauderte bei dem Gedanken, wie er reagieren würde, wenn sie erfolglos blieb.

Aber nein, das durfte nicht geschehen. Sie musste einen Weg finden, Lorenzo zu überzeugen. Sie musste einfach. Wenn sie ihn nach Italien brachte, würde Salvatore Conti ihr eine Stelle als Rechtsberaterin für sein Weingut geben – das hatte er ihr versprochen. Mit dem Arbeitszeugnis, das ihr letzter Arbeitgeber ihr ausgestellt hatte, würde sie sonst nirgendwo etwas finden.

Sie brauchte diese Chance, sich zu beweisen.

Unbedingt.

Gedankenverloren starrte sie an die Zimmerdecke. Lange würde sie sich diese Unterkunft nicht mehr leisten können. Eigentlich hatte sie gar nicht vorgehabt, länger als ein, allerhöchstens zwei Nächte in Frankreich zu bleiben. Da war es kein Problem gewesen, dass das Hotel in der wunderschönen Altstadt von Nizza ein gutes Stück über ihrem Budget lag. Jetzt sah es allerdings nicht so aus, als würde sie so bald nach Italien zurückkehren können.

Seufzend legte sie sich einen Unterarm über die Augen. Vermutlich war es am besten, wenn sie sich gleich morgen auf die Suche nach einem billigen Pensionszimmer machte. Von Salvatore Conti war gewiss kein Geld zu erwarten, bis sie diese Angelegenheit für ihn erledigt hatte.

Als es an der Tür klopfte, richtete sie sich abrupt auf. Eigentlich konnte es sich nur um den Zimmerservice handeln, denn sie kannte hier in Frankreich niemanden. Nur warum?

„Ich habe nichts bestellt“, rief sie durch die geschlossene Tür.

„Machst du die verdammte Tür auf, oder muss ich mir erst vom Zimmermädchen den Generalschlüssel ausleihen?“

Diese Stimme …

Lorenzo!

Ihr stockte der Atem. Einen Moment überlegte sie, ob sie sich einfach tot stellen sollte, aber das war natürlich vollkommen absurd. Er wusste schließlich längst, dass sie da war. Und außerdem wollte sie nicht, dass er sie für einen Feigling hielt.

Mit zitternden Knien stand sie auf und ging zur Tür.

Reiß dich zusammen, Mia. Das ist doch genau die Gelegenheit, auf die du gehofft hast. Nutz diese Chance!

Sie drückte die Klinke hinunter, holte noch einmal tief Luft und öffnete.

„Lorenzo“, sagte sie, und hasste, wie unsicher ihre Stimme klang. „Mit dir habe ich nicht gerechnet. Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?“

Er machte Anstalten, sich an ihr vorbei ins Zimmer zu drängen. „Können wir das drinnen besprechen?“

Einen kurzen Moment lang war sie versucht, ihm den Eintritt zu verweigern, einfach nur aus einer kindischen Laune heraus. Doch dann rief sie sich zur Ordnung und trat zur Seite. „Aber natürlich. Komm herein.“

Es fühlte sich seltsam an, mit ihm auf engstem Raum zu sein. Wobei von eng eigentlich nicht die Rede sein konnte, denn das Zimmer war geräumig und zudem sehr modern und luxuriös eingerichtet. Dennoch fühlte sie sich eher, als würde sie zusammen mit ihm in einer winzigen Abstellkammer stehen.

Die Luft zwischen ihnen schien zu knistern vor aufgestauter Energie. Mia sah Lorenzo an, der ihren Blick kühl erwiderte. Doch so ganz gelang es ihm nicht, die stoische Maske aufrechtzuerhalten. Sie zeigte Risse. Er stand offensichtlich unter Stress.

„Also?“, fragte sie. „Was führt dich zu mir? Ich hätte nicht gedacht, dass du mich aus eigenem Antrieb aufsuchen würdest. Immerhin warst du sehr deutlich in deiner Zurückweisung, als wir uns zum letzten Mal gesehen haben.“

„Wenn du jetzt eine Entschuldigung von mir erwartest, dann muss ich dich enttäuschen.“

Sie lachte auf. „Keine Sorge, nichts liegt mir ferner. Eine Erklärung würde mir schon reichen. Wie hast du mich überhaupt gefunden? Ich kann mich nicht erinnern, Gelegenheit gehabt zu haben, dir mein Hotel zu nennen.“

„Das war nicht weiter schwierig. Immerhin gehört mir dieses Hotel.“

Er presste die Lippen zusammen, und sie konnte sehen, wie schwer es ihm fiel, die richtigen Worte zu finden.

Schließlich schnaubte er frustriert. „Mia, ich muss noch mal in Ruhe mit dir reden. Vielleicht war ich ein wenig … voreilig.“

Mia blinzelte überrascht. Hatte sie gerade richtig gehört?

„Wie meinst du das?“

„Du weißt verdammt genau, wie ich das meine“, grollte er. „Stell dich nicht dumm, das steht dir nicht.“

„Ich stelle mich keineswegs dumm, ich weiß nur gern, woran ich bin. Nun?“

Sie bemerkte, dass er immer wieder die Fäuste schloss und öffnete. Schließlich fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar.

„Ich brauche deine Hilfe, Mia. Ich habe hin und her überlegt, aber mir fällt einfach keine Alternative ein. Jean-Pierre ist ein alter, herzkranker Mann. Ich weiß nicht, wie er es aufnehmen würde, wenn ich ihm jetzt reinen Wein einschenkte.“

„Darüber hättest du vielleicht nachdenken sollen, bevor du dir diesen absurden Plan ausgedacht hast“, entgegnete sie schärfer als beabsichtigt.

Sie wusste verflixt gut, wie leicht einem eine Situation über den Kopf wachsen konnte. Ihr war es ja nicht viel anders ergangen, auch wenn in ihrem Fall Clint es gewesen war, der den Fehler gemacht hatte.

Einen Fehler, für den sie den Kopf hinhalten musste.

Sie holte tief Luft und schob den Gedanken an diesen wenig erfreulichen Teil ihrer Vergangenheit beiseite. Jetzt war wohl kaum der rechte Moment, um sich mit Erinnerungen zu plagen. Um es mit Lorenzo aufnehmen zu können, musste sie voll und ganz bei der Sache sein.

„Du möchtest also nun doch, dass ich deine Verlobte spiele, habe ich das richtig verstanden?“ Sie bedachte ihn mit einem herausfordernden Blick. „Und du erwartest von mir, dass ich mich damit einfach so einverstanden erkläre? So, wie du mich neulich Abend behandelt hast?“

Erneut strich er sich durchs Haar, dieses Mal begleitet von einem tiefen Seufzen. „Also gut, vielleicht schulde ich dir tatsächlich eine Entschuldigung. Ich war brüsk zu dir. Das hast du nicht verdient. Aber was meinen Großvater betrifft …“

„Ja?“

„Sagen wir, das Thema ist für mich ein wenig heikel.“

„Das habe ich bemerkt“, murrte sie leise. Dann fuhr sie lauter fort: „Also schön, dir ist aber hoffentlich klar, dass sich an meiner Bedingung nichts geändert hat. Ich erwarte, dass du mich im Gegenzug für meine ‚Dienste‘ zu deinem Großvater nach Italien begleitest. Dieser Punkt ist nicht verhandelbar.“

Er zögerte zunächst, gab sich dann jedoch geschlagen. „Mir bleibt wohl keine andere Wahl, als darauf einzugehen, auch wenn ich es nicht gerne mache. In Ordnung, ich werde tun, was du von mir verlangst – allerdings erst, nachdem Jean-Pierre wieder abgereist ist.“

Erschrocken blinzelte Mia. „Wie lange wird er denn bleiben?“

„Nun, mindestens bis nach seinem Geburtstag Ende nächster Woche.“ Er zuckte die Achseln. „Er hat mir keinen genauen Termin genannt, aber ich weiß, dass er, seit ich die Geschäfte übernommen habe, seine Zeit lieber auf Korsika verbringt. Ich rechne also nicht damit, dass er länger hier verweilen wird als unbedingt nötig. Die Feier findet am Sonntag in meinem Hotel Saint-Tropez statt. All seine Freunde und Bekannten werden kommen – viele davon sind inzwischen ziemlich alt und leben nicht mehr in Frankreich. Es war nicht leicht, das alles zu organisieren, aber ich will, dass nichts diesen Tag verdirbt.“

„Zehn Tage?“ Mia atmete tief durch. Salvatore Conti machte ihr schon jetzt, nach drei Tagen, unglaublich Druck. Wie sollte sie ihm begreiflich machen, dass er sich noch mindestens zehn weitere Tage in Geduld würde fassen müssen?

Doch immerhin konnte sie ihm mit Sicherheit sagen, dass sie nach Ablauf der Frist mit seinem Enkel zu ihm nach Italien kommen würde. Damit wäre ihre Aufgabe erfüllt, und sie konnte sich ihren wohlverdienten Lohn abholen, eine Anstellung als Rechtsberaterin der Conti Winery.

Es war ihre große Chance, ihren Namen, der durch Clints Feigheit und seine Lügen beschmutzt worden war, reinzuwaschen. Und wenn ihr das erst einmal gelungen war, dann stand ihrer Karriere endlich nichts mehr im Wege. Sie würde es all denen beweisen, die hinter ihrem Rücken über ihre angebliche Inkompetenz tuschelten. Sie würde es Clint beweisen, der nie auch nur ein einziges Wort des Bedauerns hervorgebracht oder sie gar verteidigt hatte.

Vor allen anderen aber würde sie es sich selbst beweisen.

Sie war eine Kämpferin, und nur weil ihr Weg nicht so gerade und eben verlief, wie sie es sich vielleicht erhofft hatte, bedeutete das noch lange nicht, dass sie aufgeben würde.

Nein, auf gar keinen Fall.

„Zehn Tage – mindestens“, entgegnete Lorenzo. „Und das ist von meiner Seite aus nicht verhandelbar. Jean-Pierre darf selbstverständlich nichts merken, sonst ist unsere Vereinbarung sofort hinfällig. Für ihn mache ich das alles schließlich überhaupt nur.“

Mia hielt es für besser, sich mit einem Kommentar zurückzuhalten. Ihrer Meinung nach war diese ganze Idee mit der vorgespielten Verlobung von vorneherein nicht gut durchdacht gewesen. Aber das war nicht ihr Problem – zumindest nicht, solange es ihnen gemeinsam gelang, Jean-Pierre zu überzeugen.

Sie streckte Lorenzo die Hand entgegen. „Gut, dann schlag ein, und wir haben einen Deal. Und komm bloß nicht auf den Gedanken, dich mit irgendwelchen Ausflüchten aus der Affäre ziehen zu wollen. Ich werde selbstverständlich einen Vertrag aufsetzen, und der wird absolut wasserdicht sein.“

Er ergriff ihre Hand, und das Gefühl, das Mia durchzuckte, als er sie berührte, war unbeschreiblich. Ein Flattern wie von tausend Schmetterlingen, die in ihrem Bauch aufstoben. Doch sie zwang sich, sich nichts anmerken zu lassen. Lorenzos Ego war auch so schon groß genug. Falls ihm klar wurde, wie stark sie sich zu ihm hingezogen fühlte, würde es unerträglich sein, mit ihm zusammenzuarbeiten.

„Und wie soll es nun weitergehen?“, fragte sie, um davon abzulenken, dass sie ihm hastig ihre Hand entzog. „Wie muss ich mir die kommende Woche vorstellen?“

„Ganz einfach. Du packst deine Sachen zusammen, und ich hole dich in einer Stunde hier ab.“

Damit überrumpelte er sie völlig. „Abholen? Wo wollen wir denn hin? Und warum soll ich packen?“

„Nun, zum einen, weil du von nun an natürlich bei mir wohnen wirst.“

Sie riss die Augen auf. „Wie bitte?“

Er war jedoch noch nicht fertig. „Aber heute fahren wir erst mal raus auf Jean-Pierres Landgut in der Nähe von Grasse. Er hat uns nämlich eingeladen, das Wochenende bei ihm zu verbringen.“

Ein Wochenende zusammen mit Lorenzo auf dem Landgut seines Ziehvaters? Achtundvierzig Stunden in seiner unmittelbaren Nähe? Mia unterdrückte ein Aufstöhnen. Wie sollte sie das bloß durchstehen?

3. KAPITEL

Purpurfarbene Lavendelfelder erstreckten sich rechts und links der gewundenen Straße, die gesäumt wurde von knorrigen Korkeichen und gelb blühendem Ginster. Über allem spannte sich der Himmel, der so blau war, dass es fast schon unwirklich erschien.

Mia konnte sich gar nicht sattsehen an der Landschaft, die am Beifahrerfenster vorüberflog. Und sie war mehr als dankbar für die Ablenkung, denn Lorenzo saß neben ihr auf dem Fahrersitz.

Immer, wenn sie einen kurzen Blick in seine Richtung riskierte, fing ihr Herz zu flattern an. Warum nur war er so unverschämt attraktiv? Alles wäre viel leichter, wenn sie sich nicht so stark zu ihm hingezogen fühlen würde, sodass es ihr schwerfiel, in seiner Gegenwart auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

Nervös trommelte sie mit den Fingern auf ihrem Oberschenkel und versuchte, sich wieder auf ihre Umgebung zu konzentrieren. Vergeblich. Auf engstem Raum mit ihm eingepfercht zu sein, glich einer süßen Folter. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihr Ziel bald erreicht hatten, denn sie wusste nicht, wie lange sie das aushielt.

„Wie weit ist es noch?“, fragte sie.

„Etwa eine halbe Stunde“, entgegnete er. „Und die Zeit sollten wir nutzen, uns ein bisschen besser kennenzulernen.“

Er hatte recht, es wäre hilfreich, wenn sie zumindest einige Dinge übereinander wussten. Ansonsten würde es schwer werden, überzeugend das verliebte Paar zu geben.

Nur, dass sie genau das eigentlich nicht wollte. Mehr über ihn zu erfahren bedeutete zugleich, ihn näher an sich heranzulassen. Und das war in ihrer Situation ganz und gar keine gute Idee.

Aber was sollte sie tun? Sich weigern? Nein, das war wohl kaum möglich.

„Schön“, sagte sie und trommelte energischer. „Was willst du wissen?“

Er überlegte kurz. „Was ist deine Lieblingsfarbe?“, fragte er schließlich.

Verblüfft sah sie ihn an. „Das ist das Erste, was dir einfällt?“

Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, zuckte er die Achseln. „Irgendwo müssen wir ja anfangen. Also?“

Kurz dachte sie darüber nach, dann sagte sie: „Rot.“ Er verzog das Gesicht, und sie runzelte die Stirn. „Was?“

„Nichts. Ich habe dich nur eher für einen Pastell-Typ gehalten.“

Sie blinzelte. „Was um Himmels willen ist ein Pastell-Typ? Sehe ich für dich wie eins dieser Püppchen aus, die sich anziehen, als wären sie in die Eiscremeauslage gefallen?“

„Nein. Eigentlich nicht.“

„Gut, dann sind wir uns ja einig. Und was ist mit dir? Nein, lass mich raten. Deine Lieblingsfarbe ist Schwarz.“

„Wie meine Seele, meinst du?“

Sie konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Na, so schlimm bist du auch wieder nicht.“

„Du hast nicht die geringste Ahnung“, entgegnete er trocken. „Aber du täuschst dich trotzdem. Meine Lieblingsfarbe ist Gelb. Und meine Lieblingsblumen sind Sonnenblumen.“

Irgendwie überraschte sie das – und vor allem fand sie es überraschend sympathisch. „Wolltest du eigentlich immer schon in Hotels machen?“

Er setzte den Blinker und bog in eine deutlich schmalere Straße ein, die mitten durch die Lavendelfelder führte. „Ich weiß nicht“, sagte er. „Als ich nach Frankreich kam, hatte ich überhaupt keinen Plan. Ich wollte einfach nur weg von meinem Großvater. Ausbrechen aus dem goldenen Käfig, den er für meine Brüder und mich gebaut hatte. Dass ich auf Jean-Pierre traf, war reiner Zufall. Ich hätte ebenso gut auch an den Falschen geraten können, dann wäre mein Leben in gänzlich anderen Bahnen verlaufen. Du siehst also, ich verdanke Jean-Pierre alles. Aber ob ich ohne ihn jemals Hotelier geworden wäre, kann ich dir rückblickend wirklich nicht sagen.“ Er warf ihr einen kurzen Blick zu. „Und du? Warum bist du Anwältin geworden?“

„Als ich mit dem Studium begann, wollte ich vor allem eins, etwas Gutes tun. Einen Unterschied machen. Im Laufe der Zeit wurde mir jedoch klar, dass ich die Dinge vielleicht ein bisschen zu sehr in Schwarz und Weiß sah.“

„Das klingt, als hättest du den Glauben an die Gerechtigkeit verloren.“

Sie dachte kurz darüber nach, ehe sie den Kopf schüttelte. „Nein, so weit würde ich nicht gehen. Aber in meinem Beruf gibt es viele Grauzonen. Ohne Ausnahme jeder hat ein Recht darauf, bestmöglich vertreten zu werden. Und dabei ist es vollkommen unbedeutend, ob der Klient einem persönlich sympathisch ist oder nicht.“

„Nun, anderenfalls würde wohl niemand freiwillig für meinen Großvater arbeiten“, gab er nüchtern zurück. „Man kann ihm vieles nachsagen, aber gewiss nicht, dass er besonders sympathisch ist.“

Wieder musste Mia schmunzeln. „Und deine nächste Frage?“

„Mich würde interessieren, wie du an Salvatore geraten bist. Versteh mich nicht falsch, aber du bist noch sehr jung. Normalerweise arbeitet mein Großvater nur mit angestaubten alten Männern, so wie er selbst einer ist, zusammen. Dass er einer aufstrebenden jungen Anwältin eine Chance gibt, sich zu beweisen, erscheint mir eher untypisch für ihn.“

Mia holte tief Luft. Das Thema war ihr alles andere als angenehm. Sie kannte Lorenzo schließlich kaum und sie wusste wirklich nicht, ob sie so persönliche Informationen mit ihm teilen wollte. Hinzu kam, dass es nichts mit der Rolle, die sie spielen sollte, zu tun hatte.

Warum stellte er ihr eine solche Frage überhaupt? Warum interessierte er sich für ihre Geschichte?

Nein, korrigierte sie sich sofort. Es ging ihm dabei nicht wirklich um sie, sondern um seinen Großvater.

Sie schüttelte den Kopf. „Er hat mir seine Beweggründe nicht dargelegt“, erwiderte sie kühl. „Ist das wichtig?“

„Nein“, sagte er. „Eigentlich nicht. Und wir müssen unser amüsantes kleines Fragespiel zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen. Das dort vorn ist Jean-Pierres Landgut.“

Mia war durch ihre Unterhaltung so abgelenkt gewesen, dass sie gar nicht mehr zum Fenster hinausgesehen hatte. Als sie es jetzt tat, stockte ihr der Atem.

„Das soll ein Landgut sein?“, stieß sie ungläubig hervor. „Für mich sieht es eher wie ein Schloss aus!“

Aus den allgegenwärtigen Lavendelfeldern erhob sich ein zweiflügeliges Gebäude, dessen Herz ein runder Turm bildete, den eine Spitzkuppel krönte. Die sandbraune Fassade war schmucklos, aber imposant, die mit roten Ziegeln gedeckten Dächer hoben sich scharf gegen den blauen Sommerhimmel ab.

„Früher mal war es eine Abtei, doch die wurde schon vor mehr als hundert Jahren aufgegeben. Das ganze Anwesen war ziemlich heruntergekommen, als Jean-Pierre es kaufte. Er hat es von Grund auf restaurieren und renovieren lassen, wobei ihm besonders wichtig war, den einmaligen Charakter des Gebäudes zu erhalten.“

„Das ist ihm gelungen“, entgegnete Mia ehrfürchtig.

Durch einen Torbogen fuhren sie auf den Innenhof des Klostergeländes. Der Boden war mit Kopfstein gepflastert. Es gab einen Brunnen und mehrere Platanen, die Schatten spendeten.

Unter einem der Bäume stellte Lorenzo seinen Wagen ab. Er stieg aus und kam auf die Beifahrerseite herum, um ihr die Tür zu öffnen. Mia war ein wenig überrascht über sein galantes Verhalten, bis sie Jean-Pierre erblickte, der auf einem kleinen Balkon, kaum mehr als ein Austritt, stand und ihnen erfreut zuwinkte.

Alles nur Show …

Lorenzo bot ihr seinen Arm an, und sie hakte sich bei ihm unter. Dabei versuchte sie krampfhaft zu ignorieren, wie ihr Herz gleich wieder zu flattern begann.

Als sie ins kühle Innere der Eingangshalle traten, kam Jean-Pierre gerade die breite Treppe herunter. Er stützte sich schwer auf das Geländer, doch sein strahlendes Lächeln war so ansteckend, dass auch ihre Mundwinkel nach oben zuckten.

„Mia, meine Liebe“, rief er. „Was für eine Freude, dass Sie es einrichten konnten. Lorenzo war sich nicht sicher, ob es Ihnen so kurzfristig möglich sein würde, meiner Einladung zu folgen.“

Sie machte sich von Lorenzo los und ging auf Jean-Pierre zu, der sie in seine Arme schloss wie eine verlorene Tochter. Und auch wenn es sich vielleicht falsch anfühlen sollte, war das Gegenteil der Fall. Jean-Pierre war ihr einfach unglaublich sympathisch. Dass er Lorenzo viel bedeutete, war kein Wunder. Ihr war selten ein Mensch begegnet, der so herzlich und gütig war wie er. Der Unterschied zu Salvatore Conti könnte kaum größer sein.

„Ich bin auch froh“, sagte sie. „Sie haben es wirklich schön hier.“

„Nicht wahr? Eigentlich ist es schade, dass ich so wenig Zeit hier verbringe. Aber mein Herz ist nun mal auf Korsika, was soll ich sagen? Eines Tages wird all das hier einmal Lorenzo gehören.“

„Na, bis dahin vergehen ja wohl hoffentlich noch viele Jahre“, hörte sie Lorenzo hinter sich einwenden.

Jean-Pierre entließ sie aus seiner Umarmung und lachte. „Ein paar gute würden mir schon reichen“, sagte er. „Ich bin ein alter Mann am Ende eines langen, erfüllten Lebens. Zwar hat mir das Schicksal keine eigenen Kinder vergönnt, aber dafür habe ich Lorenzo, der für mich ist wie mein eigen Fleisch und Blut. Ich könnte mir gar keinen besseren Sohn wünschen. Und dass er jetzt mit Ihnen sein Glück gefunden hat … Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr mich das freut.“

Mia schluckte. Mit einem Mal kamen ihr Gewissensbisse. War es verzeihlich, den älteren Mann so anzulügen? Es war ihm offenbar tatsächlich ein Herzenswunsch, dass Lorenzo die Richtige fand. Und auch, wenn es sicher löblich war, dass der ihm diesen Wunsch erfüllen wollte, erschien ihr der Weg, den er dafür gewählt hatte, doch falsch.

Nur durfte sie sich da wirklich ein Urteil erlauben? Es ging sie ja im Grunde nichts an. Hauptsache, Lorenzo hielt sich an seinen Teil der Vereinbarung – oder?

„Jetzt kommt aber erst mal rein, Kinder“, sprach Jean-Pierre weiter und deutete in Richtung Treppe. „Ich zeige euch eure Zimmer, und Philippe wird nachher das Gepäck nach oben bringen.“

Er ging voran, und Mia und Lorenzo folgten ihm ins obere Stockwerk, das nicht weniger eindrucksvoll war als die Eingangshalle. An der nackten Steinmauer auf der einen Seite hingen Gemälde im Stil von Paul Cézanne, die Szenen aus der Provence zeigten und verdächtig nach Originalen aussahen. Auf der anderen Seite eröffneten von Säulen gerahmte Fenster einen Ausblick auf den Innenhof.

„Da wären wir“, verkündete Jean-Pierre nach einer Weile und öffnete die Tür zu einem Raum, der im Licht der langsam dem Horizont entgegensinkenden Sonne regelrecht zu glühen schien. Es war riesig und komfortabel und gemütlich eingerichtet. Bei den Möbeln handelte es sich um kostbare Antiquitäten, dennoch hatte man nicht das Gefühl, sich in einem Museum zu befinden. Durch eine offen stehende Tür konnte man einen Blick ins Schlafzimmer erhaschen.

„Ich hoffe, ihr fühlt euch wohl hier“, sagte Jean-Pierre. „Und keine Sorge, die Wände sind sehr dick und absolut schalldicht.“

Er zwinkerte ihr zu, und Mia schluckte trocken. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass man von ihr erwartete, in einem Bett mit Lorenzo zu schlafen. Das würde sie natürlich auf gar keinen Fall tun. Sobald Jean-Pierre sie allein ließ, würde sie ihm das klipp und klar sagen.

Wie sich herausstellte, war das gar nicht nötig.

Jean-Pierre war kaum zur Tür hinaus, da sagte Lorenzo auch schon: „Du kannst das Bett haben, ich werde auf dem Boden schlafen.“

Die Vorstellung schien ihm nichts auszumachen, doch bei Mia regte sich das schlechte Gewissen. Aber was war die Alternative? Der Diwan im Wohnraum war viel zu kurz für Lorenzo, ansonsten standen nur Stühle zur Verfügung. Im Sitzen zu schlafen war vermutlich nicht angenehmer als auf dem Boden. Und es war ja nicht so, als hätte sie ihm die Pistole auf die Brust gesetzt. Nein, er war von selbst auf den Gedanken gekommen.

Es gab noch einen weiteren Grund, warum es besser war, wenn Lorenzo mit ihr im Schlafzimmer übernachtete, und der zeigte sich, als nach einem kurzen Klopfen ein fremder Mann, der ihre Koffer trug, in den Raum trat.

„Wo darf ich Ihr Gepäck hinbringen, Monsieur Lorenzo?“, fragte er.

„Ins Schlafzimmer“, entgegnete Lorenzo. „Stellen Sie es ruhig neben der Tür ab, Philippe. Um den Rest kümmern wir uns schon selbst.“

„Läuft das immer so?“, fragte Mia, nachdem er gegangen war. „Ein kurzes Klopfen, und dann platzt er einfach so ins Zimmer?“

„Philippe begleitet Jean-Pierre überallhin, er gehört praktisch zum Inventar und ist extrem loyal und diskret. Und um deine Frage zu beantworten: Ja, er geht hier überall im Haus aus und ein. Aber keine Sorge, unser Schlafzimmer wird er nicht ohne Aufforderung betreten.“

Mia nickte. Vermutlich war es für Menschen, die in solchen Verhältnissen aufgewachsen waren, völlig normal, immerzu fremde Leute um sich zu haben. Für sich selbst konnte sie sich das absolut nicht vorstellen. Wenn sie ihre Wohnungstür hinter sich zuzog, blieb der Rest der Welt außen vor. Sie könnte sich beim besten Willen nicht mit dem Gedanken anfreunden, ihre eigenen vier Wände mit jemandem zu teilen, mit dem sie sich nicht in irgendeiner Form von persönlicher Beziehung befand.

„Was ist los?“, fragte Lorenzo und riss sie aus ihren Gedanken. „Du wirkst irritiert. Ich kann dir versichern, dass Philippe sich nie irgendwelche Freiheiten herausnehmen würde und …“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich … Das ist alles nur so ungewohnt, aber damit komme ich schon zurecht.“ Sie setzte sich auf den antiken, mit altroséfarbenem Brokat bezogenen Diwan. „Und jetzt? Wie verbringen wir den Rest des Abends?“

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Jean-Pierre isst üblicherweise so gegen acht. Bis dahin sind es noch zwei Stunden. Ich schlage vor, dass ich dich ein wenig herumführe. Wenn du willst, kann ich dir auch die Stallungen zeigen, die …“

„Stallungen?“ Sie riss die Augen auf. „Du meinst, Jean-Pierre besitzt Pferde?“

Ein Schmunzeln umspielte seine Lippen. „Da habe ich wohl wieder etwas Neues über dich gelernt. Du magst also Pferde.“ Er nickte. „Hier sind es nur drei oder vier, um die sich das ganze Jahr über ein fest angestellter Stallmeister kümmert. Auf Korsika hat Jean-Pierre ein eigenes kleines Gestüt. Seine Knabstrupper sind bei Liebhabern überall auf der Welt begehrt.“

„Ja“, sagte sie. „Ich mag Pferde, und ich würde mir die Stallungen sehr gern ansehen.“

Er nickte. „Wer weiß? Vielleicht können wir ja morgen einen Ausritt unternehmen, wenn das Wetter so gut bleibt.“

Mia konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Auf einmal freute sie sich sogar ein bisschen auf das gemeinsame Wochenende.

Nur der Pferde wegen, selbstverständlich.

„Ich ziehe mir rasch etwas Bequemeres an“, sagte sie, „dann können wir sofort los.“

Er lachte. „So enthusiastisch habe ich dich bisher noch nie erlebt.“

Es lag ihr auf der Zunge, zu sagen, dass er sie nun mal nicht kannte, doch sie hielt sich zurück. Der Abend hatte überraschend eine erfreulich positive Wendung genommen, und das wollte sie nicht durch ein paar leichtfertig dahingesagte Worte ruinieren.

„Sie haben wirklich prachtvolle Pferde“, schwärmte Mia einige Stunden später, als sie gemeinsam mit Jean-Pierre beim Abendessen zusammensaßen.

Es gab eine köstliche Bouillabaisse und dazu fantastisch duftendes, warmes Socca – eine herzhafte Variante von Crêpes –, und sie hatte sich über beides mit großem Appetit hergemacht.

„Und die Stallungen sind ein Traum“, fuhr sie zwischen zwei Löffeln Bouillabaisse fort. „Reiten Sie häufig?“

Lorenzo fand es erfrischend, mit einer Frau zu essen, die nicht bei jedem Bissen, den sie zu sich nahm, automatisch Kalorien zählte. Natürlich war sie entsprechend etwas kurviger als die Frauen, mit denen er üblicherweise ausging. Doch er konnte nicht behaupten, dass ihn das störte.

Im Gegenteil sogar – was schon wieder besorgniserregend war. Er sollte sich gar nicht dafür interessieren, wie sie aussah. Mia Varese war nur ein Mittel zum Zweck. Wäre sie nicht zufällig in dem Moment da gewesen, als Jean-Pierre bei ihm aufgetaucht war, er hätte sie nach ihrer ersten Begegnung wahrscheinlich niemals wiedergesehen. Und vermutlich wäre das auch besser so gewesen. Doch die Situation war nun einmal so, wie sie war, und er würde einfach das Beste daraus machen müssen.

Wichtig war auf jeden Fall, dass Jean-Pierre sie anscheinend sehr mochte. Die beiden waren auf einer Wellenlänge, das konnte er nicht abstreiten. Daher war es nicht verwunderlich, dass der alte Mann wegen ihrer angeblichen Verlobung absolut ekstatisch war. Lange hatte er immerhin schon gar nicht mehr damit gerechnet, dass sein Ziehsohn noch die Richtige finden würde. Dass es jetzt ausgerechnet Mia sein sollte, musste ihm fast wie ein Sechser im Lotto vorkommen.

Er konnte ja nicht ahnen, dass nichts so war, wie es den Anschein machte.

„Früher bin ich gern ausgeritten“, entgegnete Jean-Pierre, den Mias Komplimente sichtlich mit Stolz erfüllten. „Nicht, dass ich häufig Gelegenheit dazu gehabt habe.“ Seufzend zuckte er die Achseln. „Heute bin ich Privatier und habe alle Zeit der Welt, aber dafür spielt die Gesundheit nicht mehr so richtig mit. Mein Arzt rät mir von ausgedehnten Ausflügen zu Pferde ab – er fürchtet, ich könne mich überanstrengen.“

„Und du solltest auf ihn hören, denn immerhin ist er der Experte, nicht du“, warf Lorenzo ein. „Du weißt, dass ich mich nur ungern in deine Angelegenheiten einmische, aber deine Gesundheit ist mir sehr wichtig.“

„Ja, ja, ich weiß.“ Jean-Pierre hob beschwichtigend eine Hand. „Und ich bin dir dankbar dafür, wirklich. Es ist der Fluch des Alters, dass der Kopf zwar vollkommen klar ist, der Körper aber nicht mehr so mitspielt, wie man das gerne hätte.“ Er lachte auf. „Glauben Sie mir, Mia, ich würde um keinen Preis der Welt wieder dreißig sein wollen. Mir gefällt mein Leben so, wie es heute ist, und ich will all die Erfahrungen, die Fehler, die ich gemacht, und die Lehren, die ich daraus gezogen habe, um nichts auf der Welt missen. Trotzdem ist es mitunter frustrierend, sich noch so viel jünger zu fühlen, als man ist.“

Mia nickte verständnisvoll. Lorenzo hatte keine Ahnung, ob sie wirklich so mitfühlend war oder sich einfach nur gut verstellen konnte.

„Ich kann mir nur wünschen, dass ich eines Tages einmal dasselbe sagen werde“, entgegnete sie. „So, wie es klingt, haben Sie ein buntes und ausgefülltes Leben geführt. Das kann nicht jeder von sich behaupten. Die meisten Menschen blicken zurück und bereuen vor allem die Dinge, die sie nicht getan haben.“

„Das stimmt leider. Aber Sie haben recht – ich kann froh sein. Und das bin ich auch.“ Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. „Heute mehr denn je. Und deshalb habe ich Philippe gebeten, eine Flasche unseres besten Champagners aus dem Keller zu holen. Schau mich nicht so vorwurfsvoll an, Lorenzo. Ein Schlückchen in Ehren kann doch nun wirklich niemand verwehren.“

Lorenzo hob eine Braue, sagte aber nichts. Er wollte Jean-Pierre nicht bevormunden – das stand ihm auch gar nicht zu. Er mischte sich nur ein, weil er sich um das Wohlergehen seines väterlichen Freundes sorgte. Mit seinen nun fast achtzig Jahren war Jean-Pierre eben nicht mehr der Jüngste. Und dann die Sache mit seinem Herzen …

Schließlich strich er sich seufzend durchs Haar. „Sicher, stoßen wir an. Anlass genug gibt es ja nun wirklich.“

Philippe trat mit einem Tablett ein, auf dem er eine Flasche im Kühler und drei Gläser balancierte. Er schenkte ein und reichte zuerst Mia, dann ihm und Jean-Pierre je ein Glas, wobei Letzteres nur zur Hälfte gefüllt war.

Lorenzo lächelte. Philippe mochte auf dem Papier nur ein Angestellter sein, aber im Laufe der Jahre war er für Jean-Pierre vielmehr zu einem Freund und Wegbegleiter geworden. Und obwohl er eine direkte Anweisung von Jean-Pierre nie missachten würde, so zeigte er auf diese Weise doch, wie besorgt auch er um ihn war.

Lorenzo war froh darüber, denn so gab es immer jemanden, der ein Auge auf Jean-Pierre hatte und aufpasste, dass er es nicht übertrieb. Für einen Mann seines gesetzten Alters war er nämlich manchmal ein bemerkenswerter Sturkopf.

„Auf euch beide und euer gemeinsames Glück“, verkündete Jean-Pierre strahlend.

„Auf dich“, entgegnete Lorenzo und hob sein Glas. Es kam ihm nicht richtig vor, auf etwas zu trinken, das in Wahrheit gar nicht existierte.

Mia tat es ihm gleich. „Auf Sie. Mögen all Ihre Wünsche in Erfüllung gehen.“

„Das sind sie bereits, ma belle.“

Das Kristall der Gläser klirrte leise, als sie alle drei miteinander anstießen. Als Lorenzo zu ihr hinübersah, bemerkte er, dass Mias Wangen gerötet waren. Ob aufgrund der Wärme oder des Schlückchens Alkohol, den sie getrunken hatte, konnte er nicht sagen, doch zu seinem Erstaunen fand er es … süß?

Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Was war nur mit ihm los? Er fand Frauen attraktiv, anziehend oder einfach nur schön. Aber süß? Das war ein Wort, das er mit Hundewelpen oder Katzenbabys verband, nicht mit Frauen. Dennoch traf es auf Mia irgendwie zu. Und vermutlich würde sie – wie ein Katzenbaby – auch gleich ihre Krallen ausfahren, sollte er es wagen, dergleichen laut zu äußern.

Ein Schmunzeln umspielte seine Lippen, was er erst registrierte, als er Jean-Pierre leise seufzen hörte.

„Junge Liebe – muss das schön sein …“

Lorenzo runzelte die Stirn, bemühte sich aber gleich wieder um einen entspannten Gesichtsausdruck. Jean-Pierre sollte Mia und ihn ja für glücklich verliebt halten. Das war der Sinn und Zweck dieser ganzen Scharade. Deswegen nun Gewissensbisse zu bekommen, war völlig kontraproduktiv.

„Was machen Sie eigentlich beruflich?“, fragte Jean-Pierre, als sie etwas später gemeinsam vor dem Kamin im großen Salon saßen. „Lorenzo hat mir leider bisher nicht viel erzählt. Er tat, was Sie betrifft, immer sehr geheimnisvoll, wissen Sie?“

Mia lachte. „Ich bin Anwältin“, erwiderte sie. „Aber ich stehe noch ganz am Anfang meiner Karriere und muss mir in der Branche erst einmal einen Namen machen. Sie sehen also, dass es da wirklich nicht viel zu erzählen gibt. Ich bin keine aufregende Person – im Gegensatz zu Lorenzo. Offen gestanden hätte ich mir bis vor Kurzem nicht vorstellen können, ein solches Leben zu führen wie er. Ich bin nicht besonders anspruchsvoll, mir sind Spaghetti Napoli lieber als Kaviar, und bevor ich Champagner trinke, nehme ich lieber ein Glas Apfelschorle.“ Sie lächelte verlegen. „Nichts gegen Ihren Champagner, Jean-Pierre. Er ist wirklich sehr gut.“

„Keine Sorge, ich verstehe das. Ich bin ebenfalls nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden, und obwohl es schwer vorstellbar erscheint – selbst an Luxus muss man sich erst einmal gewöhnen. Zudem finde ich es gut, wenn Menschen auf dem Boden bleiben, auch wenn sie zu Geld kommen. Ein Vermögen ist schnell wieder verloren. Es gibt wichtigere Werte im Leben.“

„Ja.“ Sie nickte. „Da haben Sie vollkommen recht.“

„Es ist schon spät“, sagte Lorenzo, obwohl ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es gerade mal kurz vor neun war. Doch aus irgendeinem Grund wollte er den gemeinsamen Abend lieber früher als später beenden. Nur warum?

Wohl kaum, weil er Mia für sich allein haben wollte – oder?

Nein. Was für ein absurder Gedanke. Sie waren hier, um Jean-Pierre zu zeigen, was für ein schönes Paar sie abgaben. Zeit allein mit Mia zu verbringen war entsprechend nichts, was er anstreben sollte. Und das tat er natürlich auch nicht. Denn er brauchte sie nur, um Jean-Pierre zu überzeugen.

„Mia und ich haben einen langen Tag hinter uns“, sprach er trotzdem weiter. „Und ich habe ihr angeboten, morgen einen Ausritt mit ihr zu unternehmen. Du hast doch nichts dagegen, Jean-Pierre, oder?“

„Nein, ganz und gar nicht. Laurent, mein Stallmeister, wird sich freuen, dass ihm jemand etwas Arbeit abnimmt. Er ist allein für alle vier Pferde verantwortlich. Es kommen lediglich zweimal die Woche zwei Mädchen aus dem Dorf, um ihm ein wenig unter die Arme zu greifen. Ich glaube, wenn er die Tiere nicht so lieben würde, hätte er schon lange gekündigt.“

„Und dann wäre da noch die Tatsache, dass du ihm ein kleines Vermögen bezahlst“, bemerkte Lorenzo trocken.

„Wie ich bereits sagte, Geld ist nicht alles, und wahres Glück kann man ohnehin nicht kaufen. Aber das weißt du jetzt sicherlich ja selbst, nicht wahr, Lorenzo?“ Er lächelte wissend, ehe er sich erhob. „Nun will ich euch aber nicht länger aufhalten. Genießt euren Abend, meine Lieben. Morgen früh treffe ich in Grasse einen alten Freund zum Brunch, aber wenn ihr dann schon von eurem Ausritt zurück seid, können wir ja vielleicht gemeinsam zu Mittag essen.“

Er wünschte ihnen beiden eine gute Nacht und umarmte sie, ehe er sich in seine Räumlichkeiten zurückzog.

Mia schaute Lorenzo fragend an. „Bist du wirklich müde, oder warum hast du den Abend so abrupt beendet? Es lief doch alles recht gut, oder nicht?“

Er nickte knapp. „Wir sind noch volle zwei Tage hier. Es bleibt also genug Zeit, Jean-Pierre davon zu überzeugen, wie verliebt wir sind.“

Verliebt … Das Wort hinterließ einen üblen Nachgeschmack auf seiner Zunge. Allein der Gedanke war völlig widersinnig. Er verliebte sich nicht. Er war zu einem solchen Gefühl überhaupt nicht fähig. In der Hinsicht glich er einfach viel zu sehr seinem Großvater. Kein Wunder, hatte der doch versucht, ihn und seine Brüder nach seinem Ebenbild zu formen.

Ein Grund mehr, den alten Mann zu verabscheuen …

Sie gingen nach oben auf ihr Zimmer, wo er sogleich sein Bettzeug auf dem Boden neben dem Bett drapierte. Mia stand unsicher im Türrahmen. Sie schien zunächst etwas sagen zu wollen, es sich dann aber anders zu überlegen, denn sie öffnete ihren Koffer, um ihre Nachtwäsche herauszunehmen, und zog sich stattdessen ins angrenzende Bad zurück.

Als kurz darauf das Prasseln des Wassers in der Dusche erklang, streckte Lorenzo sich auf dem Boden aus. Bequem war es nicht, er spürte schon jetzt jeden einzelnen Knochen im Leib. Doch er bezweifelte, dass das der einzige Grund dafür war, weshalb er heute Nacht keinen Schlaf finden würde.

Fünfzehn Minuten später kam Mia zurück ins Schlafzimmer. Sie hatte sich umgezogen und trug nun ein einfaches weißes Herrenhemd, das ihr bis über die Mitte der Oberschenkel reichte. Er ertappte sich dabei, wie er ihre schlanken Beine anstarrte, und schloss die Augen, um vorgeben zu können, dass er schlief. Dass ihm das Herz bis zum Hals hämmerte, konnte sie ja zum Glück nicht hören.

Die Laken raschelten, als sie sie zurückschlug und drunterkroch. Dann schaltete sie das Licht ihrer Nachttischlampe aus, und der Raum wurde in Dunkelheit getaucht.

„Lorenzo?“, flüsterte sie in die Stille hinein.

Er antwortete nicht, und schließlich hörte er, wie sie sich mit einem leisen Seufzen umdrehte. Kurz darauf atmete sie bereits ruhig und gleichmäßig, wohingegen seine Gedanken sich wie verrückt im Kreis drehten.

4. KAPITEL

Als Mia die Augen aufschlug, wusste sie zunächst nicht, wo sie sich befand. Blinzelnd setzte sie sich auf und sah sich um. Ihr Hotelzimmer war es definitiv nicht, aber …

Oh!

Sie hatte Lorenzo bemerkt, der neben dem Bett auf dem Boden schlief. Fast ärgerte sie sich ein bisschen darüber, dass dieser Mann es selbst im Schlaf schaffte, mühelos perfekt auszusehen. Verflixt, er schnarchte ja nicht einmal!

Es war einfach unfair, dass er sich nicht mal bemühen musste, um sie vollkommen um den Verstand zu bringen. Denn genau das war es offenbar, was er tat. Anders konnte sie sich nicht erklären, wieso sie schon Herzklopfen bekam, wenn sie ihn nur ansah.

Sie wollte das nicht.

Sie wollte das ganz und gar nicht.

Lorenzo war überhaupt nicht ihr Typ. Sicher, er sah unglaublich gut aus, gar keine Frage. Aber davon abgesehen war er ein kalter, gefühlsarmer Mann, arrogant und überheblich und …

Seufzend rieb sie sich mit dem Handballen die Augen. Nein, das stimmte so nicht ganz. Das war der erste Eindruck, den er auf sie gemacht hatte, ja. Seitdem war jedoch eine Menge passiert, und sie hatte ihn als privaten Menschen kennengelernt.

Sein Verhältnis zu Jean-Pierre wirkte herzlich. Es war offensichtlich, dass er sehr an dem alten Mann hing. Dass er sich um ihn sorgte und nur das Beste für ihn wollte. Das zeigte nicht nur dieses Theater, das er für ihn auf die Beine stellte, man merkte es ihm fortwährend an.

Und auch sonst war er längst nicht so distanziert und unnahbar, wie er den Anschein zu erwecken versuchte.

Er rührte sich und Mia zuckte erschrocken zurück. Sie ließ sich auf die Matratze zurücksinken und zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen und so zu tun, als würde sie noch schlafen.

Mit geschlossenen Augen lag sie da und nahm jedes Geräusch, jeden Luftzug gleich doppelt intensiv wahr. Das Herz hämmerte ihr gegen die Rippen. Sie hörte, wie er aufstand, und spürte, wie die Matratze leicht wippte, als er sich daraufsetzte. Dann passierte eine ganze Weile lang nichts mehr.

Was tat er?

Dass er noch da war, wusste sie genau. Sein Duft hüllte sie ein, und sie glaubte, seine Körperwärme fühlen zu können – oder bildete sie sich das nur ein?

Allmählich bereute sie, dass sie auf die Idee gekommen war, sich schlafend zu stellen. Sie fühlte sich ihrer Sinne beraubt und damit auf seltsame Art und Weise verwundbar.

Ihr Herz klopfte immer heftiger, während sie herauszufinden versuchte, was er gerade tat. Es machte sie fast verrückt, dass sie ihn nicht sehen konnte. Sie hatte das Gefühl, seine Blicke auf sich zu spüren.

Sah er sie an? Fühlte sie deswegen Schmetterlinge in ihrem Bauch aufflattern?

Sie streckte sich und seufzte leise, um den Anschein zu erwecken, als würde sie gerade erst aufwachen. Blinzelnd schlug sie die Augen auf – und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie allein im Raum war.

Noch überraschter war sie darüber, dass sie tatsächlich fast ein wenig Enttäuschung empfand. Sie richtete sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Dann rieb sie sich die Augen und reckte sich.

Autor

Susan Stephens
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