Romana Extra Band 145

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  • Erscheinungstag 13.04.2024
  • Bandnummer 145
  • ISBN / Artikelnummer 9783751523851
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Rona Wickstead, Maya Blake, Becky Wicks

ROMANA EXTRA BAND 145

1. KAPITEL

Für ein paar Sekunden zögerte Janine mit dem Aussteigen. Vermutlich waren die Zimmer in dem kleinen Hotel, vor dem sie ihren Dacia geparkt hatte, ziemlich teuer, denn das Haus wirkte sehr gediegen. Die Fachwerkfassade mit den Blumenkästen vor den Fenstern schien historisch zu sein, und schon der Parkplatz machte einen gepflegten Eindruck.

Aber im Grunde hatte sie keine Wahl. Der Polizist in seiner gelb reflektierenden Warnweste hatte ihr vorhin eindeutig erklärt, dass die Hauptstraße in Richtung Rouen wegen des Starkregens überschwemmt war und er befürchtete, auch über die Ausweichrouten werde es kein Durchkommen geben. „Übernachten Sie lieber, bevor Sie irgendwann unfreiwillig feststecken“, hatte er ihr geraten.

Und so stand sie nun hier, während der Regen erbarmungslos auf ihren Kombi prasselte. Noch einmal atmete sie tief durch, ehe sie sich mühsam in ihre Regenjacke kämpfte. Der Sturm erlaubte ihr kaum, die Fahrertür zu öffnen, und schon auf den wenigen Metern bis zum Eingang wurde ihr dunkles, lockiges Haar nass, weil er ihr die Kapuze vom Kopf riss.

Der Empfangschef lächelte ihr mitleidig entgegen. „Ein schreckliches Wetter, nicht wahr, Madame?“

„Das kann man wohl sagen“, antwortete Janine. „Die Route Nationale nach Rouen ist blockiert. Ich hoffe, Sie haben ein Zimmer für mich?“

„Sie haben Glück, Madame. Die Alabaster-Suite ist noch frei. Für vierhundertachtzig Euro, einschließlich Frühstück.“

„Die Alabaster-Suite?“, wiederholte Janine verzagt. Bezahlten Leute tatsächlich so viel für eine Übernachtung? Für das Geld bekam sie fast eine Woche Pauschalurlaub für die Nebensaison in der Türkei.

Es ging hier allerdings nicht um Urlaub, sondern um das Projekt, das sie morgen antreten sollte. Das Projekt, das ihr als freiberuflicher Fotografin eine anständige Provision einbringen und gleichzeitig das Auktionshaus überzeugen würde, ihr weitere Aufträge zu erteilen. Es hatte keinen Sinn, wieder zurückzufahren – möglicherweise waren die Straßen inzwischen auch in Richtung Brüssel unpassierbar. Zudem öffnete sich die Eingangstür hinter ihr, um einen weiteren Gast einzulassen, der sich neben ihr am Tresen aufbaute.

„Etwas, äh … Kleineres … haben Sie vermutlich nicht?“, fragte sie trotzdem.

Der Empfangschef schüttelte bedauernd den Kopf. „Es ist unser letztes freies Zimmer, Madame.“

„Wenn Sie es nicht wollen, nehme ich es“, mischte sich der Mann neben ihr ein.

Irritiert wandte sie sich zu ihm. Für einen Moment verschlug es ihr den Atem, denn sie schaute in strahlend blaue Augen in einem klassisch ebenmäßigen Gesicht, das leider die Art von arrogantem Lächeln aufwies, die sie nur zu gut kannte. Warum musste dieser große, dunkelhaarige Fremde sie so sehr an den Mann erinnern, der ihr erst vor Kurzem das Herz gebrochen hatte? Warum schlug ihr Herz bei seinem Anblick schneller, obwohl er genau der Typ „reicher Playboy“ war, vor dem sie sich in Acht nehmen sollte?

Er trug eine Barbour-Jacke, für die er vermutlich ein Mehrfaches einer Übernachtung in der Alabaster-Suite bezahlt hatte, und an seinem Handgelenk erkannte sie eine Uhr von Patek Philippe. Sein provokanter Blick sagte ihr ohne Worte, dass er nur darauf wartete, dass sie die Suite bedauernd ablehnte, weil sie ihr zu teuer war. Aber den Gefallen würde sie ihm nicht tun.

„Zu spät“, teilte sie ihm mit. „Ich nehme die Suite.“

„Wie Sie wünschen.“ Der Empfangschef schob ihr einen Anmeldebogen hin. „Wenn Sie das bitte ausfüllen würden?“ Er wandte sich dem Mann zu. „Es tut mir sehr leid, Monsieur, aber damit sind wir endgültig ausgebucht.“

„Tja, das ist bedauerlich“, sagte der Fremde mit erstaunlichem Gleichmut. „Bekomme ich denn wenigstens etwas zu essen, bevor ich mich wieder auf den Weg mache?“

„Sehr gern“, antwortete der Empfangschef. Er wandte sich an sie: „Und Sie, Madame? Möchten Sie auch in unserem Restaurant speisen?“

„Ich überlege es mir noch.“ Janine griff nach der Schlüsselkarte, die er ihr zuschob. Tatsächlich musste sie dringend etwas essen, denn sie hatte bereits auf ihr Mittagessen verzichtet, um schneller voranzukommen. Aber es stand zu befürchten, dass die Gerichte im Restaurant ähnlich kostspielig waren wie das Zimmer, und irgendwo musste sie die Grenze ziehen. Sie würde erst mal auf ihrem Handy prüfen, ob es nicht andere Alternativen in der Nähe gab.

Da hatte sie sich vorgenommen, möglichst sparsam mit ihrem Reisebudget zu sein – nur um sich dann von einem arroganten Lächeln dazu hinreißen zu lassen, das teuerste Zimmer ihres Lebens zu buchen. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, was Oscar dazu sagen würde …

Sofort riss sie sich zusammen. Sie hatte keine Alternative.

„Wie Sie wünschen“, erwiderte der Hotelmitarbeiter höflich. „Ihre Suite ist im ersten Stock. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“

Für den Preis sollte ich den besser haben, dachte Janine und stieg mit ihrem Rollkoffer in den Aufzug.

Die Alabaster-Suite war geräumig und elegant eingerichtet, mit einem großen Himmelbett, einem gigantischen Fernseher und einer freistehenden Badewanne. Janine nahm sich vor, ein ausgiebiges Bad zu nehmen, nachdem sie etwas zu Abend gegessen hatte, denn in den preiswerten Hotels, in denen sie sonst übernachtete, konnte sie schon froh sein, wenn die Dusche genug Wasserdruck hatte.

Das mit dem Essen war jedoch nicht so einfach. Sie hatte gehofft, in der näheren Umgebung würde sich zumindest ein Fast-Food-Restaurant finden lassen, aber das nächste war fünfundzwanzig Kilometer entfernt. Und nachdem sie ihre Kamera-Ausrüstung aus dem Auto geholt hatte, wurde ihr klar, dass sie bei diesem Wetter nirgendwo anders auf die Suche gehen konnte – sie würde im Hotelrestaurant essen müssen und darauf hoffen, dass ihr neuer Auftrag diese Kosten wieder einbrachte.

Im Restaurant herrschte viel Betrieb. „Haben Sie einen Tisch reserviert, Madame?“, fragte der Oberkellner, der sie am Eingang in Empfang nahm.

„Leider nicht.“ Janine verspürte ein übles Gefühl in der Magengrube.

Auf seiner Stirn bildeten sich Sorgenfalten. „Tja, dann … Ich fürchte, wir haben nichts mehr frei …“

„Ich würde mich auch zu anderen Gästen an den Tisch setzen“, schlug sie vor.

Nun sah er sie regelrecht pikiert an. „So etwas gehört nicht zu den Gepflogenheiten unseres Hauses, Madame. Unsere Gäste sollen sich darauf verlassen können, dass ihre Privatsphäre geschützt bleibt. Sie verstehen hoffentlich.“

„Natürlich verstehe ich das“, entgegnete sie, auch wenn sie allmählich mit ihrer Geduld am Ende war. „Können Sie mir dann vielleicht etwas zu essen auf mein Zimmer liefern?“

Der Oberkellner kniff die Lippen zusammen. „Wir sind leider sehr knapp mit Personal, aber ich werde mich erkundigen, was sich machen lässt.“

Janine unterdrückte mühsam ein Seufzen, als er eine Verbeugung andeutete und entschwand.

Sie schrak zusammen, als sie plötzlich angesprochen wurde.

„Verzeihen Sie, Madame, doch ich kam nicht umhin, Ihre Unterhaltung mitzubekommen.“

Sie fuhr herum und erkannte den Mann wieder, dem sie die Suite weggeschnappt hatte. Er hatte offensichtlich ganz in der Nähe an einem kleinen Tisch gesessen und gerade einen vorzüglich aussehenden Teller mit Wildpastete und Salat serviert bekommen, aber nun stand er in voller Größe vor ihr.

Na großartig. Vermutlich war es eine Genugtuung für ihn, dass sie jetzt auch mal das Nachsehen hatte. „Tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe, Monsieur. Ich bin gleich weg.“

„Das hoffe ich nicht“, sagte er mit einer einladenden Geste. „Ich wollte Sie bitten, sich zu mir zu setzen.“

Janine kniff die Augen zusammen. „Wieso?“

„Ich suche jemanden, der das Perlhuhn in Calvadosschaum bestellt“, erwiderte er, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich habe nämlich den Wolfsbarsch gewählt und bin mir nicht sicher, ob ich nicht einen Fehler gemacht habe.“

„Werden Sie es mir wegnehmen, wenn es besser aussieht?“, fragte sie.

War das nicht die überheblichste Anmache, die sie je erlebt hatte? Lauf, so schnell du kannst, riet ihr ihre Vernunft, aber diese blauen Augen und dieses selbstsichere Grinsen auf seinem Gesicht hielten sie fest. Außerdem bot sich hier die Chance, doch noch etwas zu essen zu bekommen. Oder sollte sie …?

„Ich würde Sie überreden, mich probieren zu lassen“, erklärte er mit fast unerträglichem Selbstbewusstsein und zog den zweiten Stuhl zurück, sodass sie sich setzen konnte. „Machen Sie mir die Freude. Ich bin Yves.“ Er gab dem gerade zurückkehrenden Oberkellner einen Wink.

„Janine“, erwiderte sie, als der Kellner ihr auch schon eine aufgeklappte Speisekarte reichte. „Sagen Sie, ist das Ihre Masche – wildfremde Personen an Ihren Tisch zu bitten, sodass Sie deren Gerichte begutachten können?“

„Nur wenn es sich um eine attraktive Frau handelt.“ Yves Augen funkelten. „Und damit es mir nicht so langweilig wird. Erzählen Sie mir von sich. Was führt Sie in diese Gegend? Wollen Sie Urlaub machen?“

„Nein, nein, ich bin beruflich unterwegs. Und Sie? Sind Sie Restauranttester und möchten mein Perlhuhn kosten, um etwas mehr in Ihrer Kritik schreiben zu können?“

Yves schüttelte lachend den Kopf. „Leider völlig daneben. Nein, ich arbeite in Paris, aber meine Mutter lebt immer noch in der Region, ich war eigentlich auf dem Weg zu ihr.“

„Oje! Jetzt ist sie bestimmt enttäuscht.“

Ein freches Grinsen erschien auf seinem Gesicht. „Höre ich da einen Anflug von schlechtem Gewissen, weil Sie mir in letzter Sekunde mit dem Zimmer zuvorgekommen sind?“

Janine hob ohne echtes Bedauern die Schultern. „Wissen Sie, es gibt Zeiten, da muss frau zunächst mal für sich selbst sorgen.“

„Da haben Sie allerdings recht.“

Sie war überrascht über den sachlichen Ton, mit dem er ihr zustimmte. Aber schon im nächsten Moment ruinierte er den positiven Eindruck, als der Oberkellner erschien und fragte: „Madame haben gewählt?“

Yves ließ ihr keine Zeit, ausführlich in die Karte zu schauen. „Bringen Sie doch bitte noch eine Portion von der Wildpastete“, entschied er, „und als Hauptgericht das Perlhuhn. Über das Dessert entscheiden wir später.“ Er sah sie fragend an. „Trinken Sie Wein?“

Bloß nicht, das würde die Rechnung weiter in die Höhe treiben, und außerdem sollte sie einen klaren Kopf behalten, zumal Yves auch nur ein Perrier vor sich stehen hatte. „Nein, nur ein Wasser, bitte.“

„Wie Sie wünschen.“ Der Ober zog sich zurück.

Ärgerlich beugte Janine sich vor. „Sie halten wohl nicht viel davon, andere nach ihrer Meinung zu fragen?“, zischte sie.

Yves hob beschwichtigend die Hände. „Hören Sie, ich wollte es nur möglichst einfach machen. Über das Perlhuhn hatten wir doch schon gesprochen. Wenn Sie jetzt eine warme Vorspeise genommen hätten, säße ich noch ewig vor meinem Teller. Und ich habe vorhin Ihren Blick gesehen, Sie haben gegen Wildpastete nichts einzuwenden, da bin ich mir sicher. Wo ist also das Problem?“

Du bist das Problem, dachte sie zähneknirschend, du und die Tatsache, dass ich schon wieder einen Typen vor mir habe, der davon ausgeht, dass die Welt sich um ihn dreht. Sie hatte sich jedoch freiwillig zu ihm gesetzt und wollte jetzt keine Szene machen. „Normalerweise bestelle ich mein Essen selbst.“

„Das bezweifle ich nicht“, versicherte er. „Aber wir sind uns doch einig, dass dies kein normaler Abend ist, nicht wahr?“ Er beugte sich mit verschwörerischem Blick vor. „Dann lassen Sie uns das Ganze auch zu etwas Besonderem machen.“ Seine Hand berührte kurz ihre, die abwartend mit der Serviette spielte. „Es ist nur ein Abend, Janine. Es lohnt nicht, sich über mich zu ärgern – wir werden uns nie wieder begegnen. Es ist völlig unerheblich, wer wir sind, wo wir herkommen, was wir sonst so tun. Sie reisen morgen früh weiter, und ich versuche nachher, ob ich doch durchkomme.“

Janine riss ungläubig die Augen auf. „Das wollen Sie wagen? Die Polizisten sagten …“

Er nickte. „Es gibt da eine etwas höher gelegene Nebenstrecke, da könnte es klappen. Ich werde mich später noch mal erkundigen. Aber bis dahin, Janine, lassen Sie uns einfach den Abend genießen, da wir das Glück haben, in einem guten Lokal gelandet zu sein.“

Vielleicht hat er recht, dachte sie in einem ungewöhnlichen Anflug von Übermut. Es hatte etwas für sich, wenn man sich nicht kannte, wenn es nicht um Herkunft, soziale Stellung oder einflussreiche Jobs ging. An diesem Abend sollte sie einfach froh sein, nicht allein am Tisch zu sitzen, sondern mit einem interessanten Gesprächspartner. Und nun kam auch noch die Vorspeise, die ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Sie merkte deutlich, wie hungrig sie war. Seufzend griff sie zu ihrem Besteck.

Tatsächlich wurde es ein erstaunlich netter Abend. Man konnte mit Yves sehr angeregt über alles Mögliche reden, stellte Janine fest, über Filme und Kunst und Reisen. Sie war ein wenig in Europa herumgekommen, er dagegen schien in der ganzen Welt herumzugondeln – vermutlich für seinen Job, aber sie hatten ja vereinbart, dass sie über solche persönlichen Details nicht sprechen wollten – und er konnte sehr unterhaltsam davon erzählen. Er hatte schon einiges erlebt, und seine Berichte darüber klangen wesentlich amüsanter und längst nicht so angeberisch wie Oscars großspurige Beschreibungen.

Janine war regelrecht verblüfft, als sie nach dem hervorragenden flambierten Apfel-Clafoutis, den sie als Dessert gewählt hatten, um sich blickte und feststellte, dass sie die letzten Gäste waren.

Auch Yves schaute nun auf seine Uhr. „Entschuldigen Sie mich für einen Moment?“, fragte er. „Ich will kurz auf meiner Wetter-App checken, wie es auf den Straßen aussieht. Ich bin gleich zurück.“ Er zückte sein Smartphone und verließ den Raum.

Janine stand ebenfalls auf und trat ans Fenster. Sie hatte nicht den Eindruck, dass der Regen nachgelassen hatte. Was würde Yves nun machen? Sie bat den Kellner, das Essen auf ihre Zimmerrechnung zu setzen, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, weil sie ein gemütliches Bett für die Nacht hatte und er nicht. Ihr aktueller Auftrag würde hoffentlich so lukrativ sein, dass sie sich diese Extrakosten leisten konnte.

In diesem Moment kam Yves zurück. Sie sah ihm an, dass es Probleme gab.

„Ich werde wohl in meinem Auto übernachten müssen“, murmelte er. „Aber das Gute daran ist, dass ich mir so noch einen Drink erlauben kann. Ich hoffe, Sie leisten mir an der Bar Gesellschaft?“

Es wäre wahrscheinlich besser abzulehnen und sich an dieser Stelle von ihm mit dem Hinweis zu verabschieden, dass es spät war, doch Janine brachte es nicht fertig. Dieser Abend war sowieso schon mehr als ungewöhnlich verlaufen und irgendwie hatte sie Gefallen an der ungewohnt lockeren und frechen Variante ihres Ichs gefunden.

Vorne an der der Bar saß eine lärmende Gesellschaft, die offensichtlich bereits einige Flaschen Rotwein intus hatte, aber ganz hinten war es ruhig. Yves rückte ihr den Barhocker zurecht und beriet sich mit dem Barkeeper. Kurz darauf hatte sie ein bauchiges Glas mit einer dunklen Flüssigkeit vor sich.

„Sechs Jahre alter Calvados“, erklärte Yves. „Genauso, wie er sein muss.“

Vorsichtig kostete sie. Er schmeckte nach Holz und Apfel und nicht zuletzt auch nach Alkohol, als er ihr samtig und warm durch die Kehle rann.

„Und was sagen Sie?“, fragte Yves.

Sie blickte auf. War er vorher schon so nah bei ihr gewesen? Hatte seine Stimme immer schon so weich und schmeichelnd geklungen?

Sie gab sich Mühe, sachlich zu antworten: „Nicht übel. Aber zu viel davon sollte man wohl nicht trinken, nicht wahr?“

Yves lächelte, wobei kleine Grübchen neben seinen Mundwinkeln erschienen, dort, wo sich ein Schatten von dunklem Bartwuchs zeigte.

„Die Legende sagt, dass die Normannen den Calvados früher aus den Schädeln ihrer besiegten Gegner tranken, weil er ihnen dadurch neue Kraft verlieh“, erzählte er mit leiser Stimme. „Aber mein Vater sah das anders. Er meinte, dass er uns sensibler für unsere Empfindungen macht.“

Janine nahm nachdenklich einen weiteren Schluck. Wenn das stimmte, welche Empfindungen nahm sie gerade wahr? Da war eindeutig Herzklopfen, sobald sie sich die Nähe dieses Fremden bewusst machte. Seine Stimme lockte sie, noch näherzurücken und sich an ihn zu lehnen, ihm mit den Fingern durch das dunkle Haar zu streichen und ihr Gesicht an seinen Hals zu drücken, um den Duft seiner warmen Haut zu erschnuppern. Mühsam versuchte sie, diese Eindrücke beiseitezudrängen. „Trinken Sie regelmäßig mit Ihrem Vater alten Calvados?“

„Leider nicht mehr“, erwiderte er mit einem kleinen Seufzer. „Er ist in diesem Frühjahr gestorben.“

Sie zuckte erschrocken zurück. „Oh, das tut mir leid. Ich wollte keine traurigen Erinnerungen wecken, ich …“

„Schschsch, so ist das nicht.“ Yves schüttelte den Kopf und schaute sie eindringlich an. „Schließlich war ich es, der ihn zuerst erwähnt hat. Und in diesem Moment bin ich alles andere als traurig.“ Er streckte eine Hand aus und strich sanft über ihre Wange. „Du bist eine wunderschöne Frau, Janine.“ Spielerisch wickelte er eine ihrer Haarsträhnen um seinen Zeigefinger. „Ich bin sehr froh, dass ich dich heute getroffen habe.“

„Ich auch“, erwiderte sie mit heiserer Stimme. Es schien das Natürlichste auf der Welt zu sein, dass er zum Du übergegangen war, dass sein Gesicht nur noch Zentimeter von ihrem entfernt war … und dass sich schließlich ihre Lippen zu einem Kuss fanden, der zögernd und behutsam begann und mit jeder Sekunde intensiver wurde.

Du meine Güte, dachte sie überwältigt, das gibt es also auch. Yves war nicht der erste Mann, der sie küsste, aber der Erste, der sie so küsste, so zärtlich und gleichzeitig fordernd, so konzentriert, so … perfekt. Alles in ihr schien zu zerfließen, wurde wie magnetisch angezogen von ihm, wollte nichts anderes mehr, als sich in ihm verlieren.

Als Yves sich von ihr löste, konnte sie zunächst nicht sprechen, sondern nur ungläubig in seine blauen Augen schauen, auf sein Lächeln, das ihr mehr versprach. Mehr von diesem Gefühl, von dieser Sehnsucht …

Hastig griff sie nach ihrem Glas und nahm einen großen Schluck in der Hoffnung, der Calvados würde sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringen. Zurück zur Stimme der Vernunft, die ihr klarmachte, warum es keine gute Idee war, einen Mann zu begehren, den sie erst vor ein paar Stunden kennengelernt hatte und von dem sie nur den Vornamen kannte. Einen Mann, der genauso ein Filou zu sein schien wie Oscar. Aber die Vernunft schwieg, wohingegen eine andere immer lauter wurde. Eine verlockende Stimme, die ihr riet herauszufinden, ob es noch eine Steigerung gab zu diesem Kuss, und ihr vorschlug, diese eine Nacht zu nutzen, weil sie es sonst ihr Leben lang bereuen würde.

Janine legte eine Hand auf seine Schulter und küsste Yves erneut, und der Zauber kehrte zurück. Ihre Finger glitten in sein weiches, dunkles Haar, und es war völlig gleichgültig, dass der Barkeeper nur ein Stück weit entfernt Weingläser spülte, dass die muntere Gesellschaft am anderen Ende des Tresens regelmäßig in lautes Gelächter ausbrach. Es zählte nur noch das hier, dieses unbeschreibliche Gefühl, seine Lippen auf ihren zu spüren, der undefinierbare Duft seiner Haut.

Wieder lösten sie sich voneinander, um Luft zu holen.

Yves lehnte seine Stirn an ihre. „Janine“, murmelte er. „Was machen wir hier?“

Hier machen wir gar nichts mehr.“ Sie glitt von ihrem Barhocker, griff in ihre Hosentasche und hielt ihm die Hand mit einem auffordernden Lächeln hin. „Ich habe die Schlüsselkarte für die Alabaster-Suite.“

Yves erwachte vom leisen Summen seines Mobiltelefons, mit dem es eine Nachricht ankündigte. Es war noch relativ dunkel, aber jeden Morgen um halb sieben schickte der Assistent der Geschäftsleitung aus der Niederlassung von VCI Cosmetics in Sydney ihm eine Zusammenfassung der wichtigsten Informationen, damit er sie lesen konnte, bevor er seinen Arbeitstag im Pariser Hauptquartier des Konzerns begann.

Trotzdem sprang er nicht sofort aus dem Bett, sondern verharrte noch einen Moment, um die Gegenwart des warmen Körpers neben sich zu spüren. Was für ein unglaublicher Zufall, der ihn mit dieser Frau zusammengeführt hatte! Wäre er nur wenige Minuten früher oder später im Hotel angekommen, hätte er sie wohl nie kennengelernt.

Nun kannte er sie. Sehr intensiv sogar, zumindest in körperlicher Hinsicht. Sie hatten eine wundervolle Nacht miteinander verbracht. Doch nun war es Zeit zu gehen.

Er hatte sie an seinen Tisch gebeten, ohne es auf mehr anzulegen. Dass sie ihn in ihr Zimmer und dann auch in ihr Bett einlud, hatte ihn überrascht. Und gefreut, wenn er ehrlich war. Wann war ihm das zum letzten Mal passiert? Es war lange her, denn normalerweise hatte er keine Zeit für solche Abenteuer. Oder er wusste schon vorher, dass Angebote nicht zuletzt mit Blick auf seine Position als Chef eines internationalen Kosmetikkonzerns abzielten – und für die Ansprüche dieser Frauen, die sich ein Luxusleben an seiner Seite erhofften, hatte er erst recht keine Zeit.

Ein paarmal hatte er das durchexerziert, hatte sich von hübschen Mädchen zu Partys und Modenschauen schleifen lassen, hatte eine von ihnen sogar mit in seine Ferienwohnung am Mittelmeer genommen. Aber sobald er wegen einer plötzlichen Krisensitzung oder einer Videokonferenz mit Los Angeles ein Abendessen absagen musste oder nicht an einer Vernissage teilnehmen konnte, gab es Vorwürfe und enttäuschte Gesichter.

Keine dieser Frauen hatte eine Vorstellung davon, was es wirklich bedeutete, seinen Job zu machen – sie sahen nur die Äußerlichkeiten, den Luxus, den Glamour. Aber dass das alles auf harter Arbeit basierte, dass es viel Zeit und Kraft kostete, das verstanden sie nicht. Deshalb waren diese Versuche von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. In seinem Leben war kein Platz für eine intensive Beziehung. Er wusste nie, wann und wo ihn die nächste Herausforderung erwartete, daher brauchte er Flexibilität, keine Bindungen.

Vielleicht hatte er eines Tages das Glück, eine Frau zu finden, die das ähnlich sah, die ihn genauso unterstützen würde, wie seine Mutter es für seinen Vater getan hatte. Marcelline hatte sich nie beschwert, wenn Georges lange arbeiten musste, und ganz selbstverständlich die Aufgaben übernommen, die als Gattin eines Firmenchefs auf sie warteten. Das kannte sie bereits aus ihrer eigenen Familie.

Seine Mutter hatte ihm sogar schon vorgeschlagen, ihn mit entsprechenden jungen Damen bekannt zu machen, erinnerte er sich amüsiert. Aber das musste noch warten – erst mal musste er den Verlust ausgleichen, den der plötzliche Tod seines Vaters auch in beruflicher Hinsicht bedeutete.

Vorsichtig warf er einen Blick zur Seite. Bis auf die lockigen Haare, in denen seine Hände gestern so ausgiebig gewühlt hatten, war nichts von Janine zu sehen. Ihr Atem ging regelmäßig, sie schien tief und fest zu schlafen.

Yves beschloss aufzustehen und zu duschen. Als er aus dem Bad kam, schlief sie immer noch. Kurz erwog er, einfach wieder zu ihr unter die Decke zu kriechen, sie mit Küssen aufzuwecken und … Aber nein, das sollte er nicht tun.

Erneut summte sein Handy – um sieben bekam er meistens Nachrichten aus Tokio. Er musste schmunzeln, als er erkannte, dass sein Mobiltelefon direkt neben ihrem auf dem Couchtisch lag wie ein Symbol für die Nacht, die er neben Janine verbracht hatte.

Als er nach seinem Telefon griff, leuchtete auch auf ihrem Sperrbildschirm eine Nachricht auf, und ohne zu überlegen, ob das nicht zu indiskret war, warf er einen Blick auf den Text, der auf dem Display aufpoppte. Der Absender hieß offensichtlich Oscar und schrieb: Hallo Süße! Haben die reichen Adligen was Brauchbares zu bieten? Wann kriege ich erste Fotos?

Yves fühlte sich, als hätte man einen Eiskübel über ihm ausgekippt. Was sollte das bedeuten? Sein Blick fiel auf die beiden Gerätekoffer neben dem Sofa. Er öffnete einen davon und erkannte, dass er eine Kameraausrüstung enthielt. Fotos von reichen Adligen … Hieß das etwa, Janine gehörte zu der Sorte Paparazzi, die für pikante Storys und indiskrete Aufnahmen so ungefähr alles taten? Hatten sie sich womöglich gar nicht so zufällig kennengelernt, wie er gedacht hatte?

Wieder warf er einen Blick auf das Bett und auf die verwuschelte Mähne, die unter dem Laken hervorschaute. Nein, er war sich ziemlich sicher, dass sie keine verfänglichen Bilder von ihm gemacht hatte, aber es hätte passieren können. Ein guter Grund, um diese Begegnung nicht in die Länge zu ziehen.

Leise zog er sich an, nahm seine Tasche und schlich aus dem Zimmer, ohne sich noch mal umzudrehen.

Bis auf einen kleinen Erdrutsch, um den der Verkehr einspurig herumgeleitet werden musste, waren die Straßen in Richtung Westen wieder frei. Aber das besserte seine Laune nicht, als Yves etwa neunzig Minuten später auf den Kiesweg abbog, der durch eine Allee mit stattlichen Pappeln zum Schloss Vérigny führte. Schon als seine Mutter ihn gebeten hatte, sie kurzfristig zu besuchen, hatte er wenig Lust dazu gehabt – hier erinnerte ihn alles viel zu sehr an seinen Vater und die Tatsache, dass der so früh verstorben war.

Zugleich war das aber der Grund, weshalb er dem Wunsch seiner Mutter entsprochen hatte und direkt von seinem Termin mit der Düsseldorfer Niederlassung hergekommen war. Keine gute Entscheidung, dachte er, auch wenn er vorher weder über die schlechten Straßenverhältnisse Bescheid wissen noch ahnen konnte, dass er sich auf einen heißen One-Night-Stand mit einer Fremden einlassen würde.

Genug, schalt er sich. Die Sache war es nicht wert, dass er länger darüber nachgrübelte. Jetzt ging es darum, was seine Mutter von ihm wollte.

Marcelline de Vérigny, schlank und aufrecht wie eh und je, stand an der Brüstung der Freitreppe vor dem Eingang und erwartete ihn. Sie trug nicht mehr die dunkle Trauerkleidung, in der er sie das letzte Mal gesehen hatte, doch sie schien ein wenig hagerer zu sein.

„Hast du es endlich geschafft“, rief sie ihm entgegen. „Schade, dass du gestern aufgehalten wurdest.“

„Du hast ja gesehen, was los war“, antwortete Yves. „Die Straßen waren wegen Überflutung gesperrt. Gab es hier irgendwelche Schäden?“

„Der Gärtner kümmert sich schon darum.“ Marcelline wies zur Eingangstür. „Lass uns in den Salon gehen. Wir haben einiges zu besprechen.“

„Du hast es aber eilig.“ Yves war erstaunt. „Kann ich vorher einen Kaffee bekommen?“

„Natürlich.“ Sie öffnete die Tür in Richtung Küche. „Florence! Bitte bringen Sie Kaffee in den Salon.“

Yves ließ seine Reisetasche am Fuß der Treppe fallen. Offensichtlich wollte seine Mutter direkt mit ihm sprechen, ohne ihm Zeit zu geben, zunächst mal sein Zimmer zu beziehen und sich frisch zu machen.

Er betrat den Salon und sah zu seiner Überraschung, dass auf dem Sideboard eine Reihe Aktenordner zusammengestellt waren, deren Beschriftung darauf schließen ließen, dass sie Unterlagen bezüglich der Verwaltung des Schlosses enthielten. „Maman, was hast du vor? Gibt es Probleme mit dem Haus?“

Marcelline hatte noch nie lange um den heißen Brei herumgeredet, und das tat sie auch jetzt nicht. „Es muss keine Probleme geben, wenn alles so läuft, wie ich mir das vorstelle. Ich möchte das gesamte Anwesen verkaufen.“

2. KAPITEL

„Du willst … was?“ Yves war es gewohnt, schwierige Verhandlungen zu führen und auf unerwartete Komplikationen zu treffen, doch diese Information verschlug ihm die Sprache. Verwirrt ließ er sich auf einen der Sessel im elegant eingerichteten Salon fallen. Er hatte den Eindruck, dass hier irgendetwas anders war als sonst, aber er konnte nicht sofort den Finger darauf legen – wie üblich standen frische Blumen auf dem Kaminsims, und auf den Kirschbaummöbeln im Empire-Stil war kein Stäubchen zu sehen.

Marcelline setzte sich ihm gegenüber. „Ich möchte das hier alles aufgeben. Du weißt, im Testament deines Vaters bin ich als Haupterbin eingesetzt, und ich habe eine Entscheidung getroffen. Es gibt ein sehr gutes Angebot von der Tournesol-Hotelkette, die aus dem Schloss ein kleines, aber feines Wellness-Hotel machen will.“

Er starrte seine Mutter ungläubig an. „Hast du den Vertrag schon unterschrieben, Maman?“

Sie erwiderte seinen Blick mit einer gewissen Ungeduld. „Natürlich nicht, Yves, deshalb habe ich dich doch hergebeten. Eine Ausfertigung liegt momentan bei unserem Anwalt Maître Bonnard in Lisieux zur Prüfung, und du sollst auch noch mal kritisch drüberschauen.“

Das klang alles geschäftsmäßig, und normalerweise wäre er sehr zufrieden gewesen mit der sachlichen Art, wie seine Mutter dieses Thema anging, er spürte jedoch, dass er selbst längst nicht so sachlich reagierte. Lag es vielleicht daran, dass er die beste Zeit seiner Kindheit hier verbracht hatte? Er sah sich sonst eigentlich nicht als sentimentalen Typ, aber da war etwas in ihm, das sich mit aller Macht gegen die Vorstellung eines Verkaufs auflehnte.

„Hör mal, das kommt jetzt sehr plötzlich. Ich finde, wir sollten uns mit dieser Angelegenheit mehr Zeit lassen. Papas Tod ist noch kein halbes Jahr her. Das Schloss der Vérignys ist seit Jahrhunderten in Familienbesitz. Selbst die Revolution hat es überstanden. Es ist tadellos in Ordnung, und wir haben die Mittel, dass es auch so bleibt. Was für einen Grund hast du, dass du das alles auf einmal aufgeben willst?“

Seine Mutter holte mehrmals tief Luft, bevor sie antwortete: „Weil mich hier alles viel zu sehr an deinen Vater erinnert.“

Es war ungewohnt, solche persönlichen Geständnisse von seiner sonst so kontrollierten Mutter zu hören. „Das verstehe ich, Maman“, versicherte Yves. „Aber deshalb gleich verkaufen … Du könntest ohne Probleme ein paar Monate auf Reisen gehen, wenn du zunächst mal Abstand brauchst. Du könntest den Winter an der Côte d’Azur verbringen, die Wohnung in Antibes ist perfekt dafür. Nach einer gewissen Zeit wird es vermutlich ein bisschen leichter, hierher zurückzukehren und deine schönen Erinnerungen an Papa zu sortieren. Schau, du bist gerade mal sechzig, vielleicht findet sich ja auch eine neue Bezieh…“

„Hör auf damit!“, fiel sie ihm ungehalten ins Wort. „Ich fürchte, du hast mich nicht richtig verstanden. Meine Erinnerungen an deinen Vater sind bei Weitem nicht nur schön. Im Gegenteil.“

Yves dachte im ersten Moment, er hätte sich verhört. Wie meinte sie das bloß? Er musste jedoch warten, weil die Haushälterin hereinkam und den Kaffee brachte, doch dann fragte er geradeheraus: „Maman? Was war zwischen dir und Papa?“

Marcellines Gesichtsausdruck wurde hart. „Nichts. Es war nichts mehr zwischen deinem Vater und mir. Nur noch Lügen. Nach seinem Tod fand ich heraus, was er mir alles verschwiegen hat. Ich habe ihm immer vertraut, doch jetzt ist mir klar, dass er eine Menge Geheimnisse hatte.“

Was ist das bloß für ein Tag, dachte Yves. Konnte es noch schlimmer werden? Er kannte seine Mutter als eine distanzierte, kühle Frau, mit einer Direktheit, die manchmal geradezu schmerzhaft war. Wenn sie jetzt solche Behauptungen über seinen Vater aufstellte, dann tat sie das nicht leichtfertig und nicht ohne handfeste Gründe.

„Was für Geheimnisse?“, fragte er. Es hatte keinen Zweck, sich vor der Wahrheit zu verstecken. Es ging um seine Eltern, um das Haus seiner Kindheit, um das Fundament seines Lebens. Doch es fühlte sich an, als ob alles gerade in tausend Stücke zu zerbröckeln drohte.

„Belege für Schmuckstücke, die ich nie gesehen habe“, antwortete sie mit schneidendem Sarkasmus. „Geheime Briefe, mit Küsschen unterzeichnet. Hotelrechnungen für zwei Personen auf den Seychellen zu Terminen, an denen Georges eigentlich in Rabat sein sollte oder mit Freunden auf der Jagd in Polen.“

Sie sah ihn an, und in ihren Augen erkannte er eher Wut als Trauer.

„Verstehst du jetzt besser, wieso ich das hier nicht mehr sehen will? Es war alles eine Lüge, ein einziger Betrug.“

Yves rührte hilflos in seiner Kaffeetasse. Er sah keine Möglichkeit, seine Mutter zu trösten oder sie zumindest zu beruhigen. Wenn ihre Vorwürfe stimmten – und er war überzeugt, dass sie sich das nicht einfach ausgedacht hatte –, dann betraf das auch ihn. Damit zerbrach das Bild, das er von seinem Vater hatte, einem lebenslustigen, humorvollen Mann, von dem er viel gelernt hatte. Georges de Vérigny war nicht nur ein guter Geschäftsmann gewesen, sondern ein aufmerksamer Zuhörer, ein herzlicher Gastgeber, ein großzügiger Freund, in vieler Hinsicht ein Vorbild für ihn, seinen einzigen Sohn.

Klar, es hatte manchmal Spannungen zwischen seinen Eltern gegeben, nur zu verständlich, weil sie so verschieden waren. Aber er war immer davon ausgegangen, dass da eine grundsätzliche Übereinkunft war, Harmonie, Zuneigung, die es ihnen möglich machte, darüber hinwegzusehen. Er hätte es als Liebe bezeichnet.

Bis jetzt. Was konnte er noch glauben, wenn sogar sein Vater in Wirklichkeit nur ein schäbiger Lügner und Betrüger war?

Allerdings ging es hier erst mal nicht um ihn. Er würde möglichst bald nach Paris zurückkehren und sicherlich mit der Zeit seine innere Ruhe wiederfinden können. Die wichtigste Aufgabe war zunächst, seine Mutter daran zu hindern, vorschnelle Entscheidungen zu treffen, die sie möglicherweise später bereuen könnte. Und die natürlich auch für ihn unumkehrbare Folgen hätten. Er mochte sich gar nicht vorstellen, was es bedeuten würde, nie wieder hierherkommen zu können, es sei denn für ein Wochenende mit Thai-Massage und grünen Smoothies.

Er kannte solche Hotels. Im Grunde waren sie alle gleich. Es würde nicht viel übrigbleiben von der Atmosphäre, die er bisher immer für so selbstverständlich und unvergänglich gehalten hatte.

Also hieß die Devise zunächst mal Zeit gewinnen. „Maman, ich kann mir vorstellen, dass das momentan alles sehr aufwühlend für dich ist. Aber ich bitte dich, nichts zu überstürzen. Schau, ich könnte erst mal ein paar Tage hierbleiben, und wir reden in Ruhe über alles, bevor du Nägel mit Köpfen machst.“

Erfreut nickte sie. „Es wäre schön, wenn du eine Weile bleiben könntest, Yves. Wir haben schon länger nicht mehr viel Zeit füreinander gehabt, nicht wahr? Aber einige Dinge habe ich bereits in die Wege geleitet, weißt du.“

„Was für Dinge, Maman?“ Sein Blick fiel wieder auf die Aktenordner.

„Heute kommt eine Frau vom Auktionshaus Mulot, die unsere Sammlungen sichtet“, antwortete Marcelline. „Ich möchte die Stücke versteigern lassen, die zu wertvoll sind, um sie mit dem Gebäude wegzugeben. Die Sèvres-Vasen zum Beispiel und natürlich die Gemälde in der Bibliothek.“

Yves starrte sie verständnislos an. „Versteigern? Warum?“ Die Pläne seiner Mutter trafen ihn so unvorbereitet, dass er nicht sofort abschätzen konnte, was sie bedeuteten.

„Ich möchte dem Museum für moderne Kunst in Deauville eine Schenkung machen. Sie brauchen 3,7 Millionen Euro für einen Anbau.“

Das Thema war ihm nicht neu, er hatte davon gelesen. „Der Anbau, für den der Jachtclub abgerissen werden soll, in dem Papa Mitglied war?“

Seine Mutter nickte zufrieden. „Genau. Das wird dann der Vérigny-Flügel, eine großartige Aufwertung der städtischen Kultur. Ich habe schon mit dem Direktor und dem Städteplaner gesprochen.“

Der Kaffee in seinem Mund schmeckte plötzlich bitter, als er verstand. Seine Mutter konnte sich nicht nur mit einem Schlag der wertvollen Erinnerungsstücke entledigen, an denen sein Vater gehangen hatte, und dem Jachtclub, den er immer gefördert hatte, den Todesstoß versetzen, sondern das Ganze geschah auch noch auf eine Weise, die die Familie de Vérigny als großzügige Kunstmäzene und seine Mutter als besondere Gönnerin der Stadt dastehen ließ.

Nachdenklich betrachtete er seine Tasse. Natürlich stammte sie aus einer der traditionsreichen französischen Manufakturen, wie so vieles hier im Schloss. Er hätte kein Problem damit, sich von den Kostbarkeiten zu trennen. Er hing auch nicht am Jachtclub von Deauville, doch was ihn unerwartet heftig traf, war die Erkenntnis, dass seine Mutter einen Rachefeldzug gegen seinen Vater führte, mit dem sie ihren Mann noch nach dessen Tod für seine Untreue bestrafte.

Draußen knirschten Autoreifen auf dem Kies, ein Motor wurde abgestellt, und Marcelline stand auf.

„Das könnte die junge Dame vom Auktionshaus sein. Komm mit, dann kannst du sie gleich kennenlernen.“

Yves stand ebenfalls auf und trat ans Fenster. Vor dem mit Blumen bepflanzten Rondell mit der Artemis-Statue in der Mitte parkte ein älterer Dacia Kombi. Eine Frau mit wilden dunklen Locken stieg aus, und ihm wurde klar, dass er die junge Dame bereits kennengelernt hatte.

Im Flur blieb sein Blick am Porträt von Marschall Pierre hängen, dem ersten Graf von Vérigny, gekleidet in dem Brustpanzer, in dem er 1684 an der Belagerung von Straßburg teilgenommen hatte. Er wünschte sich, er hätte auch eine Rüstung, die ihn vor allen möglichen Verletzungen schützen würde. Heute könnte er sie wirklich gebrauchen.

Es war nicht das erste Mal, dass Janine einen Auftrag in einem Schloss übernommen hatte, aber noch nie hatte ihr das Ambiente so gut gefallen.

Es begann schon mit der prachtvollen Zufahrt durch die Pappelallee. Erst wenn man sie durchfahren hatte, bekam man einen vollständigen Blick auf das Gebäude, das wegen seiner mit grauen Mörtelbändern abgesetzten Backsteinfronten in einem warmen Rosaton schimmerte, wenn wie jetzt die Sonne darauf schien. Zwei trutzige runde Türme flankierten das gedrungene Hauptgebäude mit weiteren Türmchen und Erkern, die vermutlich von späteren Schlossherren hinzugefügt worden waren. Jeder Turm hatte ein kegelförmiges Dach aus dunkelgrauem Schiefer mit heller Spitze. Dazwischen ragten mächtige Backstein-Schornsteine hervor, die rot gegen das dunkle Dach des Haupthauses abstachen.

Janine konnte sich vorstellen, dass der ursprüngliche Kern des Schlosses von einem Wassergraben geschützt worden war, über den eine Zugbrücke führte. Inzwischen war der Graben aufgefüllt und mit Buchsbaumhecken bepflanzt worden. Eine eindrucksvolle, symmetrisch zu beiden Seiten geschwungene Freitreppe führte zur großen zweiflügligen Eingangstür, die sich jetzt öffnete.

Sie stellte ihren Kombi in respektvollem Abstand zu dem dunkelblauen Maserati mit dem Pariser Kennzeichen ab, der den hellen Kies auf dem Vorplatz und die sorgfältig gestutzten Rhododendronbüsche an beiden Seiten der Treppe so perfekt ergänzte, und stieg aus. Zwei Personen erschienen nacheinander in der Tür. Die erste war eine schlanke, elegant gekleidete Frau mit grauem Haar.

Und der Mann hinter ihr war … Yves.

Sie wäre beinahe gestolpert, als sie ihn erkannte. Das darf doch nicht wahr sein! Die ganze Fahrt über hatte sie verzweifelt versucht, sich die Erinnerung an ihn aus dem Kopf zu schlagen.

Nachdem sie durch das leise Klicken der Zimmertür geweckt worden war, als er sich fortschlich, und begriff, dass er sie ohne ein Wort, ohne die kleinste Botschaft verlassen hatte, war das Hochgefühl des Vorabends in bodenlose Enttäuschung umgeschlagen. Sie hatte nicht erwartet, dass ihre gemeinsame Nacht der Beginn einer märchenhaften Liebesgeschichte sein würde, aber ein Abschiedskuss, vielleicht ein gemeinsamer Kaffee, wenigstens ein Zettel mit einer Verabschiedung hätten es doch sein können.

Die Lust auf ein Bad oder ein opulentes Frühstück war mit einem Schlag vergangen. Sie war aufgestanden, hatte mechanisch gepackt und die Suite verlassen. Der freundliche Mitarbeiter am Empfang hatte ihr mitgeteilt, dass ihre Rechnung bereits beglichen war, einschließlich des Abendessens.

Anfangs hatte sie sich aufgeregt – sie kannte noch nicht einmal seinen vollen Namen. Und es gäbe niemals die Gelegenheit, ihm das Geld zurückzuzahlen, das ihr das Gefühl vermittelte, für eine Nacht gekauft worden zu sein. Dann hatte sie sich gesagt, dass das zwar einen bedeutenden Unterschied in ihrer Spesenabrechnung machte, für ihn vermutlich jedoch eher ein kleinerer Posten war. Immerhin hatte der Betrag ihm nicht nur eine angemessene Unterkunft für die ungeplante Übernachtung verschafft, sondern auch zusätzliche Unterhaltung.

Das alles hatte sie auf der Fahrt immer wieder gedanklich durchgekaut. Und nun stand er vor ihr und sah sie so vorwurfsvoll an, als wäre sie diejenige, die sich heimlich davongeschlichen hatte. Warum? Er hatte doch bekommen, was er wollte.

„Madame Bourdain“, begrüßte die ältere Dame sie und schüttelte ihr die Hand. „Willkommen auf Schloss Vérigny. Schön, dass ich Sie gleich mit meinem Sohn bekannt machen kann.“

Das war also die Mutter, die er besuchen wollte. Die Welt war doch klein. Und für manche Leute feudaler als für andere.

„Hallo Janine“, stieß Yves hervor. Es klang eher wie ein Knurren.

„Hallo Yves.“ Sie nickte frostig.

Marcelline de Vérigny sah sie beide erstaunt an. „Ihr kennt euch?“

„Flüchtig“, erwiderte Yves schmallippig. „Nur sehr flüchtig.“ Er drehte sich auf dem Absatz um und ging zurück ins Haus.

Seine Mutter sah ihm nach, sie wirkte unzufrieden. „Er ist sonst nicht so unhöflich“, erklärte sie. „Doch er scheint mit meiner Entscheidung, das Anwesen zu verkaufen, nicht einverstanden zu sein.“

Janines Augenbrauen schossen in die Höhe. „Dieses wundervolle Schloss verkaufen?“, wiederholte sie verblüfft. „Aber …“

„Was dachten Sie denn, weshalb ich einen Teil der Innenausstattung versteigern lassen will?“, fragte die ältere Frau spitz. „Nun ja. Kommen Sie doch erst mal herein. Florence kann Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Um zwölf Uhr gibt es einen Imbiss. Danach besprechen wir, wie Sie möglichst zügig die Objekte katalogisieren können. Ich möchte keine Zeit verlieren.“

Janine betrat die eindrucksvolle Eingangshalle. Als sie dem Arrangement zugestimmt hatte, hatte sie niemals mit einer solch luxuriösen Unterkunft gerechnet.

Sie folgte dem Dienstmädchen die Treppe hinauf, an Dutzenden Porträts aus unterschiedlichen Epochen vorbei. Vielleicht die Ahnengalerie der Familie – da würde sie sich auf Wikipedia erst mal informieren. Nicht alles in diesem Schloss sah aus, als gehörte es ins Museum. Offenbar hatte jemand mit viel Geschick und Geschmack das Gebäude so modernisiert, dass es eine gelungene Mischung aus Tradition und modernem Komfort bot.

Im Gästezimmer stand zwar kein Himmelbett, aber ein sehr einladendes Doppelbett mit einer antik wirkenden Truhe am Fußende. Das dazugehörige Bad war hochwertig ausgestattet. Die für die Normandie so typischen schmalen Riemchen-Backsteine waren an allen Wänden in einem Fischgrat-Muster erhalten geblieben und bildeten einen angenehmen Kontrast zu den schlichten Möbeln. Der Höhepunkt war aber der gepolsterte Sitzplatz in der Fensternische – es schien sich um einen der Erkertürme zu handeln, die sie bereits von außen bestaunt hatte.

Dieses Haus war keine zerfallende Ruine, die man verkaufen musste, damit man von den notwendigen Renovierungen nicht in die Insolvenz getrieben wurde. Alles strahlte gepflegten Wohlstand aus. Es musste eine andere Erklärung dafür geben, warum die Familie sich davon trennen wollte.

Janine sagte sich, dass sie das nichts anging. Sie würde so schnell wie möglich ihre Arbeit machen und wieder verschwinden, weg von Yves und seinen unerklärlichen Stimmungsschwankungen, weg von der Gräfin und ihrer unterkühlten Art, weg von diesem wunderschönen Landsitz, in dem man glücklich sein könnte, es aber eindeutig nicht war.

Der Lunch war eine steife, schweigsame Angelegenheit. Sie war froh, als er vorbei war. Und Yves verschwand sogar schon, bevor Florence den Tisch abräumen konnte.

„Ich vermute, Sie möchten sich erst mal ein Bild vom Gesamtprojekt machen“, erklärte Marcelline. „Danach sagen Sie mir bitte, wie Sie vorgehen wollen.“

Es war nicht nötig, darauf zu antworten. Die Gräfin erwartete nichts anderes, als dass sie ihr in die angrenzenden Räume folgte.

„Hier ist die Porzellan-Sammlung“, erläuterte sie. „Ich zeige Ihnen, was ich für die Auktion vorgesehen habe.“

„In Ordnung.“ Janine zückte ihr Handy. „Dann mache ich rasch ein paar Schnappschüsse, um einen Überblick zu haben.“ Was sie nicht sagte, war, dass sie anhand dieser ersten Eindrücke schon mal überschlagen wollte, wie hoch der Gesamtwert der Objekte sein könnte, denn danach richtete sich ihre Provision. Oscar hatte ihr deutlich erklärt, dass er sie als Freiberuflerin nicht nach Stunden oder mit einer Pauschale bezahlen würde. Er wollte, dass sie ihre Kundin dazu brachte, möglichst viele hochwertige Artikel versteigern zu lassen. Als ihr klar wurde, dass Marcelline bereits eine eindeutige Auswahl getroffen hatte, war sie umso erleichterter, dass sich viele wertvolle Dinge darunter befanden.

Sie fotografierte die Sèvres-Vasen und das Porzellan aus Limoges, die Rokoko-Figurinen und die Kaminuhren mit den schwarzen polierten Gehäusen, das venezianische Glas, die beiden Aubusson-Wandteppiche und das Spinett mit den zierlichen Füßen. Sämtliche Gegenstände waren bisher in die Einrichtung integriert gewesen, weil es sich hier um ein bewohntes Haus und kein Museum handelte, aber Marcelline hatte sich offensichtlich genau überlegt, welches die wirklich wertvollen Stücke waren, die es sich zu versteigern lohnte.

„Dann kommen wir jetzt zu den Bildern“, kündigte die Hausherrin an. „Die habe ich hier in der Bibliothek zusammengestellt.“ Sie öffnete die Tür zu einem großen Raum, der seinen Namen zu Recht trug – sämtliche Wände waren mit Holzregalen versehen, in denen teuer wirkende Bücher mit Lederrücken standen. Bunte Taschenbücher waren vermutlich unter der Würde eines Schlossherrn.

Es gab einen großen Kamin zwischen den beiden bodentiefen Sprossenfenstern, vor dem sich zwei dunkelrote Chesterfield-Sofas gegenüberstanden, neben einem davon befand sich ein Tischchen mit Flaschen und Karaffen.

Janine konnte sich gut vorstellen, wie sich jemand dort einen Drink einschenkte, um sich dann zum Lesen auf eins der Sofas zu setzen.

Im Raum verteilt standen mehrere Staffeleien mit Gemälden in unterschiedlichen Größen. Vermutlich hatten sie an verschiedenen Orten im Schloss ihren Platz gehabt, bevor Marcelline sie hier versammelt hatte. Sehr sachkundig begann die Schlossherrin sie ihr vorzustellen: zwei kleine Landschaften aus dem achtzehnten Jahrhundert, eine Jagdszene, die einem Schüler von Watteau zugeschrieben wurde, einige Kupferstiche, ein flämischer alter Meister, dessen Name Janine erst mal nachschlagen musste.

„Und dann natürlich unser Prachtstück“, sagte Marcelline unverkennbar stolz. „Ein echter Gainsborough mit dem Titel ‚Lady Charlotte Barrington‘.“ Mit großer Geste schaltete sie einen Strahler ein, der das Bild an der Stirnwand der Bibliothek durch geschickte Ausleuchtung perfekt zur Geltung brachte.

Janine war keine ausgebildete Kunstexpertin, aber sie wusste, wenn sie etwas Besonderem gegenüberstand. Lady Charlotte Barrington war offensichtlich eine Dame der feinen Gesellschaft gewesen, die dem Betrachter in einem kostbaren pastellfarbenen Seidenkleid und einem unbeschreiblich aufwendigen Hut über der ebenso aufwendigen Lockenfrisur entgegentrat, den Blick ein wenig zur Seite gerichtet, als wolle sie nicht aufdringlich erscheinen. Winzige Füße schauten unter dem Rocksaum hervor, und die helle Haut ihres Dekolletees war so makellos wie die ihrer Arme, die einen mit Blumenmuster durchwirkten Schal hielten.

„Wow!“, entfuhr es Janine. „Und dieses Bild wollen Sie wirklich weggeben?“ Sofort bedauerte sie ihren spontanen Ausruf. Sie wollte es der Kundin auf keinen Fall ausreden – im Gegenteil. Gainsboroughs Gemälde waren Millionen wert, und mit diesem Prachtstück würde sie Oscar ein beeindruckendes Highlight für seine Auktion verschaffen. Und sich selbst gleichzeitig ein Stück Sicherheit, denn so einfach konnte er sie nach diesem Coup nicht abservieren.

Sein Auktionshaus würde mit dem Gemälde Aufsehen erregen und Oscar als Chef der Brüsseler Niederlassung in die Schlagzeilen der Fachpresse bringen. Natürlich würden die Fotos nicht sie an seiner Seite zeigen, sondern seine frischgebackene Verlobte … aber sie hatte inzwischen einige Wochen Zeit gehabt, sich damit abzufinden, und irgendwann würde sie nicht mehr darüber nachdenken. Irgendwann würde sie nur noch ungläubig den Kopf darüber schütteln, dass sie sich überhaupt auf einen so selbstverliebten, karrieregeilen Typen eingelassen hatte, der sie fallen ließ wie eine heiße Kartoffel, sobald er auf eine passendere Partnerin gestoßen war.

„Wie ich schon sagte, wird das Schloss verkauft“, erwiderte die Gräfin kühl. „Und so wertvoll es auch ist, damit wird das Bild seinen jahrzehntealten Platz verlieren. Außerdem denke ich, dass wir es jetzt so lange unter Verschluss gehalten haben – vielleicht ist es an der Zeit, es einer breiteren Öffentlichkeit zu zeigen.“

„Sie hoffen also, dass es von einem Museum erworben wird?“

„Ich habe bereits mit mehreren Kuratoren in unserem Bekanntenkreis Kontakt aufgenommen.“

Janine fand es schwierig, sich vom Anblick des Gainsborough loszureißen. Da war etwas … Sie konnte es nicht benennen, aber irgendwas machte sie unruhig. „Bestimmt haben Sie für diese wertvollen Stücke Expertisen?“

„Selbstverständlich.“ Marcelline reichte ihr eine schwarze Mappe. „Hier ist alles gesammelt. Ich dachte mir, dass Sie danach fragen würden.“

„Vielen Dank, Madame. Dürfte ich vielleicht hier an diesem Schreibtisch meine Unterlagen sortieren und mit der Katalogisierung beginnen? Es wird eine Weile dauern, müssen Sie wissen.“

Marcelline zögerte leicht, stimmte aber dann zu. „Nun ja, irgendwo müssen Sie ja arbeiten. Richten Sie sich ein. Das Abendessen wird um sieben serviert.“

Bei diesem Stichwort wurde Janine nervös. Müsste sie alle Mahlzeiten im Kreise der Familie verbringen? Es war wohl ein Fehler gewesen, die Unterbringung im Schloss zu akzeptieren. Sie hatte dem Vorschlag zugestimmt, weil dieses Arrangement sowohl ihre Reisekosten reduzierte als auch mehr Zeit zum Arbeiten versprach. Wenn sie jedoch ständig mit der arroganten Gräfin und ihrem schlecht gelaunten Sohn speisen musste, wäre sie doch lieber ins Hotel gegangen.

Allerdings hatte sie schon unter ungünstigeren Voraussetzungen gearbeitet. Die ganze Aktion war immerhin gut vorbereitet, und in erster Linie ging es darum, weiterhin Aufträge vom Auktionshaus zu bekommen. Also würde sie sich von diesen Bedingungen nicht nervös machen lassen.

Sie holte ihre Tasche, um Laptop und Arbeitsmaterial auf dem Schreibtisch auszubreiten. Aber anders als sonst begann sie nicht sofort damit, eine Liste zu erstellen und den genauen Ablauf des Projekts zu planen.

Zum einen musste sie immer wieder darüber nachdenken, wie absurd ihre Situation war. Ausgerechnet der Mann, mit dem sie leichtsinnig und spontan eine Nacht verbracht hatte, war der Sohn ihrer Auftraggeberin! Und statt sie anzulächeln und sie freundlich zu empfangen, benahm er sich, als hätte sie ihm die Brieftasche klauen wollen. Ob er eine feste Partnerin hatte und nun befürchtete, sie würde ihr Geheimnis ausplaudern? Warum redete er nicht wenigstens mit ihr?

Janine starrte auf die Wand vor sich und auf das Gemälde, das dort hing. Das war die andere Sache. Sie hatte schon einige Gainsboroughs gesehen. Dieses Bild war typisch für den Maler, der häufig Mitglieder der gehobenen Gesellschaft in England porträtiert hatte. Auf den ersten Blick bewunderte man die Darstellung der adligen Dame in ihrer Pracht. Dann entdeckte man die Details der Linienführung, den raffinierten Schattenwurf, die gelungene Verbindung von Figur und ländlichem Hintergrund. Und ohne es zu merken, wurde man von der Stimmung erfasst, der Leichtigkeit und Heiterkeit der Szene.

Sie konsultierte das Internet und erfuhr, dass Lady Charlotte Barrington mit knapp achtzehn einen Earl heiratete und mit nur vierundzwanzig Jahren bei der Geburt ihres dritten Kindes verstarb. Der Earl trauerte sehr um sie und heiratete nicht wieder, und nachdem er alle drei Kinder überlebte, ging der Titel auf einen Vetter über.

So viel zu Heiterkeit und Leichtigkeit, dachte Janine. Das Gemälde war drei Jahre nach Lady Charlottes Tod entstanden. Den Nachfolgern des Earls schien es dann nicht mehr so viel bedeutet zu haben, denn warum wäre es sonst hier gelandet? Bei allem, was das Internet hergab, ließ sich keine verwandtschaftliche Beziehung der Vérignys zum Earl herstellen.

Nachdenklich wickelte Janine sich eine Strähne ihrer widerspenstigen Locken um den Finger, wie sie es oft tat. Wieso bloß kam ihr das Porträt so bekannt vor?

Und dann fiel es ihr plötzlich ein. Sie hatte genau so ein Gemälde schon einmal fotografiert. Und zwar in der Niederlassung in Brüssel. Und wenn das stimmte, war eins davon eine Fälschung.

3. KAPITEL

Yves konnte sich nicht erinnern, schon mal für längere Zeit so schlechte Laune gehabt zu haben. Es hatte nichts damit zu tun, dass ihm sein Assistent gerade über den Produktionsausfall in der tschechischen Fabrik berichtet hatte oder dass ein amerikanischer Konkurrent eine inakzeptable Vergleichswerbung geschaltet hatte, gegen die VCI Cosmetics Klage erheben wollte. Nein, im Augenblick beschäftigte er sich hauptsächlich mit dem, was er heute erfahren hatte: Sein Vater war nicht der, für den er ihn gehalten hatte.

Plötzlich wurde ihm bewusst, was ihm im Haus so anders vorgekommen war. Es gab kein Foto mehr von Georges. Sonst hatten sie in allen Räumen gehangen oder gestanden, die offiziellen Aufnahmen, die zu Weihnachten oder zum Geburtstag von der Familie Vérigny gemacht wurden, aber auch die Schnappschüsse von Reisen und Ausflügen. Und so würde Marcelline es vermutlich mit dem Rest der Erinnerungen durchziehen bis hin zu der Tatsache, dass ihre Schenkung das endgültige Aus für den Jachtclub bedeutete, für den Georges sich ein Leben lang eingesetzt hatte.

Er sagte sich, dass es ihm egal sein sollte. Es hätte wenig Sinn, das Schloss selbst zu übernehmen, nur damit es dann 350 Tage im Jahr leer stand – er würde wohl kaum den Firmensitz verlegen, um hier wohnen zu können. Es täte ihm leid, doch er würde den Verlust verschmerzen.

Er hing nicht besonders an den Gemälden und Sèvres-Vasen, die sie versteigern lassen wollte. Aber er hing an seinem Vater, wurde ihm bewusst. Seit der Beerdigung hatte er sich in die Arbeit gestürzt, um das Fehlen des Seniorchefs zu kompensieren. Das hatte er jedenfalls behauptet. Vielleicht tat er es aber auch, um nicht zu viel darüber nachdenken zu müssen, dass es nun nie wieder einen Segeltörn nach Guernsey mit seinem alten Herrn geben würde, obwohl sie häufig davon gesprochen hatten. Die Zeit hatten sie sich jedoch nie genommen.

Stattdessen hatte Georges eine Affäre begonnen. Es fühlte sich an, als hätte sein Vater damit nicht nur Marcelline, sondern auch ihn betrogen. Fünfunddreißig Jahre hatte er mit der Vorstellung von einem untadeligen, vorbildlichen Vater gelebt – und dieses Bild war plötzlich zerstört. Die Erkenntnis ließ ihn in einem Chaos der Gefühle zurück, mit dem er schlecht zurechtkam. Yves mochte kein Chaos, er brauchte Ordnung, und momentan wusste er nicht, wie er diese Ordnung in seinem Kopf wiederherstellen sollte.

Nebenan in der Bibliothek hörte er Schritte – Janine war bei der Arbeit. Das war noch so eine Sache. Niemals hätte er sich mit ihr eingelassen, wenn er geahnt hätte, dass er ihr jemals wieder begegnen würde. Und auch wenn er inzwischen wusste, dass sie mit ihrer Kamera keine Paparazzifotos machen wollte, so war er doch unsicher, wie er ihr jetzt gegenübertreten sollte.

Missmutig schaute er auf die Uhr und stellte fest, dass es Zeit zum Abendessen war. Als er aus dem Arbeitszimmer trat und sich sein Jackett über das weiße Hemd streifte, sah er Janine aus der Bibliothek kommen. Sie trug Jeans und einen lockeren Pullover. Seine Mutter wäre bestimmt nicht begeistert darüber, dass sie in einem so lässigen Outfit zum Dinner erschien. Ob er sie warnen sollte? Aber dann müsste er sie ansprechen, und er war sich nicht sicher, was dabei alles an Worten aus seinem Mund purzeln würde. Außerdem war das nicht sein Problem. Also nickte er ihr kühl zu und ging voran in den Speisesalon.

Natürlich nahm Janine den missbilligenden Blick seiner Mutter auf ihre Jeans wahr. „Verzeihen Sie“, sagte sie rasch, „ich hatte die Uhr nicht im Auge und keine Zeit mehr, mich umzuziehen. Wie ich sehe, sind die Standards bei Ihnen ein wenig höher, als ich es gewohnt bin.“

„Unsere Familie ist der Meinung, dass es nicht schadet, wenn man die guten Sitten auch im kleinen Kreis berücksichtigt“, erwiderte Marcelline spitz. „Zumindest fürs Dinner kleiden wir uns gewählter.“

„Gewiss“, sagte Janine verlegen.

„Kommen Sie gut voran?“, erkundigte Marcelline sich.

Janine runzelte die Stirn. „Ich habe da ein paar Fragen“, antwortete sie. „Seit wann befindet sich der Gainsborough in Ihrem Besitz?“

Marcellines Mundwinkel zuckten. „Schon seit Jahrzehnten“, erwiderte sie. „Mein Schwiegervater hat das Bild in England gekauft, und mein Mann hat es mir zur Geburt unseres Sohnes geschenkt. Das ist jetzt fünfunddreißig Jahre her.“

„Und seitdem hängt es in diesem Hause?“

„Selbstverständlich, wo sollte es sonst sein?“

Janine nickte nachdenklich. „Ihr Schwiegervater hat sicherlich auch eine Expertise dazu erhalten, nicht wahr? Oder haben Sie später eine anfertigen lassen?“

Nun sah seine Mutter sie geradezu ärgerlich an. „Ich habe Ihnen doch die Mappe gegeben, Madame Bourdain.“

„Das ist richtig“, sagte Janine geduldig, „aber ausgerechnet zu diesem Bild ist keine Original-Expertise vorhanden, nur eine Fotokopie, die schon etwas älter zu sein scheint.“

Yves entschloss sich nachzufragen: „Was ist denn das Problem mit dem Gemälde?“ Er konnte nicht glauben, dass Janine sich gleich am ersten Tag mit seiner Mutter wegen irgendwelcher Banalitäten anlegen würde.

Janine spielte einen Moment mit ihrer Gabel, bevor sie antwortete, offenbar eine für sie typische Geste.

Sie schaute Marcelline ernst an. „Ich habe dieses Gemälde schon einmal fotografiert“, sagte sie schließlich. „Vor ein paar Jahren. In unserer Niederlassung in Brüssel. Ist das möglich, Madame?“

„Auf keinen Fall“, gab die Gräfin scharf zurück. „Die Entscheidung zum Verkauf habe ich erst kürzlich getroffen.“

Yves wandte sich argwöhnisch an Janine: „Was willst du da andeuten?“

Sie seufzte. „Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Kunstwerk in mehreren Varianten existiert.“

„Du willst damit sagen, es ist vielleicht eine Fälschung?“

„Was ist denn das für ein Unfug“, rief Marcelline erbost. „Dieses Gemälde ist ein Gainsborough, ganz sicher.“ Sie wandte sich direkt an Janine: „Hören Sie, Sie sind gerade erst hier angekommen und stehen noch völlig am Anfang ihrer Arbeit. Sie sollten wirklich vorsichtig sein, bevor sie solche unbegründeten Behauptungen in den Raum stellen.“

„Ich stelle keine Behauptungen auf, Madame, ich frage nur nach. Es gibt da einige Ungereimtheiten, und die möchte ich klären.“

Yves war beeindruckt davon, wie ruhig und gelassen Janine auf die Vorwürfe seiner Mutter reagierte.

„Ungereimtheiten!“, fauchte Marcelline. „Ich kann Ihnen versichern, mit dem Inventar des Schlosses ist alles in bester Ordnung. Gainsborough war ein berühmter Künstler und hat einige Porträts dieser Art gemalt. Möglicherweise verwechseln Sie unseres mit einem davon.“

„Das glaube ich nicht, Madame“, erwiderte Janine.

Inzwischen blitzten ihre Augen ein wenig kämpferischer. Vermutlich wollte sie sich nicht unterstellen lassen, sie würde ungerechtfertigte Aussagen von solcher Tragweite machen.

„Madame Bourdain, ich weiß, Sie sind keine Kunstexpertin, sondern reisen nur für das Auktionshaus zu den Kunden, um deren Stücke zu erfassen“, stellte Marcelline fest. „Also tun Sie bitte auch genau das, und überlassen Sie es anderen, über die Echtheit der Kunstwerke zu entscheiden.“

„Oh, das werde ich auf jeden Fall“, versicherte Janine. „Gerade deshalb stelle ich Ihnen ja diese Fragen. Manches lässt sich vielleicht klären, ohne direkt einen Sachverständigen einschalten zu müssen. Denn das würde die ganze Angelegenheit nur komplizierter machen.“

Marcelline warf missmutig ihre Serviette neben ihren Teller und stand auf. „Ich muss sagen, mir ist der Appetit vergangen.“ Sie wandte sich an Yves. „Ich habe gleich eine Verabredung zum Bridge. Deswegen möchte ich dich bitten, dich um diese unerfreuliche Sache zu kümmern, Yves. Es muss doch möglich sein, jeden Zweifel auszuschließen, was unseren Gainsborough angeht.“

Ihre Absätze klapperten laut auf dem Parkettboden, als sie das Speisezimmer verließ.

Janine schaute ihn bedauernd an. „Es tut mir leid“, sagte sie. „Ich wollte auf keinen Fall einen Streit vom Zaun brechen. Aber ich hoffe, wenigstens du verstehst, dass ich in dieser Hinsicht nachfragen muss. Das bin ich meinem Arbeitgeber schuldig.“

Es biss sich auf die Lippen. Natürlich konnte er ihre Position nachvollziehen. Er hätte in einer ähnlichen Situation nicht anders reagiert. Und gerade das machte ihn wieder ärgerlich. Er brauchte nicht noch mehr Komplikationen, verflixt noch mal.

„Lass uns erst mal essen“, schlug er vor. „Und dann werde ich mir anschauen, was es mit dieser Sache auf sich hat.“

„Natürlich“, sagte Janine und beugte sich über ihren Teller.

Aber auch sie schien keine rechte Freude an der Fischsuppe zu haben, die Florence ihnen serviert hatte. Sie griff nach einem Stück Brot und zerkrümelte es ...

Autor

Maya Blake
<p>Mit dreizehn Jahren lieh sich Maya Blake zum ersten Mal heimlich einen Liebesroman von ihrer Schwester und sofort war sie in den Bann gezogen, verlor sich in den wunderbaren Liebesgeschichten und begab sich auf romantische Reisen in die Welt der Romanhelden. Schon bald träumte sie davon, ihre eigenen Charaktere zum...
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Becky Wicks
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