Romana Extra Band 143

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  • Erscheinungstag 17.02.2024
  • Bandnummer 143
  • ISBN / Artikelnummer 9783751523837
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Zoe Alba, Hana Sheik, Cara Colter

ROMANA EXTRA BAND 143

1. KAPITEL

London, Januar

„Du hättest ihn nicht bloßstellen dürfen. Die Opernwelt besitzt ihre eigenen ungeschriebenen Gesetze.“

„Ich weiß, mamma.“ Mariella Farday hob den Blick von ihrem Kaffeebecher. In der Miene ihrer Mutter spiegelte sich Sorge, aber auch Unverständnis. Hinter ihr an der Wand prangte das vergilbte Plakat einer Carmen-Inszenierung. Der einzige größere Auftritt, den Lucia Farday jemals gehabt hatte.

Einen Moment lang hing betretenes Schweigen zwischen ihnen. Ihre Mutter goss sich noch etwas Milch nach und rührte dann energisch in ihrem Becher.

„Nathan Dellaware ist immerhin der Intendant des Royal Opera House“, fuhr Lucia plötzlich fort, als ließe ihr das Thema einfach keine Ruhe. „Und damit ist er dein Vorgesetzter. Er war dein Vorgesetzter“, korrigierte sie sich hastig.

Und als meinen Chef darf ich ihn nicht darauf hinweisen, dass Untreue unsere Beziehung ruiniert? Mariella sprach den Gedanken nicht aus. „Ich weiß, mamma.“ Sie wiederholte sich, doch es war ihr egal. Sie hatte längst aufgegeben, mit ihrer Mutter darüber zu diskutieren. Deren Ansicht nach verzieh man einem großartigen Künstler wie Nathan Dellaware seine kleinen Affären. Mariella war da anderer Meinung.

Während Lucia weiter auf sie einredete, sah sie beiläufig die eingegangenen E-Mails auf ihrem Handy durch. Sie konnte die Absagen, die sie in den letzten drei Monaten erhalten hatte, kaum noch zählen. Die meisten davon hatte man ihr geschickt, ohne dass man sie zu einem persönlichen Treffen eingeladen hatte. Schnell schloss sie das Postfach wieder. Ihr Blick glitt zu dem kleinen Fenster der Küche. Schneeregen peitschte gegen die Fronten der gegenüberliegenden Reihenhäuser.

„Hörst du mir gar nicht zu?“

Die vorwurfsvoll klingende Stimme ihrer Mutter riss Mariella zurück in die Realität. „Doch, na klar.“

Lucia nickte nachsichtig und rührte energisch weiter in ihrer Kaffeetasse. Als Italienerin hatte sie sich nie an das Nationalgetränk der Briten gewöhnen können. Obwohl sie schon seit knapp dreißig Jahren in England lebte, gab es in ihrem Haushalt keinen einzigen Teebeutel.

„Vielleicht machst du etwas falsch bei den Bewerbungen?“

Mariella seufzte und schlang die Finger noch fester um den Becher. Die Wärme des Porzellans hatte etwas Tröstliches. Natürlich war ihr klar, dass es Engagements für Opernsängerinnen nicht wie Sand am Meer gab, dennoch hätte sie niemals damit gerechnet, dass sie drei Monate lang ohne Arbeit sein würde. Einen vierten Monat würde sie finanziell noch überbrücken können. Danach würde es eng werden. „Das ist nicht mein erstes Engagement. Ich weiß, wie so etwas abläuft. Und ich weiß auch, was im Moment passiert. Nathan ist ein einflussreicher Mann, und er hat geschworen, dass ich nie wieder einen Job bekommen werde.“

Sie hatte seine Worte für eine leere Drohung gehalten. Für etwas, das er im Streit gesagt hatte. Nicht im Traum hätte sie gedacht, dass er sie wahr machen könnte. So rachsüchtig kannte sie ihn gar nicht. In diesem Moment fragte sie sich, ob sie ihn trotz ihrer zweijährigen Beziehung jemals wirklich gekannt hatte. Erneut stieg Traurigkeit in ihr auf. Sie verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. „Nathan macht einfach nur sein Versprechen wahr.“ Zwei Jahre hatten sie Tisch und Bett geteilt, und jetzt ging ihr Ex-Freund nicht mal mehr ans Telefon, wenn sie ihn anrief.

„Ich habe dir gleich gesagt, du hättest niemals dieses Video machen dürfen.“

Mariella schluckte. Vorwürfe, mal wieder. Genau das, was sie jetzt gebrauchen konnte. „Ich habe Nathan und diese Praktikantin in flagranti erwischt. Obwohl er mir wochenlang geschworen hat, dass zwischen ihnen nichts läuft.“

Mittlerweile wusste sie, dass es falsch gewesen war, ein Video aufzunehmen, in dem sie die beiden zur Rede stellte, und es sofort in sämtlichen sozialen Medien hochzuladen. Aber sie hatte Nathan gerade einen Artikel in einem Blog zeigen wollen, eine wirklich tolle Kritik. Sie hatte also sein Büro betreten und in ihrer Aufregung vergessen zu klopfen. Ganz sicher hatte sie nicht damit gerechnet, ihn in einer kompromittierenden Situation zu überraschen. Natürlich war sie wütend gewesen und hatte dann einfach überreagiert – und auf die Aufnahmetaste ihres Handys gedrückt. Aber jeder machte mal Fehler.

Sie seufzte und sah ihre Mutter wieder an. „Außerdem war das Video nur ganz kurz online, ich habe es fast direkt nach dem Veröffentlichen wieder von der Plattform gelöscht. Und ich habe mich bei beiden entschuldigt. Aber Nathan ist derjenige, der keinen Strich unter diese ganze Sache ziehen will.“

„Er ist ein stolzer Mann, und du hast ihn blamiert.“ Der Blick ihrer Mutter war unnachgiebig, dann schob sie sich einen Keks in den Mund und kaute angestrengt darauf herum.

„Wir drehen uns im Kreis, mamma.“ Zeit, zu gehen. Sie liebte ihre Mutter von ganzem Herzen, aber seit dem Skandal schienen sie beide nicht mehr auf einer Wellenlänge zu sein. „Ich muss los.“ Mariella griff nach der Strickjacke, die sie über die Stuhllehne gehängt hatte, und schlüpfte hinein.

„Du willst jetzt schon gehen?“ Lucia klang enttäuscht.

„Ich muss Bewerbungen schreiben. Wenn ich nicht bald ein neues Engagement bekomme, werde ich kellnern gehen müssen.“

Ihre Mutter seufzte so dramatisch auf, als hätte ihre Tochter soeben verkündigt, dass sie unheilbar krank sei. „Sag so etwas nicht.“

„Das ist ein ehrbarer Beruf.“ Mariella bemühte sich, geduldig zu bleiben.

Lucia winkte ab. „Aber dafür hast du nicht vier Jahre am Konservatorium studiert. Dafür habe ich nicht jeden Penny umgedreht. Ich habe nicht zwei Jobs gehabt und …“

„Ich weiß, mamma“, unterbrach sie ihre Mutter nun doch scharf. Sie konnte die erneuten Vorwürfe einfach nicht mehr ertragen. Lucia hatte ebenfalls klassischen Gesang studiert. In ihrem vierten und letzten Jahr am Konservatorium war sie mit ihr schwanger geworden und hatte die Ausbildung zur Opernsängerin abbrechen müssen. Sie hatte Mariellas leiblichen Vater geheiratet und war zu Hause geblieben, um sich um das Baby zu kümmern. Anfangs hatte sie noch geplant, die Ausbildung fortzusetzen, wenn Mariella größer war. Doch dann ging die Ehe in die Brüche, und Lucia stand allein mit einem Kleinkind da. Ans Studieren war nun nicht mehr zu denken gewesen. Stattdessen hatte ihre Mutter jeden Job angenommen, der sich ihr bot, und ihren Lebenstraum aufgegeben. Mariellas Stimme wurde weicher, als sie daran dachte, wie sehr ihre Mutter von einer Karriere als Opernsängerin geträumt hatte. „Ich weiß, was du für mich getan hast. Aber im Moment geht es einfach nur darum, meine Miete zu zahlen. Geld für Lebensmittel zu haben und für meine Stromrechnung.“

Wortlos stand Lucia auf, griff nach der Wasserflasche auf der Arbeitsplatte und goss ihr ein Glas Wasser ein. Als sie es ihr lächelnd hinhielt, schämte Mariella sich fast für ihre harschen Worte von gerade. Ihre Mutter liebte sie, auch wenn sie manchmal nicht einer Meinung waren. Das durfte sie niemals vergessen.

„Danke dir.“ Mariella nahm drei Schlucke, und die kühle Flüssigkeit half, sich etwas zu beruhigen. Gerade als sie ihr Handy in ihre große Umhängetasche fallen lassen wollte, erschien die Mitteilung einer Jobbörse auf dem Display.

Schnell klickte sie die Nachricht an. Eine E-Mail öffnete sich, und Mariella überflog den Text. Sofort schlug ihr Herz schneller. „Das klingt gar nicht schlecht.“

„Zeig mal her.“ Ihre Mutter setzte sich wieder an den Küchentisch und angelte nach der filigranen Lesebrille, die ihr an einer schmalen Goldkette um den Hals hing.

Mariella reichte ihr das Handy. Trotz der Brille kniff ihre Mutter die Augen zusammen, als handelte es sich um einen schwer lesbaren Text. Sie saß sehr aufrecht, hielt die Schultern zurück, den Hals gerade, fast so, als stünde sie auf der Bühne. Ihr schwarzes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, und wie immer hatte sie es streng nach hinten frisiert. Obwohl sie das Haus heute nicht verlassen würde, war sie perfekt geschminkt. Ihre Nägel waren in einem Pastellrosa lackiert, ihre helle Bluse wies keine einzige Falte auf. Doch dieser makellose erste Eindruck täuschte. Ihre Mutter war krank. Vor zehn Jahren, im Alter von nur neununddreißig, war bei ihr COPD, eine unheilbare Lungenkrankheit, festgestellt worden. Diese führte immer wieder zu schweren Schüben, die ihren Allgemeinzustand verschlechterten und Lucia tagelang ans Haus fesselten.

„Sängerin gesucht“, murmelte sie. „Befristet auf einen Monat, Jubiläum des Kaufhauses, dreimal pro Tag Liebeslieder. Sonntags frei, kostenlose Unterbringung, Gage … oh.“ Sie riss die Augen auf und sah Mariella über den Rand ihrer Lesebrille hinweg an. „Das ist eine gute Bezahlung.“

Sie nickte und wollte gerade etwas erwidern, als ihre Mutter kritisch die Stirn runzelte. „Schottland?“, fragte Lucia dann, als würde das alles zunichtemachen. Sie beugte sich näher zum Display und kniff dann wieder die Augen zusammen. „In Keith.“ Sie sah wieder hoch zu Mariella. „Hast du jemals von einem Ort namens Keith gehört? Das klingt nach der tiefsten Provinz. Meinst du, es ist klug, dort ein Engagement anzunehmen?“

„Es scheint ein Urlaubsziel zu sein, denn laut der Mail sind Touristen die Hauptkundschaft des Kaufhauses.“

„Aber wie sieht ‚Liebeslieder singen in Keith‘ in deinem Lebenslauf aus? Man sollte immer daran denken, sich mit jedem Engagement zu verbessern.“

Mariella wusste, wie ehrgeizig ihre Mutter war, wenn es um die Karriere ihrer einzigen Tochter ging. Schon in frühester Kindheit hatte Lucia auf vieles verzichtet, um sie zum Gesangsunterricht zu schicken. Andere Dinge, für die Mariella sich interessierte, wurden konsequent ignoriert. Mariella wollte zum Ballettunterricht, zum Schwimmunterricht und später in einen Volleyballverein. Die meisten ihrer Wünsche wurden konsequent abgelehnt, andere nach langem Diskutieren akzeptiert, solange sie dem Gesangsunterricht nicht in die Quere kamen.

In ihrer Teenagerzeit hatte Mariella angefangen, sich fürs Kochen zu interessieren. Und sie hatte Talent gehabt. Ein Praktikum, das sie für die Schule machen musste, hatte sie in einem Restaurant absolviert. Später hatte der Chefkoch ihr angeboten, sie könne sofort nach ihrem Schulabschluss eine Lehrstelle bei ihm antreten. Mariella war überglücklich gewesen. Ihre Mutter hatte zunächst versucht, ihr alles auszureden. Danach war sie immer stiller geworden, wenn es um dieses Thema ging. Mariella hatte sich schlecht gefühlt, egoistisch und undankbar. Und weil ihr das Singen leichtfiel, hatte sie beschlossen, das Kochen nur zu einem Hobby zu machen. Seit Mariella die Aufnahmeprüfung am Konservatorium bestanden hatte, schien es für ihre Mutter nur noch den einen Lebensinhalt zu geben: Ihre Tochter würde den eigenen so lange gehegten Traum leben. Mariella würde die Karriere haben, die ihr immer versagt geblieben war.

„Aber mit dieser hohen Gage bin ich die nächsten drei Monate abgesichert.“

„Ich habe nicht auf alles verzichtet, damit du in einem Dorf namens Keith vor ein paar Leuten singst. Zur Not kannst du auch hier wieder einziehen, wenn dir das Geld ausgeht. Ich habe bisher jede finanzielle Notlage überwunden.“

Schon wieder ein Seitenhieb auf Mariellas scheinbare Unfähigkeit, ihr Leben und ihre Karriere wie eine Erwachsene zu organisieren. Sie musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Wieder zu Hause einziehen? Das war keine Option. Dafür hingen zu viele ungesagte Worte zwischen ihnen. Zu viele Zweifel, von denen Mariella ihrer Mutter nie erzählt hatte und die in letzter Zeit immer häufiger an ihr nagten. Nein, sie war einfach noch zu unsicher, zu sehr innerlich zerrissen durch die Frage, wessen Leben sie eigentlich leben wollte, wessen Traum sie nachjagte. Sie straffte die Schultern und sah ihre Mutter direkt an.

„Ich kann während meiner Zeit dort nach weiteren Engagements Ausschau halten. Es sind nur fünf Wochen. Die vergehen wie im Flug.“

Das schien Lucia endlich zu überzeugen. Sie seufzte dennoch, und ihr Mund wurde schmal. „Wie du meinst. Also wirst du dich dort bewerben?“

Mariella nickte, als ihre Mutter ihr das Handy zurückreichte. Plötzlich verspürte sie leichte Nervosität. Da war ein Kribbeln in ihrem Bauch, die Ahnung von etwas Neuem, einem Abenteuer, einer aufregenden Erfahrung. Die Aussicht auf ein wenig Abstand zu London, zu ihrer Mutter, zu ihrer Vergangenheit mit Nathan. „Ich fahre jetzt sofort nach Hause und maile ihnen meine Unterlagen.“

„Das ist nicht dein Ernst.“ Callum MacAndrew betrat das Büro seines Vaters mit langen Schritten.

Stuart MacAndrew, von seinen Angestellten liebevoll „der Patriarch“ genannt, lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. Dann verschränkte er die Arme über dem Bauch, wenig beeindruckt von dem Auftritt seines Sohnes. „Es war die Idee deiner Mutter.“

Callum musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Er war jetzt einunddreißig Jahre alt, hatte in Cambridge Wirtschaft studiert und schon mit fünfzehn Jahren Kartons im Lager dieses Kaufhauses gestapelt. Und er war überzeugt, dass er eine gute Vorstellung davon hatte, was es bedeutete, ein Unternehmen zu führen. „Mutter ist für die Schaufensterdekoration zuständig. Sie hat noch nie einen Blick in die Bücher geworfen.“

Stuart MacAndrew richtete sich wieder auf und stützte beide Unterarme auf die Tischplatte des wuchtigen Eichenschreibtisches. Wollte man seine Stellung in dieser Firma durch ein einziges Möbelstück demonstrieren, dann sagte dieses imposant gedrechselte Stück Holz alles aus. „Mein lieber Junge, wenn du irgendwann verheiratet bist, wirst du es verstehen.“

Callum ließ sich in einen der beiden Ledersessel vor dem Schreibtisch fallen. Er streckte die langen Beine aus und warf seinem Vater einen skeptischen Blick zu. „Ernsthaft? Das ist dein Argument, eine Opernsängerin aus London zu engagieren?“ Er fischte das gefaltete Blatt Papier aus seiner Hosentasche und klappte es auf. „Für diesen horrenden Betrag?“ Er warf seinem Vater die ausgedruckte E-Mail auf den Schreibtisch. „Hast du aus Versehen eine Null zu viel in die Anzeige geschrieben?“

„Das Mädchen muss doch von irgendetwas leben.“ Sein Vater klang, als sprächen sie über ein Taschengeld.

Callum atmete tief aus. Er würde heute Abend doppelt so lange laufen gehen müssen, um das ganze Adrenalin wieder loszuwerden. „Ich bin auch dafür, dass Künstler anständig bezahlt werden.“ Er sah seinen Vater ernst an. „Aber es geht hier darum, dass wir uns …“, er griff nach der ausgedruckten Mail und warf einen kurzen Blick darauf, „dass wir uns Ms. Mariella Farday im Moment nicht leisten können. Und auch keine andere Sängerin. Nicht mal eine der Damen aus dem örtlichen Chor. Wir haben kein Geld für so etwas, Jubiläum hin oder her. Wir müssen im nächsten Quartal schwarze Zahlen schreiben. Sonst geht es uns an den Kragen.“

Stuart MacAndrew schob einen goldenen Kugelschreiber über die lederne Schreibtischunterlage. „Wir haben bisher jeden Sturm überstanden. Du bist jetzt seit fünf Jahren in der Geschäftsführung an meiner Seite. Aber ich habe schon vor dir wichtige Entscheidungen getroffen, und das Wohl unserer sechzig Angestellten geht mir über alles. Wir können uns diese Sängerin leisten. Das Weihnachtsgeschäft war gut, und jetzt zum Frühjahr ist die Stadt voller Touristen, die …“

Callum zwang sich erneut zur Ruhe, während er seinem Vater zuhörte, und ließ den Blick durch das Büro schweifen. Früher hatten ihn die schweren tannengrünen Vorhänge und das viele dunkle Holz eingeschüchtert. Heute fiel ihm lediglich auf, dass sein Vater sich schon wieder einen neuen Laptop zugelegt hatte.

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Vater zu. „Verstehe ich das richtig, dass du Ms. Farday auf der Stelle engagiert hast?“

Stuart nickte und wirkte äußerst zufrieden. „Sie hat mich sofort überzeugt.“

Callum richtete sich ein wenig in dem Sessel auf. „Hast du ihre Referenzen überprüft? Warum hast du sie nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen? Wäre es nicht wichtig, sie wenigstens einmal live singen zu hören?“

„Die Gesangsproben in ihrer Bewerbung waren äußerst aussagekräftig. Was sollte ich da länger zögern?“ Etwas umständlich kramte er ein Handy aus einer Schublade hervor. Er tippte kurz auf dem Display herum. Augenblicklich erklang die Stimme einer Frau. Callum kannte sich nicht gut mit Opern aus. Er wusste nicht, aus welchem Werk das Lied stammte. Was er aber sofort erkannte, war, dass diese Frau eine außergewöhnliche Stimme besaß. Obwohl die Töne sehr hoch waren, klang ihre Stimme weich und samtig.

Callum schluckte, war immer noch ganz gefangen von der Melodie und nickte schließlich knapp. „Ich verstehe. Trotzdem wäre es ratsam, dass du ihre Referenzen noch überprüfst. Papier ist geduldig, Vater. Sie kann sich ihren gesamten Lebenslauf ausgedacht haben.“

Stuart lachte kurz auf. Dann schlug er mit der flachen Hand auf die Tischplatte, dass die Stifte auf dem Tisch nur so tanzten. „Und wenn schon, mein Junge! Das Mädchen singt wie eine Nachtigall. Die Leute werden etwas kaufen, nur um ihrem Gesang länger lauschen zu dürfen.“

In diesem Punkt gab Callum ihm durchaus recht, dennoch war er nicht komplett mit der eigenmächtigen Entscheidung versöhnt. „Ich weiß, wie wichtig das Jubiläum des Kaufhauses für dich und Mutter ist. Einhundertfünfzig Jahre sind schließlich eine sehr lange Zeit und etwas, auf das wir alle stolz sein können. Ich weiß, wie hart auch Granddad für den Erhalt dieses Familienbetriebs gearbeitet hat. Aber müssen wir wirklich einen ganzen Monat lang feiern? Reicht nicht auch ein Wochenende? Dann könnten wir die Kosten im Rahmen halten und …“

„Unsinn.“ Sein Vater winkte ab. „Das Jubiläum fällt in den Februar, und genau in diesem Monat ist auch der Valentinstag. Das Motto von MacAndrews lautet: ‚Wir lieben, was wir tun‘, und wenn das nicht perfekt zum Feiertag der Liebe passt, dann weiß ich es auch nicht.“

2. KAPITEL

Schottland

„Es tut mir wirklich leid, meine Liebe. Wir bemühen uns so schnell wie möglich um Ersatz, während Sie erst mal bei uns unterkommen.“

Das Ehepaar, das sich Mariella am Bahnhof als ihre Arbeitgeber Tilly und Stuart MacAndrew vorgestellt hatte, war wirklich sympathisch. Mrs. MacAndrew entschuldigte sich erneut, dass Mariella das vorgesehene Apartment aufgrund eines Rohrbruchs nicht beziehen konnte. Gerade ließ der silberne Bentley den Ortsausgang von Keith hinter sich, einer Kleinstadt im Gemeindegebiet Moray, das am Ufer des Flusses Isla lag. Idyllische Häuserfronten und gelb leuchtende Straßenlaternen wichen einer grünen Heidelandschaft, deren sanfte Hügel fast wie Wellen im Meer wirkten. Letzte Fetzen von hellem Blau leuchteten am Himmel gegen die heraufziehende Abenddämmerung.

Kaum, dass sie den Ort verlassen hatten, schienen die unendlichen Weiten der schottischen Landschaft in den letzten Sonnenstrahlen des Tages zu strahlen. Violette Blüten niedriger Bodendecker trotzten dem kalten Wind und leuchteten wie Farbpunkte in einem grünen Meer. In der Ferne meinte Mariella sogar das Glitzern eines Sees auszumachen. Den Straßenrand säumten Farne, deren Grün viel heller wirkte als das der Heide. Der Asphalt knirschte unter den Rädern des Autos, weil der sandige Boden der Heide bis auf die Straße geweht war.

„Bitte, das ist doch gar kein Problem. Und auf einer echten Burg habe ich noch nie gewohnt.“ Mariella beugte sich so weit auf der Rückbank vor, wie ihr Sicherheitsgurt es zuließ. „Ich bin sehr gespannt.“

„Ich werde Myrtle, unserer Köchin, Bescheid geben, dass sie Ihnen noch ein kleines Dinner bereitstellt.“

Mrs. MacAndrew zog ihr Handy aus der Handtasche und tippte auf das Display.

„Vielen Dank.“ Mariella ließ erneut den Blick schweifen, während die Burgherrin telefonierte.

„Das ist alles unser Land“, erklärte Stuart MacAndrew stolz. Er lächelte, als Mariella ihn im Rückspiegel betrachtete. Er sah wirklich aus, wie man sich einen schottischen Lord vorstellte. Unter dem Sakko aus schwerem dunkelgrünem Tweed, das er für die Fahrt abgelegt hatte, trug er eine Weste im Tartanmuster und dazu ein weißes Oberhemd und eine dunkle Stoffhose.

Als sie nach vorn durch die Windschutzscheibe spähte, erkannte sie am Ende der Zufahrt eine imposante Burg, die von Strahlern beleuchtet wurde. Der Anblick erinnerte sie an jene Bauwerke, mit denen Reiseveranstalter für einen Ausflug nach Schottland warben. Sie war nicht riesig, aber sie wurde von zwei beeindruckenden Türmen flankiert. Rechts und links schlossen sich niedrige Wirtschaftsgebäude an.

„Und schon sind wir da“, sagte Mr. MacAndrew, während er auf den Vorplatz fuhr, der mit hellen Kieseln ausgestreut war. In seiner Mitte befand sich ein gemauertes Blumenbeet, das aufgrund der Temperaturen nur spärlich bepflanzt war.

Der Anblick der Burg raubte Mariella den Atem. Sie fühlte sich fast wie in der Kulisse eines Films.

Die Rasenflächen, die die Auffahrt begrenzten, waren kurz geschnitten, und hier wuchs das robuste dunkle Heidegras, das so typisch war für diese Region. Die Blumenbeete nahe den Wirtschaftsgebäuden waren zu dieser Jahreszeit nicht bepflanzt und die kleinen Sträucher mit Jutesäcken gegen die Kälte isoliert.

Tilly MacAndrew war bereits zu dem beeindruckenden doppelflügeligen Eingangstor vorausgegangen. „Willkommen auf Burg MacAndrew, Mariella. Sie sind sicherlich erschöpft. Unsere Köchin hat schon frei, aber sie hat Ihnen etwas bereitgestellt. Also holen wir Ihr Abendessen, und dann zeige ich Ihnen als Erstes Ihr Zimmer.“

Mariella nickte. „Gerne, vielen Dank.“ Ein aufgeregtes Kribbeln durchlief sie, und sie war fast froh, dass ein Rohrbruch ihr geplantes Ferienapartment überschwemmt hatte. Auf dieser Burg zu wohnen, erschien ihr hundertmal interessanter.

Mitten in der Nacht wurde Mariella wach. Sie knipste die Nachttischlampe an, setzte sich im Bett auf und gähnte herzhaft. Die Matratze war herrlich bequem, die Kissen wunderbar weich, warum war sie aufgewacht?

Dann spürte sie, dass ihr Hals ganz trocken war und sie Durst hatte. Die MacAndrews hatten sie nach der Ankunft doch noch kurz in der Burg herumgeführt und ihr alles Wichtige gezeigt, ehe sie sich, müde von der Reise, verabschiedete. Zum Abendbrot, das sie in ihrem Zimmer einnahm, hatte man ihr einen Teller mit Barley-Suppe serviert, mit viel Karotten, Gerste und einem großzügigen Klecks Sauerrahm, die sie von innen herrlich aufgewärmt hatte. Außerdem einen großen Becher Darjeeling mit Milch und zum Nachtisch ein Stück Teekuchen mit Trockenfrüchten. Mariellas Blick glitt zu dem leeren Becher. Ein Glas Wasser wäre jetzt wunderbar, und Mrs. MacAndrew hatte ausdrücklich erwähnt, dass sie sich gerne noch etwas aus der Küche holen könnte, sollte sie nachts etwas benötigen.

Schnell schlüpfte sie in ihre rosafarbenen Pantoffeln aus Frotteestoff, auf deren Zehenbereich ein Hasengesicht gestickt war. Zur Krönung besaß jeder Schuh ein kleines Paar Ohren. Ihre Mutter hatte sie in einem Schlussverkauf für sie erstanden, und Mariella schwankte immer noch zwischen Faszination und Kopfschütteln, wenn sie hineinschlüpfte. Ihr Blick fiel auf ihr Spiegelbild. Hoffentlich würde sie niemandem begegnen. In den Hasenpantoffeln und dem hellblau und gelb karierten Pyjama sah sie aus, als wollte sie zu der Übernachtungsparty einer Zwölfjährigen.

Eine leichte Gänsehaut jagte ihre Arme hinab. Nachts schien die Fußbodenheizung ausgeschaltet zu sein und die Burg extrem auszukühlen. So konnte sie auf gar keinen Fall bis hinunter in die Küche gehen. Ob sie einen Mantel überziehen sollte? Sie riss den Schrank auf und sah grübelnd hinein. Schließlich entschied sie sich für einen grob gestrickten hellblauen Pullover, dessen Wolle sie garantiert warm halten würde. Wieder betrachtete sie sich prüfend im Spiegel. Oh ja. Sie hoffte wirklich, dass sie niemandem begegnete.

Leise öffnete sie die Tür ihres Zimmers und spähte in den Flur. Kleine Wandlampen erhellten den Gang. Sie trat hinaus und schloss die Tür fast geräuschlos. Dann lief sie den Flur hinunter, vorbei an einer Sammlung alter Ritterrüstungen, die ordentlich aufgereiht in dem langen Korridor standen. Zum Glück konnte sie sich erinnern, wie sie auf schnellstem Wege zur Küche kam.

An den Wänden hingen überall große Gemälde, einige von ihnen zeigten die Burg in früheren Jahrhunderten, auf anderen waren Vorfahren der MacAndrews porträtiert. Die Bilder wirkten im dämmrigen Mondlicht sogar noch imposanter. Sie beschleunigte ihre Schritte.

Morgen um Punkt 7:30 Uhr sollte sie zusammen mit dem Sohn der MacAndrews zum Kaufhaus fahren. Nervosität überkam sie. Sie hatte noch nie in einem Kaufhaus gesungen. Wie würde die Akustik dort sein? Wie die technische Ausstattung? Sie wusste bereits, dass die Musik vom Band kam, aber das würde kein Problem darstellen. Dennoch fragt sie sich, wo ihre Gesangsdarbietungen stattfinden würden. Sollte sie mitten zwischen den ausgestellten Waren singen? Oder würde es eine Bühne geben?

In diesem Moment wünschte sie sich, sie hätte bei ihrem Telefonat mit Stuart MacAndrew mehr Fragen gestellt, bevor sie erleichtert und glücklich über dieses Angebot sofort zugesagt hatte.

Lautlos huschte sie weiter durch die Gänge und die Treppe hinab. Die Porträts schienen sie mit stummen Blicken zu verfolgen.

Die Eingangshalle lag dunkel und still vor ihr. Neben dem Büro des Hausherrn und einem kleineren Salon für Gästebesuch schlossen sich verschiedene Räume an, in denen das Personal arbeitete. Ein Haushaltsraum, eine Vorratskammer, und schließlich erreichte sie die Küche. Mariella hörte ein Geräusch, aber sie war sich sicher, dass es der Wind war, der durch die Ritzen der Steine pfiff.

Auf der Schwelle blieb sie stehen, geblendet von dem Luxus, der sich ihr im Mondlicht offenbarte. Die Fronten der Schränke waren aus schwarzem Holz gefertigt, das auf Hochglanz poliert war. Hinter den Glasscheiben erkannte sie kostbar wirkendes Geschirr in den Farben Schwarz und Weiß. Das gesamte Porzellan schien derselben Serie zu entstammen, das Design aller Stücke war perfekt aufeinander abgestimmt. Sogar die zwei Becher, die auf der großen Kücheninsel standen, passten dazu.

Sie ließ den Blick schweifen und seufzte innerlich. In so einer Küche zu kochen musste wahrlich ein Erlebnis sein. Sie fühlte sich wie magisch angezogen von diesem Raum und spürte ein schmerzliches Ziehen in der Brust, das sich fast wie Sehnsucht anfühlte.

Plötzlich bewegte sich etwas in den Schatten. Vor Schreck stieß sie einen schrillen Ton aus, so hoch, dass sie sich sicher war, die Gläser in den Schränken klirren zu hören. Mit rasendem Herzschlag presste sie sich eine Hand auf die Brust, während der Schatten sich erneut bewegte, auf sie zutrat und im Mondschein zu der Silhouette eines Mannes wurde.

Mariellas Augen weiteten sich, als sie ihr Gegenüber betrachtete. Er trug nichts als eine dunkelgraue Jogginghose, die tief auf seinen Hüften saß. Seine Schultern waren breit, die Oberarme trainiert, und sein Sixpack wirkte im fahlen Mondlicht messerscharf konturiert. Über seinem Herzen prangte eine schwarze Tätowierung, doch sie konnte das Motiv nicht erkennen.

Die Art, wie er jetzt eine Augenbraue hob, wirkte arrogant und missbilligend zugleich. „Lassen Sie mich raten.“ Er stellte ein Glas neben sich auf der Arbeitsplatte ab. „Sie sind die Sängerin.“

Sein spöttischer Tonfall verriet, dass er ihre Gesangsqualitäten eindeutig infrage stellte.

„Mariella Farday“, brachte sie hervor, während sie schnell ein paar Schritte näher kam, ehe sie an der großen Kücheninsel abrupt anhielt. „Und ja, ich bin Sängerin. Ich bin heute Abend aus London angereist.“ Warum nur hatte keine höhere Macht ihre Bitte erhört, sich ungesehen in die Küche schleichen zu können? Das hier war so demütigend.

Er sieht aus wie ein Unterwäschemodel, und ich trage Hasen-Pantoffeln.

„Hm“, machte er, während er sie von oben bis unten musterte. Er verharrte bei den rosafarbenen Plüschohren ihrer Hausschuhe, wirkte kurz irritiert, dann glitt sein Blick zurück zu ihrem Gesicht. „Ich bin Callum MacAndrew.“

Mariella rang sich ein höfliches Lächeln ab. „Freut mich.“

„Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise?“

„Ja, vielen Dank. Der Flug von London aus war ruhig, und die anschließende Bahnfahrt durch die schottische Landschaft hat mir sehr gut gefallen.“

„Das freut mich.“

Es klang wie höflicher Small Talk. Ignorierte man den Umstand, dass er halb nackt und sie im Schlafanzug war, hätte sie sich gut ausmalen können, wie sie einander auf einer Cocktailparty vorgestellt wurden:

Das ist Callum MacAndrew, er verliert auf dem Weg zur Küche gern sein T-Shirt.

Und das ist Mariella Farday, die Welt kennt sie nur im Schlafanzug.

Sie ertappte ihn dabei, wie er erneut ihre Pantoffeln musterte. Statt wegzusehen, hob er den Blick und verengte ein wenig die Augen. „Wie alt sind Sie?“

Sie konnte ein kleines Schnauben nicht unterdrücken. „Mögen Sie keine Hasen?“

Er zog die Mundwinkel leicht nach hinten, was fast ein Lächeln hätte sein können. „Nur in Rotweinsauce.“

Ihr empörter Laut bewirkte ein kleines Wunder. Jetzt lächelte er tatsächlich. Mariella sah ihn fasziniert an. Seine Züge veränderten sich komplett. Der grüblerische Ausdruck rund um seine Augen, der strenge Zug um seinen Mund, die Unnahbarkeit, die ihn umgab, all das verschwand, als sich zwei Grübchen auf seinen Wangen bildeten.

„Dann ist es abgemacht. Morgen Abend gibt es Hasenbraten.“

Das konnte er unmöglich ernst meinen.

Seine Augen blitzten amüsiert. Er hatte sich einen Scherz erlaubt. Oder? In ihrem Kopf ratterten alle Zahnräder. Was sollte sie Schlagfertiges darauf antworten?

„Was führt Sie hierher?“

Sie war immer noch so in ihre Gedanken vertieft, dass ihre Zunge schneller war als ihr Gehirn. „Mich hat das Engagement gereizt. Obwohl ich hauptberuflich Opernsänger bin, singe ich auch gerne Chansons und …“

„In die Küche“, unterbrach er sie. „Was führt Sie in die Küche, Hase?“

Hase? Was erlaubte er sich?

„Ich hatte Durst. Ihre Mutter hat mir gestattet, in die Küche zu gehen, sollte ich noch etwas benötigen.“

Er nickte langsam. „Und wonach steht Ihnen der Sinn?“

Automatisch glitt ihr Blick von seinem attraktiven Gesicht zu seinem Sixpack hinab. Wonach ihr der Sinn stand? Wohl am besten nach einer eiskalten Dusche … Sie räusperte sich. „Wasser?“

Er runzelte die Stirn. „War das jetzt eine Frage oder …?“

„Nein. Ich meine, ich würde mir gerne ein Glas Wasser holen.“ Eigentlich eine ganze Flasche, aber gut, ihr Verstand war wohl immer noch auf Stand-by.

„Na dann bitte.“ Er vollführte eine halbe Drehung und öffnete den Küchenschrank hinter sich. Es waren genug Gläser für eine Großfamilie, und in alle schien ein Wappen eingraviert zu sein. Sein träges Grinsen verriet, dass er offenbar sehr genau wusste, was für einen Anblick er bot. „Bedienen Sie sich, Hase.“

Mariella biss sich auf die Unterlippe und zögerte, ehe sie loslief. Er hätte ihr einfach ein Glas anreichen können. Machte er das absichtlich?

Und richtig. Callum MacAndrew wich nämlich keinen Zentimeter zurück. Er hielt die Tür des Oberschranks auf und ließ sie nicht aus den Augen, als sie dicht neben ihn trat, um nach dem Glas zu angeln. Erst jetzt erkannte sie, dass seine Augen strahlend blau waren. Was für ein Kontrast zu den dunklen Haaren.

Mariella schaffte es, ein Glas zu greifen und einen kurzen Blick auf die Tätowierung zu werfen. Ein Wappen, das von einem keltischen Knoten umschlungen wurde. Interessant.

Sein Lächeln wurde breiter, als sie betont schnell zurückwich.

Mariella betrachtete das Glas kurz. Es war dasselbe Wappen, das Callum auf seiner Brust trug. Vermutlich also das Wappen der Familie MacAndrew. Sie deutete mit dem Kopf in Richtung des Spülbeckens, kaum dass sie die Kücheninsel wieder erreicht hatte.

„Kann ich das Wasser aus dem Hahn trinken?“

„Wir sind hier auf dem Land, nicht im Dschungel.“ Dann schien Callum sich einen Ruck zu geben. Er beugte sich zu einem Unterschrank und kam mit einer Glasflasche wieder hoch. „Aber das hier schmeckt besser.“

Highland Springs, las sie auf dem Etikett.

„Kann ich sonst noch was für Sie tun, Hase?“ Er spazierte lässig zur Kücheninsel und stellte die Flasche neben ihrem Glas ab.

Er war viel zu nah. Mariella schluckte. Nicht mal eine Armlänge entfernt. Das ging zwar als höflicher Mindestabstand durch, aber trotzdem. Sie schluckte. Vermutlich hatte sie noch nie einen so attraktiven Mann halb nackt vor der Nase gehabt. Ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, reckte sie übermütig das Kinn. Bei Männern wie Callum, mit einem Ego groß wie ein Hochhaus, war Angriff die beste Verteidigung. „Was können Sie mir denn anbieten?“

Er stutzte. Es waren Sekunden, die sie sehr genoss.

Schon hatte Callum sich wieder gefangen. Er stieß sich von der Kücheninsel ab und ging zum Kühlschrank, dessen Tür er schwungvoll aufriss. „Das sieht gut aus, Hase. Käse, Wurst, Früchte, Eintopf und Nachtisch. Sie haben die volle Auswahl.“

„Was empfehlen Sie mir, Mr. MacAndrew?“

Er drehte sich zu ihr um. „Callum. Mr. MacAndrew ist mein Vater.“

„Callum“, wiederholte sie.

Ihr Herz überschlug sich, als sein linker Mundwinkel kurz ein Lächeln andeutete, bevor er sich wieder dem Kühlschrank zuwandte. „Ich würde Ihnen ja das Cranachan empfehlen. Das ist ein schottischer Nachtisch mit Haferflocken und Whisky.“ Er drehte sich um und hielt eine Glasschale hoch, die mit roten Beeren und einer hellen Creme gefüllt war. „Aber aufgrund Ihrer Pantoffeln müsste ich einen Ausweis sehen, um sicherzugehen, dass Sie volljährig sind.“

Sie lachte laut auf, doch dann presste sie sich schnell die Hand auf den Mund, als ihr klar wurde, wie spät, oder besser gesagt, wie früh es war. Auf gar keinen Fall wollte sie jemanden aus dem Schlaf reißen.

Callum betrachtete sie kurz, und wieder zuckte sein Mundwinkel, bevor er einen silbernen Löffel aus einer Schublade zog.

„Danach schlafen Sie bestimmt gut.“ Er kam zu ihr herüber und reichte ihr die kleine Dessertschale.

„Das glaube ich auch.“ Eigentlich mochte sie Alkohol nicht sonderlich gern, aber auf diesen Nachtisch war sie definitiv neugierig.

Callum erwiderte nichts, und als sich eine seltsam aufgeladene Stille über sie beide senkte, griff Mariella schnell nach der Wasserflasche und klemmte sie sich unter den Arm. Der Typ beunruhigte sie. Er besaß diese lässige Oberschicht-Arroganz, die sie etwas nervös machte.

„Ich sollte mal wieder ins Bett verschwinden.“ Das Glas in die Rechte, das Dessert in die Linke, so sollte es gehen. Auf keinen Fall wollte sie sich noch weiter blamieren, indem sie etwas fallen ließ.

Callums Lächeln hatte etwas Raubtierhaftes, so als wüsste er, dass ihr überstürzter Abgang mehr eine Flucht war. „Finden Sie den Weg zurück?“ Seine tiefe Stimme schien von den Steinwänden widerzuhallen.

Eher würde Mariella sich dreimal verlaufen, als mit ihm durch die dunklen Flure zu schleichen. „Kein Problem.“ Ihre Stimme klang piepsig. „Danke für alles. Und gute Nacht.“

„Schlafen Sie gut.“

„Danke.“ Sie nickte ihm noch mal zu, dann wandte sie sich ab.

„Hase?“

Mariella schwang herum. „Hm?“

„Vergessen Sie unser Date nicht.“

„Wie bitte?“, hauchte sie. Ihr Herzschlag klopfte ihr laut in den Ohren.

Callum verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust. „Um Punkt halb acht treffen wir uns auf dem Vorplatz. Dann ist Abfahrt.“

„Ja, natürlich“, stieß sie hervor. „Ich bin pünktlich.“

Sein leises Lachen hallte hinter ihr her, als sie mit hastigen Schritten aus der Küche eilte.

3. KAPITEL

Callum hatte schlecht geschlafen.

Wahrscheinlich lag es an den wichtigen Telefonaten, die er heute führen musste. Und vermutlich auch an der Tatsache, dass er gestern zu lange gearbeitet, zu spät gegessen und sich stundenlang im Bett herumgewälzt hatte. Schon wieder würde er ein ernstes Gespräch mit seinem Vater führen müssen. Schon wieder würde es auf einen Machtkampf hinauslaufen, auf den Callum eigentlich keine Lust hatte. Sein Vater schien nicht bereit, die Zügel aus der Hand zu geben. Er betonte zwar immer wieder, wie froh er sei, seinem Sohn die Führung der Geschäfte mehr und mehr zu überlassen, dennoch traf er immer wieder Entscheidungen, ohne sie mit Callum abzusprechen. In dieser Hinsicht verhielt sich sein Vater manchmal wie ein störrisches Kind, das man ständig im Auge behalten musste.

Kein Wunder, dass mir keine Zeit für ein Privatleben bleibt, dachte Callum. Seine letzte Beziehung war drei Jahre her und daran zerbrochen, dass sie einfach zu weit auseinander wohnten. Isabelle und er hatten zusammen studiert. Sie hatte nach ihrem Abschluss einen Job in einer Beratungsfirma angetreten, er war nach Keith zurückgekehrt, um Vollzeit in den Familienbetrieb einzusteigen.

Auf seinen Geschäftsreisen traf er häufig Frauen in den Hotelbars, die, so wie er, einer leidenschaftlichen Nacht ohne Verbindlichkeiten nicht abgeneigt waren. Er lebte also nicht wie ein Mönch, richtig verliebt war er jedoch schon lange nicht mehr gewesen, obwohl er es manchmal bedauerte. Aber im Moment schien für eine Beziehung einfach kein Platz in seinem Leben zu sein.

Mit entschlossenen Schritten verließ Callum seine Privaträume und ging in Gedanken noch mal die Termine des Tages durch. Das Telefonat mit der Bank stand an erster Stelle. Wieder so eine Entscheidung seines Vaters, die sie vorher gemeinsam hätten besprechen müssen. Hier ging es um Geld, viel Geld. Geld, das sein Vater investieren wollte, ohne sich gründlich genug informiert zu haben. Geld, das als Rücklage diente, um ein weiteres schwaches Jahr überbrücken zu können. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Das war leichtsinnig. Was wusste ein gutgläubiger Kaufhausbesitzer aus der Provinz schon von Aktienoptionen?

Callum hingegen konnte da problemlos mitreden. Vielleicht war er kein Experte, aber für alle Details könnte er ehemalige Studienkollegen anrufen oder das Internet nutzen, um sich schlauzumachen. Sein Vater vertraute auf ein paar schmeichelnde Worte am Telefon und das Zauberwort „Gewinn“. Dabei hätte er einfach mit ihm reden können, sich beraten. Aber das hatte er nicht getan. Und es war nicht das erste Mal, dass sein Vater ihn überging. Callum hasste Streit, aber der ließ sich wohl wieder einmal nicht vermeiden. Sein Vater würde nichts einsehen, Callum ihm mangelndes Vertrauen vorwerfen. Sollte das jetzt ewig so weitergehen? Er hatte es satt. Er würde heute ein klärendes Gespräch mit seinem Vater führen. So konnte das nicht weitergehen. Aber zuerst wartete der Telefontermin mit dem Bankberater. Das Schlitzohr, das seinem Vater diese Aktienbeteiligung verkauft hatte, würde er sich mal so richtig vorknöpfen.

Callum eilte an den vielen Porträts seiner Ahnen vorbei, ohne ihnen einen Blick zu schenken. In Gedanken ging er seinen Terminkalender durch. Im Gegensatz zu seinem Vater fing er immer um Punkt acht an zu arbeiten. Er wusste aus Erfahrung, dass Geschäftskunden es schätzten, wenn man früh erreichbar war. Und er nahm seine Geschäftspartner sehr ernst. Diese Lieferanten waren genauso wichtig wie seine Kunden, die für seine Familie einen ebenso hohen Stellenwert besaßen.

Callum stieg die Treppe hinab und warf dabei einen Blick auf sein Handy. Fünf neue Mails, alle geschäftlich. Zwei Nachrichten bei WhatsApp. Eine von einem ehemaligen Studienkollegen. Es ging um Spenden für eine Stiftung. Das würde er sich in der Mittagspause genauer ansehen. Die zweite Nachricht war von Erin.

Der Whisky ist bereit, verkostet zu werden. Diese Woche abends mal Zeit für ein kleines Treffen?

Dazu ein Emoji mit Kussmund.

Er schob das Handy zurück in seine Jackentasche. Auch Erin würde er später antworten.

Aus der Küche hörte er geschäftiges Treiben. Die gute Myrtle schien bereits ganz in ihrem Element zu sein. Seine Eltern äußerten noch regelmäßig Bedauern, dass er einer morgendlichen Mahlzeit nichts abgewinnen konnte. Aber ihm war die Zeit morgens einfach zu schade. Er stand immer früh auf, ging lange joggen und machte sich dann fertig für die Arbeit. Ein Frühstück empfand er als Unterbrechung, die einen im besten Fall aus dem Zeitplan riss und ihn im schlimmsten Falle dank der vielen Kohlenhydrate wieder müde machte. Darauf konnte er gut verzichten.

Ob Mariella der Nachtisch geschmeckt hatte? In der vergangenen Nacht war er genervt gewesen, als er feststellte, dass in seinem eigenen Kühlschrank gähnende Leere herrschte und er deshalb noch in die große Küche ins Haupthaus gehen musste. Aber seit er sie dort getroffen hatte …

Verdammt, warum dachte er schon wieder an sie?

Callum knurrte ärgerlich, als er das Haus verließ. Er war bereits joggen gewesen, hatte geduscht und sich fürs Büro umgezogen. Jetzt war es höchste Zeit, seinen Wagen aus der Garage zu holen.

Um Punkt 7:30 Uhr rollte er damit auf den Vorplatz. Von der Dame keine Spur.

Künstler. Was hatte er auch erwartet? Heute hier ein Engagement, morgen da, was kümmerten einen Dinge wie Pünktlichkeit, wenn man nach fünf Wochen auf Nimmerwiedersehen verschwand.

Nimmerwiedersehen. Was an diesem Begriff störte ihn plötzlich?

Seine Laune sank noch weiter. Er trommelte auf das Lenkrad.

7:33 Uhr. Er stellte den Motor ab, stieg aus und lehnte sich an die Tür. Vermutlich wäre der Vortrag für die Operndiva eine gute Einstimmung auf sein Gespräch mit dem Witzbold von Bankberater, der seinen Vater über den Tisch gezogen hatte.

7:36 Uhr. Na endlich. Da war sie. Wie hübsch sie aussah in diesem verspielten Kleid, das ihre weichen Kurven weder verbarg noch betont zur Schau stellte. Dazu der Cardigan aus Wolle, die blickdichte Strumpfhose und die cognacfarbenen Stiefel aus Wildleder. Sie gefiel ihm besser, als ihm lieb war. Noch in der Eingangstür klemmte sie sich den Ordner zwischen die Knie, in dem er Notenblätter vermutete, und schlüpfte in ihren Steppmantel. Aus einer der großen Manteltaschen zog sie einen Schal, den sie sich hastig mit einer Hand umschlang, während sie in der anderen nun den Ordner hielt und auf ihn zueilte.

Callum räusperte sich, verbannte ihren hübschen Anblick aus seinem Kopf und warf einen demonstrativen Blick auf seine Uhr. „Sie sind zu spät.“

Mit einem solchen Aufgebot hätte Mariella nicht gerechnet. Sie war sich sicher, dass der Bentley gestern schon eine Extraklasse gewesen war, aber das … war das etwa ein Jaguar? Elegant, windschnittig, luxuriös. Das Auto sah aus, als hätte man es James Bond persönlich abgekauft. Und dazu Callum, der mit dem rabenschwarzen Haar und seiner lässigen, aber eleganten Kleidung im Tageslicht sogar noch attraktiver war als bei Mondschein. Er trug ein klassisches Hemd und perfekt sitzende Chinos. Dafür keine Jacke, doch die Februartemperaturen schienen ihm nichts auszumachen, er lehnte an der Fahrertür und hatte die Arme locker über der breiten Brust gekreuzt.

Richtig. Sie war zu spät. „Bitte entschuldigen Sie, Callum.“

Er winkte nur ab und öffnete ihr die Tür, um sie einsteigen zu lassen.

Schweigend machten sie sich auf den Weg.

Irgendwann kamen die ersten Häuser von Keith in Sicht, und Mariella reckte neugierig den Kopf. Bei ihrer Ankunft am vorigen Abend war es bereits dunkel geworden, und sie hatte nicht allzu viel erkennen können. Jetzt zeigte sich, dass Keith wirklich ein wunderschöner kleiner Ort war.

Die Häuser waren gepflegt, und die meisten Fronten in Weiß oder hellen Cremetönen gestrichen.

Sie passierten den Bahnhof, der den Ortskern markierte und an dem schon reges Treiben herrschte. Menschen zogen Koffer über das Kopfsteinpflaster des kleinen Vorplatzes. Ein Bus hielt gerade direkt vor dem Eingang. In der Ferne hörte sie die quietschenden Bremsen eines Zugs.

Sie hatten gerade das Zentrum von Keith passiert, da bog Callum nach links ab und fuhr auf einen Parkplatz, der direkt an ein großes Gebäude anschloss. Auch dieses war aus rohem Stein erbaut und erinnerte sie ein wenig an die Burg, in der sie nun wohnte. Das Gebäude war zwei Stockwerke hoch, und ganz oben prangte der kupferne Schriftzug MacAndrews – Tradition seit 1869.

Callum parkte den Wagen auf einem der zwei Stellplätze ganz links, auf denen je ein großes Reserviert aufgemalt war.

Sobald sie hielten, klappte Mariella ihren Ordner zu und schnallte sich ab. Callum war zügig ausgestiegen und kam um den Wagen herum, um ihr die Tür zu öffnen.

„Danke“, murmelte sie. Als ihre Blicke sich trafen, sah sie, wie er knapp lächelte, sein Gesichtsausdruck jedoch sofort wieder ernst wurde.

Er schloss die Tür hinter ihr. „Normalerweise würde ich den Eingang für die Lieferanten und das Personal nehmen.“ Mit einer Hand deutete er auf ein unauffälliges weißes Schild, das an der Hauswand angebracht worden war. Darauf war ein Pfeil gedruckt, der nach links zeigte, dazu der Hinweis Lieferanteneingang. „Aber da dies Ihr erster Tag ist, sollten wir den Haupteingang nehmen. Es ist ein besserer erster Eindruck, als direkt zwischen gestapelten Kartons und Kleiderstangen hindurchzulaufen.“

Mariella war durch seine Art so verunsichert, dass ihre Antwort äußerst knapp ausfiel. „Gern.“

Sie spürte, wie er sie kurz musterte, doch dann wandte er sich um und ging voraus. Mit klopfendem Herzen folgte sie ihm, gespannt auf ihren neuen Arbeitsplatz und das Kaufhaus, das seit so vielen Jahren im Besitz der Familie war. Sie holte ein Stückchen zu ihm auf, traute sich aber nicht, neben ihm zu laufen. Auf keinen Fall wollte sie zu vertraut mit ihm wirken. Schließlich wollte sie nicht direkt an ihrem ersten Arbeitstag Getuschel riskieren. Sie wusste, wie viel das anrichten konnte. Schon lange bevor sie mit Nathan zusammengekommen war, hatte es Gerüchte gegeben, dass der Intendant mit einer viel jüngeren Sängerin anbandelte. Und als sie dann zusammen gewesen waren, waren die Gerüchte sogar noch schlimmer geworden. Angeblich sei sie nur mit ihm zusammen, um ihre Karriere voranzutreiben. Angeblich sei er nur mit ihr zusammen, um seine Ex-Frau zu vergessen.

Schrecklich. Mariella straffte die Schultern, verdrängte die Erinnerungen und sah sich ein wenig um. Der Parkplatz war praktisch leer. Außer Callums Auto entdeckte sie nur noch einen Kleinwagen, der nahe der Straße stand. Jetzt, da sie den Gehweg fast erreicht hatten, glitt ihr Blick zur gegenüberliegenden Straßenseite. Dort erstreckte sich ein Schmuckgeschäft mit zwei großen Ladenfronten. Das Wort Sgeadaich prangte in elegant geschwungenen silbernen Lettern über dem Eingang. In der Auslage befanden sich Büsten aus Stein, an denen der hauptsächlich aus Silber zu bestehende Schmuck dekoriert war. Überall funkelte und blitzte es, was vermutlich auch an den hellen Leuchten und dem nachtblauen Stoff lag, auf dem die Stücke dekoriert waren.

Mariella merkte erst, dass sie fasziniert stehen geblieben war, als Callum sich zu ihrem linken Ohr beugte.

„Sie haben zwei Minuten.“ Er deutete mit dem Kopf über die Straße. „Bei Ihrem sehnsüchtigen Blick wird ja jeder schwach.“

Ach ja? Ihr Herz überschlug sich. Ihr Blick machte etwas mit ihm? Oder zeigte der Zucker des Bonbons, den er gerade lutschte, endlich Wirkung gegen seine miese Laune? Egal. Sie lächelte ihn charmant an. „Vielen Dank, Chef.“

Callums dunkles Lachen klang amüsiert, als er ihr zur Bordsteinkante folgte.

„Was bedeutet der Name?“ Sie zeigte auf den Schriftzug über dem Ladeneingang, während sie die Straße überquerten.

„Sgeadaich?“ Das Wort rollte mühelos von seiner Zunge. „Es ist Gälisch und bedeutet ‚sich zu schmücken‘.“

Mariella sah Callum interessiert von der Seite an. „Sie sprechen Gälisch?“

Er nickte. „Viele der Älteren sprechen es noch, und auf dem Land ist es allgemein noch mehr verbreitet als in den großen Städten.“

„Faszinierend.“

Callum wirkte fast verlegen über dieses Kompliment. Er senkte schnell den Blick und sah auf seine Armbanduhr. „Noch eine Minute.“

Mariella seufzte auf, als sie sich der Auslage zuwandte. Wie hübsch alles war! Hier gab es Broschen mit Disteln, der Nationalblume Schottlands. Armreife in verschiedenen Breiten und Ausführungen, manche sogar mit Edelsteinen besetzt. Dann noch wunderschöne Ringe, manche ganz schlicht, aber kunstvoll mit Knotenmuster verziert. Sie deutete auf einen Armreif mit einem Schriftzug, der weit vorn im Schaufenster lag. „Was steht darauf?“

„Chan fhaic gràdh lochd“, sagte Callum leise. „Die Liebe sieht keine Fehler.“

„Wie wunderschön“, flüsterte Mariella und tippte mit ihren Fingern zart an das Glas, dort wo der Reif lag.

„Das finde ich auch.“ Callums Stimme klang plötzlich belegt.

Sie drehte den Kopf ein wenig in seine Richtung. Sie standen unbewusst so nah nebeneinander, dass sie sich fast berührten. Doch es kam ihr nicht aufdringlich vor, sondern … richtig. Seine Nähe gefiel ihr. Und es klang unglaublich schön, wenn er mit dieser sanften Stimme Gälisch sprach.

Auch Callum drehte jetzt den Kopf. „Es ist …“

„Ja, wer ist denn das?“ Die Stimme ließ sie auseinanderfahren.

„Guten Morgen!“ Ein Mann, der eine dicke braune Lederschürze trug, kam aus dem Laden. Sein wirres dunkelgraues Haar stand in allen Richtungen von seinem Kopf ab, und gerade schob er ein Poliertuch in die breite Tasche seiner Schürze. Ein Labrador mit ergrauten Schnauzhaaren trottete schwanzwedelnd hinter ihm her. „Callum, meine Junge, was für eine Freude. Wir haben uns lange nicht gesehen.“

„Hallo, Jack.“ Die Männer schüttelten einander die Hände.

Der Ladenbesitzer musste schon fast siebzig sein, doch seine vitale Ausstrahlung und seine blitzenden Augen ließen ihn deutlich jünger wirken.

Jetzt wandte Callum sich an Mariella. „Das ist Jack Galbraith, seines Zeichens Juwelier und Goldschmied. Ihm gehört der Laden. Jack, das ist Mariella Farday. Sie ist Sängerin aus London und wird unsere Kunden während unseres Jubiläumsmonats mit ihrer lieblichen Stimme unterhalten.“

„Sehr erfreut, Ms. Farday.“ Er schüttelte ihr freundlich die Hand.

„Mariella bitte“, sagte sie schnell.

Jacks Gesicht zeigte Hunderte kleiner Falten, als er breit lächelte. „Sehr gerne, dann bin ich Jack.“ Er ließ ihre Hand los und deutete auf den Hund. „Der alte Junge ist Marlay. Keine Angst, er ist ein ganz Lieber.“

Sie beugte sich zu Marlay und kraulte ihn unter dem Kinn. „Hallo du Hübscher.“ Marlay wedelte erneut freudig.

Als Mariella sich wieder aufrichtete, zeigte Jack mit großer Geste ins Innere seines Ladens. „Kommt herein, seht euch um. Ich zeige euch auch gerne Stücke, die noch nicht in der Auslage liegen.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Vielleicht ein kleines Andenken? Eine Brosche oder vielleicht einen Armreif?“ Dann sah er zu Callum. „Und falls du mal einen hübschen Ring für Erin brauchst …“ Schon wieder ein verschwörerisches Zwinkern. „… für einen besonderen Anlass?“

Jacks Worte schienen einen Moment lang schwer zwischen ihnen zu hängen, bis Callum lachte. Es klang verdächtig aufgesetzt. Plötzlich schien er es eilig zu haben. „Danke, Jack. Vielleicht ein anderes Mal. Mariella, wir müssen los. Ich habe einen Termin.“

Erin? Mariella stutzte, zwang sich dann aber schnell zu einem höflichen Lächeln in Richtung Jack. „Einen schönen Tag, Jack. Bye, Marlay. Ich komme Sie beide bestimmt mal besuchen.“

„Das wäre schön, Mariella. Auf Wiedersehen, Callum!“ Auch Jack wirkte etwas überrumpelt, zumal Callum sich bereits einige Schritte entfernt hatte.

Sie holte rasch zu ihm auf, und zusammen überquerten sie die Straße. Für den imposanten Eingang von MacAndrews hatte sie im Moment keinen Blick, denn sie war ganz von ihren eigenen Gedanken eingenommen. Wer ist Erin?

4. KAPITEL

Das Kaufhaus hatte noch nicht geöffnet. Callum entriegelte ein Schloss und schob eine der Glastüren zur Seite. Er ließ Mariella eintreten, dann versperrte er die Tür wieder hinter ihnen. Mariella sah sich staunend um. Das Kaufhaus war von innen viel größer als erwartet. Alles wirkte sehr edel und gediegen, dafür, dass sich das MacAndrews mitten in einer Kleinstadt befand. Direkt im Eingangsbereich erwarteten die Kundschaft mehrere Tische und Ständer, die Kleidungsstücke und Accessoires präsentierten. Sie alle waren in demselben Tartanmuster gefertigt.

Callum hatte in der Zwischenzeit alle Lichter angeknipst. Mariella hob einen der Schals hoch und faltete ihn auseinander. Die Wolle war herrlich weich, und das Muster gefiel ihr wirklich gut. „Das ist das Muster des MacAndrew-Clans.“ Callum stand plötzlich neben ihr. „Es ist seit vier Jahrhunderten unverändert.“

„Wirklich bezaubernd.“ Nochmals strich sie über den Schal, dann faltete sie ihn und legte ihn zurück. „Für das Schmuddelwetter in London gerade richtig. Gibt es diese quadratischen Tücher auch mit einem Loch darin?“

Callum sah sie ratlos an. „Einem Loch?“

„Ja“, erwiderte Mariella. „Wie ein Poncho.“

„Wir sind hier in den Highlands und nicht in Südamerika.“ Er schien mit einem Lächeln zu kämpfen. „Ich fürchte, so etwas hat unsere Weberei nicht im Angebot.“

„Na gut.“ Mariella wollte nicht mit ihm diskutieren.

„Kommen Sie.“ Er führte sie weiter durch das Kaufhaus.

Hier gab es die typischen Dinge, die Touristen kaufen würden. Aufkleber und Buttons, Postkarten und Poster, Briefpapier, Kugelschreiber, Briefbeschwerer und sogar Bettwäsche – alles mit dem Thema Schottland. Entzückt betrachtete sie eine Auswahl kleiner Schaffiguren, die sich in einem Regal aneinanderreihten.

„Für Ihren Auftritt bauen wir übrigens zwischen den Accessoires und der Feinkostabteilung eine kleine Bühne auf.“ Callum deutete diffus hinter sich. „Die Handwerker haben übermorgen den Termin. Nur, dass Sie Bescheid wissen. Die Soundanlage wird dann installiert. Ich weiß nicht, wie lange das dauert, denn wir haben ja ganz normal geöffnet. Aber wenn alles nach Plan verläuft, dann können Sie am Abend vor Ihrem ersten Auftritt einen Soundcheck machen. Die Dekoration wird in der Nacht auf den 1. Februar angebracht, dafür haben wir eine Fachfirma engagiert.“

„Wie schön.“ Mariella lächelte ihn an. Es gefiel ihr, wie gut alles organisiert war.

„Ich zeige Ihnen mal, wo Sie proben können.“ Callum deutete nach links.

Sie nickte euphorisch. „Wunderbar. Ich bin schon sehr gespannt.“

Er ging voraus und führte sie durch einen Teil des Geschäfts, der eher für die Einwohner der Stadt gedacht zu sein schien. Hier gab es allerlei für den täglichen Bedarf. Bettwäsche, Kurzwaren, eine Abteilung mit Geschirr und Töpfen, eine große Wand mit Büchern und eine Drogerieabteilung. Im hinteren Teil des Geschäftsbereichs öffnete er eine breite Doppeltür, und sie betraten die angrenzenden Lagerräume. Callum deutete auf eine große graue Tür am Ende des Ganges. „Dort ist der Lieferanteneingang, den auch das Personal benutzt. Bitte verwenden Sie in Zukunft diesen Eingang.“

„Natürlich“, sagte Mariella schnell, während sie sich verstohlen umsah. Die Lagerräume wirkten sehr sauber und aufgeräumt. Insgesamt machte das Kaufhaus einen hervorragenden Eindruck. Einer der Räume schien extra nur für sie leergeräumt worden zu sein. Jemand hatte Garderobe auf ein DIN-A4-Blatt gekritzelt und es an die Tür gehängt.

„Das ist Ihr Bereich“, verkündete Callum, als sie den Raum betraten. Er zog den Schlüssel ab, der in der Tür steckte, und reichte ihn ihr. „Sie können das Zimmer abschließen, wenn Sie es verlassen, so wissen Sie Ihre Wertsachen immer in Sicherheit.“

Mariella nahm den Schlüssel entgegen. „Vielen Dank.“ Mit so viel Komfort hatte sie gar nicht gerechnet. Eher mit einem Schließfach im Aufenthaltsraum der Mitarbeiter und einer Ecke in einem der Lagerräume, in der sie bei schlechtem Licht ihre Texte üben konnte. Aber das hier war Luxus.

Sie sah sich noch weiter in dem Zimmer um. Eine leere Kleiderstange stand dort, und vor einer Wand befand sich eine gemütlich aussehende Couch mit einem niedrigen Tisch.

„Der Aufenthaltsraum und die Toiletten der Mitarbeiter sind den Gang hinunter auf der linken Seite. Es ist alles ausgeschildert, Sie können es kaum verfehlen“, erklärte Callum. „Wir haben außerdem eine kleine Kantine. Dort gibt es Lunch. Nachmittags werden Kuchen und Gebäck serviert. Wir halten die Preise extra niedrig, aber die Auswahl ist eben auch klein. Es gibt nur ein Gericht mit Fleisch oder Fisch und ein vegetarisches Angebot. Ich hoffe, das sagt Ihnen zu.“

Mariella war immer noch völlig überwältigt. „Das ist wunderbar. Alles hier ist so schön.“ Das meinte sie vollkommen ernst. Man hatte sich wirklich Mühe gegeben, ihr eine angenehme Umgebung zu schaffen, in der sie sich zwischen ihren Auftritten zurückziehen konnte, wenn sie das wollte. Sie lächelte Callum an. „Vielen Dank.“

Er lächelte nur knapp zurück und winkte ab. „Es freut mich, dass alles zu Ihrer Zufriedenheit ist“, erwiderte er etwas steif.

Dann schien ihm etwas einzufallen. Er suchte in seiner Hosentasche und zog einen schmalen grauen Schlüssel hervor. „Der ist für den Lieferanteneingang. Sie bekommen ihn für die Dauer Ihres Engagements, damit Sie flexibel sind. Sie können morgens mit mir hierherfahren, und ich nehme Sie abends auch wieder mit zurück. Wenn Sie in der Zwischenzeit mobil sein möchten oder die Zeit zwischen Ihren Auftritten auf der Burg verbringen möchten, dann …“ Er ließ Mariella auf den Flur treten und ging voraus. Zwei Räume weiter befand sich eine Art Lager. Mehrere Fahrräder lehnten in einer Ecke an der Wand. „Dann können Sie sich hier ein Fahrrad leihen. Die Wege innerhalb von Keith sind nicht weit, aber bis zur Burg sind es etwas über drei Kilometer.“ Er deutete erneut auf die Fahrräder. „Suchen Sie sich einfach eins aus, sie gehören niemandem.“

„Danke schön“, sagte Mariella und war erneut überrascht, wie unkompliziert alles zu sein schien. Es war ungewöhnlich, dass sie in der Zeit zwischen den Auftritten nicht anwesend sein musste, sondern in ihre Bleibe zurückkehren durfte. Das war wirklich großzügig. Normalweise nutzte sie die E-Book-Flatrate auf ihrem E-Reader, um die Wartezeit zwischen den Auftritten in der Garderobe zu überbrücken.

„Dann zeige ich Ihnen zum guten Schluss noch, wie man das Schloss der Tür öffnet.“ Er deutete auf den Lieferanteneingang. „Es ist ein wenig speziell, und man braucht etwas Übung.“

„Ja, gern“, erwiderte Mariella. „Sehr nett von Ihnen, dass Sie sich die Zeit dafür nehmen.“

Sie betrachtete Callum, während er wieder vorausging. Langsam ließ sie den Blick über seine breiten Schultern hinauf zu seinem dichten schwarzen Haar gleiten. Sie hatte bei diesem Engagement mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass sie auf einen Mann treffen würde, der ihr so gut gefiel. Leider nur schien Callum das keineswegs zu erwidern. Nachts in der Küche hatte sie den Eindruck gehabt, er hätte ein wenig mit ihr geflirtet. Doch seit ihrer gemeinsamen Autofahrt am Morgen war er nur geschäftsmäßig und höflich.

Nun erwartete er sie bereits in der geöffneten Tür. Er zog seinen Schlüsselbund hervor und warf die Tür dann schwungvoll zu. „Hinschauen und aufpassen“, sagte er und zwinkerte verschwörerisch.

Sie war überrascht. Diese Geste wirkte deutlich weniger geschäftsmäßig.

Er steckte den Schlüssel in die Tür, ruckelte ein paarmal hin und her, zog dann den Türknauf nach oben und stieß die Tür auf.

„Jetzt versuchen Sie es mal.“ Er schloss die Tür, zog seinen Schlüssel ab und deutete auf sie. Mariella bewegte den Schlüssel im Schloss, so wie sie es bei Callum gesehen hatte. Dann zog sie am Knauf und stieß sich prompt das Knie an der Tür, die sich keinen Zentimeter bewegte.

„Ich versuche es noch mal“, sagte sie schnell. Verflixt, jetzt konzentriere dich. Du bist ein schlaues Mädchen. Dieser Mann hinter dir macht dich nervös, aber du wirst dich nicht noch einmal blamieren.

Rütteln, Knauf hochziehen, Knie und Schlüssel nach rechts drehen.

Die Tür öffnete sich lautlos.

Mariella juchzte auf und drehte sich strahlend zu ihm um.

„Gut gemacht, Hase“, sagte er und hielt ihr die Hand zum High Five hin.

Sie lachte und schlug ein. „Es hat geklappt.“

Er lachte ebenfalls. „Es hat geklappt. Und es war doch gar nicht …“

„Einen wunderschönen guten Morgen“, erklang eine Stimme vom Parkplatz hinter ihnen. Eine großgewachsene, schlanke Rothaarige spazierte mit wiegenden Hüften auf sie zu. Sie trug einen Mantel, der dermaßen auf Figur saß, dass Mariella sich fragte, ob sie sich jeden Morgen darin einnähen ließ. Sie selbst sah in ihrem Steppmantel immer ein bisschen aus wie ein Michelin-Männchen. Doch diese atemberaubende Frau wirkte in dem Wintermantel wie ein Topmodel.

„Was ist denn hier los?“, fragte sie und sah nur Callum an.

„Guten Morgen.“ Callums Stimme klang freundlich. Aber er überging die Frage der Rothaarigen, was Mariella gefiel. Es bestand schließlich kein Grund, sich zu rechtfertigen.

Dann drehte er sich zu ihr. „M...

Autor

Hana Sheik
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Cara Colter
<p>Cara Colter hat Journalismus studiert und lebt in Britisch Columbia, im Westen Kanadas. Sie und ihr Ehemann Rob teilen ihr ausgedehntes Grundstück mit elf Pferden. Sie haben drei erwachsene Kinder und einen Enkel. Cara Colter liest und gärtnert gern, aber am liebsten erkundet die begeisterte Reiterin auf ihrer gescheckten Stute...
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