Romana Extra Band 128

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LAVENDELNÄCHTE IN DER PROVENCE von RONA WICKSTEAD
Um ihre neue Kollektion vorzustellen, reist Designerin Nicole in die Provence. Als der gut aussehende Modezar Jérôme de Montignac sie irrtümlich für sein Hochzeitsdate hält, nutzt sie die Gelegenheit. Doch in den duftenden Lavendelnächten kommt sie ihm bald viel näher als geplant …

EIN TRAUMPRINZ FÜR LIBBY von SUSANNE HAMPTON
Ein Blick von Dr. Daniel Dimosa und Krankenschwester Libby fühlt dieselbe Sehnsucht wie damals, als sie ein Paar waren. Dabei ist sie mit ihm auf der Luxusjacht, um einen Milliardär zu betreuen, nicht um zu flirten. Aber dann enthüllt der atemberaubende Arzt ihr etwas Unglaubliches …

DIE SÜSSE RACHE DES STOLZEN SPANIERS von KATE WALKER
Atemlos sieht Rose, wer ihre Designer-Boutique betreten hat: Nairo Moreno – genauso sexy wie damals. Ist er etwa gekommen, um eine alte Schuld zu begleichen? Sie ahnt nicht, was der stolze Spanier Ungeheuerliches von ihr verlangen wird …

ZÄRTLICHE TRÄUME IN SYDNEY von MARION LENNOX
Geld, Erfolg im Beruf, ein Traumhaus mit Blick über Sydney – und trotzdem unglücklich? Der attraktive Neurochirurg Bryn Dalton ist ein Rätsel für Tierärztin Kiara. Erst als sie herausfindet, was der Einzelgänger verbirgt, sieht sie ihn plötzlich mit anderen Augen …


  • Erscheinungstag 20.12.2022
  • Bandnummer 128
  • ISBN / Artikelnummer 9783751508247
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Rona Wickstead, Susanne Hampton, Kate Walker, Marion Lennox

ROMANA EXTRA BAND 128

RONA WICKSTEAD

Lavendelnächte in der Provence

Als Single auf eine Familienhochzeit? Auf keinen Fall! Diesmal nimmt Jérôme ein falsches Date mit. Bald weckt die aparte Nicole in ihm ein Verlangen nach mehr. Aber darf er ihr vertrauen?

SUSANNE HAMPTON

Ein Traumprinz für Libby

Für Dr. Dimosa war Libby die große Liebe. Doch als er sie auf einer Luxusjacht wiedersieht, weiß er genau: An eine Zukunft mit ihr darf er nicht mal denken – bis Libby ihm ein Geständnis macht …

KATE WALKER

Die süße Rache des stolzen Spaniers

Nairo traut seinen Augen nicht, als er überraschend vor seiner Ex-Geliebten Rose steht. Damals hat die Schönheit sein Leben ruiniert – jetzt will sich der spanische Milliardär süß rächen …

MARION LENNOX

Zärtliche Träume in Sydney

Gefühle? Dafür hat Bryn keine Zeit! Seine Arbeit bedeutet dem Neurochirurgen alles. Daran wird auch die lebensfrohe Kiara nichts ändern. Nur wie lange kann er ihrem natürlichen Charme widerstehen?

1. KAPITEL

„Meine Damen und Herren, hier spricht Ihr Flugkapitän“, tönte die blecherne Stimme aus den Lautsprechern. „Ich darf Ihnen mitteilen, dass wir unser technisches Problem beseitigt haben und nun auf den nächsten freien Startplatz für unseren Direktflug nach Lyon warten.“

Na endlich, dachte Nicole und schaute auf die Uhr ihres Handys. Die Maschine war schon verspätet in London eingetroffen, sodass sie später als geplant hatte einsteigen können. Mittlerweile hatten sie über zwei Stunden Zeit verloren. Spontan entschied sie sich, noch einmal ihre Chefin anzurufen, denn bisher hatte niemand an Bord angeordnet, dass die Mobiltelefone ausgeschaltet werden mussten.

„Nicole“, rief Barbara aufgeregt. „Sag mir nicht, dass ihr immer noch nicht gestartet seid!“

„Aus der Luft dürfte ich mich wohl kaum melden.“ Nicole seufzte. „Aber immerhin hat der Kapitän gerade angekündigt, dass es demnächst losgeht.“

„Eigentlich solltest du im Landeanflug auf Lyon sein“, jammerte Barbara. „Da haben wir alles so genau durchgetaktet, und jetzt schaffst du es nicht mehr rechtzeitig zur Modenschau.“

„Ja, das fürchte ich auch“, sagte Nicole frustriert. „Im Prinzip könnte ich direkt wieder aussteigen, aber das werden die mir kaum gestatten.“

„Tja, das ist dann das Ende.“ Barbara seufzte. „Am besten werfe ich gleich noch mal einen langen letzten Blick auf mein Atelier und verabschiede mich gedanklich schon mal davon. Und ich hatte so darauf gebaut, du könntest …“

„Beruhige dich, Barbara. Ich fahre auf jeden Fall ins Hauptquartier des Kunden und schaue, was sich machen lässt.“ Ich wäre besser bereits gestern geflogen, dachte Nicole missmutig. Aber da war noch nicht alles fertig, und außerdem hatte ihre Chefin die Hotelkosten sparen wollen.

Nicole verabschiedete sich und schaltete ihr Handy in den Flugmodus, denn nun rollte das Flugzeug tatsächlich rumpelnd in Richtung Startbahn.

„Ach du liebe Zeit“, rief ihre Sitznachbarin aus. „Haben Sie gerade davon gesprochen, dass Sie aussteigen wollen? Ich käme sofort mit.“ Sie umklammerte die Seitenlehnen so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

Ihr Englisch hatte einen deutlichen französischen Akzent, sodass Nicole ihr auf Französisch antwortete: „Dafür ist es jetzt leider zu spät, Madame. Aber machen Sie sich keine Sorgen, es wird schon alles gut gehen.“

„Sie sprechen Französisch“, erwiderte die Französin dankbar. „Vielleicht ist das ein gutes Zeichen. Es beruhigt mich. Wissen Sie, ich habe solche Flugangst, ich weiß gar nicht, wieso ich mich zu dieser Reise habe überreden lassen. Nächstes Mal kann meine Freundin zu mir nach Lyon kommen, das schwöre ich.“

Nicole musste lächeln. „Leben Sie in Lyon?“

Die Frau nickte. „Oh ja, ich habe fast mein ganzes Leben dort verbracht. Und Sie? Ich dachte ja erst, dass Sie Engländerin sind, Mademoiselle, doch so perfekt, wie Ihr Französisch ist …“

„Oh, das bin ich. Aber meine Mutter stammt aus Le Havre und hat immer Französisch mit mir gesprochen. Ich heiße Nicole, Nicole Fairfax.“

„Denise Marchand“, murmelte die Frau.

Nicole spürte, dass Denise nicht bei der Sache war, sondern sich zusehends mehr verkrampfte. Ich sollte sie ein bisschen ablenken, damit sie sich nicht so auf ihre Flugangst konzentriert. „Sagen Sie … wenn Sie aus Lyon kommen, dann kennen Sie doch sicher das Kaufhaus ‚Merveilles‘, oder?“

„Natürlich, das ist einer der luxuriösesten Shoppingtempel, die es gibt“, rief die Dame begeistert. „So wie Ihr Harrods in London. Alles nur vom Feinsten. Warum fragen Sie? Möchten Sie dort einkaufen, wenn Sie in der Stadt sind?“

„Eher im Gegenteil.“ Nicole schmunzelte. „Ich möchte denen etwas verkaufen, wissen Sie.“

„Verkaufen?“ Das Gesicht ihrer Nachbarin war ein großes Fragezeichen. „Wie soll ich das verstehen?“

„Nun, ich arbeite für die Londoner Modeschöpferin Barbara Banks“, erklärte Nicole. „In meinem Koffer befinden sich die besten Stücke der nächsten Sommerkollektion. Ich fliege nach Lyon, weil ich den Einkäufer des Hauses überzeugen möchte, diese Kollektion in sein Angebot aufzunehmen.“

„Das ist ja spannend“, rief Denise. Sie musterte ihre Gesprächspartnerin genauer. „Das Kostüm, das Sie tragen – stammt das auch aus dieser Kollektion? Das steht Ihnen nämlich sehr gut.“

„Nicht direkt“, erwiderte Nicole. „Das habe ich für mich entworfen und genäht. Aber wenn ich die Leute von ‚Merveilles‘ überzeugen kann, werde ich im Atelier mehr Mitspracherecht haben, und dann wird es auch solche Kostüme bei uns geben.“ Und wenn nicht, fügte sie in Gedanken hinzu, stehe ich auf der Straße. Es hängt alles von Raoul de Montignacs Entscheidung ab.

„Ich drücke Ihnen die Daumen“, rief Denise aus. Ihr Blick glitt seitwärts zum Fenster. „Das gibt’s ja nicht! Wir sind schon in den Wolken, und ich habe es nicht gemerkt.“

„Dann hat mein Ablenkungsmanöver offensichtlich geklappt.“ Nicole freute sich.

Denise sah sie überrascht an. „Das haben Sie geplant? Ach, Sie sind ein Engel! Ich wünschte, Sie würden im Flugzeug immer neben mir sitzen.“

Nicole lachte. „Und ich dachte, Sie wollten überhaupt nicht mehr fliegen.“

„Ach, wissen Sie“, erwiderte Denise augenzwinkernd, „wenn Sie dabei sind, würde ich es mir noch mal überlegen.“

Jérôme de Montignac schritt ungeduldig in der Empfangshalle der Lyoner Firmenzentrale auf und ab. Wo blieb sie nur? Sie hatten vierzehn Uhr ausgemacht. Erneut blickte er auf die Uhr. Schon zehn Minuten zu spät. Er hasste Unpünktlichkeit grundsätzlich, aber in diesem Fall störte es ihn ganz besonders, dass man ihn warten ließ.

Vermutlich hatte es damit zu tun, dass er sich nach wie vor nicht sicher war, ob es eine gute Idee war, die Dienste von Madame Sylvies Agentur in Anspruch zu nehmen. Vielleicht hätte er einfach seine Schwester anrufen und irgendeinen Vorwand erfinden sollen, weshalb er ohne Begleitung zu ihrer Hochzeit kam. Oder er hätte vorgeben können, einen Termin in New York zu haben, der sich absolut nicht verschieben ließ. Aber dann wäre Désirée sicher sehr enttäuscht gewesen, denn ihr war wichtig, dass ihre gesamte Familie bei ihrem großen Tag dabei war.

Und wenn er einfach die Wahrheit …? Nein. Er würde bei seinem Plan bleiben, denn gerade hielt draußen ein Taxi, dem eine hochgewachsene, schlanke Frau entstieg. Sie trug ein raffiniert geschnittenes Kostüm, das ihre Figur vorteilhaft betonte, und hatte das kastanienrote Haar zu einem strengen Knoten im Nacken zusammengesteckt.

Jérôme runzelte überrascht die Stirn. Hatte er Madame Sylvie nicht erklärt, sie sollte ihm eine dunkelhaarige Begleiterin schicken? Nun, jetzt war es zu spät, um das zu reklamieren. Der Taxifahrer hob einen großen rosafarbenen Schalenkoffer aus dem Kofferraum, den die Frau durch die sich automatisch öffnende Eingangstür ins Foyer zog. Ihre Pumps klapperten im Takt zum Abrollgeräusch über den Marmorboden.

„Sie sind spät dran“, entfuhr es ihm. „Ich warte bereits auf Sie.“

Die Frau warf ihm einen forschenden Blick zu. Ihre Augen waren von einem leuchtenden Grün. Sie sah kein bisschen aus wie Chantal. Dabei hatte er die Agentur doch extra gebeten, ihm eine Escort-Dame zu schicken, die ein ähnliches Äußeres hatte.

„Monsieur de Montignac?“

„Der bin ich.“

„Es tut mir aufrichtig leid wegen meiner Verspätung!“, versicherte sie mit bedauerndem Lächeln. „Ich habe dem Taxifahrer eine Prämie angeboten, wenn er schneller fährt, doch der Stau in der Stadt war nicht zu umgehen.“

„Ich weiß, was Freitagmittag in Lyon für ein Verkehr ist“, erwiderte er brummig. „Aber nun sind Sie ja da. Kommen Sie, dann kann es endlich losgehen.“

Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte sie überrascht, dann packte sie den Koffergriff fester.

„Natürlich. Sehr gern.“

Jérôme ging zu den Aufzügen und drückte den Knopf. Die Tür einer Kabine öffnete sich geräuschlos, und er machte eine einladende Handbewegung. „Bitte nach Ihnen.“

Die Frau rollte ihren Koffer in den Lift. Vermutlich dachte sie, er würde nicht bemerken, wie sie einen kurzen prüfenden Blick in den Spiegel warf. Aber natürlich, sie war eine Frau, deren Kapital ihr gutes Aussehen war. Und davon hatte sie in der Tat reichlich, musste er zugeben. Diese Haarfarbe, die im künstlichen Licht des Fahrstuhls wie Kupfer glänzte, die ausdrucksvollen grünen Augen, sogar die Sommersprossen auf ihrer Nase passten dazu … Er war überrascht, dass sie die nicht überschminkt hatte.

Wenn sie jetzt noch die passenden Umgangsformen an den Tag legte und in der Lage war, angemessen Konversation zu machen, dann würde er sich nicht mit ihr blamieren. Er trat zu ihr in die Kabine und drückte den Knopf für das zweite Untergeschoss.

Ihre Augen weiteten sich in Verwunderung. „Es geht nach unten?“

„Mein Auto steht nun mal in der Tiefgarage“, entgegnete er trocken. „Das ist praktischer, als es mit in den siebzehnten Stock zu nehmen.“

„In der Tat“, bemerkte sie.

Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Ihre Lippen teilten sich, und zwei Reihen ebenmäßiger Zähne erschienen, was sie noch attraktiver wirken ließ.

„Die ganze Sache findet also gar nicht hier statt?“

„Oh nein, es sollte schon ein bisschen mehr Stil haben“, erklärte er.

„Wie schön. Dann lasse ich mich mal überraschen.“

Charmant und attraktiv war sie, stellte Jérôme erleichtert fest. Es schien, als ob Madame Sylvies Agentur ihr Geld doch wert wäre. Der Fahrstuhl hielt an, und er ging vor ihr her zu seinem Wagen.

Die Frau folgte ihm, blieb dann jedoch verblüfft stehen. „Das ist Ihr Auto?“

Jérôme nickte. „Ein 93er Renault Alpine A610 Turbo. Unter der Haube steckt ein 3-Liter-V6-Motor und 250 PS.“ Er wusste nicht, ob sie sich für solche Details interessierte, aber weil er sich jedes Mal wieder daran erfreute, zählte er sie gern auf. Er öffnete den Kofferraum und hievte ihr Gepäck hinein.

„Nicht übel.“ Sie nickte. „Ich meine, Porsche fahren kann schließlich jeder, nicht wahr?“

„Sie sagen es. Mein Bruder Raoul fährt schon Porsche, da musste ich mich doch zumindest abheben.“

„Ihr Bruder …“ Ihre Stimme klang etwas zu hoch, als sie ihn jetzt überrascht anstarrte. „Sie wollen damit sagen, Sie sind nicht Raoul de Montignac?“

Er sah sie verständnislos an. Ihre Augen waren erschrocken aufgerissen. Was hatte das zu bedeuten? „Natürlich nicht. Ich bin Jérôme. Aber wenn es Sie tröstet, Sie werden den fabelhaften Raoul bestimmt dieses Wochenende kennenlernen. Und Charles selbstverständlich auch.“

„Werde ich das?“, wiederholte sie.

Sie klang verzagt.

Du liebe Güte, es könnte mühsam werden mit dieser Frau. Wenigstens hatten sie über zwei Stunden Autofahrt vor sich, in denen er sie ausgiebig auf ihre Rolle an diesem Wochenende vorbereiten wollte. „Sie können einsteigen“, erklärte er ihr und sah ungläubig zu, wie sie auf die linke Seite des Autos zusteuerte. „Möchten Sie fahren?“

Sie zuckte zusammen. „Oh nein, lieber nicht. Aber wissen Sie, ich komme gerade aus London, und …“

„Verstehe.“ Er wartete, bis sie auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, und setzte sich dann ans Steuer. „London? Ich muss schon sagen, Sie kommen ja ganz schön rum.“

„Es ist nicht immer so glamourös, wie es sich anhört“, sagte sie müde, während sie sich anschnallte. „Aber wenn wir schon dabei sind – wohin fahren wir eigentlich?“

„Nach Avignon“, antwortete Jérôme. „Zur Hochzeit meiner Schwester.“

2. KAPITEL

Für einen Augenblick war Nicole wie gelähmt. In welch schräge Posse war sie da geraten? Nicht nur, dass sie fast drei Stunden zu spät in Lyon angekommen war, jetzt saß sie auch noch – hungrig und erschöpft – mit dem falschen Montignac-Bruder in dessen Sportwagen, um mit ihm an einer Familienfeier teilzunehmen, mit der sie rein gar nichts zu tun hatte. So etwas passierte also, wenn man versuchte, in letzter Minute persönlich seine Entwürfe für die Begutachtung des Kunden abzuliefern, statt sie rechtzeitig mit einem Kurierdienst zu schicken. Dabei müsste Barbara das Verfahren eigentlich kennen, denn sie bemühte sich schon seit mehreren Jahren, ihre Modelle wieder bei dieser Kaufhaus-Kette unterzubringen.

Wie sollte sie dem Mann neben ihr bloß beibringen, dass hier irgendwas absolut schiefgelaufen war?

Nicole warf einen vorsichtigen Blick nach links, wo er mit knappen, gezielten Bewegungen den Motor startete, sehr konzentriert das Auto aus der Parklücke lenkte und aus der Tiefgarage fuhr.

Eigentlich war er nicht ihr Typ, ein wenig zu schön mit seinen schwarzen Haaren, dem gebräunten Gesicht mit der klassischen Nase, den breiten Schultern in einem dunklen Anzug über einem weißen Oberhemd. Alles an ihm schrie quasi „Playboy“, wenn auch das typische Halskettchen fehlte sowie die protzige Rolex am Handgelenk.

Ihr Blick war durch die jahrelange Tätigkeit in der Modeindustrie für diese Art von Understatement geschärft. Sie wusste, dass sein Anzug nicht von der Stange war und seine Lederschuhe in einer Preisklasse lagen, mit der sie ihr Flugticket hätte bezahlen können. Businessclass natürlich. Aber auf seltsame Art fühlte sie sich zu ihm hingezogen.

Da war etwas in seinem Blick gewesen, das nicht zu seinem selbstsicheren, coolen Verhalten passte, das er an den Tag legte. Als er von seinen Brüdern sprach, hatte er das in einem ironischen Tonfall getan, der ihr nicht fremd war. Genauso redete sie ihren früheren Studienkollegen gegenüber, wenn es darum ging, dass sie immer noch nicht die berufliche Anerkennung als Chefdesignerin bei Barbara Banks erreicht hatte, die sie anstrebte. Den Erfolg, für den sie den Vertrag mit Raoul de Montignac brauchte.

Ja, vor fünf Jahren war Barbara die Einzige gewesen, die ihr eine Chance gegeben hatte, als sie wegen der Krankheit ihrer Mutter nach ihrem Design-Studium nicht in Vollzeit arbeiten konnte. Aber ihre Chefin ließ sie durch ihre herrische Art auch immer wieder spüren, welche Dankbarkeit sie ihr schuldete. Nicole war jetzt achtundzwanzig und im Vergleich zu ihren Kollegen nicht wirklich weitergekommen – ihre ganze Hoffnung ruhte auf diesem Vertrag, den sie mit der Kollektion zu ergattern hoffte.

Der Stop-and-go-Verkehr in der Stadt hatte sich nicht gebessert, daher kamen sie nur langsam voran.

„Wir könnten ja schon mal mit dem Briefing anfangen“, sagte Jérôme. Er griff in seine Hemdtasche und reichte ihr einen zusammengefalteten Zettel. „Hier stehen die wichtigsten Stichworte drauf, also bitte nicht irgendwo herumliegen lassen. Du bist ab jetzt Chantal – ich denke, wir sollten uns ab sofort duzen – und arbeitest als Redakteurin bei der Modezeitschrift ‚Tendence‘. Wir haben uns letztes Jahr kennengelernt, als du mich interviewt hast. Ich hoffe, du kannst dir alles merken und deine Rolle an diesem Wochenende entsprechend spielen. Madame Sylvie meinte, es wäre kein Problem, ihre Mädchen machten das ständig.“

In was für einem Paralleluniversum befand sie sich gerade? Er nahm sie mit zur Hochzeit seiner Schwester, damit sie sich dort als seine Freundin ausgab? Glaubte er wirklich, sie wäre über die berühmte Escort-Agentur zu ihm gekommen?

Wieder einmal mussten sie vor einer roten Ampel anhalten, und Jérôme griff in seine Jackentasche. Er drückte ihr eine kleine Schachtel in die Hand. „Hier. Schau mal, ob der passt.“

Nicole öffnete das Kästchen und erblickte einen Smaragdring – das schönste Schmuckstück, das sie je gesehen hatte. Der große rechteckige Stein wurde von einer schlichten Goldfassung gehalten. Unwillkürlich schob sie ihn über ihren Finger – er saß wie für sie gemacht.

„Na, da haben wir ja Glück“, sagte Jérôme zufrieden.

Nicole starrte den Ring an. „Aber ich kann nicht … ich meine, der ist viel zu wertvoll …“, stotterte sie. „Angenommen, ich verliere ihn …“

„Hör mal, das ist nur eine Leihgabe“, betonte er und bog ab, um einem Wegweiser zur Autobahn Richtung Süden zu folgen. „Und wenn er gut sitzt, dann ist doch wohl die Gefahr gering, ihn zu verlieren, oder? Du musst ihn nur zu den offiziellen Gelegenheiten anstecken, denn meine Familie erwartet garantiert, dass du als meine Freundin den Ring trägst, den ich von meiner Großmutter geerbt habe.“

Nicole schluckte. Was würde geschehen, wenn sie das Missverständnis aufklärte? Würde er am Bürgersteig anhalten und sie rauswerfen, oder hätte er zumindest den Anstand, sie zum nächsten Bahnhof zu bringen, damit sie mitsamt ihrem Koffer wieder in Richtung London fahren konnte? Der Koffer mit der neuen Sommerkollektion, mit ihren Träumen und Hoffnungen, jetzt völlig überflüssig und nutzlos.

Oder vielleicht auch nicht? Raoul de Montignac würde schließlich an diesem Wochenende ebenfalls da sein. Er hätte die Gelegenheit, die Entwürfe vorurteilsfrei an ihr zu sehen. Sie könnte ihn nach seiner Meinung befragen, und wenn sie positiv ausfiel, hätte sie zumindest die Möglichkeit, ihn irgendwann für ein Vieraugengespräch beiseitezunehmen und ihm die Wahrheit zu sagen. Sie kannte genug dieser Geschäftsmänner aus der Modebranche, um die berechtigte Hoffnung zu hegen, dass er sie nicht achtkantig rauswerfen würde. Nein, wenn ihm die Kollektion gefiel, würde er nicht zögern, vielleicht würde er seine Marge ein wenig höher ansetzen, aber auf jeden Fall würde er zugreifen.

Dies war ihre Chance, begriff sie. Wenn sie Jérôme die Wahrheit sagte, wäre es aus. Dann wäre Barbaras Atelier pleite und sie arbeitslos. Sie stände vor dem Nichts.

Nicole traf eine Entscheidung. Sie würde sein Spiel vorläufig mitspielen. Wie sie es sah, konnten dabei alle nur gewinnen.

Entschlossen wandte sie sich dem Mann am Steuer zu und sagte: „Erzähl mir mehr über dich. Ich muss ja Details kennen. Wieso habe ich dich denn interviewt?“

Bereitwillig begann Jérôme, der falschen Chantal – ihren richtigen Namen wollte er gar nicht wissen – aus seinem Leben zu erzählen. Die Kaufhaus-Kette Merveilles war der Dreh- und Angelpunkt im Leben der Familie Montignac. Seine beiden älteren Brüder waren längst da tätig, als es um seine eigene Berufsentscheidung ging. Er beschrieb, wie er zunächst in verschiedenen Abteilungen der Firma gearbeitet hatte, ohne sich dort wirklich am richtigen Platz zu fühlen. Bis er begriff, dass der Gruppe etwas Wichtiges fehlte, um fit für die Zukunft zu sein: ein Online-Shop.

„Aber nicht einfach nur die Möglichkeit, unsere Waren auch über das Internet zu kaufen“, betonte er. „Ich wollte den Kunden ein völlig anderes Shopping-Erlebnis im digitalen Raum bieten.“

Sie hörte ihm interessiert zu. „Ich vermute, es war ein ganz schönes Stück Arbeit, deine Familie davon zu überzeugen.“

„Allerdings“, antwortete er überrascht. „Aber wie kommst du darauf?“

„Weil es schwer ist, Veränderungen durchzuführen, wenn die anderen schon so lange im Geschäft sind. Da gibt es doch bestimmt oft Sprüche wie: ‚Das war aber immer so‘. Oder: ‚Das haben wir noch nie so gemacht‘. Oder nicht?“

Jérôme lachte. „Das hört sich fast an, als wärst du dabei gewesen. Hast du etwa auch Erfahrung mit solchen Familiengeschichten?“

„Eher nicht. Ich habe keine Familie mehr. Vielleicht solltest du mir Einzelheiten über deine Familie erzählen. Ich muss eine Vorstellung haben, wen ich dort antreffe.“

„Ja, das ist sicher nicht verkehrt. Zunächst wären da mal meine Eltern – Gilbert und Suzette. Sie verbringen inzwischen den größten Teil ihrer Zeit in der Provence, seit Papa einen Herzinfarkt hatte und Maman beschloss, dass er sich schonen und nicht mehr so viel arbeiten soll. Seitdem ist mein ältester Bruder Charles für die finanzielle Seite verantwortlich. Er ist mit Gaby verheiratet und hat eine erwachsene Tochter, die in Australien studiert. Raoul ist unser Chefeinkäufer, der sich um unser Sortiment kümmert, er hat ein untrügliches Gespür für neue Trends in der Mode und bei Accessoires. Seine Frau heißt Christine, sie haben zwei Söhne im Teenageralter.“

„Das klingt, als seien deine Brüder wesentlich älter als du …“

„Ja, das stimmt. Als ich zur Welt kam, war Raoul zehn und Charles war vierzehn. Meine Mutter sagt, ich bin ihnen ständig hinterhergelaufen und konnte sie niemals einholen, und daher bekamen sie Désirée, meine Schwester.“ Er lachte auf. „Es ist schon sonderbar, sie war immer meine kleine Schwester, und nun will sie heiraten! Ich fasse es nicht.“

Er spürte ihren Blick wieder auf sich.

„Dann bist du jetzt der Einzige, der noch ungebunden ist? Wolltest du deshalb unbedingt eine Begleitung mitbringen?“

Für eine Frau, die ihre Brötchen bei einem Escort-Service verdiente, stellte sie sehr direkte Fragen, fand Jérôme. Aber er konnte ihr deswegen nicht böse sein, denn jedes Mal, wenn sich ihre Blicke trafen, war er aufs Neue von ihrem Gesicht fasziniert. Einige vorwitzige Strähnen hatten sich aus ihrer strengen Frisur gelöst, und er hätte nur zu gerne hinübergegriffen und sie ihr aus dem Gesicht gestrichen – zu dumm, dass er fahren musste und sich nicht völlig auf sie konzentrieren konnte.

„Sorry! Du musst das nicht beantworten!“, setzte sie eilig hinzu.

Offensichtlich merkte sie, dass sie mit ihrer Frage zu weit ging. „Ach, was soll’s“, sagte er so lässig wie möglich. „Es ist wohl besser, du weißt darüber Bescheid. Bis vor Kurzem war ich quasi verlobt. Deshalb auch die ganzen Fakten, die du kennen solltest, denn ich habe meiner Familie viel von der echten Chantal erzählt und war fest entschlossen, sie zu Désirées Hochzeit endlich mitzubringen und sie allen vorzustellen.“

„Ah“, stieß sie aus. „Und dann habt ihr euch getrennt.“

„Sie beschwerte sich immer, dass ich zu oft arbeiten müsste“, sagte er knapp. „Sie langweilte sich. Vor sechs Wochen traf sie in Monte Carlo den Sohn eines russischen Oligarchen, der mehr Zeit für sie hatte. Und das war’s.“

„Hm“, murmelte Nicole. „Das ist ja merkwürdig.“

„Merkwürdig findest du das?“ Jérôme zog irritiert die Stirn in Falten. „Wieso?“

„Na ja, ich hätte gedacht, dass sie als Mitarbeiterin einer Modezeitschrift selbst viel arbeiten muss. Die Redakteurinnen, die ich kenne …“ Sie brach ab.

„Du kennst Mode-Redakteurinnen?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ach, weißt du, ich treffe eine Menge Leute. Und aus Erfahrung weiß ich, dass erfolgreiche Menschen immer viel arbeiten müssen. Jeder muss sich ins Zeug legen, um seine Ziele zu erreichen, oder?“

Manchmal sagte sie erstaunliche Sachen. Madame Sylvie hatte letztlich keine schlechte Wahl getroffen. Von der echten Chantal konnte er sich solche Aussagen nicht vorstellen.

Allerdings sah er, dass sie es nicht schaffte, ein Gähnen zu unterdrücken. „Ich habe dich wohl sehr strapaziert mit meinen Geschichten“, bemerkte er spöttisch.

„Oh nein, absolut nicht!“, widersprach sie erschrocken. „Aber ich musste heute wirklich früh aufstehen und hatte bisher einen … sagen wir … turbulenten Tag.“

„Der sicher nicht weniger turbulent weitergehen wird, wenn wir erst mal angekommen sind“, sagte Jérôme. „Deshalb würde ich vorschlagen, du nutzt die Stunde, die wir noch unterwegs sind, um dich etwas auszuruhen.“

„Das Angebot nehme ich gern an. Sag mir nur rechtzeitig Bescheid, bevor wir da sind.“

„Mache ich“, versprach er. „Ist dir warm genug? Soll ich die Klimaanlage höher stellen? Oder möchtest du eine Decke?“

„Nein, nein, alles gut“, wehrte sie ab. „Im Moment ist alles wunderbar.“ Sie rutschte etwas tiefer in ihrem Sitz und schloss die Augen.

Im Moment ist alles wunderbar. Jérôme stellte verwundert fest, dass er genauso empfand. Bisher hatte ihn der Gedanke an das kommende Wochenende ziemlich beunruhigt. Aber vielleicht würde es doch ganz gut laufen – wenn seine angebliche Verlobte das hielt, was er sich von ihr versprach, und seiner Familie gegenüber die Person darstellte, die sie alle so sehnlich erhofften.

Er war es so leid, immer das Bedauern zu spüren, weil er sein Leben nicht genauso gut im Griff hatte wie die anderen Familienmitglieder. Mit dieser Frau an seiner Seite könnte das endlich anders werden – wenigstens für dieses Wochenende.

3. KAPITEL

Nicole war dankbar dafür, dass er ihr diese Ruhepause vorgeschlagen hatte, denn ihr ging viel durch den Kopf, über das sie erst mal nachdenken musste, vor allem seine Aussage über seine Ex. Was war das für eine Frau, der es mit Jérôme de Montignac zu langweilig war, wohingegen dieser Mann für sie so ungefähr das Interessanteste darstellte, was ihr in den letzten Jahren passiert war?

Bisher hatte sie nicht viel Glück mit Beziehungen gehabt. Für die Männer, die ihr Avancen machten, hatte sie nie genug empfunden. Ihr Pech war es, dass sie sich immer für die Unerreichbaren interessierte. Insofern passte Jérôme genau ins Bild. Am besten wappnete sie sich bereits jetzt dagegen.

Entweder sie blieb für ihn die Frau von der Escort-Agentur und verschwand einfach aus seinem Leben, oder sie deckte die Täuschung auf – zum Beispiel, indem sie Raoul für ihre Kreationen gewann. In beiden Fällen brauchte sie sich gar nicht erst irgendwelche Hoffnungen zu machen.

Gab es noch eine dritte Möglichkeit? Eine, bei der er ihr ähnliche Empfindungen gestehen würde wie die, die sie womöglich gerade für ihn entwickelte? Sie hatte zwar die Augen geschlossen und konnte versuchen, sich von ihm wegzudenken, aber irgendwann würde sie ihn wieder ansehen müssen. Seine schlanken Hände am Steuerrad, die sich vermutlich großartig auf ihrer Haut anfühlen würden, seine schön geschwungenen Lippen, die je nach Stimmung so charmant lächeln, sich jedoch auch ernst zusammenpressen konnten, das rabenschwarze Haar, das sich bis über seinen Hemdkragen legte und quasi danach rief, mit den Händen durchwühlt zu werden …

Stopp! Warum tat sie sich das an und steigerte sich gedanklich in eine völlig unrealistische Situation? Besser sollte sie sich mit der Frage befassen, was sie tun würde, wenn sie mit leeren Händen nach London zurückkehren müsste. In ihrem bisherigen Lebenslauf gab es nicht viel, das sie für andere Modehäuser interessant machte. Sie hatte bisher zwar hart für Barbara gearbeitet, dennoch stand nirgendwo ihr Name auf einem Entwurf. Sie konnte von Glück sagen, wenn sie wenigstens eine Anstellung als Modellschneiderin fand.

Dabei hatte sie so viele Ideen, die nach Umsetzung riefen. Der Eindruck fließender Sommerkleider verwob sich mit Bildern der ruhig dahinfließenden Rhone, die sie und Jérôme mehrfach überquert hatten …

Begleitet vom gleichmäßigen Geräusch des Motors driftete Nicole in den Schlaf, den ihr erschöpfter Körper forderte.

„Aufwachen“, sagte eine sanfte Stimme. „Ich sollte dir rechtzeitig Bescheid sagen, ehe wir ankommen.“ Eine Hand rüttelte vorsichtig an ihrem Knie.

Nicole schreckte hoch. Da war sie doch tatsächlich fest eingeschlafen! Sie warf einen Blick aus dem Wagenfenster. Sie hatten inzwischen die Autobahn verlassen und befanden sich auf einer von hohen Bäumen gesäumten Landstraße. Links und rechts erstreckten sich Sonnenblumenfelder, die so perfekt mit dem leuchtend blauen Himmel kontrastierten, dass sie am liebsten sofort passende Stoffe in entsprechenden Farben zusammengesucht hätte, um diesen Eindruck in einen Kleiderentwurf umzusetzen. Aber sie war nicht in Barbaras Atelier, sondern in einem Auto mitten in der Provence.

„Wie weit ist es noch?“, fragte sie nervös.

„Zehn Minuten vielleicht“, antwortete Jérôme, und als er sah, wie sie unruhig die Sonnenblende herunterklappte, um sich im Spiegel zu betrachten, setzte er amüsiert hinzu: „Mach dir keine Sorgen, du siehst gut aus. Und bei uns geht es ganz zwanglos zu.“

Zwanglos? Was meinte er damit? Sie würde erst aufhören, sich Sorgen zu machen, wenn sie ihre Mission hinter sich gebracht hatte. Im Augenblick befand sich die Anzeige auf ihrem Sorgenbarometer jedenfalls eher im Steigflug.

Immerhin war die Landschaft wie gemacht dafür, sich zu beruhigen. Nicole sah Lavendelfelder mit den typischen langen Reihen, die sich zwar nicht mehr in Blüte befanden, aber noch einen Hauch von Violett ausstrahlten. Auf einer Koppel grasten mehrere weiße Pferde, wie sie sie schon auf Postkarten aus der Camargue gesehen hatte. Viele der Häuser waren aus gelblichem Stein erbaut, gegen den sich blau gestrichene Fensterrahmen abhoben.

Schließlich erreichten sie eine Mauer aus solchen Steinen mit einem eindrucksvollen Tor in der Mitte. Die schmiedeeisernen Torflügel standen offen, sodass Jérôme ungehindert hindurchfahren konnte. Nun befanden sie sich auf einem von schlanken Zypressen flankierten Weg, dessen Kiesbelag unter den Autoreifen leise knirschte. Der Weg endete an einem halbrunden Platz, auf dem bereits mehrere teuer aussehende Autos parkten.

Jérôme stellte seinen Wagen neben einem riesigen Range Rover ab. „Da wären wir.“

Nicole betrachtete ungläubig das Gebäude, das sich vor ihr ausbreitete. „Aber … das ist ein Schloss! Ich dachte, ihr hättet vielleicht ein altes Bauernhaus …“

„Willkommen im Château der Montignacs.“ Er grinste. „Aber keine Angst, hier gibt es weder strenge Butler noch Gespenster. Mein Vater hat das Gebäude vor vielen Jahren gekauft, bevor es völlig verfiel. Ihm sei’s gedankt, dass wir heute über eine anständige Heizung und funktionierende Badezimmer verfügen. Meine Mutter hat mal überlegt, daraus ein Bed & Breakfast zu machen, aber mein Vater wollte keine fremden Leute im Haus haben.“ Jérôme lachte. „Er meinte, man könnte ja nie wissen, was sie wirklich im Sinn haben.“

Da hat er nicht unrecht, dachte Nicole, als sie aus dem Auto stieg. Ich bin das beste Beispiel dafür – sie haben keine Ahnung, wer ich tatsächlich bin.

Noch bevor sie sich das mächtige Gebäude genauer ansehen konnte, ging die schwere Eingangstür auf, und mehrere Personen kamen heraus.

„Das wurde aber auch Zeit, dass ihr endlich ankommt“, rief die junge Frau, die Jérôme um den Hals fiel.

Es bestand kein Zweifel, dass dies seine Schwester Désirée war, denn sie sah ihm nicht nur total ähnlich mit ihren schwarzen Haaren und dem ebenmäßigen Gesicht, auch die Vertrautheit der beiden war deutlich spürbar.

Désirée ließ ihren Bruder los und wandte sich ihr zu. „Du musst Chantal sein.“ Ihre Augen funkelten, und sie umarmte sie, ohne lange zu zögern. „Höchste Zeit, dass wir dich endlich kennenlernen!“

„Ich freue mich auch“, sagte Nicole lächelnd. Sie wurde weitergeschoben an eine ältere Frau. Das war vermutlich Suzette, die Mutter von Jérôme und Désirée. Obwohl sie die sechzig deutlich überschritten haben musste, sah sie jugendlich aus, klein und zierlich, mit einem raffinierten Kurzhaarschnitt, der ihr grau durchsetztes dunkles Haar hervorragend zur Geltung brachte.

„Herzlich willkommen“, sagte sie und fasste Nicole bei den Schultern, um ihr die typisch französischen Luftküsschen links und rechts zu geben.

Suzettes Mann, der neben ihr stand, beschränkte sich auf ein Händeschütteln. „Schön, dass ihr da seid“, sagte er. „Kommt erst mal rein, hier draußen ist es doch viel zu heiß.“

Da konnte Nicole ihm nur zustimmen. In dem Moment, als sie das klimatisierte Auto verließ, fühlte sie sich, als wäre sie in eine Sauna gestiegen, und ihr Kostüm war ganz sicher nicht das richtige Outfit für einen Augustnachmittag in Südfrankreich.

Das schien auch Suzette zu begreifen. „Lass uns gleich das Gepäck mit ins Haus nehmen, Gilbert. Die beiden möchten sich bestimmt umziehen, und in der Zeit setze ich mal Kaffee auf. Oder magst du lieber Tee, Chantal?“

„Mir ist alles recht“, antwortete Nicole ein wenig überwältigt. Da hatte sie eine sehr komplizierte Familiensituation erwartet, wo die Anspannung bei jeder Begegnung in der Luft lag – und tatsächlich waren die drei von einer solchen Herzlichkeit, dass es ihr fast den Atem raubte. Was war denn an dieser Familie so problematisch, dass Jérôme die Täuschung nötig hatte? Aber vielleicht hatte sie noch nicht alles durchschaut.

Suzette und Désirée schoben sie in die Eingangshalle, wo es tatsächlich deutlich kühler war. Gilbert und Jérôme hievten inzwischen ihren Koffer und Jérômes Reisetasche aus dem Kofferraum.

„Ich bringe dich in euer Zimmer“, erklärte Suzette. „Die anderen sitzen unten am Pool, sie wollten euch nicht als komplettes Rudel überfallen. Kommt einfach dazu, wenn ihr so weit seid, Jérôme zeigt dir alles.“

Zielsicher stieg Suzette die breite Treppe hinauf, und Nicole folgte ihr höflich und ließ sich ihr Entsetzen nicht anmerken. Natürlich gingen die Montignacs davon aus, dass Jérôme und sie ein gemeinsames Zimmer nehmen würden – das Thema war in ihrem Gespräch im Auto gar nicht vorgekommen. Für eine Frau vom Escort-Service war es allerdings wohl nichts Außergewöhnliches, mit einem fremden Mann das Bett zu teilen.

Und was für ein Bett das war! Staunend betrachtete Nicole das riesige Möbelstück mit den gedrechselten Pfosten. Auch die anderen Möbel waren offensichtlich antik, wobei die weiß getünchten Wände und der helle Teppich dafür sorgten, dass das Zimmer nicht düster oder vollgestopft wirkte.

„Das sieht ja aus, als wäre es für eine Prinzessin“, entfuhr es ihr.

Suzette lachte. „Nein, Prinzessinnen gibt es hier schon lange nicht mehr. Es sind auch nicht die Originalmöbel, das Haus war quasi eine Ruine, als wir es kauften. Aber ich habe mich bemüht, es so einzurichten, wie es dem Baustil entspricht. Gefällt es dir?“

„Ich bin begeistert“, gestand Nicole.

„Allerdings entsprechen die sanitären Einrichtungen modernen Standards“, fuhr Suzette fort. „Schau, hier ist euer Bad. Ich habe euch Handtücher hingelegt, und wenn du sonst noch etwas brauchst, dann sag es mir einfach, ja? Ah, da kommt Jérôme mit deinem Gepäck.“

Nicole wurde bewusst, dass sie auf eine Übernachtung überhaupt nicht eingerichtet war. Ja, sie hatte für Notfälle, in denen sie sich zwischendurch frisch machen wollte, ein Täschchen mit einer Zahnbürste, Deospray und Gesichtscreme in ihrer großen Handtasche, aber sie hatte weder ein Nachthemd noch Unterwäsche zum Wechseln dabei. Nur konnte sie das ja schlecht Jérômes Mutter erzählen.

Nicht mal Jérôme konnte sie das erklären, denn er hatte schließlich eine Begleitung für mehrere Tage gebucht, da verstand es sich von selbst, dass sie die passende Ausstattung bei sich hatte. Wohingegen sie wusste, dass sich in dem Koffer, den er auf das Bett warf, zwar eine Menge wunderschöner Kleidungsstücke befanden, aber längst nicht alles, was sie normalerweise für eine Übernachtung mitgenommen hätte.

„Sieh an, jetzt darf ich auch mal in einem der schönen Gästezimmer übernachten“, bemerkte er heiter. „Sonst werde ich nämlich immer in eins der Einzelzimmer im Dachgeschoss verbannt.“

„Da siehst du mal, dass es sich lohnt, uns endlich deine Freundin vorzustellen“, konterte seine Mutter ungerührt. „Jetzt lasse ich euch aber erst mal allein. Du weißt ja, wo du uns findest. Vielleicht möchtest du Chantal zunächst das Haus zeigen.“ Sie nickte Nicole noch einmal freundlich zu und verließ das Zimmer.

Jérôme zog die Anzugjacke aus und hängte sie auf einen Bügel in den Kleiderschrank. Dann begann er, sich das Hemd aufzuknöpfen. „Wenn es dir recht ist, springe ich schnell unter die Dusche“, sagte er. „Oder soll ich dir den Vortritt lassen?“

Nicole musste sich zwingen, nicht auf seinen muskulösen Oberkörper zu starren, von dem Knopf für Knopf mehr zu sehen war. „Nein, geh ruhig“, erwiderte sie. „Ich ziehe mich in der Zeit um und dusche dann später.“

„Du kannst auch gleich die Gelegenheit nutzen und in den Pool steigen“, schlug er vor.

„Damit deine ganze Familie mir dabei zuschaut?“, gab sie zurück. „Außerdem habe ich gar keinen Badeanzug eingepackt.“

Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Wie kann das denn sein? Welche Frau reist bitte für ein Wochenende in die Provence und hat keinen Bikini im Gepäck?“

„Ich offensichtlich“, erklärte Nicole missmutig und öffnete ihren Rollkoffer.

„Keine Sorge, da findet sich bestimmt eine Lösung“, sagte er. „Bei so vielen Frauen im Haus … Ich beeile mich.“ Mit diesen Worten verschwand er ins Bad.

Nicole seufzte. In was für eine Lage hatte sie sich da gebracht? Und wie kam sie da bloß wieder raus? Wenn die Familie de Montignac eine Ansammlung von unsympathischen Querköpfen wäre, würde es ihr vielleicht nicht so schwerfallen, ihre Rolle zu spielen. Aber zumindest der Teil, den sie bisher kennengelernt hatte, war so liebenswert und freundlich, dass es ihr in der Seele wehtat, sie derart zu belügen.

Behutsam nahm sie jedes einzelne Kleidungsstück aus dem Koffer und hängte es in den Schrank. Was davon sollte sie anziehen? Barbara Banks bot ihren Käuferinnen elegante Mode für besondere Augenblicke. Lässige Freizeitkleidung oder gar Jeans gehörten nicht dazu, wie Nicole jetzt wieder mit Bedauern feststellte. Wenigstens hatte sie ihre Chefin überreden können, einige der von ihr entworfenen Sommerkleider in die Kollektion aufzunehmen, die weniger fürs Büro und mehr für den Stadtbummel oder einen Cafébesuch geeignet waren, das war erst mal ihre Rettung.

Erleichtert zog sie das Kostüm und die Bluse aus und schlüpfte in ein lockeres fliederfarbenes Kleid. Bei dem Farbton könnte man vermuten, sie hätte beim Entwurf bereits an die Provence und deren Lavendelfelder gedacht.

Sie stellte sich vor den Spiegel über der antiken Kommode und zog eine Nadel nach der anderen aus ihrem Knoten, bis ihre Haare weich über ihre Schultern fielen. Viel besser. Eigentlich mochte sie diese strengen Frisuren gar nicht so sehr, aber Barbara war der Meinung, im seriösen Business sollte eine junge Frau nicht mit offenen Haaren auftreten, sonst würde sie nicht ernst genommen.

Nicole erschrak. Barbara! Die wusste ja noch gar nicht, was passiert war, sondern rechnete damit, dass sie mit der Abendmaschine wieder auf dem Flughafen Gatwick landen würde. Sie musste ihr unbedingt Bescheid geben. Sie griff in ihre Handtasche und holte das Handy hervor.

Kein Wunder, dass es die letzten Stunden still geblieben war – sie hatte in all der Hektik vergessen, den Flugmodus auszuschalten. Als sie es jetzt tat, erschienen in kürzester Zeit mehrere Nachrichten und Hinweise auf verpasste Anrufe ihrer Chefin.

Am besten, sie meldete sich sofort. Im Badezimmer hörte sie noch die Dusche rauschen – so schnell, wie er behauptet hatte, ging es bei Jérôme offenbar nicht. Sie wählte eilig Barbaras Nummer.

„Nicole, endlich meldest du dich!“, fuhr ihre Chefin sie streng an. „Hast du Raoul de Montignac noch erwischt?“

„Nein, aber ich treffe ihn bald“, antwortete Nicole ausweichend. „Barbara, ich bleibe das Wochenende über hier in Frankreich. Ich werde wohl die Gelegenheit haben, die Modelle zu zeigen.“

„Was soll das heißen?“

„Das kann ich dir jetzt nicht erklären. Ich melde mich wieder, versprochen. Aber noch ist nichts entschieden. Drück mir die Daumen.“

„Dann will ich mal hoffen, dass du weißt, was du tust“, rief Barbara. „Schließlich ist dir klar, worum es hier geht. Und melde dich sofort, wenn es was Neues gibt, verstanden?“

„Natürlich tue ich das. Ich muss aber jetzt auflegen. Bis später.“ Im Bad hatte das Wasserrauschen aufgehört. Nicole beendete eilig das Gespräch. Dabei fiel ihr Blick auf die Akku-Anzeige. Verflixt, sie musste schleunigst ihr Handy aufladen.

Hektisch begann sie, in ihrer Tasche zu kramen, ahnte jedoch längst, dass sie kein Ladegerät eingesteckt hatte. Sie war schließlich davon ausgegangen, dass sie nur einige Stunden in Lyon sein würde. Man sollte wohl immer auf alles vorbereitet sein, dachte sie kopfschüttelnd.

Die Badezimmertür ging auf, und Jérôme kam heraus. Auch in Leinenshorts und einem schlichten weißen T-Shirt sah er einfach umwerfend aus.

Er blickte sie fragend an. „Stimmt was nicht? Schlechte Nachrichten?“

„Nein, das nicht“, versicherte Nicole. „Ich sehe nur gerade, dass mein Handy schlappmacht. Glaubst du, hier findet sich irgendwo ein Ladekabel für ein iPhone?“

„Da müssen wir gar nicht lange suchen“, erklärte er und griff in seine Reisetasche.

Er zog ein Kabel heraus und steckte den Stecker in die Steckdose neben dem Bett. Dann streckte er ihr die Hand hin. Nicole reichte ihm das Telefon.

„Danke.“ Sie lächelte verlegen, als er das Handy auf das Nachtschränkchen legte. „Ich glaube, ich muss mich wohl mal besser organisieren.“

Er richtete sich auf und kam auf sie zu. „Und ich glaube“, sagte er vorwurfsvoll, „dass du nicht die Frau bist, die ich engagiert habe.“

4. KAPITEL

Jérôme wartete gespannt auf Chantals Reaktion. Sie fiel aus wie erwartet, ihre Augen weiteten sich erschrocken, und feine Röte zog über ihre Wangen. Bingo! Er hatte ins Schwarze getroffen.

Spätestens seit der Sache mit dem Badeanzug nagte eine gewisse Skepsis an ihm. Er war sogar länger als notwendig unter der Dusche stehen geblieben, weil er in Gedanken versuchte, das Puzzle zusammenzusetzen, die Verspätung, die völlig andere Erscheinung, ihre Verwirrung, als er mit ihr in die Tiefgarage fuhr … So viele kleine Hinweise hatten sich nach und nach addiert. Und nun auch noch das Handy – wie schusselig musste man sein, um für ein ganzes Wochenende ohne Ladegerät zu verreisen? Das passte hinten und vorne nicht. Und das wollte er klären, bevor sie auf seine Familie traf.

Sie blickte zu Boden und holte tief Luft. Dann begegnete ihr Blick aus grünen Augen wieder seinem. „Ja“, sagte sie. „Du hast recht. Das bin ich nicht.“

„Dachte ich es mir doch.“

„Es ging alles so schnell“, fuhr sie kläglich fort. „Ich wollte nur meiner Chefin einen Gefallen tun, und …“

„Verstehe.“ Sie war nicht die bestellte Begleiterin. Aber gleichzeitig war sie viel mehr. So attraktiv, so begehrenswert war ihm schon lange keine Frau mehr erschienen. Mit den offenen Haaren und dem Kleid, dessen Farbe ihr so gut stand, sah sie noch schöner aus als zuvor.

„Es tut mir leid, Jérôme“, sagte sie bedrückt. „Was wirst du jetzt machen? Soll ich sofort verschwinden?“

„Verschwinden?“, wiederholte er. „Wieso denn das?“

Ihr Gesichtsausdruck wechselte von niedergeschlagen zu verwundert. „Na, weil ich doch nicht …“

Er trat lächelnd einen Schritt auf sie zu. „Du, das ist mir im Prinzip völlig egal.“

„Egal?“, wiederholte sie verblüfft.

Er streckte die Hand aus und berührte sanft ihr kupferrotes Haar. „Allerdings“, murmelte er. „Es ist mir gleichgültig, dass Madame Sylvie dich so kurzfristig als Ersatz geschickt hat. Du bist völlig unvorbereitet eingesprungen, stimmt’s? Du hattest keine Ahnung, wer ich bin und was ich vorhatte.“

Sie nickte und starrte ihn unverwandt an.

„Du hattest keine Ahnung, was ich von dir erwartete“, fuhr er leise fort und bewegte seine Hand zu ihrem Hals. „Du bist einfach in mein Auto gestiegen und hast dich auf das Abenteuer eingelassen.“ Er trat noch näher und beobachtete, wie sich ihre Lippen teilten, als wollte sie etwas sagen. Aber er hörte nur einen leichten Seufzer.

Wenn sie in diesem Moment einen Schritt zurückgetreten wäre, wenn sie versucht hätte, auf Abstand zu gehen oder mit ihm über ihre Situation zu sprechen, er hätte es respektiert und sich zurückgezogen. Aber sie stand einfach da und erwiderte seinen Blick, als wartete sie auf etwas.

Er ließ seine Hand in ihren Nacken gleiten und beugte sich leicht hinunter, um den Abstand zwischen seinen und ihren Lippen zu überbrücken. Der erste Kuss war sehr vorsichtig, sehr behutsam, eine kaum wahrnehmbare Begegnung, doch Jérôme spürte, wie sie ihm beinahe unmerklich entgegenkam, und so vertiefte er den Kuss.

Wieder registrierte er ein Seufzen. Er spielte mit dem weichen Haar in ihrem Nacken, mit der anderen Hand fasste er sie an ihrer schmalen Taille, um sie noch näher an sich zu ziehen. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, er fühlte, wie sie mit ihren Fingern durch seine nassen Haare strich.

Es war ein wundervoller Kuss, ebenso berauschend wie ungeplant, der mehr versprach. Jérôme sehnte sich danach, sie einfach hochzuheben und das kurze Stück bis zum großen Bett zu tragen, sich in ihr zu verlieren auf eine Weise, wie er es schon lange nicht mehr kannte. Er ahnte, hoffte, dass sie genauso empfand, denn ihr Verhalten sprach dafür, die Art, wie sie auf seinen Kuss reagierte, sich an ihn presste, ihn mit leisen Tönen des Wohlbefindens zu ermutigen schien.

Doch genau in diesem Moment schlug im Erdgeschoss eine Tür, und lautes Gelächter war zu hören. Das brachte ihn in die Realität zurück. Sie waren nicht allein hier. Unten wartete seine Familie, die gern die Frau kennenlernen wollte, die er nach langem Drängen endlich mitgebracht hatte.

Widerstrebend beendete er den Kuss. Er musste wieder einen klaren Kopf gewinnen, denn die Angelegenheit war auf einmal deutlich komplizierter geworden.

„Wir sollten wohl jetzt nach unten gehen“, flüsterte er, wobei er seine Stirn an ihre lehnte, unwillig, den Körperkontakt so abrupt aufzugeben.

„Das sollten wir wohl“, erwiderte sie.

Er meinte, einen Anflug von Bedauern in ihrer Stimme zu hören. Jérôme richtete sich auf und sah sie an, sodass er ihr endlich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht streichen konnte. Etwas, das er am liebsten schon vorhin im Auto getan hätte. „Ich vermute, es gäbe einiges zu besprechen zwischen uns.“

Sie nickte, und ihr Lächeln verschwand.

„Aber nicht jetzt“, beschloss er. „Jetzt muss ich nur eins wissen.“

„Und das wäre?“

„Ich möchte deinen richtigen Namen kennen.“

Das Lächeln kehrte zurück. „Nicole“, antwortete sie. „Ich heiße Nicole.“

„Nicole“, wiederholte er so, als wollte er sich das Wort auf der Zunge zergehen lassen. „Gefällt mir viel besser, muss ich sagen.“

Nicole ließ sich widerstandslos von ihm bei der Hand nehmen und aus dem Zimmer führen. Eigentlich hätte sie etwas Zeit gebraucht, um dieses Wechselbad der Gefühle zu verarbeiten.

Erst der Schock, als er ihr auf den Kopf zusagte, dass sie nicht diejenige war, als die sie sich ausgab. Dann die Verblüffung, als sich herausstellte, dass er völlig falsche Schlüsse zog. Und schließlich dieser Kuss, der ihr fast dem Boden unter den Füßen weggezogen hatte – es hatte sich so richtig angefühlt, so echt, und dabei beruhte nach wie vor alles nicht auf der Wahrheit. Ob man es Missverständnis, Lüge, Betrug oder sonst was nennen mochte – es war keine gute Grundlage für eine Beziehung, wie sie sie sich wünschte. Für ihn war sie nur eine Escort-Lady.

Vielleicht war die ganze Geschichte deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt. Am besten sollte sie hier und jetzt die Notbremse ziehen, ihre Sachen packen und gehen, bevor sie wegen dieses Mannes in einem Strudel der Gefühle versank, von dem sie wehrlos mitgerissen wurde. Bevor sie sich auf seine Familie einließ, die ihr mit einer Herzlichkeit entgegenkam, die sie in dieser Form bisher nur selten erlebt hatte.

Als ihre Eltern noch lebten, war deren Beziehung zermürbt vom Heimweh ihrer Mutter und der Erfolglosigkeit ihres Vaters, der nie lange eine Arbeitsstelle behielt. Dementsprechend hatte ihre Kindheit ausgesehen, geprägt von wirtschaftlichen Engpässen, Sorgen und Unzufriedenheit. Bis heute war sie dieses Gefühl nicht losgeworden, denn Barbara war ebenfalls sehr sparsam mit Anerkennung und zog es vor, ihr mit Kritik und Herablassung zu begegnen.

Die Montignacs lebten offensichtlich am anderen Ende dieses Spektrums. Das Château und alles darum herum ließ vermuten, dass sie keine finanziellen Probleme hatten. Auch die Tatsache, dass eine quirlige, extrovertierte Person wie Désirée ihre Hochzeit am liebsten im engsten Familienkreis feiern wollte, sprach dafür, dass hier eine positive Atmosphäre herrschte.

Nicole merkte jetzt schon, wie sehr sie sich danach sehnte, einmal eine sorglose, fröhliche Zeit im Kreis netter Menschen zu erleben, ohne ständigen Erfolgsdruck und überhöhte Erwartungen. Könnte sie das dieses Wochenende haben – und wenn ja, wie hoch wäre der Preis?

„Lass mich dir nur kurz das Wichtigste des Hauses erklären“, sagte Jérôme, als sie auf den Flur getreten waren. „Wie du siehst, liegt unser Zimmer links von der Treppe. Geh also nicht in das rechte, denn da schlafen meine Eltern. Am Ende dieses Korridors ist Désirées Turmzimmer. Sie hat von klein auf darauf bestanden, dass nur sie ein Anrecht darauf hat, auch wenn wir Brüder das nie einsehen wollten. Aber sie ist offenbar unsere Prinzessin.“

„Das ist nun mal so.“ Nicole nickte. „Wenn man in einem Schloss aufwächst, ist man eine Prinzessin. Hat euch das keiner gesagt?“

„Da hab ich wohl was verpasst“, entgegnete er gut gelaunt. Er legte ihr einen Arm um die Schulter und ging mit ihr die Treppe hinunter. „Schau, hier ist die Küche. Durch diese Tür geht man ins Esszimmer und dann weiter in den Salon.“

Was er als Salon bezeichnete, war ein geräumiges Wohnzimmer mit einem riesigen Kamin, ledernen Chesterfield-Sofas und orientalischen Teppichen. Moderne Bilder an den Wänden bildeten einen interessanten Kontrast, ohne die Harmonie des Raumes zu zerstören.

„Wenn man hier weitergeht“, fuhr Jérôme mit seinen Erläuterungen fort, „kommt man in die Kapelle, in der übermorgen die Trauung stattfindet.“

„Ihr habt eine eigene Kapelle?“, platzte Nicole heraus.

Er zog entschuldigend die Schultern hoch. „Ein historisches Relikt. Der Graf, der das ursprüngliche Schloss bauen ließ, war ein sehr frommer Mann. Und mein Vater war bei der Renovierung der Meinung, man müsse das respektieren. Es gibt zwar keinen Altar mehr, und meistens werden dort überzählige Stühle aufbewahrt, aber für Désirées Hochzeit wurde der Raum reaktiviert. Sie sagt, sie hat immer davon geträumt.“

„Das klingt sehr romantisch.“

Jérôme lachte. „Ja, so könnte man es auch nennen. Wir haben bisher eher schnulzig dazu gesagt, aber das dürfen wir nur, weil sie unsere kleine Schwester ist.“ Er steuerte sie durch den Salon in Richtung der offenen Gartentür. „Komm, ich könnte jetzt einen Drink vertragen.“

Sie traten auf eine von Glyzinien berankte Terrasse, die den Blick auf den parkähnlichen Garten eröffnete. Hohe Bäume wechselten sich mit Rhododendren und anderen Sträuchern ab, Kieswege durchschnitten die Rasenflächen. Im Schatten einiger Bäume war eine lange Tafel aus mehreren Tischen und vielen Stühlen vorbereitet. Ketten mit elektrischen Lampions durchzogen die Äste.

„Findet hier die Feier statt?“, wollte Nicole wissen.

„Wie kommst du darauf? Kannst du hellsehen?“, fragte er augenzwinkernd.

„Vielleicht“, murmelte sie. Sie konnte kaum den Blick von dieser Tafel wenden. Wie großartig musste es sein, hier seine Hochzeit zu feiern, in einem solchen historischen Ambiente, mit viel Platz und doch so wunderbar intim. Manche Menschen waren einfach vom Schicksal bevorzugt.

Der Weg machte eine letzte Biegung um ein Gebüsch herum und gab dann den Blick frei auf das große türkisblaue Schwimmbecken und den überdachten Platz vor dem Poolhaus mit einer ganzen Reihe von Liegestühlen und anderen Sitzgelegenheiten.

„Du hast Glück“, erklärte Jérôme ihr nun, „du kannst meine Familie in Etappen kennenlernen, denn noch sind nicht alle da.“

„Aber diejenigen, die da sind, freuen sich darauf, deine Bekanntschaft zu machen!“, rief einer der drei Männer, die außer Désirée und ihren Eltern anwesend waren. Er kam näher und reichte ihr ein Glas Champagner. „Ich weiß, es gibt gleich Kaffee, doch wir sollten wenigstens darauf anstoßen, dass wir dich endlich zu sehen kriegen. Ich bin Raoul.“

„Sehr erfreut“, sagte Nicole und musterte ihn möglichst unauffällig. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Jérôme war nicht zu leugnen, aber Raoul war deutlich älter und hatte bereits einen Teil seiner Haarpracht verloren. Das war also der Mann, dessentwegen sie ursprünglich hergekommen war. Er wirkte sympathisch, konnte im Vergleich zu seinem jüngsten Bruder jedoch nicht bestehen.

„Ich würde dich gern mit meiner Frau und meinen Söhnen bekannt machen“, sagte Raoul, „aber sie wollten zu einem Tennisturnier nach Aix und kommen erst morgen. Wenn alles so klappt, wie Christine es sich vorstellt, werden unsere beiden Jungs nämlich in ein paar Jahren den Daviscup für Frankreich gewinnen.“

„Du merkst, Raoul ist der Optimist unter uns“, kommentierte Jérôme. „Kommen wir nun im Gegensatz dazu zu unserem ständigen Mahner. Mein ältester Bruder Charles, der Herr der Zahlen im Unternehmen. Er wird normalerweise von seiner Frau Gaby in Schach gehalten, doch die leitet eine große Ferienanlage und kann auch erst morgen anreisen, wenn der Bettenwechsel erfolgt ist. Wir haben immer Angst, dass sie das eines Tages noch hier einführt.“

Charles wies ebenfalls eine gewisse Familienähnlichkeit auf, war allerdings ein wenig untersetzter als seine Brüder.

„Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe! Du musst ja Nerven wie Drahtseile haben, wenn du es schon eine Weile mit diesem Komiker ausgehalten hast. Aber wie ich hörte, bist du von der schreibenden Zunft, da kannst du hoffentlich Dichtung und Wahrheit auseinanderhalten.“

Noch bevor Nicole etwas erwidern konnte, sprang der dritte unbekannte Mann auf und rückte ein zweisitziges Korbsofa so herum, dass es in die bereits bestehende Gruppe von Stühlen einbezogen war.

„Setz dich doch erst mal, Chantal“, sagte er. „Glaub mir, diese Menschen sind zunächst etwas überwältigend, aber man kann mit ihnen klarkommen. Ich muss es wissen, ich bin im Begriff, in diese Sippschaft einzuheiraten.“

„Mein Bräutigam Loris“, setzte Désirée erklärend hinzu. „Ich musste ja mal frisches Blut in die Familie bringen.“

In der Tat unterschied Loris sich von seinen zukünftigen Schwägern. Er war blond, blauäugig und sehr schlank, ein völlig anderer Typ als die Montignac-Männer.

Mit großer Selbstverständlichkeit legte Jérôme einen Arm um ihre Schultern, als sie Platz nahmen. Es fühlte sich gut an.

„Dann lasst uns mal anstoßen“, schlug sein Vater vor. „Auf dein Wohl, neues Familienmitglied!“

Hätte er den letzten Ausspruch nicht gemacht, wäre Nicole das Trinken leichter gefallen. Aber ohne es zu ahnen, erinnerte er sie wieder an ihr Problem. „Sollten wir nicht lieber auf das Brautpaar trinken? Deswegen sind wir schließlich hier.“

„Ich liebe dich jetzt schon dafür, dass wenigstens du dich daran erinnerst.“ Désirée lachte. „Mir scheint, dass man in dieser Familie nur als Brautpaar wahrgenommen wird, wenn man so richtig Hektik verbreitet und alle Beteiligten in den Wahnsinn treibt.“

„Deshalb musst du nicht erst heiraten“, warf Jérôme ein, „das konntest du von klein auf.“

Das brachte ihm eine drohende Geste seiner Schwester ein, die aber nicht ernst gemeint schien.

„Mir hat allerdings die Hektik beim Kauf deines Brautkleids schon gereicht“, sagte Suzette zu ihrer Tochter. „Und die Verkäuferin war auch kurz vorm Verzweifeln. Egal, was sie Désirée zeigte, es war alles zu pompös, zu aufgedonnert, zu übertrieben. Es ist ein Wunder, dass wir noch etwas gefunden haben.“

„Aber das ist unsere Spezialität“, erklärte Gilbert. „Dafür ist das ‚Merveilles‘ doch schließlich das Haus der Wunder.“

Désirée grinste ihren Vater an. „Vielleicht war es mal an der Zeit, dieses Motto einem Härtetest zu unterziehen, Papa. Ich hatte jedenfalls den Eindruck, dass gerade in der Abteilung für festliche Mode jedes zweite Kleid viel zu viel Schnickschnack aufweist. Und ich mag nun mal lieber schlichte Sachen. Dein Kleid ist sehr schön, Chantal.“

Nicole erschrak. Sie hoffte, niemand würde sie fragen, woher das Kleid stammte. Jetzt wäre absolut nicht der richtige Zeitpunkt zu erklären, wie es kam, dass sie ein Modell aus der noch gar nicht veröffentlichten Kollektion von Barbara Banks trug. Das sollte sie zunächst besser in einem Vieraugengespräch mit Raoul thematisieren.

Suzette kam ihr, ohne es zu ahnen, zu Hilfe. „Ja, das Kleid wirkt allein schon, weil die Farbe so wunderbar zu deinen roten Haaren passt. Ich kann nicht glauben, dass Jérôme uns dieses Detail bisher in seinen Beschreibungen vorenthalten hat.“

„Ich habe eben auch meine Geheimnisse, Maman“, sagte er und wickelte ganz lässig eine Strähne von Nicoles Haaren um seinen Zeigefinger.

„So sieht’s aus.“ Suzette nickte. „Und wie ich sehe, hast du Chantal inzwischen den Ring deiner Großmutter gegeben. Ist es nicht erstaunlich? Allen ihren Enkelkindern hat sie ein Schmuckstück vererbt, aber ausgerechnet du hast den Smaragd bekommen, der wie für Chantal gemacht ist. Ich glaube, das ist ein Zeichen.“

„Wollen wir’s hoffen“, sagte Jérôme und ließ ihr Haar los.

Nicole wand sich innerlich. Nie hätte sie gedacht, dass sie mal in eine Situation kommen würde, in der sie von lauter netten, wohlmeinenden Menschen umgeben war und sich doch so mies fühlte. Was brachte Jérôme nur dazu, ihnen so ein Theater vorzuspielen?

„Wer möchte denn nun eine Tasse Kaffee?“, fragte Suzette. „Ich habe eine Aprikosen-Tarte gemacht. Zwingt mich nicht, sie ungegessen wieder ins Haus zu tragen.“

Dankbar nahm Nicole Kaffee und Kuchen entgegen, denn inzwischen war sie wirklich hungrig. Gleichzeitig war sie fasziniert von der unaufdringlichen Gastlichkeit, die sich ihr hier bot. Ihr wurde bewusst, wie willkommen sie sich im Kreis dieser Menschen fühlte, obwohl sie sie kaum kannte.

„Jetzt erzählt aber mal, was ihr für heute geplant habt“, sagte Charles. „Ich erwarte gleich ein wichtiges Telefonat und muss einige Berichte lesen, deshalb möchte ich wissen, was später ansteht.“

„Ach, wir lassen es heute gemächlich angehen“, antwortete Suzette. „Ich dachte mir schon, dass du noch arbeiten musst und Raoul und Jérôme vielleicht auch – das kennen wir ja. Also werden wir heute Abend einfach den Grill anwerfen. Désirée hat sich ein völlig privates Wochenende ohne das Personal gewünscht. Sie und ich fahren gleich ins Dorf und holen das Fleisch vom Metzger.“

„Und ich lade alle, die nichts zu arbeiten oder einzukaufen haben, zu einer Partie Boule ein“, fügte Gilbert hinzu. „Viel gemächlicher kann es an so einem warmen Sommertag nicht werden, finde ich.“

„Du suchst nur wieder eine Möglichkeit, bei irgendwas zu gewinnen“, spottete Raoul. „Aber ich muss leider auch noch was tun. Wir hatten heute ein ziemlich chaotisches Meeting in Bezug auf das Sommersortiment. Da organisieren wir extra einen Laufsteg, und was passiert? Ein Anbieter hatte völlig abwegige Ideen, was seine Entwürfe für tragbare Sommermode anging, und eine andere ist gar nicht erst erschienen, obwohl sie seit Jahren darum bettelt, wieder in das Sortiment aufgenommen zu werden. Hat sich noch nicht mal abgemeldet, kann man das glauben?“

Damit meint er mich, dachte Nicole erschrocken. Hoffentlich finde ich irgendwann an diesem Wochenende eine Gelegenheit, ihm alles zu erklären.

„Vielleicht war den Leuten schon vorher klar, dass ihre Klamotten nichts taugen“, rief Désirée lachend.

„Das könnte sein“, sagte er brummig, stellte seine Kaffeetasse beiseite und erhob sich. „Insofern muss ich noch mal mit meiner Assistentin überlegen, wie wir diese Lücken am besten füllen. Und das tue ich besser jetzt, denn sie möchte ja irgendwann Feierabend machen.“

„Na dann viel Spaß“, rief Charles ihm nach. „Gut zu wissen, dass du auch mal Probleme zu lösen hast.“ Er lachte, als sein Bruder ihm aus einigen Schritten Entfernung einen grimmigen Blick zuwarf.

Nicole wünschte, sie könnte Raoul hinterherlaufen und ihm gestehen, dass sie die fehlende Anbieterin war und warum sie es nicht rechtzeitig geschafft hatte. Er hatte jedoch schon sein Telefon gezückt und das Gespräch begonnen. Außerdem machten Suzette und Désirée bereits konkrete Pläne für ihre Einkaufstour.

„Magst du mitkommen, Chantal? Im Ort ist heute Abendmarkt – nichts Besonderes, aber immer nett anzuschauen.“

Jérôme stieß sie neckisch in die Seite. „Fahr ruhig mit“, sagte er. „Dann siehst du wenigstens etwas von der Gegend, statt nur auf ein paar Boule-Kugeln zu starren.“

„Ja, warum nicht?“, erwiderte sie. Vielleicht wäre es eine gute Ablenkung von diesem Mann, der ihr nur einen Arm um die Schulter zu legen brauchte, um in ihrem Herzen Rhythmusstörungen zu verursachen. Und das konnte sie momentan nun mal gar nicht gebrauchen, denn sie musste einen klaren Kopf bewahren, wenn sie ihren Plan umsetzen und ihre Zukunft retten wollte.

Die Fahrt in Suzettes Cabrio dauerte nicht lange, und sie stellten den Wagen auf einem Parkplatz unter mächtigen Platanen mit silbrig-gefleckter Rinde ab.

„Zieht ihr beiden doch schon mal los und schaut, ob ihr noch etwas Käse kaufen könnt“, sagte Suzette zu Désirée und ihr. „Ich gehe inzwischen zum Metzger. Wir werden uns sicher wiederfinden.“

Désirée grinste Nicole an. „Komm mit! Magst du Oliven? Hier vorn gibt es einen Stand, der eine sagenhafte Auswahl hat.“

Staunend ließ Nicole sich von ihr in den Trubel in den Gängen mitziehen. Sie war beinahe überwältigt von den vielen Eindrücken, die ihr hier begegneten, Gesprächsfetzen im typischen Tonfall des Südens, der Duft, der vom Stand mit Lavendelseife zu ihr herüberwehte, und natürlich die Farben! Da gab es einen Gewürzstand mit Schalen voller Currypulver und anderen geheimnisvollen Mischungen, einen Fischwagen, hinter dessen Glastresen metallisch schimmernde Fische auf einem Eisbett ruhten, dann wieder Regale mit bunt glasierten Tellern und Schüsseln, gestreifte Basttaschen in allen Größen und Farbkombinationen …

„Hier, koste mal“, forderte Désirée sie auf und hielt ihr einen Zahnstocher mit einer dicken Olive entgegen. „Ist das dein Geschmack? Oder magst du sie lieber etwas säuerlicher?“

„Nein, die sind fabelhaft“, versicherte Nicole, sodass ihre Begleiterin sehr zufrieden eine Schale davon kaufte.

Weiter ging es zum Käsestand. Auch hier wusste Désirée genau, was sie wollte, und legte schließlich mehrere in graues Wachspapier verpackte Stücke in ihren Korb. „Worauf hast du noch Lust? Ich weiß! Folge mir unauffällig, ich stelle dich Gaston vor. Er hat den besten Lavendelhonig, den du je gegessen hast.“

Es war so einfach, Désirée zu folgen und in diese Atmosphäre einzutauchen. Die junge Frau war den meisten Händlern bekannt und bekam immer wieder Kostproben angeboten, die sie auch an sie weiterreichte. Es wurde gelacht, probiert und verhandelt, bis sich eine ansehnliche Auswahl an Produkten in ihrem Einkaufskorb befand.

„Ach, das ist doch viel netter, als mit einer Karre durch den Supermarkt zu schieben“, sagte Nicole. „Ich wünschte, das könnte ich öfter haben.“

„Sag bloß, du warst noch nie auf einem provenzalischen Markt?“, fragte Désirée erstaunt. „Wie kann das denn sein?“

„Na ja, ich komme aus dem Norden“, antwortete Nicole ausweichend. „Und offensichtlich wusste ich bisher nicht, was ich verpasst habe.“

„Na, dann sollten wir eigentlich nach Uzès fahren“, meinte Désirée. „Oder zum Sonntagsmarkt in L‘Isle-sur-la-Sorgue … Tja, dieses Wochenende wird das wohl nichts. Aber nächstes Mal, wenn du hier bist, ziehen wir beiden zusammen los, ja? Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.“

„Das wäre schön“, murmelte Nicole. Ja, es wäre großartig, mit Désirée ganz unbeschwert unterwegs zu sein, doch es würde kein nächstes Mal geben.

So schien es in ihrem Leben immer zu sein – die liebenswerten Menschen wurden ihr weggenommen, so wie ihre Mutter, die starb, als Nicole gerade ihre Ausbildung zu Ende gebracht hatte. Übrig blieben nur die anderen, die sie herumkommandierten und sie enttäuschten wie ihre Chefin Barbara.

Um den sehnsüchtigen Ausdruck in ihrem Gesicht zu verbergen, ging sie rasch weiter und fand sich vor einem Tisch mit Stoffballen wieder. Ganz automatisch streckte sie die Hand aus, um das Gewebe zu fühlen und einen Eindruck davon zu bekommen, was man daraus machen könnte.

Für Uneingeweihte mochte es schwer vorstellbar sein, aber manchmal machte schon eine kleine Abweichung in Muster oder der Farbe den Unterschied. Manche Stoffe hatten den richtigen Fall, um ein bestimmtes Modell daraus zu fertigen, andere hatten das nicht, obwohl sie ganz ähnlich aussahen. Nicole konnte nicht anders, sie musste einfach noch mehr der Stoffe streicheln, wie sie es immer tat, wenn sie die Materialien für ihre Entwürfe aussuchte.

Viele der Ballen bestanden aus Baumwolle, die mit den typisch provenzalischen Mustern bedruckt war. Das wirkte zwar hier auf dem Tisch sehr fröhlich und bunt, passte jedoch nicht zum Stil der Kleidung, die sie entwarf. Aber dann entdeckte sie eine Rolle mit leichtem Voile, nicht bedruckt, sondern in Streifen gewebt mit den klaren Farben, die sie schon heute auf der Fahrt so fasziniert hatten: Sonnengelb, leuchtendes Blau, dunkles Grün, dazwischen einige sanftere Töne, um die Kombination abzurunden.

„Geben Sie mir davon drei Meter, bitte“, sagte sie spontan zur Händlerin.

„Na sag mal, was willst du denn damit?“, fragte Désirée überrascht. „Als Tischdecke ist es zu dünn, und für Gardinen sind drei Meter doch sehr wenig.“

„Aber für eine Bluse reicht es, je nachdem sogar für ein Kleid.“ Nicole zückte ihre Geldbörse. „Vielleicht ein ganz schlichter Raglanschnitt mit einem Bindeband am Hals, um die Weite zu regulieren … mal sehen.“

„Willst du damit sagen, du nähst selbst?“ Désirée riss ungläubig die Augen auf. „Ich dachte, du schreibst nur über Mode?“

„Nun ja“, stotterte Nicole verlegen, „es ist ja nicht verkehrt, wenn man über die Technik Bescheid weiß, nicht wahr? Viel Zeit habe ich allerdings nicht dafür. Mal sehen, wann ich dazu komme, dieses Schätzchen zu verarbeiten.“ Es wird mich jedoch immer an dieses Wochenende erinnern, setzte sie in Gedanken hinzu, als sie die Tüte mit dem Stoff in ihre große Tasche stopfte.

„Wow, dafür hätte ich niemals die Geduld“, erklärte Désirée. „Aber du hast recht, ich muss als Innenarchitektin schließlich auch wissen, was die Handwerker tun, die ich beauftrage. Nur in meiner Freizeit meine eigenen Möbel zu bauen, dazu hätte ich keine Lust.“

Von Weitem sah Nicole, wie sich Suzette durch die Menge der Marktbesucher auf sie zubewegte. „Da seid ihr ja. Haben wir alles? Dann nichts wie ab nach Hause.“

Mit gemischten Gefühlen kletterte Nicole auf den Rücksitz des Wagens. Sie kannte diese Menschen erst ein paar Stunden – wie kam es nur, dass sie sich ihnen schon so verbunden fühlte? Sie sollte diese Scharade so schnell wie möglich beenden. Bestimmt ergäbe sich bald eine Gelegenheit, mit Raoul zu sprechen und ihm die Sache mit dem verpassten Termin zu erklären. Und dann hing alles von seiner Entscheidung ab.

Das Auto bog in die Allee ein, und das Wechselspiel von Licht und Schatten, das die hohen Bäume verursachten, spiegelte ihre widerstreitenden Gefühle. Aber letztlich ging es um ihre Zukunft, ihre Existenz, ihren Job. Sie war ganz auf sich allein gestellt – was würde aus ihr, wenn sie diese Chance nicht nutzen konnte?

5. KAPITEL

„Chantal? Noch ein wenig Chablis?“

Nicole schreckte hoch, als Gilbert mit der Flasche vor ihr stand. „Oh nein, besser nicht. Ich sollte stattdessen ins Bett gehen, glaube ich.“

„Wie du willst. Du sollst uns nicht nachsagen können, wir versorgen dich schlecht.“ Jérômes Vater schmunzelte und ging weiter zu Raoul, der im Gegensatz zu ihr sein Glas zum Nachgießen hinhielt.

„Keine Sorge“, versicherte Nicole. „Es ist mir schon lange nicht mehr so gut gegangen.“

Das war fast noch untertrieben. Nach ihrer Rückkehr aus dem Ort hatten die Damen Montignac ihr Angebot, beim Tischdecken für das Abendessen, das die Köchin vorbereitet hatte, mitzuhelfen, freundlich abgelehnt.

„So viel zu tun gibt es sowieso nicht“, hatte Suzette klargemacht.

Also hatte sie sich auf die Suche nach Raoul gemacht, in der Hoffnung, mit ihm das notwendige Gespräch führen zu können, aber die Montignac-Männer hatten sich um den Grill versammelt. Auch da war Hilfe nicht erwünscht.

Schließlich hatte sie sich kurz in ihr Schlafzimmer verzogen, wo inzwischen ihr Telefon wieder aufgeladen war, und Barbara angerufen.

„Du liebe Güte, Nicole, wo bist du?“ Wie üblich klang Barbaras Stimme laut und aufgeregt. „Wie kannst du mich so im Ungewissen lassen?“

„Ich brauche etwas Zeit, Barbara. Aber ich bin dran. Ich muss nur noch mit Raoul de Montignac sprechen.“

„Dann gib dir mal ein bisschen Mühe“, forderte ihre Chefin. „Du weißt, was von dieser Sache abhängt.“

„Glaub mir, ich tue alles, damit ich Raoul überzeugen kann. Ich melde mich wieder.“ Rasch beendete Nicole das Telefonat. Ihr schlechtes Gewissen machte ihr zu schaffen. Aber sie sah keine andere Lösung, als ihren Plan durchzuziehen und auf die Möglichkeit eines Gesprächs mit Raoul zu warten.

Nach einem köstlichen Abendessen hatte Gilbert in einem Feuerkorb einige Holzstücke angezündet, und sie hatten im Kreis um die Flammen gesessen, Weißwein getrunken und in der typisch humorvollen Art miteinander geredet, die ihr inzwischen sehr vertraut schien.

Nun wurde es jedoch Zeit, sich zurückzuziehen. Sie hoffte, Jérôme würde noch bleiben und ihr ein wenig Vorsprung geben, da sie ein Schlafzimmer teilen mussten, aber das ließ seine wohlmeinende Familie nicht zu.

„Nun geh schon mit deiner Freundin“, drängte Suzette ihn. „Wir kriegen das hier auch ohne dich aufgeräumt.“

Und so begleitete er sie in ihr gemeinsames Zimmer.

„Möchtest du zuerst ins Bad?“, fragte er. „Du musst ja fix und fertig sein nach so viel Familienleben.“

„Wovon redest du? Sie sind doch alle total nett.“ Sie setzte sich auf die Bettkante, um ihre Sandaletten auszuziehen.

„Stimmt, sie haben sich heute eine Menge Mühe gegeben. Sie sind nicht immer so zahm, glaub mir.“ Er zerrte sich das T-Shirt über den Kopf herunter.

Nicole bemühte sich, nicht hinzuschauen. Dieser fabelhafte Oberkörper konnte eine Frau wahrlich auf dumme Gedanken bringen. „Was tun sie denn, wenn sie nicht zahm sind?“

Er warf das T-Shirt auf einen Stuhl und ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. „Du hast ja heute einen Eindruck bekommen vom ironischen Ton, der manchmal bei uns herrscht. Der ist nicht immer so lustig gemeint. Manchmal enthält er tausend kleine Nadelstiche, die dir ganz unterschwellig zeigen, dass du mal wieder die Messlatte nicht erreicht hast. In dieser Familie zählt nur Erfolg.“

Das glaube ich nicht, wollte sie sagen, aber sie verkniff sich den Kommentar. Schließlich wusste sie selbst nur zu genau, wie oft sie jedes Wort von Barbara auf die Goldwaage legte, immer mit der Befürchtung, nicht gut genug zu sein. Warum sonst hatte sie wohl diesem irrsinnigen Plan zugestimmt, die Kollektion persönlich nach Lyon zu bringen?

„Du bist doch erfolgreich“, argumentierte sie stattdessen.

„Sagen wir mal, der Online-Bereich schreibt schwarze Zahlen. Aber so richtig ernst genommen werde ich damit nicht. Achte mal drauf, wenn meine Brüder von der Firma sprechen. Für die zählen in erster Linie die Kaufhäuser vor Ort, da spielt sich das wahre Leben ab. Klar, das hat auch eine lange Tradition, seit mein Urgroßvater im Jahr 1937 das erste Haus in Lyon eröffnete.“

„Ja, das ist lange her. Und jetzt bist du derjenige, der eine neue Tradition beginnt mit deinem Online-Angebot.“

Jérôme runzelte nachdenklich die Stirn. „Meinst du das ernst?“

„Natürlich. Ich habe schließlich den Eindruck, du stehst nicht so auf Scherze.“

„Allerdings.“ Er schüttelte verwundert den Kopf. „Eine neue Tradition! So habe ich es noch nie gesehen.“

„Vielleicht, weil man Traditionen erst aus der Rückschau erkennt? Eines Tages werden vielleicht ein paar stolze Montignacs sagen: ‚Damals, als Uropa Jérôme mit dem Online-Geschäft begann.‘ Könnte ich mir jedenfalls vorstellen.“ Sie zog ihr Kosmetiktäschchen aus der Handtasche und ging damit Richtung Badezimmer. „Bin gleich wieder da.“

Uropa Jérôme … Was hatte diese Frau für eine Fantasie! Und was für ein Zutrauen. Vielleicht würden die zukünftigen Generationen von Montignacs eher den Kopf schütteln über den schrulligen Onkel, der verzweifelt versucht hatte, auch für sich einen Platz im Familienimperium zu erarbeiten.

Aber, so musste er zugeben, es tat gut, dass sie ihm so eine Vorstellung vor Augen malte. Dass sie sich nicht einfach seinen düsteren Ansichten anschloss, sondern seine Situation aus einer anderen Perspektive betrachtete.

Bei seiner Familie war sie gut angekommen. Im Nachhinein wurde ihm klar, dass die echte Chantal gewiss mehr Schwierigkeiten gehabt hätte. Mit seiner Mutter zum Einkaufen fahren und mit Désirée über den Markt schlendern – hätte sie das wirklich getan? Wenn Gilbert ihr den Unterschied zwischen Merlot und Syrah zu erklären versuchte, hätte sie da nicht vor Langeweile gegähnt? Hätte sie sich ernsthaft dafür interessiert, was das Ingenieurbüro tat, bei dem Loris angestellt war?

Bei Nicole hatte das alles so echt gewirkt. Aber vielleicht gehörte das zu den Talenten einer professionellen Begleiterin, die womöglich schon am Montag einem anderen Kunden zur Verfügung stand. Ob sie dem auch so bereitwillig die Arme um den Hals legen würde wie ihm heute Nachmittag?

Bevor er seine Gedanken sortieren konnte, kehrte Nicole aus dem Badezimmer zurück. Sogar im dämmerigen Licht der Nachttischlampe glänzte ihr Haar in diesem unvergleichlichen Ton, der ihn an die Gemälde alter Meister erinnerte. Und auch ohne Mascara waren ihre Augen so ausdrucksvoll, dass er seinen Blick nur mühsam von ihnen losreißen konnte.

„Dann gehe ich mir auch schnell die Zähne putzen“, sagte er und verschwand ins Bad.

Als er nur mit Boxershorts bekleidet zurückkam, saß sie schon im Bett und studierte etwas auf ihrem Handy, aber als sie ihn wahrnahm, schaltete sie es aus und legte es beiseite.

Jérôme musterte sie genauer. „Könnte das mein T-Shirt sein, das du da anhast?“, fragte er.

Verlegen kniff sie die Lippen zusammen. „Nun ja, ein Nachthemd war auch nicht in meinem Koffer.“

„Na so was.“ Er grinste amüsiert. „Man sollte glauben, dass du diesen Koffer gar nicht selbst gepackt hast. Am Ende gehört er dir überhaupt nicht.“

Sie rollte mit den Augen. „Mach dich ruhig lustig über mich. Ist dir das noch nie passiert, dass die Dinge völlig anders laufen als geplant?“

„Doch, doch“, musste er zugeben. „Eigentlich passiert mir das ständig.“ Er setzte sich auf seine Seite des Betts. Weil er bisher nie in diesem Zimmer übernachtet hatte, nahm er mit Erstaunen wahr, wie groß es war. Es wäre Platz für eine ganze Familie darin. Aber die würde er momentan gar nicht haben wollen – viel lieber wäre es ihm, wenn die Frau neben ihm nicht so weit entfernt wäre. „Nicole“, sagte er sanft und streckte wieder einmal die Hand aus, um ihr Haar zu berühren.

Sie zuckte zusammen. „Jérôme, wir müssen reden.“ Sie wies mit einer Handbewegung auf das Bett. „Das hier … das ist kompliziert.“

Oh, oh. Das verhieß nichts Gutes. Er zog seine Hand zurück. „Was meinst du mit kompliziert?“

Sie wich seinem Blick aus und starrte stattdessen auf die Bettdecke vor sich. „Nun ja … du hast eine Begleiterin gemietet, und … und wir müssen klären, was das alles umfasst.“

Am besten war es wohl, das Thema direkt anzuschneiden, dachte er. „Du meinst damit, ob auch Sex mit inbegriffen ist?“

Der Atemzug, den sie ausstieß, hatte etwas Erleichtertes. „Ja, genau. Weißt du, ich … ich mache so was sonst nicht.“

„Du willst damit sagen, das ist dein erster Auftrag bei der Agentur? Deswegen kommst du so – wie soll ich es formulieren – mangelhaft vorbereitet hierher?“

Jetzt sah sie ihm wieder ins Gesicht. „Ja, irgendwie schon. Sieh mal, wir hatten gar nicht miteinander geredet, da saß ich bereits in deinem Auto, weil du es so eilig hattest, und …“

„Nicole, für mich ist es auch das erste Mal, dass ich das mache. Ich hatte keine Ahnung, was da vorher zu klären gewesen wäre. Aber wenn es dich beruhigt – ich bin kein Mann, der eine Frau anstellt und dann erwartet, dass sie alles mit sich machen lässt.“

„So habe ich dich auch nicht eingeschätzt“, versicherte sie hastig. „Ich weiß halt nur nicht, ob in der Abmachung …“ Sie brach hilflos ab.

„Nicole, du bist eine attraktive Frau“, sagte er. „Eine Frau, die bei einem Mann viele Wünsche weckt. Doch du kannst ganz beruhigt sein, ich werde nicht mit dir schlafen, wenn du es nicht willst. Egal, was im Vertrag steht.“

„Danke, Jérôme.“ Sie schluckte mühsam. „Weißt du, ich mag dich sehr, aber der Gedanke, dass sich unser Kontakt nur auf dieses Wochenende beschränkt, das … Ich kann das einfach nicht.“

„Und wenn sich unser Kontakt nicht nur auf dieses Wochenende beschränken würde?“ Verflixt, seit wann machte er solche Angebote, ohne sie vorher gründlich zu durchdenken?

Ein Hauch von Schwermut lag in ihrem Blick, als sie den Kopf schüttelte. „Wie stellst du dir das vor? Du rufst mich an, wenn deine Mutter Geburtstag feiert oder dein Vater wieder Lust auf ein Boule-Spiel hat, damit wir dieses Theaterstück fortsetzen? Willst du mir vorher ein Briefing schicken, sodass ich auf dem neusten Stand bin? Außerdem lebe ich gar nicht in Lyon.“

„Verstehe“, murmelte er. „Am Sonntag ist alles vorüber.“

Nicole nickte. „Genau. Es geht darum, alles dafür zu tun, dass deine Schwester eine wunderschöne Hochzeit hat, an die sie sich immer gern zurückerinnert.“

„Es ist schon witzig“, meinte er kopfschüttelnd, „dass du das so entscheidend findest. Dabei wusstest du bis heute nichts über uns.“

„Da hast du recht. Aber nachdem ich jetzt deine Familie kennengelernt habe, ist mir das wichtig. Ich mag euch alle sehr gern, weißt du. Ihr seid wunderbare Menschen, eine Familie, wie man sie sich nur wünschen kann. Das ist etwas so Kostbares … ich weiß gar nicht, ob dir das bewusst ist.“

Mit dieser Frage wollte er sich jetzt lieber nicht auseinandersetzen, aber an der Sehnsucht, die er in ihren Worten wahrnahm, kam er nicht vorbei. „Hast du keine Familie?“

Sie schüttelte den Kopf. „Meine Eltern sind beide tot. Keine Geschwister, keine sonstigen Angehörigen mehr … Ich kann dir nur raten, Jérôme, mach dir bewusst, was du hier hast. Selbst wenn sie dir manchmal auf die Nerven gehen, es sind liebenswerte Menschen.“

Sekundenlang starrten sie sich schweigend an. Dann nickte er nachdenklich. „Ich weiß zwar nicht, was dich zur Expertin macht, aber ich nehme deine Worte ernst, Nicole. In jeder Beziehung.“ Wieder streckte er die Hand aus und spielte mit ihrem seidigen Haar. „Und nachdem wir das alles geklärt haben, darf ich dir trotzdem einen Gutenachtkuss geben?“

Sie lächelte und neigte sich ihm entgegen. „Da ich weiß, wie du küsst, kann ich dazu nicht Nein sagen.“

6. KAPITEL

Der Berg wurde immer steiler, und ganz gleich, wie sehr sie sich anstrengte, sie wurde ihre Verfolger nicht los, gesichtslose Wesen, deren Hände gierig nach ihr griffen. Sie würde nicht die Kraft haben, sie abzuschütteln, fast hatten sie sie erreicht und würden ihre Krallen in sie schlagen …

Nicole wimmerte voller Angst.

„Was ist los, Chérie?“, fragte jemand besorgt aus dem Dunkel. Eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter. „Hast du schlecht geträumt?“

Ach, was für ein Glück, aufzuwachen und nicht allein zu sein. Es war beinahe wie früher, wenn ihre Mutter beruhigend an ihr Bett gekommen war. Aber die war längst nicht mehr da …

Nicole stutzte. Wo war sie eigentlich?

Langsam wurde es ihr bewusst. Sie war in einem Schloss in der Provence, und der Mann neben ihr, der sie nun in eine schützende Umarmung zog, war Jérôme.

„Alles ist gut“, flüsterte er. „Hier passiert dir nichts.“

„Es tut mir leid, wenn ich dich aufgeweckt habe“, murmelte sie. Vermutlich sollte sie sich rasch wieder auf ihre Hälfte des Bettes zurückziehen und ihn weiterschlafen lassen, aber es fühlte sich in seinen Armen so unendlich gut an. Und sie ahnte, dass sie nicht so schnell in den Schlaf finden würde, zu verstörend waren die Bilder, die ihr jetzt noch vor Augen standen. Oft genug schon hatte sie nach so einem Traum lange wach gelegen und versucht, diese Eindrücke abzuschütteln, die Angst, es nicht zu schaffen und sich niemals sicher fühlen zu können.

„Das muss dir nicht leidtun“, versicherte er. „Als Kind habe ich manchmal von giftigen Schlangen und Drachen geträumt. Dann bin ich immer zu meiner Maman ins Bett gekrochen, und am nächsten Tag haben mich meine Brüder deswegen ausgelacht.“

„Aber ich wette, in dem Moment war dir nur wichtig, bei deiner Mutter Unterschlupf zu finden, stimmt’s?“

„Stimmt“, erwiderte er. „Du kannst dich also so lange an mich klammern, wie du willst.“

An ihn klammern? Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass nicht nur er sie festhielt. Sie war es, die ihre Arme Hilfe suchend um ihn geschlungen hatte. Sie spürte seine warme, glatte Haut unter ihren Fingern. Und sie konnte nicht anders, sie musste ihre Fingerspitzen über diese Haut gleiten lassen. Sie musste diesen Mann spüren, der sich genauso fabelhaft anfühlte, wie er aussah. Sein Duft erinnerte sie an Zitrusfrüchte und Sonnenstrahlen und hüllte sie unter dem Laken ein, seine beruhigende Stimme vertrieb die letzten Reste ihres Albtraums.

Instinktiv drängte sie sich näher an ihn, ihren Ruhepol, ihren Rettungsanker, der ihr Sicherheit vermittelte und ein ungewohntes Gefühl von Heimat. Dabei kannte sie ihn kaum. Aber es schien ihr, als sei er das Ziel einer langen Reise, fremd und doch so vertraut und voller Wärme und Schutz und Zärtlichkeit.

„Nicole“, flüsterte er.

Nun war sie froh, dass er ihren richtigen Namen kannte, wenigstens etwas Ehrliches, Wahres in einer Situation, die ansonsten ein heilloses Durcheinander war. Und plötzlich genügte es ihr nicht mehr, seine sanften Küsse auf ihrer Stirn, ihrer Schläfe, an ihrem Hals zu spüren. Sie wollte mehr.

Sie spürte, wie seine Hand vorsichtig unter ihr T-Shirt glitt – sein T-Shirt, jetzt schweißnass nach ihrem Albtraum. „Nicole“, flüsterte er erneut.

Sie erkannte Zärtlichkeit und Begehren darin, und in einer spontanen Bewegung zog sie das Shirt aus und warf es hinter sich.

„Ich glaube, das beantwortet meine Frage“, raunte er ihr ins Ohr.

Sie hörte den amüsierten Tonfall und konnte sich vorstellen, wie er dabei lächelte. „Welche Frage?“

„Die ich dir gerade stellen wollte.“

Sie spürte seine Hand an ihrer Wange, seine Lippen auf ihrem Mund. Er küsste sie, intensiv und fordernd, dann wieder sehr zärtlich, so als bekäme er nie mehr die Gelegenheit, als ginge es nur um diesen Moment.

Gab es eine Möglichkeit, ihm noch näher zu kommen, ihn noch dichter an sich zu ziehen? „Ja, ich will“, flüsterte sie.

Einige Stunden später erwachte Nicole davon, dass er vorsichtig seinen Arm von ihrer Hüfte nahm. „Jérôme?“

„Schlaf weiter“, raunte er ihr zu. „Ich gehe eine Stunde laufen, solange es noch nicht so heiß ist. Ich würde dich einladen mitzukommen, aber ich vermute mal, dass Laufschuhe auch nicht in deinem Koffer waren.“

„Stimmt.“ Sie seufzte verschlafen und beobachtete, wie er aus dem Bett stieg, leise Shorts und Laufschuhe anzog und zur Tür schlich.

„Bis später“, sagte er und verließ das Zimmer.

Nicole kuschelte sich unter das Laken, an die Stelle, an der seine Wärme noch zu spüren war. Nun war die Nacht doch völlig anders verlaufen. Sie versuchte, sich an jeden einzelnen Augenblick ihrer Begegnung zu erinnern. Ihr Albtraum und die ersten Küsse. Der Moment, als er das Licht anmachte, weil er sie anschauen wollte. Die Leidenschaft. Dann die Erschöpfung und das beruhigende Gefühl, in seinen Armen einschlafen zu können.

Hatte sie jemals so etwas erlebt? Es war noch nie so gewesen, musste sie erkennen.

Und was jetzt?

Spätestens bei dieser Frage war an Schlaf nicht mehr zu denken. Das wohlige Glücksgefühl, dem sie gerade noch nachgespürt hatte, wich großer Ratlosigkeit.

Bei allen Schwierigkeiten, die sich ihr im Laufe der Zeit in den Weg gestellt hatten, war sie einer wichtigen Grundregel gefolgt: ehrlich zu sich selbst zu sein. Ja, man konnte nicht immer alles richtig machen. Aber man musste zumindest in der Lage sein, seine Fehler zu benennen und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Wer versuchte, sich Dinge schönzureden und halbherzige Entschuldigungen zu finden, würde letztlich damit scheitern.

Deshalb begann Nicole, schweren Herzens über die letzten vierundzwanzig Stunden Bilanz zu ziehen. Länger war es noch gar nicht her, dass sie voller Optimismus zum Flughafen gefahren war mit einem Koffer voller Modellkleider und der festen Absicht, das Atelier ihrer Chefin und ihren eigenen Job zu retten. Von da an war alles schiefgegangen. Für die Verspätung konnte sie nichts. Vielleicht traf sie auch keine Schuld daran, dass sie versehentlich mit dem falschen Montignac ins Auto gestiegen war, in der Hoffnung, die Kollektion doch noch präsentieren zu können.

Aber von da an hatte sie eindeutig ihren Anteil zu dem Chaos beigetragen, in dem sie sich jetzt befand. Hatte sie wirklich gedacht, sie würde es problemlos schaffen, eine Familie zu täuschen, dem attraktivsten Mann, dem sie je begegnet war, die coole Profibegleiterin vorzuspielen und mit ihm die Nacht in einem Himmelbett platonisch zu verbringen?

Autor

Rona Wickstead
<p>Geschichten über menschliche Beziehungen gehören zu Rona Wicksteads Leben wie die Luft zum Atmen, vor allem wenn sie zu einem Happy End führen. Deshalb war es geradezu unausweichlich, dass sie irgendwann selbst begann, Romances zu schreiben – die natürlich an den traumhaften Orten spielen, zu denen sie mit ihrem Mann...
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