Romana Extra Band 141

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WAS DIR DEIN HERZ VERRÄT von RONA WICKSTEAD

Eine verletzte Frau am Straßenrand! Erschrocken bringt Leonardo da Silva sie nach Sevilla ins Krankenhaus. Fasziniert von ihr, bietet er ihr seine Hilfe an. Aber was, wenn das Gedächtnis der schönen Französin zurückkehrt? Wird sie trotzdem bei ihm in Spanien bleiben?


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  • Erscheinungstag 23.12.2023
  • Bandnummer 141
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517546
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Rona Wickstead, Louisa George, Bella Mason

ROMANA EXTRA BAND 141

1. KAPITEL

März

Die Straße, die von Constantina zur Autobahn Richtung Sevilla führte, glänzte nass nach dem heftigen Regen, und Leonardo da Silva zwang sich, die engen Kurven langsam und vorsichtig zu passieren. Das fiel ihm nicht leicht, weil er immer noch sehr wütend war – auf seine Eltern, seine Ex-Freundin und nicht zuletzt auf sich selbst. Im Prinzip war es unverzeihlich, dass er die Beziehung mit Maria nicht schon viel früher beendet hatte. Er hatte seit Langem gespürt, dass sie nicht zusammengehörten.

War er zu feige gewesen? Oder einfach zu bequem? Auf jeden Fall war es ihm nicht leichtgefallen, mit ihr Schluss zu machen und die Verletzung in ihren Augen zu sehen. Aber es hatte sein müssen, bevor sie sich beide auf eine Ehe einließen, die nicht unter den richtigen Voraussetzungen geschlossen wurde.

Sie kannten sich, seit sie als Kinder miteinander gespielt hatten. Weil die Güter ihrer Familien direkt nebeneinander lagen, hatte es viele Möglichkeiten gegeben, zusammen die Gegend zu erkunden und kleine Abenteuer zu erleben, immer wohlgefällig beobachtet von ihren Eltern, die sich nichts sehnlicher wünschten als eine Verbindung ihrer Sprösslinge, die langfristig zu einem Zusammenschluss der Ländereien führen würde.

Alles hatte dafür gesprochen, und so hatten sie sich darauf eingelassen, waren lange genug als das strahlende Paar aufgetreten, attraktiv, erfolgreich und auf dem besten Wege, die Träume ihrer Familien wahr werden zu lassen, auch wenn Leos Vater immer noch ein wenig unzufrieden damit war, dass er Psychologie studiert hatte, statt wie erhofft eine Fachhochschule für Agrarwissenschaften zu besuchen.

Aber das hatte Maria getan, und so war es beschlossene Sache, dass sie eines Tages die Leitung des Betriebes übernehmen würde. Leo musste unwillkürlich den Kopf schütteln, wenn er daran dachte, mit welcher Selbstverständlichkeit die beiden Familien Pläne für die kommenden Jahrzehnte geschmiedet hatten. Und er hatte mitgemacht, hatte sich dem Ganzen gefügt wie immer, wenn sein Vater Erwartungen an ihn richtete, seinen einzigen Sohn und Hoffnungsträger.

Es war nicht leicht, Don Antonio zu widersprechen. Er führte ein strenges Regiment auf dem Gut, das durch die Heirat mit Maria und den Zusammenschluss beider Betriebe endgültig das größte der Region werden würde. Deshalb war auch der sechzigste Geburtstag des patrón vorbereitet worden, als handelte es sich um einen Staatsempfang. Eine Menge illustre Gäste waren geladen, das Anwesen von den Bediensteten bis in die letzte Ecke festlich herausgeputzt und ein mehrgängiges Menü mit allen Raffinessen der andalusischen Küche vorbereitet worden. Don Antonio würde seine Gäste in einem perfekt sitzenden Anzug empfangen, und Mamá hatte ihr Abendkleid extra bei einem der führenden Modeschöpfer in Madrid gekauft.

Doch am Abend vor dem großen Fest hatte Don Antonio seinem Sohn mitgeteilt, womit er die Feierlichkeit krönen wollte: „Es wird Zeit, eure Verlobung bekannt zu geben, Leonardo. Marias Eltern sehen das genauso. Und es wäre einfach die perfekte Gelegenheit.“

In diesem Moment hatte Leo begriffen, dass er handeln musste. Bisher hatte er den Gedanken an die Zukunft immer noch von sich wegschieben können, aber das Stichwort „Verlobung“ verdeutlichte ihm unmissverständlich, dass es höchste Zeit war, die Situation zu klären.

Er war früh am Morgen in seiner Wohnung in Sevilla aufgebrochen, um das notwendige Gespräch zu führen. Das war nichts, was man telefonisch erledigen konnte. Mit mühsam zurechtgelegten Worten hatte er versucht, Maria möglichst schonend beizubringen, dass er sich von ihr trennen wollte. Ihre Reaktion fiel aus wie befürchtet.

Sie war in Tränen ausgebrochen und fassungslos davongestürzt, und Leo war mit schwerem Herzen wieder umgekehrt. Auf dem Gut seiner Eltern herrschten die üblichen chaotischen Vorbereitungen, sodass es eine Weile dauerte, bis er beide für ein Gespräch in das Büro seines Vaters bitten und ihnen seinen Entschluss mitteilen konnte.

Seine Mutter hatte sofort angefangen zu weinen. „Ich hatte mich so gefreut“, schluchzte sie. „Wie kannst du uns das antun?“

Don Antonio weinte natürlich nicht, sondern knirschte nur mit den Zähnen. „Du sturer Dickkopf“, fuhr er seinen Sohn an. „Es geht mal wieder nur um dich und deine sensible Befindlichkeit. Hast du denn gar keinen Familiensinn? Was soll aus dem Betrieb werden?“

„Ich weiß es nicht“, gestand Leonardo. „Aber ich kann doch nicht eine Frau heiraten, die ich nicht liebe, nur um euch einen Gefallen zu tun und das Familienanwesen zu vergrößern.“

„Das fällt dir reichlich spät ein!“, polterte sein Vater. „Was soll ich jetzt Don Felipe sagen? Wir wollten heute nicht nur die Verlobung, sondern auch die Fusion verkünden, und jetzt willst du seine Tochter nicht haben. Das ist ein starkes Stück, Leonardo.“

„Aber es wird doch wohl andere Lösungen für die beiden Höfe geben“, erwiderte Leo beharrlich. „Du weißt schon lange, dass ich kein Landwirt bin und nie einer sein werde.“

„Schlimm genug! Deshalb hatten wir ja auf Maria gehofft. Sie hätte die Leitung auf Dauer übernehmen können. So ein tüchtiges Mädchen, blitzgescheit, fleißig und dazu noch hübsch! Ich verstehe es einfach nicht. Was geht nur in dir vor?“

„Wie hat Maria es aufgenommen?“, wollte jetzt seine Mutter wissen, während sie sich vorsichtig die Tränen abtupfte, um ihr Augen-Make-up nicht völlig zu ruinieren.

„Nun ja, sie war … ziemlich schockiert und verletzt“, musste er zugeben. „Sie hat es nicht kommen sehen, fürchte ich.“

„Sie hat es nicht kommen sehen?“, wiederholte sein Vater zornig. „Wie sollte sie auch? Niemand hat kommen sehen, dass unser undankbarer Sohn ausgerechnet am Geburtstag seines Vaters dessen Lebenswerk einen solchen Schlag versetzt! Und du willst Psychologe sein? So ein unsensibles, egoistisches Verhalten hätte ich niemals von dir erwartet!“

Leo ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Es kostete ihn alle Kraft, sich zu beherrschen und nicht genau wie sein Vater voller Wut herauszubrüllen, was er dachte. Aber es hätte keinen Sinn. „Wenn das so ist“, sagte er mit mühsam erzwungener Ruhe, „dann gehe ich wohl besser.“

„Ja, verschwinde!“, brüllte Antonio ihn an. „Geh mir aus den Augen, nach allem, was du angerichtet hast!“

„Wie du willst“, erwiderte Leo kalt und stand auf. Seine ganze Kindheit hatte er diese Zornausbrüche seines Vaters gefürchtet. Aber er war nicht länger bereit, sich auf diese Weise tyrannisieren zu lassen. Er musste seine eigenen Entscheidungen treffen, auch wenn es ihm leidtat, dass es ausgerechnet heute zum Konflikt gekommen war.

Unzufrieden mit sich und seiner Familie, war er nach draußen zu seinem Auto gegangen. Nur um ausgerechnet auf seinen Cousin zu treffen, der ihn beinahe mit dem Regenschirm aufspießte, weil gerade ein Schauer eingesetzt hatte.

„Hey, wo willst du hin?“, rief Rafael überrascht aus und schob ihn zurück auf die überdachte Veranda. „Gibt es noch was zu erledigen?“

„Ich habe schon alles erledigt“, antwortete Leo seufzend. „Meine Eltern sind stinksauer, weil ich mit Maria Schluss gemacht habe, und deshalb hat mein Vater mich quasi rausgeschmissen.“

Rafael sah ihn entsetzt an. „Du hast Maria den Laufpass gegeben? Dieser tollen Frau? Aber …“

„Egal, wie toll sie ist, Rafa, sie ist nicht die Richtige für mich. Und das musste ich klären, bevor unsere Eltern uns vor den Traualtar zerren, weil doch alles so schön passt.“

Rafael nickte. „Mann, du machst ja Sachen … Kann mir vorstellen, dass Don Antonio nicht gerade begeistert ist.“

„Das ist noch untertrieben, glaub mir. Und deshalb ist es besser, wenn ich jetzt verschwinde und nicht noch die restliche Feier versaue.“

„Puh.“ Rafael schob die Unterlippe vor, wie er es immer tat, wenn er etwas bedauerte. „Da beneide ich dich nicht, Kumpel. Mach’s gut.“ Er klopfte seinem Cousin jovial auf die Schulter.

„Alles klar. Lass dich mal blicken, wenn du in Sevilla bist.“

„Das wird wohl nicht so bald möglich sein. Ich trete demnächst einen Job in der Schweiz an“, hatte Rafael erwidert. „Fahr vorsichtig, Leo. Das wird ein heftiges Unwetter, und nach der langen Trockenheit sind die Straßen staubig, dann kann es rutschig werden.“

Leo hatte kaum sein Auto erreicht, als sich der Landregen in einen heftigen Hagelschauer verwandelte. Eine Weile saß er daher reglos im Wagen und wartete darauf, dass der Niederschlag nachließ. Durch die Windschutzscheibe beobachtete er, wie der Hagel die Lampions zerfetzte, die den Weg zum Garten schmückten. Vermutlich waren gerade Scharen von Angestellten damit beschäftigt, alles zu retten, was bereits unter den Pavillons im Garten aufgebaut worden war.

Kurz empfand er Mitleid mit seinem Vater, dass dieses heftige Unwetter ausgerechnet an dessen Geburtstag über die Region hereinbrach. Aber vielleicht war es längst nicht so schlimm wie das, was er selbst gerade seinen Eltern angetan hatte.

Er zuckte mit den Schultern und startete den Wagen. So gern er ihnen ihren Wunsch erfüllt hätte – er konnte es nicht. Ihm blieb nur, zu hoffen, dass sie das akzeptieren würden. Schließlich war er kein Schuljunge mehr, sondern ein erwachsener Mann von einunddreißig Jahren, der seine eigenen Entscheidungen treffen musste.

Mit einem Gefühl des Bedauerns war er über die lange, schnurgerade Zufahrt bis zu dem schmiedeeisernen Tor gefahren, das den Eingang des Anwesens markierte. Unzählige Male hatte er dieses Tor passiert, aber selten hatte er sich dabei so niedergeschlagen gefühlt wie heute.

Beinahe hätte er sie übersehen, doch im letzten Moment registrierte er das Paar Schuhe, das am Straßenrand aus dem Gras hervorragte. Hatte jemand sie dort nur achtlos entsorgt, oder … Verdammt, das sah gar nicht gut aus. Im nächsten Moment erkannte er die Umrisse einer leblosen Gestalt. Beunruhigt hielt er an, stieg aus und eilte hinüber. Eine junge Frau lag dort auf dem Rücken, mit ausgebreiteten Armen. Sie war völlig durchnässt, offenbar hatte sie schon während des Gewitters schutzlos hier gelegen. Ihre dunklen, lockigen Haarsträhnen klebten ihr zum Teil im Gesicht, aber da war auch Blut, und auf der Wange hatte sich ein Hämatom gebildet.

Leo beugte sich über sie und versuchte, sich an Erste-Hilfe-Maßnahmen zu erinnern und an das, was die Kollegen aus der Notaufnahme immer sagten. Ihre Haut fühlte sich kühl an, die Lippen waren blau, der Puls nur schwach.

Was sollte er tun? Es würde einige Zeit dauern, bis ein Krankenwagen hier wäre, und das bereitete ihm Sorgen. Warum hatte die Frau ausgerechnet hier einen Unfall haben müssen, wo weit und breit kein Haus stand? Wo wollte sie überhaupt hin? Zur Party seines Vaters jedenfalls nicht. Ihre Kleidung ließ vermuten, dass sie sich auf einer Wanderung befand, aber nirgends entdeckte er eine Tasche, einen Rucksack oder sonstige Habseligkeiten. War sie aus einem fahrenden Auto gesprungen?

Ganz behutsam versuchte er sie zu bewegen, sie anzusprechen. „Hallo? Hören Sie mich?“ Aber sie reagierte nicht.

Leo überlegte. Wo war das nächste Krankenhaus? Er konnte sie auf keinen Fall hier liegen lassen. Es war zwar nicht völlig auszuschließen, dass sie eine Rückenverletzung hatte, aber das größere Risiko bestand für sie darin, sich eine Unterkühlung zuzuziehen.

Zum Glück hatte er eine Decke im Kofferraum, die er jetzt über seine Rückbank breitete. Dann hob er die junge Frau hoch und legte sie so vorsichtig wie möglich in sein Auto. Dabei begann sie zu zittern, und er erinnerte sich, dass das ein gutes Zeichen war. „Solange sie zittern, ist noch Leben drin“, hatte der Rettungssanitäter Carlo einmal in seiner unnachahmlich derben Art gesagt.

Fürsorglich wickelte er sie in die Decke und legte für alle Fälle noch sein Jackett über sie. Noch einmal inspizierte er die Stelle, an der er sie gefunden hatte, und suchte nach Hinweisen, aber da war nichts.

Er wollte nicht zu viel Zeit verlieren, also stieg er ins Auto, drehte die Heizung hoch und fuhr, so schnell er konnte, nach Sevilla. Vielleicht gab es auch andere Krankenhäuser in der Nähe, aber die kannte er nicht, während das Hospital Santa Catarina sein zweites Zuhause war. Dort würde man sich hervorragend um die junge Frau kümmern.

Immer wieder warf er einen Blick über die Schulter, aber die Fremde rührte sich nicht. Ihre blau angelaufenen Lippen bildeten einen starken Kontrast zu ihrer blassen Gesichtshaut. Panik überkam ihn bei der Vorstellung, sie könnte auf seiner Rückbank sterben … hoffentlich hatte er keinen Fehler gemacht, der sie jetzt das Leben kosten würde …

Er trat aufs Gas. Bald würde sie Hilfe bekommen.

Ihr Kopf pochte heftig, als sie erwachte. Schon die Augen zu öffnen, fiel ihr schwer. Ihre ersten Eindrücke waren verwirrend: ein seltsam heller Raum, ein dumpfes Gefühl im Schädel, merkwürdige Pieptöne in nächster Nähe, ein Geruch, der ihr bekannt und doch wieder fremd vorkam. Träumte sie noch?

Wenn ja, war es ein sehr realistischer Traum, denn ihr tat alles weh. Nicht nur der Kopf, auch ihr Brustkorb fühlte sich seltsam an, und als sie sich rührte, durchfuhr sie ein stechender Schmerz. Wo war sie? Was war passiert?

Ganz vorsichtig und Schritt für Schritt überprüfte sie ihren Körper. Sie konnte ihre Beine spüren, mit den Zehen wackeln, die darübergebreitete Bettdecke fühlen. Das Atmen war unproblematisch, solange sie nicht zu tief Luft holte. Die Finger ließen sich bewegen, die Arme mit gebotener Vorsicht heben. An ihrer linken Hand erkannte sie einen Venenzugang, dessen Schlauch in einem Infusionsbehälter endete.

Krankenhaus also. Irgendetwas war ihr zugestoßen. Sie konnte sich an nichts erinnern …

Die plötzliche Erkenntnis durchzuckte sie ähnlich wie der Schmerz in ihrem Brustkorb. Sie konnte sich tatsächlich an nichts erinnern. Nicht daran, was passiert war, aber vor allem auch nicht daran, wer sie war. Panik erfasste sie. Da musste doch ein Name sein, eine Erinnerung! Sie wusste, dass jeder Mensch in irgendeiner Form ein Umfeld besaß, eine Familie, einen Freundeskreis … Aber in ihrem Kopf herrschte Leere.

Sie wusste nichts über sich.

Schritte kamen näher, eine stämmige kleine Frau in der typischen Krankenpfleger-Kleidung trat in ihr Blickfeld und beugte sich über sie. „Sie sind wach, Gott sei Dank! Ich bin Schwester Roberta. Können Sie mich hören?“

„Sie sprechen Spanisch“, wisperte sie verwundert.

„Na, und ob ich das tue!“ Roberta lachte. „Schließlich bin ich Spanierin durch und durch, und wir sind hier mitten in Andalusien.“

„Andalusien?“, wiederholte sie ratlos. „Und wo genau?“

„In Sevilla“, erwiderte Roberta. Ihre Miene wurde besorgter. „Sie wissen nicht, wo Sie sind? Erinnern Sie sich, dass Sie einen Unfall hatten?“

„Unfall? Was ist mit mir passiert?“

Roberta tätschelte ihr beruhigend die Hand. „Nur einen Moment, meine Liebe. Ich hole Doktor Sabal. Er wartet seit zwei Tagen darauf, dass Sie aufwachen.“

Verzweifelt schloss sie die Augen. Sie lag schon seit mehreren Tagen hier? Wie viel Zeit hatte sie verloren … und was bedeutete das?

Es dauerte nicht lange, bis ein großer hagerer Mann in weißem Kittel zu ihr trat. „Guten Tag, Señora. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, dass Sie wieder aufgewacht sind! Sie haben uns schon ein wenig Kummer bereitet. Aber ich denke, jetzt kriegen wir alles wieder hin.“

„Was kriegen wir hin?“

„Sie haben zwei gebrochene Rippen und ein Schädel-Hirn-Trauma, das wir nun genauer untersuchen können, da Sie wieder wach sind, Señora Lagrange.“

Sie runzelte mühsam die Stirn. Sogar das tat weh. „Lagrange?“

„So heißen Sie doch, oder? Inez Lagrange. Wir haben in Ihrer Hosentasche einen Wohnheim-Ausweis der Universität Bilbao gefunden. Das war alles, was Sie bei sich hatten. Die Polizei hat bereits den Unfallort abgesucht, aber leider nichts entdeckt. Sie versuchen jetzt, Ihre Angehörigen zu ermitteln.“

„Inez Lagrange“, murmelte sie. „Das bin ich?“

„So sieht’s aus“, meinte der Arzt freundlich. „Machen Sie sich keine Sorgen, ein Gedächtnisverlust kann bei solchen Unfällen gelegentlich vorkommen. Meistens ist er nur von kurzer Dauer. Jetzt geben wir uns erst einmal gemeinsam Mühe, damit Sie wieder auf die Beine kommen, und dann werden Sie sich auch wieder an alles erinnern – nur an den Unfall selbst vermutlich nicht. Auch das ist normal.“

„Was wissen Sie über meinen Unfall?“

Der Arzt verzog das Gesicht. „Ich habe nur gehört, dass es sich um Fahrerflucht handelt. Sie waren ohnmächtig und stark unterkühlt. Aber Señor da Silva kommt später vorbei. Er hat Sie gefunden und kann Ihnen sicher mehr erzählen.“

Sie schloss die Augen, weil sie das Gefühl hatte, das alles würde sie überfordern. Sie hieß Inez und studierte in Bilbao? Sollte ihr das nicht eine gewisse Sicherheit geben, vielleicht weitere Erinnerungen wecken? Aber es fühlte sich fremd an, und das machte ihr Angst.

„Erholen Sie sich in aller Ruhe“, riet ihr Doktor Sabal. „Wir machen später noch ein paar Untersuchungen, aber ich schätze, in ein paar Tagen können wir Sie nach Hause schicken.“ Er strich ihr aufmunternd über den Arm, bevor er das Krankenzimmer verließ.

Nach Hause? Wo war das? Was tat sie dort? Hatte sie eine Familie? Krampfhaft versuchte sie, sich zu erinnern, nur um festzustellen, dass es sich nicht erzwingen ließ. „Inez“, murmelte sie, „Inez Lagrange. Aus Bilbao.“ Irgendwie wollte es nicht passen – wie ein Kleidungsstück, das ihr nicht gehörte. Aber es war alles, was sie hatte.

Gedächtnisverlust war nach Kopfverletzungen nicht allzu ungewöhnlich, das war ihr bekannt gewesen, bevor der Arzt es erwähnte. Woher wusste sie das? Und warum wusste sie das, während ihre eigene Identität ihr ein absolutes Rätsel war?

Hilflos starrte sie auf den Kunstdruck an der Wand, die Seerosen von Monet. Es war zum Verzweifeln. Offensichtlich konnte sie Gemälde längst verstorbener Künstler erkennen, wusste aber noch nicht einmal, wie der Ort aussah, an dem sie lebte. Bilbao – gab es dort nicht ein total verrücktes Museumsgebäude? Hatte sie das schon einmal besucht?

Die Tür öffnete sich erneut, und ein anderer Mann erschien. Ohne Arztkittel. Dafür mit einem Gesicht, das ihr bekannt vorkam.

„Kommen Sie mich besuchen?“, fragte sie spontan. Auf Französisch. Es fiel ihr leichter als Spanisch. War das vielleicht eine Spur?

Der Mann kam näher. Er war groß, schlank, dunkelhaarig, hatte ein freundliches Lächeln und strahlend weiße Zähne. „Sie erkennen mich?“, fragte er ebenfalls auf Französisch zurück, und sie hörte sofort, dass es nicht seine Muttersprache war.

„Natürlich“, versicherte sie, „Sie sind …“ Ihre Zuversicht schwand. „Ich kann mich nicht an Ihren Namen erinnern.“

„Ich bin Leonardo da Silva“, erklärte er ihr. „Ich bin derjenige, der Sie auf der Straße von Constantina nach Sevilla gefunden hat.“

„Leonardo“, wiederholte sie. Nein, das klang nicht vertraut. Aber dieses Gesicht … Natürlich, offenbar hatte sie ihn doch wahrgenommen, als er sie gerettet hatte. „Leonardo. Danke, dass Sie mein barmherziger Samariter waren.“

„Das war doch selbstverständlich“, sagte er. „Wie geht es Ihnen? Wie ich hörte, haben Sie Ihr Gedächtnis verloren?“

„So sieht’s aus“, antwortete sie bedrückt. „Haben Sie einen Moment Zeit und können mir wenigstens erzählen, wie Sie mich gefunden haben?“

„Deswegen bin ich hier“, sagte er und zog einen Stuhl heran. „Wobei ich Ihnen auch nicht viel darüber sagen kann. Sie wurden eindeutig von einem Auto angefahren, aber die Frage ist, was Sie an einem Samstagnachmittag auf dieser Straße wollten. Sie hatten absolut kein Gepäck dabei, ich habe alles abgesucht und die Polizei später auch. Sie denken, dass der Fahrer noch ausgestiegen ist, um nach Ihnen zu schauen, dann aber Panik bekommen hat. Leider hat der heftige Regen alle Spuren beseitigt, wenn es denn welche gab.“

„Regen“, murmelte sie. „Der Arzt sagte, ich war sehr unterkühlt.“

„Das können Sie laut sagen“, versicherte er. „Wir hatten ein heftiges Unwetter mit Hagel, Sie waren völlig durchnässt. Gut, dass ich Sie gesehen habe, bevor es dunkel wurde. Später wären Sie vielleicht niemandem mehr aufgefallen, weil Sie in diesen Graben am Straßenrand gestürzt sind und nur noch ihre Schuhe hervorschauten.“

„Meine Schuhe … Sagen Sie, was hatte ich eigentlich an? Sind meine Sachen hier irgendwo?“ Inzwischen hatte sie festgestellt, dass sie nur eine Art Krankenhaus-Nachthemd trug. Intuitiv zog sie die Decke fester um sich.

„Da müsste ich mich erkundigen. Die Polizei hat alles untersucht. Und das ist das Seltsame: Sie hatten weder Ausweis noch Geld oder ein Handy dabei. Nur diese Wohnheim-Karte klemmte etwas versteckt in einer Tasche Ihrer Cargo-Hose. So geht man nicht los, wenn man mehrere Kilometer durch unbewohntes Gelände läuft, oder?“

„Nein“, pflichtete sie ihm bei. „Und ich schon gar nicht, ich …“ Sie brach ab. Was wusste sie denn schon über sich?

Leonardo sah sie mitfühlend an. „Sie haben einen absoluten Blackout, oder? Ich weiß, es muss die Hölle sein, aber versuchen Sie trotzdem, ruhig zu bleiben. Wenn Ihr Körper sich so verhält, dann gibt es vielleicht einen Grund.“

„Das klingt so leicht“, stieß sie hervor. „Dabei ist es furchtbar, nicht zu wissen, wer man ist. Was wollte ich hier? Warum bin ich nicht in Bilbao? Habe ich vielleicht ein Verbrechen begangen? Oder wurde ich entführt? Ich habe keine Ahnung!“

Er rückte etwas näher und nahm ihre Hand. „Ich würde Ihnen gern helfen. Würde es Ihnen guttun, wenn Sie mir einfach Ihre Wahrnehmungen erzählen? Vielleicht können wir gemeinsam einige Puzzlestücke zusammensetzen.“

Sie betrachtete ihn kritisch. „Wieso wollen Sie das tun? Fühlen Sie sich für mich verantwortlich, weil Sie zufällig derjenige waren, der mich als Erster gesehen hat?“

„Vielleicht“, gestand er. „Aber ein wenig hat es auch damit zu tun, dass ich hier im Krankenhaus als Psychologe angestellt bin und deshalb meinen Beitrag dazu leisten möchte, dass es Ihnen wieder besser geht.“

Zum ersten Mal war ihr nach Lächeln zumute. „Sie haben also auch ein berufliches Interesse daran? Damit fühle ich mich tatsächlich besser.“

„Na sehen Sie“, sagte er aufmunternd. „Dann legen Sie doch mal los, Señora Lagrange. Erzählen Sie mir was. Zum Beispiel über Bilbao.“

„Eine Stadt im Baskenland“, erwiderte sie. „Mit einem Guggenheim-Museum. Mehr weiß ich nicht. Ich habe nicht den Eindruck, dass ich jemals dort war.“

„Sind Sie schon mal mit der Schwebefähre über den Nervión übergesetzt? Oder haben Sie lieber den Panoramaweg genommen, der hoch oben über die Brücke führt? Man darf allerdings keine Höhenangst haben.“

„Schwebefähre? Panoramaweg? Mir scheint, Sie kennen sich dort besser aus als ich.“ Sie biss sich auf die Lippe. „Oder gehört das auch zu den Bereichen, die ich vergessen habe?“

„Das menschliche Gehirn ist eine komplizierte Angelegenheit“, antwortete er. „Wir wissen zwar inzwischen viel darüber, aber längst noch nicht alles. Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, das auseinander zu sortieren, aber so einfach ist es nicht.“

Sie nickte betrübt, dann streckte sie verzweifelt die Hände aus. „Hatte ich Schmuck an? Vielleicht bin ich verlobt oder verheiratet?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen“, erwiderte Leonardo bedauernd. „Mir ist nichts aufgefallen. Aber wenn es so wäre, dann würde Ihr Mann doch bestimmt nach Ihnen suchen, nicht wahr? Haben Sie einfach noch ein wenig Geduld. Die Polizei ist eingeschaltet und überprüft die aktuellen Vermisstenmeldungen. Bestimmt klärt sich das alles kurzfristig auf.“

„Hoffen wir’s mal“, seufzte sie. „Denn spätestens, wenn ich hier entlassen werde, muss ich doch wissen, wo ich hingehen soll.“

2. KAPITEL

Leonardo wäre gern noch länger geblieben, aber er hatte einen Termin. „Ich komme morgen wieder, wenn Sie mögen“, bot er an, und Inez’ trauriges Gesicht erhellte sich.

„Das wäre schön“, sagte sie mit einem Lächeln. „Ansonsten rechne ich ja nicht mit Krankenbesuchen, bis meine Angehörigen informiert werden konnten.“

Er hatte gespürt, wie schwer es ihr fiel, gelassen und optimistisch zu bleiben. War das ein Wunder? Er versuchte sich vorzustellen, wie sie sich fühlen musste – ohne Freunde oder Verwandte in einer fremden Stadt, allein im Krankenhaus, geplagt von Unsicherheit und Schmerzen. Schon die Rippenbrüche waren kein Spaß und würden ihr noch wochenlang Beschwerden bereiten, von der Gehirnerschütterung und dem Gedächtnisverlust ganz zu schweigen. All das musste ihr wie ein Albtraum vorkommen.

Wie würde ich mich fühlen, wenn mir so etwas passieren würde?, fragte er sich. Aber es gab keine wirkliche Antwort darauf. Eine solche Situation war schwer vorstellbar. Er konnte nur hoffen, dass Inez’ Familie schnell gefunden wurde und sich um sie kümmern konnte, wenn sie das Krankenhaus verlassen würde.

Am folgenden Tag lief er Doktor Sabal über den Weg und erkundigte sich nach dem Stand der Dinge.

Der Chefarzt runzelte die Stirn. „Das ist eine vertrackte Geschichte“, erklärte er. „Was unsere Befunde angeht, hat sie ziemliches Glück gehabt, zumindest in Bezug auf ihre körperlichen Beschwerden. Aber der Gedächtnisverlust bereitet mir Sorgen, genau wie die Tatsache, dass wir die Angehörigen noch nicht ausfindig machen konnten.“

„Aber die Polizei wird sicherlich Auskunft von der Universität bekommen haben, oder? Da muss es doch eine Heimatadresse geben.“

Der Medizinier seufzte. „Ja, das sollte man meinen. Aber zum einen war Señora Lagrange nur für ein Gastsemester in Bilbao, und das ist zwei Jahre her. Zum anderen stammt sie aus Quebec, Kanada. Ich gehe davon aus, dass man ein Amtshilfeersuchen stellen wird, um ihre Familie zu kontaktieren, aber es wäre natürlich bedeutend einfacher gewesen, wenn sie Angehörige in Europa hätte.“

„Kein Wunder, dass sie so niedergeschlagen ist“, sagte Leonardo. „Vielleicht ahnt sie schon, dass die Suche nicht so einfach sein wird.“

„Das wird sie in der Tat nicht“, stimmte Doktor Sabal ihm zu. „Drücken Sie uns und ihr die Daumen, dass jemand gefunden wird, der bereit ist, sich um sie zu kümmern. Ich weiß nicht, ob wir so einen Fall schon mal hatten, aber da stellen sich eine Menge Fragen. Wer kommt für die Behandlungskosten auf? Wo kann sie hingehen, wenn sie weder ein Zuhause noch einen Job hat, von dem wir wissen? Ich muss mich mal umhören, was Elena, unsere Mitarbeiterin vom Sozialen Dienst, sagt.“

Leonardo erschrak. „So weit habe ich noch gar nicht gedacht. Aber wir können sie doch nicht einfach …“

„Wir sind ein Krankenhaus, Señor da Silva, und nicht das Sozialamt. Wir können die Patientin nicht länger als medizinisch nötig hierbehalten. Gehen Sie zu ihr und tun Sie, was Sie können, damit sie ihr Gedächtnis zurückerlangt, das wäre doch für alle das Beste.“

„Ich bin Psychologe und kein Zauberer“, gab Leonardo gereizt zurück. „Vermutlich braucht sie Zeit und Ruhe, um den Schock über den Unfall hinter sich zu lassen.“

„Da würde ich Ihnen völlig zustimmen“, sagte der Arzt. „Aber das können wir ihr hier leider nicht viel länger bieten. Wenn wir wenigstens eine Krankenversicherung hätten, bei der sich eine Reha-Maßnahme beantragen ließe … Aber wir wissen gar nichts über die Frau! War sie in ein Verbrechen verwickelt, oder warum ist ihre gesamte persönliche Habe verschwunden? Was wollte sie dort, wo sie gefunden wurde? Sie stammen doch aus der Gegend, haben Sie irgendetwas gehört?“

Leonardo hatte einiges gehört, seit er die Familienfeier verlassen hatte. Allerdings hatte nichts davon mit Inez zu tun. Seine Mutter hatte ihn am nächsten Tag angerufen und mit Vorwürfen überschüttet: wie enttäuscht sie sei, wie herzlos sein Verhalten gewesen wäre, seinem Vater den großen Tag zu verderben. Sie berichtete, wie bedrückt Maria gewirkt habe, als sie mit einiger Verspätung noch erschienen war, wie viele Leute nach ihm gefragt hätten, weil sie ihn bei der Feier vermisst hatten, und wie peinlich sie das finde …

„Ich kann noch einmal nachfragen, aber mir ist nichts zu Ohren gekommen, was auf irgendeine Weise mit Señora Lagrange zu tun haben könnte.“

„Zu schade“, meinte Doktor Sabal. „Dann werde ich mich mal nach Unterkünften für mittellose Personen erkundigen.“

Leonardo zuckte zusammen. Inez in einer Obdachlosen-Unterkunft? Das ging doch nicht! „Das müssen Sie nicht“, erwiderte er spontan. „Sie kann vorübergehend bei mir wohnen, ich habe Platz genug.“

„Bei Ihnen?“ Der behandelnde Arzt musterte ihn kritisch. „Geht das nicht etwas zu weit?“

Leo zuckte mit den Schultern. „Sagen wir, ich fühle mich für sie verantwortlich. Ich habe sie gefunden.“

Sein älterer Kollege nickte. „Das kann ich verstehen. Aber Sie sollten sich noch einmal in Ruhe überlegen, was Sie da tun. Ich empfehle jedem meiner Mitarbeiter, eine gewisse Distanz zu den Patienten einzuhalten – es ist für alle Beteiligten besser.“

„Ich verstehe, was Sie meinen“, sagte Leonardo, „aber in diesem Fall sehe ich das anders.“

„Sie müssen es wissen! Warten wir es ab, erst einmal ist die Patientin ja noch hier.“

Sobald Leonardo es einrichten konnte, stattete er Inez wieder einen Besuch ab. Dieses Mal lag sie jedoch nicht im Bett, sondern saß in ein riesiges Sweatshirt und eine Jogginghose gekleidet auf einem Stuhl. Auf dem Tisch neben ihr erkannte er einen Notizblock und einen Stift.

„Leonardo!“, rief sie erfreut. „Wie schön, ein bekanntes Gesicht zu sehen! Wenn ich auch inzwischen die meisten der Mitarbeiter hier auf der Station mit Namen kenne. Schauen Sie mal, sie haben es nicht ausgehalten, dass ich immer in diesem Hemdchen herumlaufen musste, und mir ein paar Sachen zum Anziehen besorgt.“

„Ja, das war nett von ihnen, auch wenn sie sich mit den Größen etwas vertan haben“, lachte er.

„Ich kann in dieser Situation nicht eitel sein“, entgegnete sie. „Und meine Rippen mögen es sowieso nicht gern, wenn ich mich beim Anziehen zu viel bewegen muss.“

„Es kommen auch wieder bessere Zeiten“, versuchte er sie zu trösten. „Was machen Sie denn da gerade?“

„Ich schreibe alles auf, was mir einfällt. Wissen Sie, ich hatte heute ein seltsames Erlebnis. Diese grimmige Schwester Ignacia wollte mir ein Medikament geben, und da habe ich mich mit ihr über die Dosis gestritten.“

Leo stutzte. Das war in der Tat merkwürdig. „Könnte es sein, dass Sie Medizinerin sind?“

Sie schien kurz zu überlegen. „Nein, ich glaube nicht. Aber das ist ja gerade das Vertrackte – ich habe immer das Gefühl, ich nähere mich einer Sache, die mir weiterhelfen könnte, und dann entflieht sie mir wieder. Wenn ich Sie sehe, denke ich immer, ich müsste Ihren Namen sagen, aber … ich weiß, dass Sie Leonardo heißen, trotzdem klickt es irgendwie nicht … das macht mich total verrückt.“

„Das soll es nicht“, warnte er. „Sie wissen doch, es ist besser, wenn Sie emotional ausgeglichen bleiben. Aufregung ist nicht gut in Ihrem Zustand.“

„Sie haben gut reden!“, rief Inez aus. „Was soll ich denn machen? Irgendwie muss ich doch wieder zu mir finden!“

„Und wie versuchen Sie, das zu erreichen?“

Sie zeigte ihm ihren Notizblock. „Ich experimentiere mit meiner Unterschrift. Ich dachte, wenn ich schon mal weiß, wie ich heiße, dann müsste mir die doch leicht von der Hand gehen. Aber ich kriege spätestens bei dem ‚z‘von Inez Probleme, es fließt einfach nicht. Wie kann das sein?“

Leo zögerte kurz. War es sinnvoll, zu diesem Zeitpunkt mit ihr über emotionale Blockaden zu sprechen? Aber er konnte nicht einfach neben ihr sitzen und belangloses Zeug erzählen, während sie sich mit so grundsätzlichen Problemen herumquälte. „Vielleicht hat es einen Grund, warum Ihr Körper sich verweigert, Señora. Ich habe gestern Abend mal ein wenig nachgelesen.“

Sie hob aufmerksam den Kopf. „Und haben Sie herausgefunden, was mit mir los ist?“

„Es könnte sein, dass Sie etwas sehr Belastendes erlebt haben, und Ihr Unterbewusstsein nimmt diesen Unfall zum Anlass, die Geschichte erst mal auszublenden.“

„Du liebe Güte!“ Sie sah ihn schockiert an. „So, als hätte ich einen Mord miterlebt oder etwas Ähnliches?“

Er hob beschwichtigend die Hände. „Das ist wohl eher Stoff für einen Kinofilm, denke ich. Das Erlebnis muss gar nicht so extrem gewesen sein – es reicht, dass sich dadurch für Sie persönlich besonderer Stress ergeben hat. Ein Todesfall, eine schmerzhafte Trennung … das genügt doch schon, um das Leben gehörig durcheinanderzuwirbeln.“

„Ja, das leuchtet mir ein“, sagte sie leise. „Aber leider hilft es mir nicht weiter. Da klingelt überhaupt nichts bei mir.“

„Das soll es ja auch nicht“, argumentierte er. „Deshalb passiert so etwas möglicherweise. Aber das Vertrackte ist, man kann es nicht genau wissen. Ihre gebrochenen Rippen sehen wir auf dem Röntgenbild, aber was Ihre Erinnerungen blockiert, können wir leider nicht erkennen.“

Sie nickte verständnisvoll, und Leonardo wünschte sich, er könnte mehr für sie tun. Wenn er ehrlich zu sich war, bedeutete sie ihm längst mehr als seine üblichen Patienten. Nicht nur, weil ihr Fall ihn herausforderte. War es Mitleid?

„Was wird denn dann aus mir?“, fragte sie leise. „Ich kann doch nicht ewig so leben, in geliehenen Klamotten, ohne Geld, ohne Plan …“

Beruhigend nahm er ihre Hand. „Keine Panik. Wir finden einen Weg. Noch haben Sie ein paar Tage Zeit, bevor Sie entlassen werden. Und wenn bis dahin Ihre Familie nicht ermittelt werden konnte, dann …“ Was soll’s, dachte er. Wenn er es schon Doktor Sabal gegenüber ausgesprochen hatte, dann konnte er es auch ihr sagen, schließlich war es für sie noch viel wichtiger. „Dann können Sie bei mir wohnen. Ich habe ein Gästezimmer, da ist Platz genug.“

Sie blickte ihn überrascht an. „Bei Ihnen? Aber … Leonardo, das kann ich nicht annehmen. Das sagen Sie jetzt, weil ich Ihnen leidtue. Aber ich kann doch nicht einfach … Sie haben doch auch ein Privatleben.“

„Machen Sie sich mal keine Sorgen um mein Privatleben“, erwiderte er. „Ich habe mich gerade von meiner Freundin getrennt, und meine Eltern sind deswegen ziemlich sauer auf mich. Vermutlich wären Sie die einzige Person, mit der ich in nächster Zeit außerhalb meines Jobs zu tun habe.“

„Trotzdem“, beharrte sie. „Das wäre mir so unangenehm … Sie haben sowieso schon so viel für mich getan.“

„Was habe ich denn getan?“, gab er heftiger als beabsichtigt zurück. „Jeder halbwegs normale Mensch hätte Sie nicht dort liegen lassen, und ab und zu mal bei Ihnen vorbeizuschauen, wenn sich mein Sprechzimmer im selben Gebäude befindet, ist ebenfalls kein großer Akt.“ Er beugte sich vor. „Inez, seien wir realistisch. Wenn Sie hier entlassen werden, bevor Sie wieder wissen, wo Sie hingehören, dann bleiben Ihnen nicht viele Möglichkeiten, falls Sie nicht in irgendeinem Obdachlosenquartier landen wollen, bis Ihre Familie herkommt.“

Mit schlechtem Gewissen beobachtete er, wie sie noch blasser wurde. Und dabei hatte er ihr noch kurz zuvor geraten, ruhig zu bleiben und sich nicht aufzuregen!

Sanft drückte er ihre Hand. „Und deshalb sind Sie jetzt vernünftig und nehmen mein Angebot an. Können Sie kochen?“

„Keine Ahnung“, antwortete sie mit einem schiefen Lächeln. „Es käme auf einen Versuch an. Ich denke, dass ich ein Omelett hinkriegen würde.“

„Das ist doch schon mal ein guter Anfang“, meinte er. „Und alles Weitere wird sich zeigen.“

Niedergeschlagen beobachtete sie, wie Leonardo das Krankenzimmer verließ. Natürlich war es beruhigend zu wissen, dass er ihr anbot, die Zeit nach ihrer Entlassung bei ihm unterzukommen. Vermutlich würde sie ihn auch um einen Kredit bitten müssen, um sich mit einigen Dingen ausstatten zu können. Aber sie würde alles daran setzen, um ihm das Geld so schnell wie möglich zurückzuzahlen. Es war ein unangenehmes Gefühl, ihm so viel schuldig zu sein.

Sie brauchte einen Job, möglichst bald. Was könnte sie tun ohne Papiere, ohne Qualifikationen? Angeblich hatte sie in Bilbao Sozialwissenschaften studiert, aber das kam ihr fremd vor. War da noch etwas anderes? Sie bemühte sich, Bilder davon aus der Tiefe ihres Bewusstseins heraufzubeschwören, und tatsächlich, da war etwas … ein Labor vielleicht?

Noch bevor sich das Bild konkretisierte, erschien wieder einmal die strenge Schwester Ignacia mit ihrem Medikamententablett. „Señora Lagrange, Ihre Schmerztablette! Ich habe mit Doktor Sabal gesprochen, und er hat genehmigt, dass ich Ihnen das Präparat gebe, das Sie haben wollten. Aber nur eine am Tag! Er hatte schon Patienten, deren Nieren das nicht gut vertragen haben.“

„Ja, das kommt vor“, erwiderte sie. „Aber extrem selten. Und ich hatte noch nie ein Nierenproblem in meinem Leben.“

„Woher wollen Sie das wissen?“, versetzte Schwester Ignacia ungnädig und marschierte davon.

Frustriert lehnte sie sich zurück. Die Schwester hatte ja recht, woher wollte sie das wissen? Und trotzdem war sie sich sicher, genau wie sie die Zusammensetzung der Tablette genau aufzählen konnte, bevor sie sie mit einem Schluck Wasser hinunterspülte. Woher wusste sie das? Irgendwas stimmte nicht. Die wenigen Informationen, die über ihre Person bekannt waren, passten nicht zusammen.

Und dann erschien auch noch Doktor Sabal mit einem Polizisten, und der Gesichtsausdruck des Chefarztes verhieß nichts Gutes. „Es tut mir sehr leid, Señora Lagrange“, sagte er, „aber wir haben schlechte Nachrichten für Sie.“

3. KAPITEL

„Die Adresse stimmt nicht?“, wiederholte sie fassungslos. „Das bedeutet, man kann meine Angehörigen nicht finden?“

„Ich fürchte, so ist es.“ Der Polizeibeamte, der mit verlegener Miene in ihrem Krankenzimmer stand, nickte. „Die kanadischen Behörden haben mitgeteilt, dass das Haus der Familie Lagrange voriges Jahr verkauft wurde, und die Käufer haben keine gültige Adresse der Vorbesitzer. Natürlich werden sie weiterforschen, aber das kann eine Weile dauern. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nichts Erfreulicheres berichten kann.“

„Mir auch“, sagte sie und seufzte. Es kam ihr vor, als befände sie sich auf einer Achterbahnfahrt, auf der sie unaufhaltsam hinabrauschte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich darauf verlassen hatte, dass man ihre Angehörigen finden würde. Sosehr sie der Gedanke an die erste Begegnung auch beunruhigt hatte – es war keine schöne Vorstellung, seine eigenen Eltern nicht zu kennen –, hatte sie sich doch davon erhofft, mehr Informationen über sich selbst zu erhalten. Vielleicht wäre ja bei dem Zusammentreffen der Knoten in ihrem Kopf geplatzt und sie hätte plötzlich wieder alles gewusst.

Stattdessen also eine neue Hiobsbotschaft. Was sollte sie jetzt machen? Der einzige Lichtblick war das Angebot von Leonardo. Und sie musste zugeben, es war nicht das Schlechteste, was ihr passieren konnte. Im Krankenhaus waren alle sehr nett zu ihr – selbst die kratzbürstige Schwester Ignacia konnte ganz freundlich sein, wenn sie wollte –, aber Leonardo war eine Kategorie für sich. Er war sympathisch, verständnisvoll, zugewandt und dazu noch attraktiv. Ihr war nicht entgangen, wie aufmerksam die jungen Schwestern ihm hinterherschauten.

Als hätte er ihre Gedanken erahnt, stand er plötzlich in der Tür. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Herz einen kleinen Freudensprung vollführte, als sie ihn sah. Das blaue Hemd und die Jeans standen ihm fantastisch und passten perfekt zu seiner sonnengebräunten Haut.

„Ich habe gehört, dass Ihre Familie verschollen ist“, sagte er mitfühlend. „Und wenn Sie keine gebrochenen Rippen hätten, dann würde ich Sie jetzt glatt in den Arm nehmen, um Sie zu trösten.“

Hatte wohl jemals ein Mensch so etwas Nettes zu ihr gesagt? Sie wusste es nicht, und dieser Gedanke ließ im wahrsten Sinne des Wortes alle Dämme brechen. Sie konnte nicht länger verhindern, dass ihr Tränen in die Augen stiegen und ihre Wangen hinabrannen. „Tut mir leid“, schluchzte sie.

„Das muss Ihnen nicht leidtun“, versicherte Leonardo schnell. Er griff die Box mit Papiertaschentüchern vom Tisch und drückte sie ihr in die Hand. Dann zog er den zweiten Stuhl direkt neben ihren und legte ihr mitfühlend den Arm um die Schultern. „Lassen Sie es raus. Sie haben allen Grund, verzweifelt zu sein.“

Das machte es nicht leichter, mit dem Weinen aufzuhören. Aber vielleicht hatte er ja recht – irgendwann mussten ihre Trauer, ihre Ratlosigkeit, ihre Zukunftsangst einmal ausgedrückt werden, und es war eindeutig besser, dabei seine tröstende Berührung zu spüren. „Ich weiß einfach gar nichts mehr“, wimmerte sie.

„Es wird wieder besser werden“, versprach er. „Wir werden Lösungen finden. Irgendwann wird die Polizei Ihre Familie aufspüren. Und ansonsten haben Sie mich.“

Sie putzte sich noch einmal die Nase und wischte energisch die letzten Tränen von ihrer Wange. „Ich werde Sie beim Wort nehmen“, sagte sie. „Mir scheint, ich habe gar keine andere Wahl.“

„Richtig erkannt“, erwiderte er lachend. „Immerhin haben Sie sich eine gute Zeit ausgesucht, um nach Sevilla zu kommen, denn wir stehen kurz vor der Semana Santa, und die muss man einfach erlebt haben.“

„Semana Santa? Was ist das?“

„Die Heilige Woche vor Ostern, in der die berühmten Prozessionen stattfinden“, erklärte Leonardo. „Der Nachteil ist, dass viele Geschäfte in der Zeit geschlossen haben. Wir müssen unbedingt vorher einkaufen gehen.“

„Einkaufen“, wiederholte sie mit kläglichem Tonfall.

Er stupste sie lächelnd an. „Hören Sie, das muss aber anders klingen. Ich dachte, das könnte etwas sein, worauf Sie sich freuen.“

„Nicht, wenn ich es mir nicht leisten kann“, entgegnete sie seufzend.

„Sagte ich nicht, Sie sollen sich keine Sorgen machen? Wir kriegen das hin, Inez.“

Er ist der einzige Mensch, den ich habe, wurde ihr klar. Hoffentlich würde seine zuversichtliche Einstellung auf sie abfärben.

Als Leonoardo einige Tage später wieder in Inez’ Zimmer stand, um sie nach ihrer Entlassung aus der Klinik abzuholen, hatte sich an der Situation nichts geändert. Er versuchte, möglichst gelassen darüber hinwegzugehen, dass sie nur eine Plastiktüte mit wenigen persönlichen Gegenständen mitnahm, und selbst diese Sachen hatte sie erst im Laufe ihres Aufenthaltes bekommen. Sie trug wieder dieselbe Kleidung wie an dem Nachmittag, an dem er sie gefunden hatte: die Cargo-Hose mit den umgekrempelten Beinen und den vielen Taschen, feste Wanderstiefel, ein schwarzes T-Shirt und eine Outdoorjacke. Bestimmt hat sie mehr bei sich gehabt, überlegte er erneut. Aber er brachte es nicht zur Sprache, um sie nicht wieder zu verunsichern.

Er geleitete sie hinaus und führte sie zu seinem Wagen. Die Fahrt zu seinem Viertel dauerte nicht sehr lang. Nachdem er das Auto in einer Tiefgarage abgestellt hatte, folgte sie ihm staunend durch die malerische Altstadtgasse bis zu dem mehrstöckigen Altbau, in dem er wohnte. Im Erdgeschoss befand sich ein Laden, der farbenfrohe Flamenco-Kostüme und die typischen Spangenschuhe verkaufte. Der Hauseingang lag um die Ecke in einer gepflasterten Seitenstraße, deren Bürgersteig viele Bäume säumten. Er hielt die Tür für sie auf und bedeutete ihr, dass sie den Lift ins Obergeschoss nehmen mussten.

„Immerhin werde ich Ihre Wohnung nicht mit vielen Klamotten zumüllen“, bemerkte Inez etwas sarkastisch, als sie mit der Tüte in der Hand hinter ihm aus dem Aufzug trat.

„Machen Sie sich darüber mal keine Gedanken, bei mir ist Platz genug“, erwiderte Leo lachend und zog seinen Wohnungsschlüssel aus der Tasche. „Willkommen in der Casa da Silva!“

Er ließ sie vorgehen und beobachtete, wie sie in seinem lichtdurchfluteten Wohnzimmer stehen blieb. Es war modern und zurückhaltend möbliert, mit hellen Sofas und abstrakten Gemälden an den weiß verputzten Wänden.

„Du liebe Güte, Leonardo, Sie wohnen in einem Penthouse? Ich muss schon sagen, bei Ihnen in Spanien scheint man als Krankenhauspsychologe gut zu verdienen!“

„Bevor Sie sich in dieser Hinsicht Illusionen machen, sollte ich vielleicht erklären, dass dieses Haus meiner Familie gehört“, sagte er trocken. „Aber ich weiß dieses Privileg sehr zu schätzen. Außer wenn es im Sommer so richtig heiß wird, denn dann schafft selbst die Klimaanlage es nicht mehr, die Temperaturen in den erträglichen Bereich zu bringen. Dann muss ich alle Jalousien schließen und im Dunkeln sitzen.“

„Na, wenn ich dann noch hier bin, werde ich Sie bedauern“, witzelte sie. „Aber bis dahin …“

„Ich weiß, bis dahin bin ich für Sie der verwöhnte Sohn wohlhabender Eltern. Darf ich Ihnen in dieser Funktion die Wohnung zeigen? Schauen Sie, hier ist die Küche mit dem wichtigsten Utensil, der Espressomaschine. Soll ich sie direkt in Betrieb nehmen, oder möchten Sie zuerst Ihr Zimmer sehen?“

„Zeigen Sie mir lieber, wo das Badezimmer ist. Oder werde ich Sie danach in dieser Etage nicht mehr wiederfinden?“

„Rufen Sie einfach ganz laut, dann komme ich sofort“, gab er grinsend zurück. „Wie wär’s, wenn ich uns in der Zeit einen Kaffee mache, und wir setzen uns auf die Dachterrasse und überlegen, wie es weitergeht? Wir wollten ja auch noch einkaufen gehen.“

„Sie wollten einkaufen gehen“, korrigierte sie ihn. „Ich gebe ja zu, dass ich etwas Wäsche zum Wechseln brauche, aber es ist mir total unangenehm, dass ich noch nicht mal selbst bezahlen kann. Es fühlt sich seltsam an, weder eine Bankkarte noch einen Personalausweis zu haben.“

„Einen Pass“, berichtigte er sie. „Sie sind doch Kanadierin.“

Sie schüttelte den Kopf. „Komisch, aber ich glaube das nicht. Ich würde sogar behaupten, dass ich noch nie in Kanada war.“

„Aber Französisch ist definitiv Ihre Muttersprache!“, wandte er ein. „Auch wenn Sie gut Spanisch sprechen.“

„Vielleicht sollte ich mal mit einem Franzosen reden und ihn fragen, was für einen Akzent er hört?“, überlegte sie.

„Gute Idee“, meinte er, bereit, alles zu unterstützen, was ihr helfen könnte. „Ich höre mich mal um, ob ich einen finden kann. Wobei das zurzeit wahrlich nicht so schwer sein sollte, die ganze Stadt wird voller Touristen sein, wenn die Osterwoche anfängt.“

Die Osterwoche. Wieder einmal hatte sie das Gefühl, in den dunklen Tiefen ihrer verschütteten Erinnerung befände sich dazu etwas Bestimmtes, etwas Besonderes, aber es war ihr nicht möglich, es an die Oberfläche zu befördern. Viele Leute trafen sich zu Ostern mit ihrer Familie – hatte sie das auch gewollt? Das hieße ja wohl für sie, nach Kanada zu fliegen.

„Glauben Sie, man kann herausfinden, ob ich einen Flug nach Kanada gebucht habe?“, fragte sie Leo, als sie mit ihrem Kaffee draußen in der Sonne saßen.

Er verzog skeptisch das Gesicht. „Für Sie als Privatperson ist das sicher schwierig. Zum einen wegen der Datenschutzbestimmungen, aber auch, weil Sie ja außer Ihrem Namen nichts wissen. Wann wollten Sie fliegen? Und wohin? Kanada ist groß, und dann gibt es auch noch die Möglichkeit, über einen Flughafen in den USA einzureisen.“

„Wissen Sie, ich muss immer wieder darüber nachdenken, ob ich eine Familie habe. Da ist einfach etwas, das mir sagt, es gäbe irgendwo Leute, zu denen ich eine engere Beziehung habe. Eventuell bin ich sogar verheiratet?“ Der Gedanke erschreckte sie. Was, wenn eines Tages ein fremder Mann auftauchte und sie sich gar nicht an ihn erinnern könnte?

Auch Leo schien die Vorstellung nicht zu behagen. „Meinen Sie nicht, Ihr Mann hätte mittlerweile Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um Sie wiederzufinden? Es sei denn …“ Er brach ab. Sein Blick glitt verlegen zur Seite.

„Es sei denn …?“, hakte sie nach. „Was wollten Sie sagen?“

„Ich weiß nicht, ob ich den Gedanken weiterverfolgen möchte“, antwortete er.

Sie stieß ihn an. „Jetzt haben Sie angefangen, dann müssen Sie es mir auch sagen, Leo. Los, reden Sie. Vermutlich gibt es kaum etwas, worüber ich nicht auch schon nachgedacht habe.“

„Na ja, ich weiß nicht“, druckste er herum. „Mich beschäftigt immer wieder die Frage, warum Sie absolut nichts bei sich hatten, als ich Sie fand. Wer begibt sich auf einen solchen Weg, in diese gottverlassene Gegend, ohne zumindest ein Handy mitzunehmen und eine Flasche Wasser? Das macht keinen Sinn.“

„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte sie nervös.

Er atmete tief aus. „Seien wir ehrlich, Inez. Es ist gut vorstellbar, dass jemand Sie auf dieser Strecke angefahren hat, ohne es zu wollen, gerade wenn die Sicht schlecht war wie neulich bei dem Unwetter. Und dann in Panik Fahrerflucht beging, so schrecklich das ist. Aber dieser Fahrer hat angehalten und alles entfernt, was Aufschluss über Ihre Person geben konnte, und Sie dann einfach liegen lassen! Warum tut man das?“

Sie starrte ihn erschrocken an. „Sie meinen …“

Wieder einmal nahm er ihre Hand, um sie zu beruhigen, während sie sich mit den unerfreulichen Details ihres Unfalls befassen musste. „Ich meine, dass der Unfallfahrer Sie womöglich für tot hielt und seine Spuren verwischen wollte. Deshalb hat er alles mitgenommen, was auf Ihre Identität schließen lässt.“

Sie sackte sichtlich in sich zusammen. „Aber warum? Hat er mich gekannt?“

„Das ist die große Frage. Es ist ja schon rätselhaft, was Sie auf dieser Straße wollten. Constantina ist nicht gerade eine Touristengegend, da will man eigentlich nur hin, wenn man dort jemanden kennt oder etwas zu erledigen hat.“

„Vielleicht wollte ich da einfach nur wandern? Wenn ich mir meine Klamotten so ansehe, würde ich die sonst nicht tragen, um ehrlich zu sein.“

Leo schürzte die Lippen. „Ich weiß nicht … Wer in der Sierra wandert, würde nicht an einer Straße entlanggehen, sondern doch eher die Pfade nutzen, die in der Wanderkarte verzeichnet sind. Die sind landschaftlich schöner und ungefährlicher, weil dort keine Autos fahren. Und man würde erst recht eine vernünftige Grundausstattung bei sich haben.“

Sie dachte eine Weile darüber nach. „Angenommen, ich hätte meinen Rucksack verloren und wäre deshalb zur Straße gelaufen, um von dort aus weiterzukommen?“

„Das ist alles denkbar. Aber ist es nicht sehr unwahrscheinlich, dass so jemand absolut nichts in seinen Taschen hat? Ich meine, wenn ich unterwegs bin, stecke ich zumindest mein Handy und meine Brieftasche in die Jacke, damit ich beides griffbereit habe.“

„Das klingt einleuchtend. So würde ich es vermutlich auch handhaben.“ Ihr Gesicht verdüsterte sich. „Also bleibt es dabei: Wer auch immer mich angefahren hat, ist nicht einfach abgehauen, sondern hat mich noch bestohlen.“

Leo nickte unglücklich. „Das macht es bestimmt nicht leichter für Sie.“

Ihr Blick glitt in die Ferne, über die Dächer der Altstadt und zu einer der Brücken, die den Guadalquivir überquerten. Die Dinge so klar ausformuliert hören zu müssen war wie eine kalte Dusche. Natürlich hatte sie bereits vorher darüber nachgedacht, was mit ihr geschehen sein könnte, aber erst jetzt traf es sie mit voller Wucht. Einen kurzen Moment lang empfand sie sogar so etwas wie Wut auf Leonardo, der ihr die Situation so deutlich vor Augen geführt hatte, aber dann wurde ihr klar, dass nicht er die Schuld an ihrer Misere trug.

Sondern jemand, den sie nicht kannte.

Würde sie jemals herausfinden, wer es war? Handelte es sich einfach nur um einen Unfall mit Fahrerflucht, oder gab es jemanden, der aus anderen Gründen verhindern wollte, mit ihr in Verbindung gebracht zu werden?

So etwas passierte doch nur im Kino! Sie erinnerte sich an einen Film über einen Agenten, der ebenso sein Gedächtnis verloren hatte und von bösen Mächten gejagt wurde. Aber wie realistisch war das? Immerhin konnte sie jetzt nachvollziehen, wie furchtbar es war, nichts über sich selbst zu wissen. Es fühlte sich absurd an, aus dem Stand sagen zu können, was Econazol war und wie man es dosierte, seine eigene Adresse hingegen nicht zu kennen.

„Trinken Sie Ihren Kaffee aus“, sagte Leonardo aufmunternd. „Dann gehen wir shoppen, und ich zeige Ihnen die Altstadt.“

Sie hat sich tapfer zusammengerissen, dachte Leonardo. Insgeheim ärgerte er sich, dass er sie direkt nach der Ankunft in seiner Wohnung mit all diesen unerfreulichen Dingen konfrontiert hatte. Er hätte es wahrlich besser wissen sollen! Sie hatte so traurig und verloren gewirkt.

Am liebsten hätte er ihr eine komplette Garderobe gekauft. In jedem Teil, das sie anprobierte, sah sie großartig aus, vor allem im Kontrast zu ihrer unvorteilhaften Wandermontur, die zu groß und zu klobig an ihr wirkte. Aber sie bestand darauf, den Einkauf auf ein Minimum zu beschränken, weil sie sich nicht wohl damit fühlte, dass er das alles bezahlte. Aber er würde sie auf Dauer schon zu weiteren Einkäufen überreden …

Als sie die Einkaufsstraße verließen, schien sie immerhin ein wenig aufzutauen. „Was für eine sehenswerte Stadt!“, rief sie begeistert.

„In Sevilla gibt es viele Sehenswürdigkeiten“, erwiderte er, „aber die verrückteste davon ist der Metropol Parasol, und den sehen wir uns jetzt an.“

„Was genau ist das?“, wollte sie wissen.

„Das kann man nicht erklären, das muss man gesehen haben“, antwortete er geheimnisvoll. „Vertrauen Sie mir, Sie werden es nicht bereuen.“

Der Weg zur Plaza de la Encarnación war nicht weit, sodass sie nicht lange auf die Folter gespannt wurde. Mit offenem Mund blieb sie vor dem seltsamen Bauwerk stehen, das sich vor ihr erhob. Hölzerne Waben bildeten eine riesige pilzartige, beigefarbene Form, die sich über den Platz spannte. „Ist das ein Denkmal? Ein Gebäude? Ein Gerüst?“

„Vielleicht ein bisschen von allem“, sagte Leonardo und dirigierte sie zum Aufzug. „Lassen Sie sich überraschen, wir fahren erst mal nach oben.“

„Wissen Sie mehr über dieses … dieses Ding?“, fragte sie neugierig. „Was bewegt eine Stadt dazu, so etwas aufzustellen?“

„Keine Ahnung, ich bin kein Städteplaner. Aber hier gab es früher einen großen Markt. Dann wollte man in den Achtzigerjahren ein Bürogebäude bauen und stieß beim Ausschachten der Fundamente auf historische Ruinen, sodass das Projekt gestoppt wurde. Inzwischen wurde daraus ein archäologisches Museum, und dafür musste man etwas darüber errichten. Diese Konstruktion ist das Ergebnis eines Wettbewerbs.“

„Ich weiß nicht, was der Architekt dafür am meisten brauchte“, meinte sie. „Fantasie? Wagemut? Oder Humor?“

„Humor brauchten in erster Linie die Stadtväter, die das bezahlen mussten. Ich erinnere mich noch, dass es darüber heftige Debatten gab.“

Der Lift hielt an, und sie traten hinaus auf die Aussichtsplattform. Mit Wohlgefallen registrierte Leo, wie Inez sich fasziniert an das Geländer lehnte und die Aussicht über die Stadt aufnahm. Einerseits bot sich ein fantastischer Ausblick auf das Panorama in alle Himmelsrichtungen, zum anderen konnte man auch einen Einblick in das Leben der Bewohner erhaschen, da man auf Balkone und Dachgärten schaute.

„Wow!“, rief sie aus. „Sie haben wirklich nicht zu viel versprochen. Und man kann einfach über diese ganzen Stege laufen?“

„Natürlich, dafür wurden sie angelegt. Heute haben wir besonderes Glück, weil es so sonnig und klar ist.“

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Voller Begeisterung spazierte sie los, so als dürfte sie keine Sekunde verlieren. Immer wieder blieb sie stehen und stellte ihn mit ihren Fragen auf die Probe. „Diese ganzen Türme … Was sehe ich da genau, Leo?“

„Das ist zunächst mal die Kirche San Salvador, und dahinter, etwas weiter links, sehen Sie die Giralda, den großen quadratischen Turm der Kathedrale. Dahinter wiederum versteckt sich der Alcázar, der Maurenpalast. Wenn Sie wollen, werden wir uns das in den nächsten Tagen alles genauer ansehen.“

„Natürlich will ich“, sagte sie, und er nahm wahr, wie gut es ihr stand, wenn ihre Augen leuchteten und endlich wieder ein wenig Farbe in ihr Gesicht trat. „Diese Stadt … ich will alles sehen, Leonardo. Endlich habe ich wieder das Gefühl von … ich weiß nicht, Normalität? So wie sich jeder durchschnittliche Tourist fühlt, wenn er etwas so Schönes zu sehen bekommt.“

Er verstand sie gut. Endlich war für sie ein Moment gekommen, in dem es nicht darum ging, was sie vergessen hatte – stattdessen machte sie neue Erfahrungen, die sie ganz offensichtlich genoss. „Ich werde Ihnen alles zeigen“, versprach er. „Aber nicht alles auf einmal. Lassen Sie es uns langsam angehen.“

Sie sollte sich ja erholen, das hatte Doktor Sabal noch einmal betont. Mit einer Gehirnerschütterung war nicht zu spaßen. Deshalb dirigierte er sie zunächst in die Wohnung zurück und sorgte am Abend dafür, dass sie nach einem leichten Abendessen in einer der umliegenden Tapas-Bars rechtzeitig wieder heimkamen.

Inez war spürbar in sich gekehrt. Sie durchquerte schweigend das Wohnzimmer, öffnete die Terrassentür und stellte sich an das Balkongeländer.

Leo folgte ihr und wartete eine Weile, während sie nachdenklich über die erleuchtete Altstadt blickte. Er ahnte, dass ihr eine Menge Fragen durch den Kopf gingen.

„Vielleicht war das alles ein bisschen viel heute“, sagte er leise. „Es tut mir leid, dass ich die ganze Geschichte direkt so intensiv aufgerollt habe. Ich würde Ihnen so gern helfen und weiß nicht, wie.“

„Sie müssen sich nicht entschuldigen, Leo. Es wird ja nicht besser, indem man nicht davon spricht.“

„Trotzdem muss man es nicht immer wieder aufrühren, denke ich. Kennen Sie die Redensart, dass Gras auch nicht schneller wächst, wenn man daran zieht?“

Sie lachte kurz auf. „Ja, ich weiß, was Sie meinen. Aber der Vergleich hinkt ein wenig, glaube ich. Auf jeden Fall kann ich nicht so einfach aufhören, darüber nachzudenken. Und mein Unterbewusstsein kann es wohl auch nicht, sonst würde ich nicht so schlecht schlafen.“

„Kann ich Ihnen denn irgendwas geben, das Sie besser schlafen lässt? Ein Glas Wein vielleicht?“

Sie überlegte kurz. „Eigentlich sollte ich mit meinen Medikamenten keinen Alkohol trinken … Aber ich glaube, gegen einen kleinen Schluck Rotwein wäre nichts einzuwenden.“

„Finde ich auch. Warten Sie kurz, ich glaube, ich habe genau das Richtige.“ Er ging in die Küche, holte den Tempranillo hervor und schenkte zwei Gläser ein. Als er zurückkam, hatte Inez sich bereits mit einer Wolldecke draußen niedergelassen, denn nach Sonnenuntergang war es zu dieser Jahreszeit doch noch recht frisch.

Sie nahm dankbar das Glas entgegen, schwenkte den Wein und schnupperte daran. „Aus dem Barrique?“, fragte sie, bevor sie einen Schluck nahm. Weil es recht dunkel war, konnte er ihren Gesichtsausdruck nur erahnen, aber sie wirkte zufrieden. „Ah, der hat wenig Tannine und ist nicht zu hoch im Alkohol, oder? Dreizehn Prozent vielleicht?“

„Zwölfeinhalb“, antwortete er überrascht. „Das ist offensichtlich nicht Ihr erster Rotwein, es klingt nach mehr Erfahrung.“

„Scheint so“, murmelte sie verwundert. „Aber vielleicht war das nur ein Zufallstreffer. Auf jeden Fall schmeckt er mir. Kommt er aus dieser Gegend?“

„Der wird von meiner Familie produziert.“

Ruckartig hob sie den Kopf und sah ihn mit großen Augen an. „Ihre Familie hat ein Weingut? Wie groß ist es?“

„Zehn Hektar vielleicht“, sagte er. „Aber es ist nur ein Teil des Betriebes. Der größte Anteil der Flächen wird anders bebaut.“

„Und Sie hatten keine Lust, Winzer zu werden?“

„So ist es.“ Er nickte. „Meine Familie ist nicht sehr glücklich darüber, aber in dem Punkt habe ich mich durchgesetzt. Ich wäre ein lausiger Winzer, und mit dem Gemüseanbau würde es auch nicht besser laufen.“

„Ja, dafür braucht es Herzblut“, stimmte sie ihm zu. „Und wenn man das nicht hat, muss man einen anderen Weg gehen.“

Er wollte sie schon fragen, ob sie sich auch persönlich mit dem Thema auskannte, bremste sich aber in letzter Minute. Sie sollte nicht schon wieder über Dinge nachgrübeln, die ihr Kummer bereiteten. Stattdessen beobachtete er sie eine Weile schweigend, während sie das Gesicht nach oben zum Sternenhimmel gewandt hatte.

„Stellen Sie sich vor, manche dieser Sterne existieren gar nicht mehr“, sagte sie plötzlich. „Aber ihr Licht ist immer noch unterwegs zu uns. Ist das nicht Wahnsinn?“

„Ich konnte mir das noch nie so recht vorstellen“, gestand er. „Ich konzentriere mich eher auf das, was direkt um mich herum ist.“

„Und das ist auch schon eine Menge“, räumte sie ein. „Jeder von uns ist doch nur wie ein Staubkorn innerhalb des großen Ganzen. Da fühlt man sich manchmal absolut unwichtig, nicht wahr?“

Ohne nachzudenken, streckte er die Hand aus und berührte ihr Haar. „Lass dich nicht von solchen Gedanken runterziehen, Inez. Du bist nicht unwichtig, glaub mir.“ Spontan beugte er sich zu ihr und küsste sie. Ihre Lippen waren warm und weich, und er spürte, wie überrascht sie war, bevor sie seinen Kuss erwiderte. Für einen Moment begegneten sich ihre Zungen voller Zärtlichkeit. Dann legte sie eine Hand auf seine Schulter und zog gleichzeitig ihren Kopf zurück.

„Das ist keine gute Idee, Leonardo.“

Verlegen schloss er für eine Sekunde die Augen. „Du hast recht. Es tut mir leid.“ Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Würde sie jetzt denken, er wollte die Situation ausnutzen? Hastig rückte er ein Stück zur Seite, um mehr Distanz zwischen ihnen zu schaffen. „Ich verspreche, es wird nicht wieder vorkommen.“

„Am besten, wir vergessen das einfach“, flüsterte sie. „Wir sollten es doch nicht noch komplizierter machen, als es ist, oder?“

„...

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