Romana Extra Band 129

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  • Erscheinungstag 17.01.2023
  • Bandnummer 129
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517423
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Melody Summer, Andrea Bolter, Tara Pammi

ROMANA EXTRA BAND 129

1. KAPITEL

Stimmengewirr und Musik lagen in der Luft. Miranda eilte die Treppe zur Rue Lamarck hinauf. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie wieder einmal spät dran war. Yves würde sicher schon auf sie warten. Aber der Verkehr in Paris war freitagabends immer schrecklich. Touristen und Anwohner drängten sich Stoßstange an Stoßstange durch die Straßen. Miranda hatte sich vom Taxifahrer am Rand Montmartres, dem berühmten Künstlerviertel von Paris, absetzen lassen.

Es war ein lauer Frühsommerabend, und um sie herum schlenderten Liebespaare, Freundescliquen und Einsame. Ein Akkordeonspieler spielte Chansons, Straßenkünstler zeichneten Porträts und Karikaturen, und der Duft frisch gebackener Crêpes lag in der Luft. Miranda lief weiter Richtung Sacré-Coeur. Sie wich einem Jongleur aus, um den sich eine Menschentraube gebildet hatte, und umrundete eine Gruppe junger Frauen, die ihren T-Shirts zufolge Mathildes Junggesellinnenabschied feierten.

Sie unterdrückte einen Seufzer. Irgendwann würde sie die Zeit finden, sich unter die Menschen zu mischen, sie würde ein Glas Wein in einem Straßencafé trinken, sich vor Sacré-Coeur malen lassen und währenddessen die Chansons mitsummen. Aber daran war zurzeit nicht zu denken.

Bis Mittag hatte sie noch im Krankenhaus gearbeitet, war von dort aus schnell zu Hause vorbeigefahren, um sich zu vergewissern, dass bei ihrem Vater alles in Ordnung war, und war weiter nach Gatwick gehetzt, um den Flieger nach Paris zu nehmen. Nach ihrem Treffen mit Yves würde sie in ihr Hotel fahren, um morgen früh um acht Uhr wieder am Flughafen zu sein.

Auf diese Weise war ihr Vater nicht mehr als vierundzwanzig Stunden allein. Seine Depression wurde zwar besser, aber sie hatte noch immer kein gutes Gefühl dabei, ihn allein zu lassen. Auch wenn sie hinterher jedes Mal vollkommen geschafft war, war es doch wichtig, Yves einmal im Monat in Paris zu treffen, um die Fortzahlung des Unternehmerlohns ihres Vaters zu gewährleisten. Ohne das Geld würden sie sich all die teuren Psychotherapien und Medikamente nicht leisten können. Die Krankenversicherung zahlte nur das Notwendigste.

Das Bistro tauchte vor ihr auf, in dem sie seit zwei Jahren jeden ersten Freitag im Monat den Geschäftspartner ihres Vaters traf, Yves Renard. Vor dreißig Jahren hatten Yves und ihr Vater John ein Hotel an der Loire eröffnet. Und heute waren sie die Chefs eines kleinen Imperiums mit sechs Loire-Hotels in der Nähe von Nantes bis Saint-Etienne.

Miranda entspannte sich, als sie sah, dass sie dieses Mal nur eine halbe Stunde zu spät war. Yves war Schlimmeres von ihr gewöhnt. Meist saß er bei einer Flasche Rotwein an seinem Stammplatz am Fenster und betrachtete das lebhafte Treiben auf der Straße.

Sie öffnete die Tür zu Pierres Bistro, und sofort schlug ihr der Duft von Wein, Gewürzen und Gebratenem entgegen. Fröhliches Stimmengewirr vermischte sich mit dem Geklapper von Besteck und Gläserklirren. Im Hintergrund lief ein Chanson von Edith Piaf.

Pierre kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. „Salut Miranda, ça va?“ Der Wirt küsste sie rechts und links auf die Wangen und betrachtete sie mit bewunderndem Blick. „Sie sehen noch schöner aus als beim letzten Mal.“

Miranda lachte. „Pierre, Sie sind ein Charmeur. Sie wissen genau, wie Sie Ihre Gäste um den Finger wickeln können.“

Non, Miranda, tu es belle, Sie könnten Französin sein.“ Er deutete zu dem kleinen runden Tisch am Fenster. „Aber heute erwartet ein junger Mann Sie, ein Verehrer?“

Miranda zog die Augenbrauen zusammen und folgte seinem Blick. „Den kenne ich überhaupt nicht. Sind Sie sicher, dass er auf mich wartet? Wo ist Yves?“

Je ne sais pas. Ich weiß nicht.“ Pierre hob die Hände und ließ ihr den Vortritt.

Miranda trat an den Bistrotisch, und der Fremde sah auf.

Er nickte, ohne eine Miene zu verziehen, und deutete auf den freien Stuhl ihm gegenüber: „Madame Houston, nehme ich an. Bitte nehmen Sie Platz. Ich bin Armand Renard, Yves’ Sohn.“

„Oh“, stieß Miranda aus und lächelte höflich. „Wie schön, dass wir uns endlich kennenlernen. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.“

Er sah sie mit noch immer ausdruckslosem Gesicht an, daher sagte sie: „Mein Vater hat oft von den Sommern erzählt, als Sie die Internatsferien an der Loire verbracht haben.“ Miranda musste lachen. „Am besten ist die Geschichte, als Sie vor vielen Jahren einen Fisch gefangen haben, den Sie dann versehentlich ins Weinglas der Baronin von …“

„Bitte.“ Armand hob die Hand und sah sie mit strengem Blick an.

Miranda betrachtete ihn forschend, darauf gefasst, dass er gleich loslachen und erklären würde, sie mit seiner kühlen Art auf den Arm zu nehmen.

„Können wir uns auf das Geschäft konzentrieren?“ Er hob eine Augenbraue.

Miranda räusperte sich. Sie war irritiert wegen der distanzierten Art des jungen Mannes und nahm Platz. „Wo ist Ihr Vater?“

„Er ist leider verstorben.“

Erschrocken schlug sie sich eine Hand vor den Mund. „Was? Nein! Das … das …“

„Bitte.“ Armand hob die Augenbrauen. „Ich bin nicht hier, um mit Ihnen über den Tod meines Vaters zu sprechen.“

Miranda sog scharf die Luft ein. „Entschuldigung, aber Yves ist ein Freund, und ich habe gerade erfahren, dass er …. Ich … ich kann das nicht glauben. Was ist passiert?“

„Ich denke, Sie sind in erster Linie Geschäftspartner, keine Freunde.“ Er lehnte sich zurück. „Es ist gefährlich, das zu verwechseln.“

„Was?“ Mirandas starrte den jungen Mann ungläubig an. „Wovon reden Sie?“

„Sie meinten gerade, Yves sei ein Freund gewesen, und ich habe Sie darauf hingewiesen, dass Sie nur Geschäftspartner waren.“

Miranda schüttelte den Kopf. Einen Moment lang schwieg sie, um ihre Gedanken zu sortieren. Schließlich stieß sie aus: „Das ist doch vollkommen egal. Aber was ist passiert? Und wann?“

Armand Renard sah sie an, als wäre sie eine lästige Fliege. „Es gab einen Unfall. Das ist alles, was Sie wissen müssen.“

Miranda biss sich auf die Unterlippe. Das Stimmengemurmel drang nun wie von weit her an ihr Ohr. Es war kaum zu glauben, dass Yves vor vier Wochen noch putzmunter mit ihr hier am Tisch gesessen hatte. Mit leiser Stimme fragte sie: „Wann ist die Beerdigung?“

„Sie war gestern. Er ist vor drei Wochen verstorben.“ Armand schob seine Kaffeetasse zur Seite, um Platz für die Unterlagen zu machen.

„Ich wäre gern gekommen“, stellte Miranda enttäuscht fest. „Warum haben Sie uns denn nicht informiert? Unsere Väter arbeiten seit dreißig Jahren eng zusammen, sind Sie nicht auf die Idee gekommen, dass wir uns gern von ihm verabschiedet hätten?“

„Es war eine Beerdigung im engsten Familienkreis.“ Armand nahm seinen Aktenkoffer, der neben dem Tisch auf dem Boden gestanden hatte, und zog einen Aktenordner hervor. „Sie können froh sein, dass ich heute überhaupt hergekommen bin. Ich habe nur zufällig den Eintrag im Kalender meines Vaters gefunden.“

„Okay.“ Miranda biss sich auf die Unterlippe und schluckte die bissige Bemerkung hinunter, die ihr auf der Zunge lag. Was für ein arroganter Schnösel! Wofür hielt er sich eigentlich? Sie ließ den Blick über das dunkelblonde Haar, die grünblauen Augen und die Sommersprossen gleiten, die ihm, das musste sie zugeben, ein unglaublich attraktives Aussehen verliehen. Er trug ein weißes Hemd, darunter ließ sich ein schlanker, muskulöser Körper erahnen.

„Madame Houston“, erklärte er. „Ich denke, wir sollten die Angelegenheit schnell hinter uns bringen.“

„Das denke ich allerdings auch“, stimmte Miranda ihm zu. In Gedanken war sie noch immer bei Yves. Sie konnte einfach nicht glauben, dass er tot sein sollte.

„Pünktlichkeit scheint nicht Ihre Stärke zu sein.“ Er öffnete das Schloss des teuer aussehenden Lederkoffers.

Miranda stieß ein bissiges Lachen aus. „Ihnen ist schon klar, dass ich vor zwei Stunden noch in London war? Ich bemühe mich immer, die Zeit einzuhalten, aber ich bin auf die Fluggesellschaften und auf Taxis angewiesen, die wiederum nichts für den Pariser Feierabendverkehr können.“

Armand hob die Hand und schenkte ihr einen Blick, mit dem er auch eine lästige Fliege hätte betrachten können. „Bitte! Ich bin nicht daran interessiert, Ihre Lebensgeschichte zu hören. Sorgen Sie beim nächsten Mal einfach dafür, dass Sie mich nicht warten lassen, wäre das möglich?“

Miranda starrte ihn perplex an und war nicht in der Lage, etwas zu erwidern. Diese Frechheit machte sie sprachlos.

In diesem Moment kam Pierre mit dem Rotwein, den sie und Yves immer bei ihren Besprechungen tranken. „Und die Karte, Miranda? Oder nehmen Sie wieder die Escargots, die Ihnen beim letzten Mal so gut geschmeckt haben?“

Sie sah unweigerlich zu Armand, der nicht den Eindruck machte, länger als nötig mit ihr in Pierres Bistro sitzen zu wollen. Er zog missbilligend die Augenbrauen zusammen.

Miranda schüttelte den Kopf. „Mir ist der Appetit vergangen. Und ich möchte Monsieur Renard nicht noch mehr Zeit stehlen, der, anders als sein Vater, kein Interesse an gutem Essen zu haben scheint.“

Pierre grinste und wandte sich ab.

„Ich bin erstaunt, dass mein Vater Zeit dafür gefunden hat.“ Armands Ton klang abfällig. „So lernt man immer wieder etwas Neues über den eigenen Erzeuger.“

„Nun, Yves war einem guten Wein nie abgeneigt.“ Miranda lächelte traurig. „Sie müssen zugeben, dass ein Abend mit Yves und einer Flasche Wein ausgesprochen lustig sein konnte.“ Sie dachte an die abstrusen Geschichten, die Armands Vater ihr erzählt hatte. „Er hat Ihnen doch bestimmt auch hundertmal die Brigitte-Bardot-Geschichte erzählt, oder? Als er sie angeblich auf seinem Fahrrad durch halb Frankreich gefahren hat?“

Armand hob eine Augenbraue und sah sie schweigend an.

Miranda hatte mit einem Mal den Eindruck, sich rechtfertigen zu müssen. „Wir haben uns die Arbeit nur angenehm gemacht. Da wir schon die Zeit mit langweiligem Papierkram verbringen mussten, waren ein Glas Wein und gutes Essen durchaus hilfreich.“ Sie lächelte zaghaft, erntete aber nur einen strengen Blick.

Miranda seufzte leise und sah sich in Pierres Bistro um. Kellner schlenderten zwischen den Gästen umher und unterhielten sich. An einem Tisch saß ein Liebespaar, das die Augen nicht voneinander abwenden konnte, und in der hinteren Ecke lachte eine Gesellschaft aus vollem Hals. Das Leben ging weiter, auch wenn Yves nie wieder hier mit ihr sitzen würde.

Sie hatte die Abende mit Yves immer genossen, es war ihr monatlicher Mini-Urlaub. Das war in den letzten Jahren die einzige Gelegenheit für sie gewesen, abends mal etwas anderes zu sehen als die Wohnung, die sie mit ihrem Vater zusammen bewohnte, oder das Krankenhaus. Aber heute war alles völlig anders. Und Armand schien vom Tod seines Vaters seltsam unberührt zu sein. Oder war das nur seine Art, mit der Trauer umzugehen?

„Schön, dass Sie es sich leisten konnten, sich die Arbeit angenehm zu gestalten.“ Er zog die Augenbrauen zusammen. „Aber ich bin eigentlich Investmentbanker, wenn ich nicht gerade die Geschäfte für meinen Vater führen muss. Für meine Arbeit brauche ich einen klaren Kopf, da geht es nicht um ein paar läppische Hotels. Mein Vater scheint seine Geschäfte recht locker angegangen zu sein, doch ich halte nichts davon, Alkohol bei geschäftlichen Besprechungen zu trinken.“

„Es kommt auf die Art des Geschäfts an, nicht wahr?“ Sie warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. „Eigentlich bin ich Ärztin. Auf der Inneren Station im Londoner King’s College Hospital. Dort muss man nüchtern sein, da gebe ich Ihnen recht.“ Sie dachte an ihre anstrengenden Schichten, an die vielen Patienten und das wenige Personal.

Mehr als ein Kollege war Alkoholiker geworden. Das war eins der Risiken dieses vereinnahmenden Jobs. Aber sie hatte das Gefühl, nicht mal dafür Zeit zu haben. Früher war sie regelmäßig mit ihren Freundinnen ausgegangen, hatte sich nach Feierabend gern mit Kollegen in einem Pub getroffen oder war mit einem ihrer Ex-Freunde in Clubs und Bars gegangen. Das alles schien Lichtjahre entfernt zu sein, seit …

Sie schüttelte den Kopf, um nicht in diese dunkle Gedankenspirale zu geraten. „Aber das hier ist Paris. Sie sind Franzose! Denen wird nachgesagt, sich amüsieren zu können. Und wir haben Freitagabend. Ich denke, wir dürfen es uns ruhig erlauben, auf Yves’ Wohl ein Glas Wein zu trinken.“

„Ich weiß, dass mein Vater eher lax an seine Arbeit herangegangen ist“, wiederholte Armand und legte den Kopf leicht in den Nacken. „Aber ich bin dreißig Jahre alt und habe bereits mehr erreicht als er in seinem ganzen Leben. Und das habe ich nicht geschafft, weil ich mich amüsiert und Abende genossen habe.“

„Mehr erreicht als er. Was meinen Sie damit? Was soll dieses mehr sein?“ Miranda hätte am liebsten die Papiere, wegen denen sie hergekommen war, genommen und sich an einen anderen Tisch gesetzt. Aber etwas faszinierte sie trotz allem an Armand, sie konnte selbst nicht sagen, was es war. Vielleicht erkannte sie einfach nur einen einsamen Menschen in ihm, und ihr Helfersyndrom sprang mal wieder an. „Geld? Hab ich recht? Sie sprechen von Geld.“

„Natürlich, wovon sonst?“ Er sah sie an, als hätte er es mit einem Kleinkind zu tun.

Miranda schnaube. „Das habe ich mir gedacht. Wenn Sie den Wert des Lebens in Geld messen, haben Sie vielleicht mehr, als Ihr Vater je hatte, aber dafür hat Yves viele schöne Abende verlebt, unter anderem die, die er freitags hier mit mir verbracht hat, während Sie … was auch immer getan haben, um Geld zu verdienen.“

„Investmentgeschäfte. Ich arbeite mit Aktien“, warf er trocken ein. „Ich kaufe, wenn die Kurse niedrig sind, und verkaufe wieder, wenn sie ganz oben sind.“

„Prima! Und Yves hat, während Sie auf Zickzacklinien starrten und hektisch auf Tastaturen einhämmerten, hier gesessen, Wein getrunken und Käse und Baguette gegessen und dabei ebenfalls Geld verdient.“ Miranda griff demonstrativ nach ihrem Glas und nahm genüsslich einen tiefen Schluck.

„Sind Sie jetzt fertig mit Ihren Lebensweisheiten?“ Er öffnete die Dokumentenmappe vor sich auf dem Tisch.

„Bitte, fangen Sie an. Ich möchte Sie auf keinen Fall länger als unbedingt nötig von Ihren Aktien und Wertpapieren fernhalten.“

Armand atmete tief durch. Er hoffte, dass Miranda Houston nicht bemerkte, wie sehr ihn die Erkenntnis schmerzte, dass sein Vater regelmäßig Zeit für entspannte Abende mit der Tochter seines Geschäftspartners gefunden hatte, wohingegen er sich nicht daran erinnern konnte, jemals länger als ein paar Minuten die Aufmerksamkeit seines Vaters gehabt zu haben.

Hatte Yves jemals ein Glas Wein mit ihm, seinem Sohn, getrunken? Armand hätte fast lachen müssen, so abwegig war der Gedanke, dass er und sein Vater sich in einem Bistro getroffen und zusammen den Abend verbracht hätten. Er schüttelte den Kopf, während er so tat, als studiere er das oberste Blatt Papier vor ihm auf dem Tisch.

Als Kind hatte er sich oft in den Schlaf geweint, wenn sein Vater ihn wieder mal versetzt hatte. Armand erinnerte sich an mehr als einen ersten Ferientag im Internat, an dem alle anderen Kinder längst abgeholt worden waren, bevor der Anruf seines Vaters kam, dass er es heute doch nicht mehr schaffen würde, seinen Sohn abzuholen. Ein wichtiger Hotelgast war dazwischengekommen, der seine Gesellschaft bei einem Golfspiel wünschte. Armand hatte beim Abendessen allein im riesigen Speisesaal des Internats gesessen, das einzige Kind, das nicht abgeholt worden war.

„Ich denke, Sie wissen, wie Yves und ich es immer gehandhabt haben?“

Mirandas Frage riss ihn aus seinen Gedanken.

„Ähm, ja.“ Er räusperte sich. „Das habe ich den Aufzeichnungen entnommen.“

„Ich nehme die Dokumente mit, mein Vater unterschreibt sie, und beim nächsten Treffen bringe ich alles wieder mit.“ Miranda nahm einen weiteren Schluck Wein.

„Wie geht es Ihrem Vater?“, fragte er und trank seinen Kaffee.

„Besser.“ Sie seufzte, und eine Sorgenfalte bildete sich auf ihrer sonst ebenmäßigen Stirn. „Die Therapie scheint anzuschlagen.“

Armand nickte. Er wusste von seinem Vater, dass John Houston seit dem Unfalltod seiner Frau vor zwei Jahren unter starken Depressionen litt. „Wird auch Zeit.“

„Wem sagen Sie das?“ Sie atmete tief ein und aus. „Ich bin zu ihm gezogen nach seinem Suizidversuch. Wenn ich damals nicht zufällig vorbeigekommen wäre … Ich habe meine Wohnung gekündigt und bin in mein altes Kinderzimmer gezogen. Und mit ganz viel Liebe, Geduld und der Psychotherapie und den Medikamenten geht es langsam aufwärts.“

„Sie sind zu ihm gezogen?“ Armand sah sie überrascht an. Wenn er nur daran dachte, er hätte wieder zu seinem Vater ziehen sollen, wurde ihm übel. Er wäre dort nur an seine Kindheit erinnert worden, an seine Mutter, die mit einem Schauspieler auf und davon war, an die großen leeren Zimmer und die Kindermädchen, die ihn spüren ließen, dass er nichts als Arbeit machte. „Hätten Sie nicht eine Pflegekraft engagieren können, die sich um ihn kümmert?“

Miranda runzelte die Stirn. „Zum einen bin ich kein Investmentbanker, sondern eine Stationsärztin. Das könnte ich mir gar nicht leisten. Und zum anderen brauchte mein Vater mich. Es ging ihm schlecht, weil er meine Mutter vermisst hat. Eine Fremde im Haus hätte ihm nicht die Liebe und Wärme geben können, die er in dieser Situation brauchte.“ Sie schwieg einen Moment und fügte dann leiser hinzu: „Ich konnte es ja kaum. Manchmal hat er tagelang kein Wort mit mir geredet.“

Miranda starrte nachdenklich in ihr Weinglas, und Armand betrachtete sie zum ersten Mal genauer. Sie sah gut aus, das musste er zugeben, sehr gut sogar. Ihr schulterlanges braunes Haar schimmerte seidig, die braunen Augen wirkten melancholisch und sinnlich, die vollen Lippen weich und verführerisch.

Er atmete tief durch und ärgerte sich, dass ihm überhaupt Gedanken von Verführung und Sinnlichkeit in den Kopf kamen. Er hatte sich schließlich vor Jahren schon einmal von einer Frau zum Narren machen, sich verführen lassen. Erst viel zu spät fand er heraus, dass sie nur mit ihm geschlafen hatte, um ihn auszuspionieren. Sie hatte ihn benutzt, um an interne Informationen seiner Kunden zu kommen, die sie dann zu ihrem Vorteil nutzte.

Als das nach einigen Wochen herauskam, war der Schaden immens. Er hatte nicht nur mehr als eine Million Euro und seine besten Kunden verloren, sondern vor allem seine Ehre. Damals hatte er keinem seiner Kollegen mehr in die Augen sehen können, so sehr hatte er sich geschämt. Seitdem verbot er sich jegliche private Beziehung zu Frauen, ganz besonders zu Geschäftspartnerinnen.

„Noch einen Kaffee, Monsieur?“

Armand schrak auf und sah direkt in Pierres Gesicht. „Oh, ähm, ja … bitte.“

„Kaffee?“ Miranda zog belustigt die Augenbrauen zusammen. „Können Sie denn nach so viel Koffein schlafen?“

„Es ist halb acht.“ Er sah sie fragend an. „Ich weiß ja nicht, wann Sie ins Bett gehen, aber ich habe noch ein paar Stunden Arbeit vor mir, bevor ich an Schlaf denken kann.“

„Es ist Freitagabend, machen Sie denn nie Feierabend?“

„Gewöhnlich nicht vor zehn.“ Er schüttelte den Kopf.

„Als Ärztin muss ich Ihnen sagen, dass das nicht gesund ist.“

Sie sah ihn an, und einen Moment lang stockte ihm der Atem. Armand erkannte erst jetzt, dass sich winzige helle Sprenkel in das Braun ihrer Augen mischten. Sie betrachtete ihn besorgt, und er musste sich zwingen, den Blick von ihr loszureißen. „Ich bin vollkommen gesund, mir reichen fünf Stunden Schlaf pro Nacht völlig aus.“

„Ha“, rief sie und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. „Das ist zu wenig. Viel zu wenig. Sie müssen mindestens …“

„Halt“, unterbrach er sie und hob die Hand. „Sie haben mir gerade erzählt, dass Sie in Ihr altes Kinderzimmer gezogen sind, um Ihren Vater zu pflegen. Vielleicht sind Sie nicht ganz die Richtige, um mir zu erzählen, was gesund ist. Eine erwachsene Frau im Kinderzimmer fällt für mich nicht darunter. Wie alt sind Sie? Zwanzig?“

„Fünfundzwanzig.“ Sie hob die Schultern. „Sie haben recht, entschuldigen Sie. Ich habe zurzeit tatsächlich genug eigene Baustellen. Doch das bedeutet nicht, dass ich nicht auf Ihre hinweisen kann.“

„Wir sind aber weder hier, um über Ihre seltsame Wohnsituation zu diskutieren, noch über mein Schlafbedürfnis, das Sie übrigens genauso wenig was angeht wie der tragische Unfall meines Vaters. Nur weil Sie Ärztin sind, müssen Sie sich nicht in fremde Angelegenheiten mischen.“

„Entschuldigung“, erklärte sie in spitzem Tonfall. „Ich habe es nur gut gemeint. Und Ihr Vater ist mein Geschäftspartner, insofern berührt mich sein plötzlicher Tod sehr.“

„Hm“, brummte Armand, dem klar wurde, dass er ein wenig zu unhöflich geworden war.

„Das ist vermutlich mein Helfersyndrom.“ Sie lehnte sich nach vorn. „Ich kann einfach nicht anders.“

Er konnte jetzt den zarten Duft ihres Parfüms riechen. „Ach so, deshalb haben Sie Ihre Wohnung gekündigt und sind zu Ihrem Vater gezogen?“, fragte er mit ironischem Tonfall.

Eigentlich hatte er sie provozieren wollen, wenn er auch nicht genau wusste, warum Miranda ihn dermaßen reizte. Sie ging jedoch nicht darauf ein, sondern nickte.

„Vermutlich. Mein damaliger Freund hat mich daraufhin verlassen. Er meinte, ich sei nicht ganz normal, doch ich habe meinen Vater einfach nicht sich selbst überlassen können.“

„Aber Sie haben ein eigenes Leben“, warf Armand ein, der nicht wusste, warum er hier saß und sich mit einer Fremden über ihr Leben unterhielt, während sein Schreibtisch vor Arbeit überquoll.

Sie schüttelte den Kopf, Tränen schimmerten in ihren Augen, die sie schnell wegblinzelte. „Nicht mehr.“

„Dann holen Sie es sich zurück. Sie sind erwachsen, Ihrem Vater geht es besser …“ Er nickte dem Kellner zu, der in diesem Moment den Kaffee vor ihm abstellte.

„Bald.“ Sie lächelte. „Es stimmt, meinem Vater geht es endlich besser, aber sein Arzt warnt davor, dass er sich zu viel auf einmal zumutet. Er sagt, es ist wichtig, in kleinen Schritten vorzugehen, und eine Veränderung seiner Lebenssituation wäre definitiv ein zu großer Schritt. Mein Vater hat nie allein gewohnt. Als meine Mutter gestorben ist, kam er nicht damit klar. Bevor ich ausziehen kann, muss sich sein Zustand stabilisiert haben.“

„Wie Sie meinen“, erklärte Armand. Insgeheim bewunderte er Miranda für diese Einstellung. Er beneidete sie beinahe darum, ein so enges Verhältnis zu ihrem Vater zu haben, dass sie für ihn ihr eigenes Leben aufgegeben hatte, um bei ihm zu sein, als es ihm nicht gut ging.

„Er freut sich jedenfalls schon sehr darauf, wenn er endlich wieder arbeiten kann.“ Miranda strich über die Tischplatte. „Ich glaube manchmal, die Aussicht, wieder das Ruder zu übernehmen, hat ihn am Leben gehalten.“

Armand räusperte sich. „Und wann wird das sein?“

Sie sah ihn irritiert an. „Was?“

„Seine Rückkehr.“ Er hob eine Augenbraue.

„Bald, ich denke, in fünf, sechs Monaten ist er so stabil, dass er sich wieder in die Arbeit stürzen kann. Ich wollte eigentlich mit Yves heute darüber sprechen.“

„Sie können es mit mir tun. Als Alleinerbe meines Vaters bin ich nun Ihr Ansprechpartner.“

„Also gut, dann sollten wir über die Rückkehr meines Vaters reden. Es wäre wünschenswert, dass er langsam wieder an die Sache herangeführt wird.“ Sie trank einen Schluck Wein und fuhr fort: „Vor dem Tod meiner Mutter war er immer von montags bis donnerstags an der Loire, die restlichen Tage hat er von zu Hause gearbeitet. Perfekt wäre es, wenn jetzt sowohl die Arbeitszeit als auch die Verantwortung, die er übernehmen soll, allmählich gesteigert werden. Denn der Arzt sagt, sobald der Druck zu groß wird, kann er sofort wieder in eine depressive Phase rutschen.“

„Ja“, sagte Armand langsam und kämpfte gegen das Gefühl von Sympathie an, das in ihm aufstieg und das ihn schon einmal zu Fall gebracht hatte. Dieses Mal würde er sich nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen.

Er lehnte sich zurück. „Miranda, sehen Sie. Ihr Vater war seit zwei Jahren nicht mehr in den Hotels, sein Büro steht leer. Und von zu Hause aus hat er auch nicht gearbeitet.“

Miranda nickte.

„Trotzdem hat er, wie ich den Geschäftsberichten mit Erstaunen entnommen habe, immer die Hälfte der Gewinne bezogen, die das Unternehmen abwarf.“ Er blätterte in den Unterlagen, nicht weil er etwas suchte, sondern, um Mirandas Blick auszuweichen, den er nicht gut ertragen konnte.

„Und dafür sind mein Vater und ich Yves auch sehr dankbar“, warf Miranda ein.

„Nun, jetzt führe ich das Unternehmen. Und es muss sich einiges ändern. Ich bin nicht gewillt, dieses faule … Arrangement weiterzuführen.“

„Was …“ Sie brach ab und räusperte sich. „Was wollen Sie damit sagen?“

„Da Ihr Vater nicht gesund genug zu sein scheint, das Geschäft mit mir zusammen zu führen, werde ich ihn auszahlen. Dann gehört das Unternehmen nur noch der Familie Renard.“

2. KAPITEL

Miranda starrte ihn entsetzt an. „Was?“

„Ich werde Ihrem Vater einen fairen Preis zahlen, doch ich möchte ihn aus meinem Unternehmen heraushaben.“ Er trommelte mit den Fingernägeln gegen das Porzellan der Tasse.

„Nein“, rief Miranda. Ihr Herz raste, die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf.

„Aber warum denn nicht?“ Armand lehnte sich vor. „Ihr Vater kann zurzeit nicht arbeiten, und ich zahle ihm einen guten Preis.“

„Es geht nicht ums Geld.“ Sie zog die Augenbrauen hoch und rutschte auf dem unbequemen Bistrostuhl nach vorne. „Haben Sie mir denn nicht zugehört? Die Aussicht auf seine Arbeit in den Hotels hilft ihm dabei, gesund zu werden. Er freut sich darauf, er liebt diese Hotels, schließlich hat er sie mit Yves zusammen gegründet und groß gemacht.“

Armand breitete die Arme aus. „Tatsache ist, dass ich jetzt für die Geschäfte meines Vaters verantwortlich bin und es nicht akzeptieren werde, dass Ihr Vater nur kassiert und nichts dafür tut. Ich habe mich schon mit einem unserer Anwälte unterhalten. Es dürfte ein Leichtes sein, das gerichtlich klären zu lassen. Schließlich will ich ihn nicht betrügen, ich zahle ihm einen angemessenen Betrag, und er ist frei. Er kann in Ruhe gesund werden, und die Hotels gehören mir allein.“

„Nein“, wiederholte Miranda und schluckte gegen die Übelkeit an, die plötzlich in ihr aufstieg. „Mein Vater braucht die Aussicht, an die Arbeit zurückkehren zu können.“ Sie musste Armand deutlich machen, dass die Hotels Johns ganzer Lebensinhalt waren. „Im Moment ist es besonders wichtig, dass er Stabilität in seinem Leben erfährt. Der Verlust meiner Mutter ist ein Schock für ihn gewesen. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass er in einen ähnlichen Zustand gerät, wenn ihm nun auch noch sein Lebenswerk genommen wird. Ich habe sogar Angst davor, ihm von Yves’ Tod zu erzählen. Ich hoffe, er verkraftet es.“

„Die Hotels werfen viel zu wenig Gewinn ab.“ Armand deutete auf eine Liste, die vor ihm auf dem Tisch lag.

„Ich weiß, dass da sicherlich Luft nach oben ist, was die Umsätze betrifft“, gab Miranda zu. „Aber Ihr Vater ist gerade ein paar Wochen tot, mein Vater lebt noch. Yves und John haben drei Jahrzehnte lang die Hotels geführt, und sie waren immer zufrieden mit dem, was sie abgeworfen haben. Wir sollten warten, bis mein Vater wieder fit ist, und ihn in die Entscheidungen einbinden.“

„Schauen Sie sich die Zahlen an. Ja, sie konnten beide davon leben, aber es muss ihnen doch klar gewesen sein, dass viel mehr in dem Unternehmen steckt. Es gibt mächtigen Renovierungsbedarf und einen immensen Investitionsstau.“

Er zog einen Stapel Papiere aus dem Wust vor ihm auf dem Tisch und reichte ihn ihr.

„Wie dem auch sei“, fuhr er fort. „Damit brauchen Sie sich nicht zu belasten. Ich habe Ihrem Vater ein schriftliches Angebot gemacht. Bitte nehmen Sie diese Verträge mit. Prüfen Sie sie in Ruhe, lassen Sie jemanden draufschauen, der mehr davon versteht als Sie. Ich möchte Sie nicht hereinlegen, Miranda. Dann müssen Sie mir nur noch die unterzeichneten Dokumente zusenden, und Ihr Vater ist aus dem Unternehmen raus. Danach kann er sich auf seine Gesundheit konzentrieren oder was auch immer.“

Miranda schüttelte fassungslos den Kopf. „Halten Sie mich für blöd? Meinen Sie, ich bin nicht in der Lage, Verträge zu lesen?“ Sie schob ihm die Unterlagen zurück über den Tisch. „Es ist vollkommen gleich, was Sie mir für ein Angebot machen, wir verkaufen nicht!“

Er sah sie einen Moment lang an, die Lippen fest zusammengepresst. Dann sammelte er die Papiere ein und legte sie in seinen Aktenkoffer.

„Na schön. Wie Sie wollen. Dann sehe ich mich jedoch gezwungen, einige Umstrukturierungen vorzunehmen.“ Er nickte ihr zu, warf einen Zwanzig-Euro-Schein auf den Tisch, stand auf und verließ das Bistro.

Miranda starrte ihm nach. Umstrukturierungen? Was sollte das bedeuten? Wollte er das Unternehmen etwa grundsätzlich verändern? Das alles war entsetzlich. Ihr Vater brauchte im Augenblick Beständigkeit. Gerade hatte sie geglaubt, dass sich langsam alles zum Guten wendete, da drohte das Unglück von Neuem über sie hereinzubrechen.

Sie musste ihrem Vater vom Tod seines Partners berichten. Wenn dann auch noch das Unternehmen verändert wurde, wie würde er das aufnehmen? Mit leerem Blick beobachtete sie die Menschen, die vor den großen Fenstern entlangschlenderten, während ihre Welt aufs Neue zu zerbrechen drohte.

Sie zuckte zusammen, als Pierre sie ansprach.

„Jetzt die Escargots, Miranda?“

„Ich habe gerade erfahren, dass Yves gestorben ist. Ich fürchte, ich kann jetzt nichts essen.“

Pierre starrte sie entsetzt an. „Yves? Tot? Non, das kann ich nicht glauben! Wie entsetzlich.“ Er ließ sich auf den Stuhl fallen, auf dem eben noch Armand gesessen hatte. „Ich habe ihn gemocht, diesen lustigen, lebensfrohen Mann. Das tut mir sehr leid Miranda.“

Miranda lächelte unter Tränen. Wie kam es nur, dass dieser Fremde, in dessen Bistro Yves einmal im Monat zu Gast gewesen war, mehr zu trauern schien als Yves eigener Sohn?

Piere stand wieder auf. „Aber Sie müssen trotzdem essen, und wenn die Schnecken erst vor Ihnen stehen, werden Sie schon Hunger bekommen. Ich lasse eine Portion für Sie zubereiten.“

Miranda nickte mechanisch.

Als Pierre gegangen war, zog sie ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer ihrer Studienkollegin Catherine.

Sie hatte wenig Hoffnung, die junge Dermatologin um diese Zeit zu erreichen, denn anders als sie ging Catherine regelmäßig freitagabends aus. Ihre Freundin meldete sich jedoch nach dem zweiten Klingelzeichen.

„Miranda? Das ist ja eine Überraschung. Wir haben ewig nichts mehr voneinander gehört. Wie geht es dir und wie geht es deinem Vater?“

„Hi, Katie, bist du gar nicht aus?“

Catherine lachte. „Wir haben wirklich lange nicht mehr zusammen gesprochen. Ich bin schwanger, schon im sechsten Monat. Da lasse ich es ein bisschen ruhiger angehen.“

„Oh mein Gott! Das ist … Mensch … Herzlichen Glückwunsch.“ Miranda schluckte. Wie hatte es passieren können, dass sie so lange keinen Kontakt mehr mit ihrer Freundin gehabt hatte, dass sie von diesem wichtigen Ereignis nichts wusste?

Sie dachte an ihre Studienzeit in Birmingham, als sie sich täglich gesehen und alles miteinander geteilt hatten. Und obwohl sie inzwischen beide in London lebten, war der Kontakt ziemlich eingeschlafen. Was definitiv an ihr lag. Catherine hatte sich anfangs oft gemeldet, besonders nach dem Tod von Mirandas Mutter hatte sie immer wieder angerufen. Miranda hatte jedoch einfach keine Zeit gehabt, sie war ausgelastet mit der Betreuung ihres Vaters und mit ihrem Job.

„Danke, aber wie geht es dir?“

„Gut … ja, wirklich. Meinem Vater geht es auch langsam besser, nur …“ Sie brach hilflos ab. Plötzlich wusste sie nicht mehr, warum sie eigentlich angerufen hatte. Es war ein vollkommen abwegiger Gedanke gewesen, mit Katie zu sprechen, nur weil deren Vater der behandelnde Psychiater ihres Vaters war.

„Randy, was ist los?“ Ihre Freundin klang alarmiert.

„Ich … ich komme mir albern vor, aber ich habe gerade mit dem Geschäftspartner meines Vaters gesprochen, besser gesagt mit dessen arrogantem, selbstverliebtem Sohn.“ Miranda berichtete Catherine von ihrem Gespräch und davon, dass Armand ihren Vater ausbezahlen wollte. „Ich weiß, dass du mir auch nicht helfen kannst, ich hatte irgendwie gehofft, mit deinem Vater sprechen zu können. Vielleicht ist mein Vater ja schon weiter, als ich denke, und er könnte Montag tatsächlich wieder anfangen zu arbeiten.“

„Ich gebe ihn dir.“

„Was? Wen?“

„Meinen Vater, ich bin bei meinen Eltern zum Dinner.“ Katie lachte. „Du hast doch gerade gesagt, dass du ihn sprechen willst.“

„Nein, es ist Freitagabend. Er wird was Besseres …“

„Hallo Miranda“, hörte sie im nächsten Moment die sonore Stimme von Katies Vater. „Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Wie kann ich denn helfen?“

„Oh, guten Abend Professor, ich …“

„Carl, bitte.“

Miranda räusperte sich und lächelte Pierre flüchtig an, der in diesem Moment die Schnecken in Knoblauchsoße vor sie auf den Tisch stellte. „Carl, ich möchte Sie wirklich nicht während Ihres Feierabends stören.“

„Machen Sie sich um mich keine Sorgen, ich habe gerade mit Katie über die richtige Schule für das Baby diskutiert.“ Er lachte. „Sie sehen, wir sprechen über nichts, das morgen entschieden sein müsste.“

Miranda erwiderte höflich das Lachen und erzählte noch einmal von den Neuigkeiten, die Armand ihr mitgeteilt hatte.

Als sie endete, schwieg Carl einen Moment lang. Dann sagte er leise: „Das ist in der Tat eine besorgniserregende Entwicklung.“

Miranda sog scharf die Luft ein. Das hatte sie nicht hören wollen, sie hatte gehofft, er würde ihr die Sorgen nehmen.

Stattdessen fuhr er fort: „Ich kann nur dringend abraten, das Unternehmen zu verkaufen. Ihr Vater spricht sehr viel davon. Die Aussicht, bald wieder im Hotel arbeiten zu können, gibt ihm Stabilität. Und die braucht er jetzt.“

„Könnte er denn in den nächsten Tagen anfangen zu arbeiten?“, fragte Miranda, wobei ihr das Aroma der Knoblauchsoße in die Nase stieg.

Carl atmete tief durch. „Das ist noch zu früh. Vielleicht in ein paar Monaten. Er freut sich auf die Arbeit, aber er sollte auf keinen Fall unter Druck geraten. Geben Sie ihm noch ein wenig Zeit.“

Miranda nickte. Das hatte sie sich schon gedacht. Sicherheitshalber fragte sie erneut: „Und die Hotels verkaufen kommt auch nicht infrage, sagen Sie?“

Sie hörte ihn wieder tief einatmen, gleich darauf erklang seine Stimme: „Das wäre gefährlich. Dann würde sein Leben noch einmal von Grund auf geändert.“

„Danke Profess… ähm, Carl.“ Sie stocherte in den Schnecken herum, die vor ihr auf dem Tisch standen. „Da werde ich mich wohl zwischen Pest und Cholera entscheiden müssen.“

„Ich fürchte, so ist es. Das eine wie das andere könnte einen schweren Rückfall bei Ihrem Vater auslösen.“

Drei Tage später

„Mia, bitte stecken Sie diese Verträge in einen Umschlag, und schicken Sie sie an John Houston.“ Armand reichte seiner Assistentin Ausdrucke der Kaufverträge, die Miranda am Freitag bereits mitgenommen hatte, und lehnte sich im ledernen Schreibtischsessel seines Vaters zurück. Er traute dieser Frau nicht. Besser, er schickte die Verträge noch einmal direkt an Houston.

Die junge Frau nickte und verließ dann eilig sein Büro. Er sah ihr zufrieden nach. So stellte er sich eine gute Assistentin vor. Wenn Mia nur endlich diese alberne Schwärmerei für ihn lassen wollte. Als er sein Büro kurzfristig von Paris ins Mutterhotel der Houston-Renard-Kette in die Nähe von Nantes verlegt hatte, war sie, ohne zu zögern, mitgekommen und hatte sich in die internen Firmenbelange schneller eingefunden als er selbst.

Das Hotel lag etwa eine halbe Stunde Autofahrt von Nantes entfernt, eingebettet in die saftiggrünen Wiesen des Loire-Tals mit einem traumhaften Blick auf den vorbeifließenden Fluss. Armand griff zum Telefonhörer, um seinen Rechtsanwalt anzurufen und sich zu informieren, ob er seinen Geschäftspartner irgendwie zum Verkauf zwingen konnte. Schließlich hatte der in den letzten Jahren nichts mehr im Unternehmen getan, wohingegen Yves die Leitung der Hotels allein bewerkstelligt hatte.

In einer Stunde hatte er ein Telefonat mit der Bank, in dem er den geplanten Börsengang besprechen musste. Seine eigenen Börsengeschäfte hatte er so lange an seine Mitarbeiter übertragen.

Er hoffte jedoch, seinen Plan schnell umzusetzen, damit er möglichst bald zurück nach Paris kam. Er kontrollierte zwar über diverse interne wie externe Netzwerke jeden Schritt seiner Angestellten, aber da er von Grund auf misstrauisch war, fühlte er sich nicht wohl, einen Teil der Verantwortung abgeben zu müssen. Die Aussicht auf die Zerschlagung des Familienunternehmens ließ ihn seine Abwesenheit von Paris besser ertragen.

Er lächelte still in sich hinein, als er die Nummer des Rechtsanwalts wählte. Von der Vorzimmerdame erfuhr er jedoch, dass ihr Chef in einer wichtigen Besprechung war und später zurückrufen würde.

Armand loggte sich in seinen Computer ein, checkte die Aktienkurse und die Bewegungen, die seine Mitarbeiter auf den Konten getätigt hatten, und war zufrieden. Alles schien seinen geregelten Gang zu nehmen. Nun hatte er fast eine Stunde Zeit, bis er mit der Bank verabredet war. Also konnte er genauso gut einen Rundgang durchs Hotel machen.

Er stand auf, strich seinen Anzug glatt und richtete die Krawatte. Als er in das kleine Vorzimmer trat, sah Mia auf. Ein rosiger Hauch legte sich auf ihre Wangen. Armand wusste, dass seine Assistentin seit einigen Jahren in ihn verliebt war, er konnte es an ihrem Erröten sehen, an dem Gestammel, wenn sie ein persönliches Wort an ihn richten sollte, und an den Blicken, die sie ihm zuwarf, wenn sie dachte, er bemerke es nicht.

Anfangs hatte er ernsthaft darüber nachgedacht, sich von ihr zu trennen, und noch heute glaubte er manchmal, dass das im Grunde das Beste wäre. Denn auch wenn für ihn vollkommen klar war, dass er sich niemals auf ein Verhältnis, egal, welcher Art, mit seiner Assistentin einlassen würde, so war es doch eine private Verstrickung.

Intime Gefühle, einseitig oder gegenseitig, waren Gift für jede geschäftliche Beziehung. Hinzu kam, dass er Mia in keiner Weise reizvoll fand. Sie war jedoch die beste Assistentin, die er je gehabt hatte, und aus diesem Grund hatte er sich entschlossen, sie zu behalten. Aber immer wieder, wenn er so wie jetzt diese glühenden Wangen und den verlegenen Blick bei ihr sah, musste er sich zurückhalten, sie nicht auf der Stelle hinauszuwerfen.

Seit dem Skandal mit Elodie machte es ihn wütend, wenn er etwas anderes als berufliches Interesse bei einer Frau bemerkte, mit der er in irgendeiner Weise geschäftlich verbunden war.

Er nickte ihr kühl zu und trat auf den Flur. Auf diesem Gang waren die Büros der Chefs und der leitenden Angestellten des Hotels untergebracht sowie zwei große Besprechungsräume. Als er die Tür des Büros erreichte, an der in goldenen Buchstaben der Name John Houston stand, grinste er. Das alles würde bald Geschichte sein! Nur um sich noch einmal zu vergewissern, dass niemand hier war, trat er in das leere Vorzimmer. Er durchquerte es und sah sich im angrenzenden Büro des Geschäftspartners seines Vaters um.

Der Raum war edel eingerichtet, wenn auch etwas altmodisch. Das Design stammte noch aus den Neunzigern. Damals war es sicher der letzte Schrei gewesen im neu errichteten Hotel. Heute wäre dringend mal eine frische Ausstattung nötig. Nun ja, es war egal, denn lange würde dieses Zimmer ja nicht mehr gebraucht werden. Genauso wenig wie das Büro seines Vaters. Trotzdem wollte er sich um eine grundlegende Renovierung sämtlicher Houston-Renard-Hotels kümmern, es war nicht nur sinnvoll, sondern auch für seine Pläne gut.

So wie die Häuser zurzeit aussahen, ließ sich damit nicht das Maximum herausholen. Aber wenn er sie nach den neusten Standards renoviert hatte, würden die Investoren Schlange stehen, und die Kurse würden steigen. Außerdem tat es ihm gut, das Werk seines Vaters so weit zu entfremden wie nur möglich. Armand wusste, dass es albern war, sich für all das, was er in seiner Kindheit vermisst hatte, rächen zu wollen, und doch konnte er es nicht lassen.

Der Aufsichtsrat des zukünftigen Börsenunternehmens würde sich auf einen Hoteldirektor verständigen müssen. Da er hoffte, John Houston bis dahin seine Anteile abgekauft zu haben, und auch selbst keine Ambitionen hegte, sich zu engagieren, würde weder die Familie Houston noch die Familie Renard irgendetwas mitzuentscheiden haben, wenn es um die Postenverteilung des neuen Vorstands ging. Schade nur, dass sein Vater das nicht mehr miterlebte!

Armand trat an den schweren Glasschreibtisch, der in der Mitte des Zimmers stand, und betrachtete die Familienfotos, die sich darauf befanden. Er schluckte, als er die vielen Bilder sah. Wie anders war der Schreibtisch seines Vaters, auf dem nicht ein einziges Foto zu finden gewesen war. Nie hatte auf dem Schreibtisch seines Vaters ein Bild von ihm, Armand, gestanden. Hier hingegen waren Bilder von Johns verstorbener Frau und beinahe noch mehr von Miranda in sämtlichen Alterslagen. Da war ein Foto von ihr als pausbäckiges Baby, dann eins im Kindergartenalter, mehrere Schulbilder und eines, das sie am Tag ihres Uniabschlusses zeigte.

Armand griff nach der Fotografie, die in einem Silberrahmen steckte, und betrachtete die junge Frau, die ihr Diplom in der Hand hielt und strahlend in die Kamera lächelte. Wieder fiel ihm ihre Schönheit auf, sie hätte auch gut ein Fotomodell sein können, das Werbung für Universitätsabschlüsse machte. Aber mehr noch als ihre Schönheit faszinierte ihn ihr melancholischer Blick.

Dieses Bild musste vor dem Tod ihrer Mutter entstanden sein, denn John war seitdem nicht mehr hier im Hotel gewesen. Er hatte das Bild also vorher aufgestellt. Und doch wirkte Miranda bereits hier, in all ihrer strahlenden Schönheit, nachdenklich und beinahe traurig. Armand stellte es zurück und griff nach einem anderen, das Mirandas Porträt zeigte. Er betrachtete die sinnlichen Lippen, die weiche Haut und stellte sich einen kurzen Moment vor, wie es wäre, die seidigen Wangen zu berühren, die vollen Lippen zu küssen.

Sich nähernde Stimmen rissen ihn aus seinen Betrachtungen. Er schaffte es gerade so, das Bild wieder auf den Schreibtisch zu stellen, als zwei Frauen den Raum betraten.

„Oh, Monsieur Renard.“ Eine der Rezeptionistinnen, Armand kannte ihren Namen nicht, blieb erschrocken in der Zimmertür stehen. „Ich habe Madame nur in das Büro ihres Vaters geführt. Ich denke, das ist in Ordnung?“ Den letzten Satz ließ sie als Frage in der Luft hängen.

In diesem Moment trat die zweite Person ins Zimmer. Armands Herz schlug unwillkürlich schneller, als er die Frau, deren Fotos er gerade noch so intensiv betrachtet hatte, nun erneut vor sich stehen sah. Sie trug ein Business-Kostüm mit kurzem Rock, der ihre schlanken Beine betonte und in seiner Lendengegend ein Ziehen hervorrief. Er zwang sich, ihr ins Gesicht zu sehen, und sofort war er gebannt von ihrem Blick aus dunklen, mit goldenen Funken gesprenkelten Augen.

Er brauchte einen Moment, bis er sich einigermaßen unter Kontrolle hatte. Dann fragte er mit betont kühler Stimme: „Miranda? Ich entnehme Ihrem Besuch, dass Sie noch einmal über unser Gespräch von Freitag nachgedacht haben?“

Sie lächelte, und sein Herzschlag wurde eine Nuance schneller.

„Oh ja, ich habe an nichts anderes mehr gedacht.“

Er nickte zufrieden. „Kommen Sie bitte mit in mein Büro.“

Armand bemühte sich, seinen Triumph nicht zu deutlich zu zeigen. Er hatte von Anfang an gewusst, dass er es schaffen würde, Miranda und John vom Verkauf zu überzeugen. Nun würde er den Börsengang innerhalb weniger Tage abgewickelt haben.

Die Rezeptionistin eilte davon. Armand deutete zur Tür und ließ Miranda den Vortritt. Als er ihr folgte, sog er den Duft ihres Parfüms nach Vanille und Früchten ein. Sie wirkte recht gefasst. Anscheinend hatte sie sich inzwischen mit der Situation angefreundet. Vermutlich unterstützte John den Verkauf. Er selbst hatte nach ihrer ersten Reaktion am Freitag nicht damit gerechnet, dass sie sich so schnell umentscheiden würde. Aber für ihn war es umso besser. Er war grundsätzlich kein streitbarer Mensch, die Erfahrungen hatten ihn nur hart gemacht. Wenn diese Angelegenheit sich jedoch ohne Rechtsstreit lösen ließe, würde ihm das nicht nur viel Zeit sparen, sondern auch Nerven.

Als sie sein Vorzimmer erreichten, sah Mia von ihrem Computer auf.

Armand nickte ihr zu und griff nach dem Umschlag, der adressiert auf ihrem Schreibtisch lag. „Danke Mia, aber ich denke, den brauchen wir nicht mehr zu verschicken. Madame Houston ist hergekommen, um alles vor Ort zu erledigen.“ Er wandte sich an Miranda. „Haben Sie eine notarielle Vollmacht Ihres Vaters? Sind Sie vertretungsberechtigt?“

Sie nickte, ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Armand hätte diese Lippen den ganzen Tag betrachten können. Er riss den Blick von ihr los und öffnete die Tür zu seinem Büro. „Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Oder lieber Wein?“

Miranda lachte. „Nicht morgens um neun. Kaffee wäre nett. Ich denke, wir haben einiges zu besprechen.“

Er nickte und gab Mia ein Zeichen, sich um die Getränke zu kümmern. Dann folgte er Miranda in das Büro seines Vaters.

Sie blieb einen Moment in der Mitte des Zimmers stehen und sah sich um. Armand nutzte die Gelegenheit, sie eingehend zu betrachten. Was für eine Figur! Er biss sich auf die Unterlippe, denn er musste endlich aufhören, in dieser Weise an sie zu denken.

Er sollte unbedingt mal wieder einen One-Night-Stand haben. Den gönnte er sich von Zeit zu Zeit, seit er beschlossen hatte, sich nie mehr ernsthaft auf eine Frau einzulassen. Allerdings war er ein junger, gesunder Mann, und hin und wieder verlangte sein Körper nach gewisser Befriedigung. Aber wie gewandt die Damen auch waren, und er ging nur mit den verführerischsten und wunderschönsten ins Bett, bei ihm blieb immer Leere zurück, und er fühlte sich hinterher nie wirklich zufrieden.

Miranda wandte sich zu ihm um, und er blinzelte schnell, um seine unpassenden Gedanken zu vertreiben.

„Oh!“, stieß sie aus und blickte an ihm vorbei. „Was für eine Aussicht!“

Sie trat an die breite Fensterfront. Armand folgte ihr und ließ den Blick ebenfalls über die weiten Wiesen gleiten, die sich hinter dem Hotel erstreckten und sanft zum Fluss abfielen. Bewaldete kleine Inseln teilten das Wasser in der Mitte. Armand konnte sich an manch einsamen Sommer erinnern, den er gezwungenermaßen hier an der Loire hatte verbringen müssen, weil sein Vater nicht gewusst hatte, wohin mit dem Jungen.

Damals war er sich selbst überlassen am Ufer der Loire entlanggelaufen und hatte ein altes Ruderboot gefunden, mit dem er oft auf diese kleinen Inseln hinausgefahren war. Einmal war die Strömung so stark gewesen, dass er kilometerweit flussabwärts getrieben wurde und schon Angst hatte, bis ins offene Meer hinausgespült zu werden. Aber dann war eine der Inseln weiter unten plötzlich vor ihm aufgetaucht, und er hatte sich an Land retten können. Dort hatte er jedoch lange festgesessen, bis ihn die Besatzung eines Motorboots an Land gebracht hatte.

Als er vollkommen entkräftet und mit schlotternden Knien endlich ins Hotel zurückgekommen war, hatte sein Vater überhaupt nicht bemerkt gehabt, dass sein Sohn den ganzen Tag fortgewesen war. Er hatte seinen Schilderungen nur mit einem Ohr zugehört, und Armand hatte sich schließlich heulend in sein Bett verkrochen und einen Teddybären an sich gedrückt, für den er eigentlich schon viel zu alt gewesen war.

„Was ist wohl auf diesen kleinen Inseln in der Mitte des Flusses?“, fragte Miranda, als hätte sie seine Gedanken erraten.

„Bäume und Felsen. Es ist ziemlich langweilig dort“, antwortete er.

„So? Sie waren also schon mal auf einer der Inseln?“

Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu, der ihn in kribblige Erregung versetzte. Er nickte. „Als Kind war ich oft da. Es gab hier nicht viel anderes zu tun für einen Jungen, der die Internatsferien hier verbringen musste.“

„Erzählen Sie mir mehr von Ihrer Zeit auf dem Internat. Das war doch bestimmt spannend.“

Er wollte nicht mit ihr über seine Kindheit reden. Er sprach grundsätzlich nicht darüber, schon gar nicht mit Leuten, mit denen er Geschäfte machte.

„Bitte nehmen Sie Platz“, sagte er statt einer Antwort und deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Er setzte sich dann selbst in den schweren Ledersessel seines Vaters.

In diesem Moment kam Mia und stellte jedem von ihnen eine Tasse Kaffee hin. Dann warf sie ihm einen fragenden Blick zu.

„Wünsche Sie, dass ich bleibe und mitschreibe?“

Armand schüttelte den Kopf und unterdrückte ein genervtes Stöhnen, als er ihre Enttäuschung sah. Er hasste diese Gefühlsduselei.

„Da bin ich also“, sagte Miranda, nachdem Mia den Raum verlassen hatte, und blickte sich in Yves’ Büro um.

„Da sind Sie“, erwiderte er nüchtern. „Eine sehr vernünftige Entscheidung.“

„Sie haben mir ja die Pistole auf die Brust gesetzt.“ Sie lächelte.

Er griff nach dem Umschlag und öffnete ihn. Dann zog er die Kaufverträge heraus und schob Miranda ein Exemplar hin. „Ich schlage vor, wir gehen einmal kurz alle Punkte durch, bevor wir die Dokumente unterschreiben. Ich habe Donnerstag einen Gutachter hiergehabt, der einen realistischen Wert angegeben hat, was das Unternehmen angeht. Diese Summe habe ich zugrunde gelegt. Ich denke, Sie und John können hochzufrieden mit meinem Angebot sein.“

Miranda sah einen Moment lang mit gerunzelter Stirn auf die Unterlagen.

„Ich werde es Ihnen genauer erklären.“ Armand schlug die erste Seite auf. Anscheinend war Miranda doch nicht ganz so fit in diesen Dingen, wie sie am Freitag behauptet hatte. Nun, es war auch recht unwahrscheinlich, dass eine Ärztin, die sich im Londoner King’s College Hospital verdingte, Ahnung von Hotelketten-Verkäufen hatte.

„Moment, Armand“, hielt sie ihn auf, als er gerade damit beginnen wollte, ihr den ersten Paragrafen des Vertrages zu erläutern. „Ich bin nicht hier, um unsere Hälfte des Unternehmens zu verkaufen.“

Er stutzte und sah irritiert auf. „Nicht?“

„Natürlich nicht. Das habe ich Ihnen doch schon am Freitag gesagt.“ Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück.

„Aber warum sind Sie dann hier? Sie sagten gerade, dass Sie eine Vollmacht in der Tasche hätten. Was wollen Sie damit, wenn Sie nicht verkaufen möchten?“

Sie betrachtete ihn einen Moment mit ihren dunklen goldgesprenkelten Augen. Schließlich stand sie auf und ging ein paar Schritte im Zimmer umher. Sie blieb stehen. „Um hier zu arbeiten.“

3. KAPITEL

„Ich bin hier als Vertretung meines Vaters. Ich werde mit Ihnen gemeinsam dieses Unternehmen leiten und die Interessen meines Vaters wahren, bis er wieder so gesund ist, dass er seinen Posten selbst übernehmen kann.“ Miranda sah, wie Armand der überlegene, gönnerhafte Gesichtsausdruck entglitt. Einen Moment schien er sprachlos zu sein. Dann stand er ebenfalls auf.

„Das geht nicht.“ Er baute sich vor ihr auf. „Sie verstehen rein gar nichts vom Hotelgewerbe. Sie sind Ärztin.“

Das letzte Wort sagte er, als müsse sie sich dafür schämen. Sie hob die Augenbrauen und betrachtete ihn skeptisch. „Stimmt. Aber Sie auch nicht. Sie kaufen und verkaufen Aktien.“

Einen Moment lang schien er perplex, dann erklärte er: „Ich habe Erfahrung darin, ein Unternehmen zu leiten. Für alles andere habe ich Angestellte. Sie dagegen haben gar keine Ahnung davon, Mitarbeiter zu führen, Gewinne zu maximieren und Abläufe effizienter zu gestalten.“

„Ich bin Ärztin“, entgegnete Miranda empört. „Ich trage Verantwortung und leite Studenten an.“

„Das hat überhaupt nichts mit Mitarbeiterführung zu tun.“ Er zeigte wieder sein überlegenes Grinsen.

„Das werden wir ja sehen.“

Das Grinsen verschwand, und die Wut kehrte zurück. „Nein! Sie haben ja keine Ahnung.“

„Vielleicht nicht, aber ich kann es lernen. Und ich kann andere Dinge, die Ihnen fremd sind.“ Sie sah ihn fest an und erkannte, wie sich seine Wut steigerte. Was hatte dieser Armand nur vor, dass ihm der alleinige Besitz der Hotelkette so wichtig war?

Er trat näher an sie heran, es trennten sie nur noch wenige Zentimeter. Sie konnte jede seiner Sommersprossen erkennen, die sie aus irgendeinem Grund unglaublich sexy fand. Wie kam sie nur in diesem Moment auf so einen Gedanken?

„Ach ja? Und was? Einen Herzschrittmacher implantieren?“ Er starrte sie angriffslustig an.

Der Duft seines Rasierwassers stieg ihr in die Nase. Herb, mit einer Note von Sandelholz und Zitrone.

„Wenn es sein muss, auch das. Aber ich dachte eher daran, dass ich nett und freundlich zu den Leuten bin. Ich kann kleinere Verletzungen und Unfälle behandeln und den Gästen einfach zuhören. Etwas, wofür oft keine Zeit bleibt.“ Das, was ich im Krankenhaus so gern tun würde, fügte sie im Stillen hinzu.

„Zuhören?“, stieß er hervor. „Ich fürchte, zum Zuhören sind wir hier am falschen Ort. Wir müssen uns um die Belange von mehr als zweihundert Mitarbeitern kümmern und dieses Unternehmen zukunftssicher machen. Das ist ein gutes Stück Arbeit, und dazu kann ich keine kleine Stationsärztin gebrauchen.“

Miranda schnappte nach Luft. Einen Moment lang war sie sprachlos. Schließlich trat sie noch einen Schritt näher an ihn heran. Jetzt passte kaum mehr ein Blatt Papier zwischen sie beide. Ihr fielen wieder die Sommersprossen auf und die blitzenden grünblauen Augen.

Sie atmete tief durch. „Wenn Sie mal Hilfe brauchen, dann seien Sie dankbar, wenn eine kleine Stationsärztin wie ich da ist, um Ihnen Ihr nichtiges, unbedeutendes Leben zu retten. Während Sie Million um Million anhäufen, die Sie jedoch nie ausgeben werden, helfe ich Menschen dabei zu leben. Und genau das werde ich auch hier tun: Den Menschen ihr Leben lebenswert machen. Glauben Sie mir, in der Pflege geht es ebenso um Service wie in einem Hotel, und davon verstehe ich eine Menge. Deutlich mehr als Sie, Sie kalter, herzloser, unsympathischer Mensch. Sie vergraulen die Gäste doch nur, falls sie Ihnen aus Versehen zu nah kommen sollten.“

„Sie sind eine dumme, naive Frau“, brüllte er, ohne sich von ihr zu entfernen. „Wagen Sie es nicht, sich in meine Geschäfte zu mischen.“

„Und Sie sind ein empathieloser, selbstverliebter Mann!“ Miranda starrte ihn angriffslustig an.

Sie nahm den Duft seiner Haut wahr, der ihr süß in die Nase stieg. Die Sommersprossen, die grünen Augen, deren Blick auf ihren Mund gerichtet war. Darin lag Leidenschaft. Seine Lippen waren leicht geöffnet, und auf einmal hatte sie das unstillbare Verlangen, die Wärme seiner Wangen zu spüren. Es war Begehren, was sie in seiner Miene erkannte, und das loderte plötzlich auch bei ihr auf. Und noch bevor sie näher darüber nachdenken konnte, lagen im nächsten Moment ihre Lippen aufeinander.

Während sich ihre Körper aneinanderdrängten, umspielten ihre Zungen einander, küssten ihre Lippen sich drängend, hart und leidenschaftlich. Es war, als legten sie all ihre Energie, mit der sie eben noch gestritten hatten, in diesen Kuss.

In ihrem Kopf drehte sich alles, ihr Bauch kribbelte, ihre Beine wurden schwach. Sie spürte Armands Erregung an ihrem Unterleib, und einen Moment lang war sie versucht, ihre Arme um ihn zu schlingen, ihn an sich zu ziehen und sich diesem Rausch der Gefühle hinzugeben. Doch im nächsten Augenblick kam sie zu sich, anscheinend zeitgleich mit Armand, der sie von sich stieß, als wäre sie glühende Kohle.

Sie starrten sich entsetzt an.

„Was haben Sie getan?“, fragte er atemlos und vorwurfsvoll und zog sich hinter den Schreibtisch zurück.

„Ich?“ Miranda kniff die Augen wütend zusammen. „Ich hatte nichts damit zu tun, Sie sind doch über mich hergefallen wie ein wildes Tier.“

„Unsinn.“ Er ließ sich in den Ledersessel fallen und wich ihrem Blick aus.

Miranda legte den Kopf in den Nacken und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie hatten sich gestritten und waren sich dabei stetig näher gekommen. Er war attraktiv, aber er war ein großes … egal, was. Sie war kein Teenager mehr, der sich von einem blendenden Äußeren in Flammen setzen ließ. Und doch hatte sie eben nicht gezögert, den leidenschaftlichen Kuss zu erwidern.

„Wie auch immer.“ Sie nahm auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz und strich sich mit beiden Händen über das Gesicht. „Es ist ja nichts passiert. Vergessen wir das einfach, in Ordnung?“

Er presste die Lippen zusammen und nickte.

„Wie gehen wir also vor?“

„Was meinen Sie? Ich dachte, wir vergessen diesen blöden Kuss.“

„Ich spreche nicht vom Kuss.“ Sie seufzte. „Wie soll unsere Zusammenarbeit aussehen?“ Miranda verschwieg ihm sicherheitshalber, dass sie nur zwei Wochen Urlaub bekommen hatte. Übernächsten Montag musste sie zurück in London sein.

„Was ist mit Ihrem Vater? Haben Sie ihn allein gelassen?“, fragte Armand mit sarkastischem Tonfall.

Sie nickte und spürte sofort wieder Sorge in sich aufsteigen. „Es ist ein guter Test. Zum ersten Mal seit zwei Jahren ist er allein. Jetzt wird sich zeigen, wie gut es ihm wirklich geht.“ Sie dachte an ihr Arrangement mit Katie und Carl. Carl wollte die Therapiesitzungen verdoppeln, und Katie würde täglich bei John vorbeischauen. „Ich muss lernen loszulassen, ihm vertrauen. Aber nachdem ich ihn damals gefunden habe …“ Sie brach ab.

„Sie sind also fest entschlossen, hierzubleiben?“

Er sah sie an, und Miranda konnte plötzlich an nichts anderes mehr denken als an den Kuss. Es hatte etwas von zwei Ertrinkenden gehabt, die sich nur durch diesen Kuss retten konnten. Sie atmete tief durch. Vermutlich waren sie beide einfach nur ausgehungert nach Leidenschaft. Sie, weil sie keine Zeit hatte, er, weil er ein gefühlloser Arbeitsbesessener war.

Armand sah sie auffordernd an, und ihr fiel auf, dass sie seine Frage noch nicht beantwortet hatte. „Ja, natürlich bin ich fest entschlossen. Sie lassen mir ja keine Wahl. Also, ich werde so lange das Büro meines Vaters beziehen. Haben wir heute irgendwelche Termine?“

„Wir?“ Er hob spöttisch eine Augenbraue. „Nein. Ich habe diverse Termine und werde mich vertrauensvoll an Sie wenden, wenn ich Ihre Unterschrift benötige. Ansonsten würde ich Sie bitten, hier so wenig wie möglich im Weg zu stehen. Machen Sie sich einfach unsichtbar, das wäre wohl am besten.“

Miranda stand auf. Sie würde sich von seiner herablassenden Art nicht noch einmal provozieren lassen. Sie hatte ja gerade gesehen, wohin das führte, und ein versehentlicher Kuss reichte schließlich. „Ich denke, ich werde mich erst mal umsehen und mich mit dem Hotel vertraut machen.“

„Eine ganz wunderbare Idee.“ Er machte eine Handbewegung, mit der er auch eine Kindergartengruppe aus dem Raum hätte scheuchen können. „Hauptsache Sie tun es fern von mir.“

„Nichts lieber als das.“ Miranda schenkte ihm einen abfälligen Blick, dann verließ sie das Zimmer. Als sie an Armands Sekretärin Mia vorbeikam, spürte sie deren bohrenden Blick im Rücken.

Verdammt! Was war das denn gewesen? Armand schloss die Augen, als Miranda sein Büro verlassen hatte. Er war vollkommen durcheinander. Erst der Schrecken, dass sie seine Pläne durchkreuzte, dann dieser Kuss. Er atmete tief ein und versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Dass Miranda plötzlich hier aufgetaucht war, band ihm vorerst die Hände. Er musste sie loswerden, und zwar schnell. Als sein Telefon klingelte, zuckte er zusammen.

„Ja?“, blaffte er Mia an, die ihm mitteilte, dass die Bank ihn sprechen wollte.

Er stöhnte auf. „Sagen Sie ihnen, dass ich mich in ein paar Tagen melde, das Vorhaben müssen wir zunächst auf Eis legen.“

Dann stand er auf und trat ans Fenster. Er starrte auf die Loire und die kleinen Inseln, die sich aus der leichten Strömung erhoben. Noch immer spürte er Mirandas Lippen auf seinen, hatte ihren Duft in der Nase, fühlte ihren weichen Körper an seinem. Er wandte sich vom Fenster ab. Am besten, er lenkte sich mit Arbeit ab. Er musste Miranda nur aussitzen, bald würde sie von selbst verschwinden, wenn sie merkte, wie fehl am Platz sie hier war.

Armand verließ sein Büro, warf Mia grundlos einen finsteren Blick zu und machte sich auf den Weg nach unten. Heute Morgen fand ein Hochzeitsempfang im Gartensaal statt, und er wollte kontrollieren, ob gut gearbeitet wurde. Nicht dass er sonderlich viel davon verstand, in dieser Hinsicht hatte Miranda recht. Er war Investmentbanker und kein Gastronom, aber er hatte genug Geschäftssinn, um die Dinge beurteilen zu können.

Als er in den großen Flur trat, stellte er fest, dass die Handwerker noch immer mit dem defekten Aufzug beschäftig waren. Er hatte bereits am Freitag bei der Firma angerufen und mitgeteilt, dass einer der drei Lifte nicht funktionierte. Wieso in aller Welt es drei Tage dauerte, bis sich die Mitarbeiter herbemühten, war ihm unklar. Und dass sie jetzt schon seit acht Uhr morgens damit beschäftigt waren, ging zu weit.

„Wie lange wollen Sie denn noch an dieser Reparatur sitzen?“, schnauzte er die Männer an, die erschrocken aufsahen.

„Entschuldigen Sie, Monsieur, aber der Motor ist defekt, die Aufzüge sind dreißig Jahre alt. Wir warten auf ein Ersatzteil, das uns aus Rennes gebracht werden muss“, erklärte einer der Männer.

„Wenn die Qualität Ihrer Aufzüge nicht so miserabel wäre, bräuchte ich mich jetzt nicht mit Ihnen herumzuärgern.“ Er wandte sich demonstrativ zur Treppe. „Ich verlange, dass Sie bis heute Mittag fertig sind, ist das klar?“

Ohne auf eine Antwort zu warten, lief er die breite geschwungene Treppe hinunter. Was war nur heute mit ihm los? Diese Miranda machte ihn reizbar und jähzornig. Er hasste es, wenn er so war wie jetzt, aber er konnte es nicht abstellen. Alles lief schief.

Als er in die Eingangshalle kam, herrschte dort ein Tumult. Mit einem Blick erfasste er die Situation. Ein Kellner hatte anscheinend ein Tablett mit gefüllten Champagnergläsern fallen lassen. Mit hochrotem Kopf hockte er auf dem edlen Marmorboden der Halle und kehrte die Scherben zusammen, während eine Kollegin den teuren Champagner aufwischte. Miranda stand daneben und redete auf die beiden ein.

Armand sah sich um. Wenigstens waren keine Gäste anwesend, die Zeuge dieses unprofessionellen Vorfalls hätten werden können. „Was ist hier los?“, fragte er in scharfem Ton.

Der Kellner sprang auf. In einer Hand hielt er das Kehrblech, in der anderen den Handfeger. „Es tut mir leid, Monsieur. Es ist ein kleines Missgeschick geschehen.“

„Ein kleines Missgeschick?“ Armand spürte, wie Wut in seinem Hals vibrierte. „Sie nennen diesen Scherbenhaufen ein kleines Missgeschick? So was darf nicht vorkommen! Packen Sie Ihre Sachen zusammen, Sie sind entlassen.“

„Monsieur?“ Der junge Mann sah ihn erschrocken an.

„Verschwinden Sie“, wiederholte Armand.

„Moment mal.“ Miranda fasste nach seinem Arm. „Cederic kann nichts dafür. Es war meine Schuld, ich habe nicht aufgepasst und bin praktisch in ihn hineingelaufen.“

Armand erstarrte. Er atmete tief ein und aus, schließlich sagte er mühsam beherrscht: „Madame Houston, auf ein Wort bitte in meinem Büro.“

Sie hob die Augenbrauen. „Bitte, wenn Sie darauf bestehen.“ Dann wandte sie sich an den Kellner. „Und Sie machen sich keine Sorgen, natürlich behalten Sie Ihren Job.“

„Miranda!“ Armands Stimme war schneidend scharf. Am liebsten hätte er sie hier vor allen Mitarbeitern strammstehen lassen. Aber er konnte sich schließlich besser beherrschen als sie. Er würde ihr nicht vor aller Augen in den Rücken fallen.

Schweigend stiegen sie die Treppe nach oben. Als sie an den Handwerkern vorbeikamen, warf Armand ihnen einen bösen Blick zu.

„Entschuldigen Sie noch mal, Monsieur“, rief ihm einer der Männer zu. „Ich habe mit unserem Chef gesprochen, und er sagt, das fehlende Ersatzteil sei auf dem Weg. Es müsste jeden Moment hier sein. Aber der Austausch wird nicht so schnell gehen, ich kann Ihnen also nicht versprechen, dass wir bis heute Mittag fertig sind.“

„Belästigen Sie mich nicht mit Ihren Problemen. Ich möchte Ergebnisse sehen, und zwar bis heute Mittag. Sie werden das schaffen, verstanden?“ Armand wollte weitergehen, Miranda hielt ihn jedoch auf.

„Warum ist es so wichtig, dass der Aufzug bis heute Mittag fertig ist?“, fragte sie und betrachtete die anderen beiden Lifte. „Es sind doch noch genügend in Betrieb.“

Armand holte tief Luft. „Das besprechen wir in meinem Büro.“

„Entschuldigen Sie die Schroffheit meines Kollegen“, wandte sich Miranda an die Handwerker, bevor sie ihm in sein Büro folgte.

Schon wieder! Armand presste die Lippen zusammen. Es schien ihr offenbar zu gefallen, ihm immer wieder in den Rücken zu fallen.

„Oh, Monsieur Renard“, rief Mia überrascht, als er in das Vorzimmer stürmte. Sie errötete.

„Das hier ist mein Büro oder besser, das meines Vaters, also tun Sie nicht so erschrocken, als wäre ich ein Bankräuber“, blaffte er sie an.

„Armand, was ist eigentlich los?“, fragte Miranda und schloss die Tür hinter ihnen.

„Was los ist? Soll das eine ernsthafte Frage sein?“ Er warf ihr einen Blick über die Schulter zu und deutete mit dem Finger auf sie. „Sie sind los! Sie bringen hier alles durcheinander.“ In erster Linie brachte Miranda ihn durcheinander, aber das sagte er lieber nicht.

„Nein, Armand!“ Sie trat zu ihm, fasste nach seinen Oberarmen und drehte ihn zu sich. „Sie sind unausstehlich, und auch wenn ich Sie nicht anders kenne, glaube ich nicht, dass das nur an mir liegen kann.“

„Das tut es aber!“ Er funkelte sie an und bemühte sich, nicht in ihren braunen Augen zu versinken. „Sie sind mir in den Rücken gefallen, erst mit diesem Kellner, dann bei den Handwerkern. Ich bin der Chef hier, ich muss akzeptiert werden. Sie können nicht durch die Gegend laufen und jede Entscheidung von mir wieder rückgängig machen.“

„Das tue ich gar nicht! Ich habe Ihnen doch gesagt, dass der Kellner nicht an diesem Malheur schuld war. Das war ganz allein ich. Sie hätten den armen Mann ja nicht gleich rausschmeißen müssen, dann hätte ich Ihnen nicht in den Rücken fallen müssen. Aber ich konnte nicht zulassen, dass er auch nur eine Minute lang glauben musste, er sei gefeuert.“ 

„Sie scheinen ja ein überguter Mensch zu sein“, rief Armand ironisch.

„Ja, das versuche ich zumindest zu sein.“ Sie hielt ihn immer noch fest. „Daher ist es mir auch nicht egal, wie es Ihnen geht. Und es geht Ihnen nicht gut, das ist eindeutig. Sie gehen wegen jeder Kleinigkeit an die Decke und geben sich große Mühe, so herzlos und kalt wie nur möglich zu erscheinen.“

„Vielleicht bin ich so.“ Er wich ihrem Blick aus.

„Nein, das glaube ich nicht.“ Sie ließ ihn los.

Autor

Melody Summer
<p>Melody Summer hat bereits als Zwölfjährige davon geträumt, Bücher zu schreiben. Vorher wurde sie jedoch erst noch Schauspielerin, eröffnete ein freies Theater, arbeitete dort als Dramaturgin und schrieb über zwanzig Theaterstücke. Inzwischen hat sie auch zahlreiche Romane veröffentlicht, in denen es um Geheimnisse, Liebe, Schicksal und Intrigen geht. Sie liebt...
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Andrea Bolter
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Tara Pammi
<p>Tara schreibt sexy Romanzen mit anbetungswürdigen Helden und sexy Heldinnen. Ihre Heldinnen sind manchmal laut und rebellisch und manchmal schüchtern und nerdig, aber jede von ihnen findet ihren perfekten Helden. Denn jede Frau verdient eine Liebesgeschichte! Tara lebt in Texas mit ihrem ganz persönlichen Helden und zwei Heldinnen in der...
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