Romana Extra Band 153

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UND DER HIMMEL VOLLER GEIGEN von ROBERTA BARLEY

Eine Stadt wie Musik: Bei einem Freiluftkonzert in Cremona trifft Julie den sexy Italiener Leonardo. Magisch von ihm angezogen, lässt sie sich spontan auf einen Flirt ein. Doch als nach einem innigen Kuss ihr Himmel voller Geigen hängt, weist er sie jäh wieder ab …

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  • Erscheinungstag 23.11.2024
  • Bandnummer 153
  • ISBN / Artikelnummer 9783751523936
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Roberta Barley

1. KAPITEL

Cremona, im Mai

Prrrrroooooorrrrrr. Da war er wieder, der Presslufthammer.

Julie presste das Kopfkissen fest auf Gesicht und Ohren. Es hatte keinen Sinn, liegen zu bleiben. Im Hotel Tre Colonne wurde umgebaut, wenn auch nur in der Etage über ihr, das war ihr am Empfang versichert worden, als sie am Vortag eingecheckt hatte. Doch der Lärm war auch an diesem Morgen ohrenbetäubend. Ihr Handy klingelte, sie warf einen Blick darauf: Es war Claire, der sie diese Reise zu verdanken hatte.

Prrrrroooooorrrrrr. Der Presslufthammer von oben lief zur Hochform auf. Julie schaute sich um, wohin sollte sie fliehen, um das Gespräch annehmen zu können? Auf den winzigen Balkon des Hotelzimmers? Doch dann würde sie den Straßenlärm der vielbefahrenen Via Castelleone als Geräuschkulisse in Kauf nehmen müssen. Sie zuckte mit den Schultern. Claire hatte ihr die Reise geschenkt, die sie sich sonst niemals hätte leisten können, sie würde sich also keinesfalls bei ihr über den Lärm beschweren.

„Hello, my dear! Alles in Ordnung?“ Claires warme Stimme erklang an Julies Ohr. „Fühlst du dich bereits als ganze Italienerin oder immer noch als halbe?“

„Ich arbeite an der zweiten Hälfte“, sagte Julie lächelnd, während sie die Balkontür hinter sich zuzog. Ihre Mutter war Italienerin gewesen, und eine äußerst begabte Cellistin dazu; viel hatte sie davon leider nicht geerbt.

„Mein Gott, wo bist du, ich verstehe dich kaum!“

„In meinem Zimmer, also besser gesagt auf dem Balkon“, rief Julie. „Aber keine Sorge, alles ist wunderbar, ich gehe jetzt sowieso gleich raus, um eine Kleinigkeit zu frühstücken!“

„War das Frühstück nicht auch inklusive? Das stand doch in dem Anschreiben.“

„Doch, doch, aber in einer echten italienischen Bar ist es einfach viel schöner!“ Sie wechselte das Thema. „Wie geht es dir? Was macht das Gummibärchen?“

„Oh, es ist bereits zwei Zentimeter lang, hält mich aber trotzdem auf Trab und lässt mich nicht schlafen vor lauter Übelkeit. Seit heute Morgen um sechs habe ich mich schon zweimal … na, ja, du weißt schon … erleichtert, obwohl ich zurzeit nur schwarzen Tee trinke.“

„Ach, Claire!“ Julie vermisste die Freundin schmerzlich und hätte sie am liebsten in diesem Moment an sich gedrückt.

„Ach, Julie!“, gab Claire im selben sehnsüchtigen Ton zurück. „Ich weiß, bis vor drei Wochen haben wir uns so auf diese Reise nach Italien gefreut. Und nun freue ich mich eben auf etwas anderes. Und Robin erst!“

Robin war Claires Mann, der sie von vorne bis hinten verwöhnte, seitdem er von der Schwangerschaft wusste.

„Ich freue mich doch auch für dich!“, sagte Julie, und verdrängte sofort den Anflug von Neid, der in ihr aufstieg. Sie gönnte Claire die Freude auf ihr erstes Kind doch! „Wäre nur schön gewesen, deinen Hauptgewinn von Pasta-Pronta hier gemeinsam zu feiern!“

„Mir wird schon schlecht, wenn ich nur an Nudeln denke, oder daran, mein Schlafzimmer zu verlassen.“ Claire lachte, doch es klang recht schwach. „Auf diese Weise genießt wenigstens du die Reise, so eine tolle Gelegenheit darf man sich doch nicht entgehen lassen! Aufenthalt und Anreise gratis und ein Taschengeld dazu!“

„Aber natürlich.“ Julie wusste, dass die Freundin es einfach gut mit ihr meinte und nicht auf ihre recht klamme finanzielle Situation anspielte. „Ich werde Italienisch essen und Italienisch sprechen, endlich die letzten drei Krimibände von Commissario Vitale lesen und in ganz viel klassische Konzerte gehen, darauf kannst du dich verlassen. Cremona ist wunderschön!“

„Ach, Claire!“, sagte Julie noch einmal leise und schüttelte lachend den Kopf, als sie kurz darauf zu Fuß an der viel befahrenen Schnellstraße, an der das Hotel lag, entlangmarschierte.

Cremona war wirklich bezaubernd. Man musste nur nah genug am Stadtkern sein und die Außenbezirke ausblenden. Die meisten Häuser in diesem Viertel waren in einem warmen Gelb oder Ocker gestrichen und von Gärten umgeben, hier und da öffneten sich kleine Plätze, die von Bäumen umstanden waren und kühlenden Schatten boten. Ein Stückchen weiter wurden die breiten Straßen zu Gassen, rötliche Backsteinmauern wechselten sich mit bunten Fassaden ab, und aus einem geöffneten Fenster drang Musik. Julie blieb stehen und lauschte einem einzelnen Cello, das immer wieder eine Stelle aus Schuberts Schwanengesang spielte.

Julie zog sich das Herz zusammen. „Danke, dass ihr mich gezwungen habt, hierherzukommen“, flüsterte sie. Nicht nur Claire, auch Julies Freund Dexter, in dessen Buchladen sie im westlichen London angestellt war, hatte einiges an Überzeugungsarbeit leisten müssen, bevor sie der Reise endlich zugestimmt hatte.

„Du fährst! Du hast in den letzten Jahren so viel gearbeitet, du hast es dir verdient! Wir haben die größte Abteilung italienischsprachiger Bücher in ganz London, und das haben wir dir zu verdanken, Julie. Und erst jetzt erfahre ich, dass du mit deinen siebenundzwanzig Jahren noch nie in dem Land deiner Mutter warst? Also wird es höchste Zeit!“

Als Julie abwinkte, war Dexter noch ein bisschen deutlicher geworden. „Nach all dem Ärger mit Nick und dem verlorenen Geld!? Und überhaupt, Susan, unsere neue Aushilfe, ist großartig, das hast du selbst gesagt. Also fort mit dir! Der Kingsley Bookshop kann in der nächsten Woche recht gut auf dich verzichten!“

Julie ging mit großen Schritten weiter, als ob sie so den Gedanken an Nick schneller entfliehen konnte. Die Beziehungspause, die sie von ihm eingefordert hatte, würde sie nicht so schnell beenden. Möglicherweise sogar nie mehr. Sie hatte einfach kein Glück mit Männern und würde sich den Rest ihres Lebens von ihnen fernhalten!

Jetzt übertreibst du aber, sagte eine innere Stimme zu ihr. Sie sind nicht alle schlecht. Nick hat dir jeden Tag hoch und heilig seine Liebe geschworen.

Ja, aber er war auch sehr besitzergreifend, antwortete Julie sich selbst. Und dann hat er auch noch das Geld genommen, Papas Geld!

Er wird es dir zurückzahlen, das hat er fest versprochen …

Ach ja, wie denn? Mit weiteren riskanten Spekulationen vielleicht? Ich bleibe dabei, führte Julie ihren inneren Dialog fort. Ich habe genug von Männern! Basta!

Doch mit diesem Problem wollte sie sich an diesem herrlichen Morgen nicht näher befassen. Das Wetter war für Anfang Mai sehr warm, der Himmel über Cremona tiefblau, sie näherte sich der Piazza del Comune, dem Hauptplatz mit der herrschaftlichen Domfassade.

Julie atmete tief ein. An diesem Vormittag wollte sie den Dom besichtigen, doch jetzt hatte sie die bunten Wimpel einer Bar entdeckt, die laut dem Schild, das über der Tür hing, Bar Imperial hieß. Sie trat ein und steuerte auf die Theke zu. „Un cappuccino, per favore!“

Signora“, antwortete der Barmann mit der blütenweißen Jacke knapp und stellte eine Untertasse vor sie hin, legte einen Löffel dazu.

Grazie!“

Julie strich sich das lange brünette Haar zurück. Im Zusammenspiel mit ihren grüngrauen Augen und der hellen Haut, auf der sich nach den ersten Sonnenstrahlen hier in Cremona schon einige Sommersprossen zeigten, tippten die meisten Menschen bei ihr eher darauf, dass sie Irin wäre.

Sie lächelte wieder, doch dann fiel ihr Blick auf die Gruppe von Männern, die hinter ihr im Spiegel auftauchten und sich um einen der Stehtische scharten. Elegante, dennoch zwanglose Anzüge, gut geschnittene dunkle Haare und leicht gebräunte Gesichter. Geschäftsmänner auf dem Weg zur Arbeit, auch sie nahmen hier ihren ersten caffè ein.

„Massimo!“, rief einer von den lässigen Italienern, gefolgt von etwas Unverständlichem. Julie verdrehte die Augen. Warum verstand sie nicht, was da gesprochen wurde? Dabei beherrschte sie die Sprache doch recht gut. Mama hatte in den ersten zehn Jahren ausschließlich Italienisch mit ihr gesprochen, obwohl sie in London lebten. Dennoch verstand sie hier nur die Hälfte. Sie hätte den Online-Kurs doch ernster nehmen sollen …

Der Mann hinter der Theke hatte natürlich keinerlei Schwierigkeiten, die Bestellung der Männer aufzunehmen, er nickte, während er drei mit Puderzucker bestäubte winzige cornetti aus der Vitrine holte und auf einen Teller legte. Julie musterte die Herren am Stehtisch noch einmal unauffällig. Geschäftsmänner gab es auch in London, aber was für ein Unterschied! In der englischen Hauptstadt rannten sie bleich und angestrengt mit verwechselbaren Anzügen und ebenso verwechselbaren Pappbechern to go über die Bürgersteige. In Cremona dagegen schien jeder Zeit zu haben und den Stress zu Hause zu lassen.

Julie wandte sich vom Spiegel ab, nicht ohne vorher den Mann wahrzunehmen, der ihr einen diskreten Blick zuwarf, bevor er wieder mit seinen Kollegen sprach. Dennoch bemerkte sie das feine Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte. Sehr schöne Mundwinkel, und sehr schöne Lippen übrigens, die von einem gepflegten dunklen Bart betont wurden. Er war schlank und hatte breite Schultern.

Il cappuccino per la Signora!“, sagte der Barkeeper und riss sie aus ihren Gedanken.

Grazie.“ Julie hob die Augenbrauen, als ein Tellerchen mit einem Minigebäckstück vor sie gestellt wurde, welches sie definitiv nicht bestellt hatte. „Ma …“, stammelte sie auf Italienisch, der Barista zeigte mit dem Kopf auf die drei Männer, die jetzt gleichzeitig ihre Espressotässchen auf die Unterteller stellten und die Bar mit einem fröhlichen Buon giorno, Massi, verließen.

In diesem Moment wandte sich der sexy Italiener noch einmal um, sah sie mit seinen dunklen Augen so intensiv an, dass es in ihrer Brust ganz warm wurde, bevor er eine kleine Verbeugung mit dem Kopf andeutete.

Julie senkte den Blick und spürte, wie sie errötete.

Dann biss sie in den knusprigen Blätterteig und genoss den köstlich süßen Geschmack der Vanillecreme. Ein Geschenk. Von einem Fremden. Und noch dazu so ausnehmend attraktiv, dass dir seine Erscheinung zittrige Knie bereitet hat, meldete sich ihre innere Stimme erneut. Obwohl du dir nur ein paar Minuten zuvor geschworen hast, von den Männern für immer Abstand zu nehmen.

Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Herzlichen Glückwunsch, Julie, sagte sie zu sich. Du hast dich dazu durchgerungen, die Reise nach Cremona auch ohne Begleitung zu unternehmen, vielleicht wird dein Mut ja belohnt!

2. KAPITEL

Ein paar Stunden später hatte Julie sowohl den duomo als auch das benachbarte Baptisterium von innen besichtigt, hatte andächtig vor dem Haus, in dem Stradivari zu Lebzeiten seine Werkstatt gehabt hatte, gestanden und war zum Domplatz zurückgekehrt, wo sie im Schatten der Bogengänge zu Mittag aß.

Von Besichtigungen hatte sie für diesen Tag allerdings genug, sie wollte jetzt nach dem Essen nur noch ein wenig durch die Straßen schlendern, vielleicht in ein paar Schaufenster hineinschauen und sich dann im Hotel etwas ausruhen.

Wenn das möglich ist bei dem Lärm, dachte sie und schaute auf ihre filigrane Armbanduhr, ein Erbstück ihrer Mutter. Drei Uhr. Ob die Bauarbeiter schon nach Hause gegangen waren, wenn sie im Hotel eintraf?

Entspannt spazierte sie durch die Straßen der Innenstadt, es gab kleine Läden, hier und da hatten Geigenbauer, die liutai, ihre Werkstätten. Hin und wieder konnte sie einen Blick in die Innenhöfe der Häuser erhaschen, in denen es grünte und blühte und nicht selten ein Brunnen plätscherte. Bunte Kacheln mit blumigen Motiven schmückten die Wände, und Vögel zwitscherten. In dieser Stadt war alles so harmonisch und lebendig, dabei aber nicht hektisch. Doch sollte sie heute Abend tatsächlich noch mal ausgehen? Julie runzelte die Stirn. Mittags allein auf dem Domplatz zu sitzen hatte ihr nichts ausgemacht, doch wenn es dunkel wurde und die Straßenlaternen ihr besonders schönes gelbes Licht verströmten, würde es ihr schwerfallen, irgendwo allein an einem Einzeltisch zu sitzen. Lieber würde sie auf dem Zimmer bleiben, wo ihre italienischen Krimis schon auf sie warteten.

Als Julie kurz darauf an der Piazza del Museo ankam, war sie bereits ein wenig erschöpft. In dem berühmten Geigenmuseum waren über zweihundert Streichinstrumente von berühmten Geigenbauern der Stadt zusammengetragen worden; Celli, Bratschen und Violinen, vier davon Stradivari. Sie freute sich, diese Sehenswürdigkeiten irgendwann in den nächsten Tagen besichtigen zu dürfen.

Heute wollte sie nur einen Blick von außen auf das Gebäude werfen. Doch der Platz war voller Menschen, die gespannt auf etwas zu warten schienen. Julie ging an einer großen silbernen Geigenstatue vorbei und reckte den Hals: Vor dem Museum war ein Podium aufgebaut, auf dem ein komplettes Streichorchester saß.

Julie lächelte, was für ein wunderbarer Zufall, nun wurde sie an diesem traumhaften Tag auch noch mit einem öffentlichen Konzert belohnt! Von hier hinten konnte sie zwar nicht besonders gut sehen, doch sie blieb einfach stehen und klatschte aus der letzten Reihe Beifall, als der Dirigent in diesem Moment die Bühne betrat. Sobald die Musik einsetzte, schloss sie die Augen, und blendete die Menschen um sich herum einfach aus.

Schon nach den ersten Takten war ihr klar, sie spielten Mozart dort vorne, das Rondo in D-Dur. Was für ein Genuss! Sie kannte das Stück auswendig, ihre Mutter hatte ihr eine ganze Reihe CDs mit ihren Aufnahmen hinterlassen. Und schon die zehnjährige Julie hatte sie alle gehört und gewusst, in welcher Stadt ihre Mutter mit ihrem Cello aufgetreten war, mit welchem Orchester und natürlich mit welchen Stücken. Auch nach ihrem viel zu frühen Tod hatte Maxwell Richardson seine Tochter bestärkt, die Stücke weiter zu hören, zusammen mit ihm. Es tat furchtbar weh, doch indem sie gemeinsam weinten und über sie redeten, hatten sie sich in ihrer Trauer gegenseitig trösten können. Bis zuletzt, auch als ihr Vater dann schon sehr dement war, hatte Julie mit ihm den Konzerten ihrer Mutter gelauscht.

Hätte ich mit der Bratsche weitergemacht, Mammina …, dachte sie, doch an diesem Tag trübten ihre Gedanken ihre Stimmung nicht wie sonst, sondern erfüllten sie mit noch mehr Liebe für ihre Eltern, für die ganze Welt. Das Leben war einfach zu herrlich, die milde Luft, die andächtig versammelten Menschen und die freudigen Töne, die jetzt über sie hinweg jubelten. Vor lauter Glückseligkeit stiegen ihr die Tränen in die Augen, sie ließ sie laufen und hielt die Lider geschlossen.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie als Erstes eine große Männerhand, die ihr ein blütenweißes Stofftaschentuch anbot. Sie schniefte lachend, starrte auf das Tuch und nahm es dankend an.

„Grazie“, sagte sie, als sie wieder hinter dem weichen Stoff hervorkam, der leicht nach zitronigem Bergamotte roch. Immer noch etwas peinlich berührt warf sie dem Mann einen ersten Blick zu …

Und traute ihren Augen nicht! Nein, das war unmöglich, es war der Mann aus der Espressobar, der ihr an diesem Morgen das köstliche kleine cornetto spendiert hatte! Sie hörte kaum, dass er etwas zu ihr sagte, sondern starrte ihn nur an.

Irgendwann wurde ihr klar, dass er auf eine Antwort wartete. „Scusate, was haben Sie gesagt?“ Ihr Italienisch klang etwas eingerostet, aber egal.

Jetzt war er es, der sie erstaunt ansah. „Sie waren das heute in der Bar!“

Julie hatte ihre Fassung wieder erlangt, und nun gelangen ihr auch ein paar weitere italienische Sätze. „Grazie für das cornetto, es war wunderbar. Meraviglioso!“ Sie hatte die Stimme gesenkt, um die anderen Zuhörer nicht bei ihrem Musikgenuss zu stören. Es hatte etwas Verschwörerisches, als er sich jetzt zu ihr beugte.

„Sie sprechen gut Italienisch“, sagte er leise. „Trotzdem höre ich einen Akzent, Sie sind nicht von hier?“

„Nein“, wisperte sie. „London.“

War da ein Schatten, der über sein Gesicht ging? Ganz eindeutig, doch er versuchte zu überspielen, was immer ihn auch irritiert hatte. „Gefällt Ihnen Cremona?“ Wieder der leise, tiefe Ton. Julie hätte alles gegeben, dieser Stimme endlos weiter zuhören zu dürfen.

Sie seufzte. Von dem schäbigen Hotel musste er ja nichts wissen. Stattdessen antwortete sie: „Ja, es ist so schön hier! Wunderschön!“

Er lachte. „Das freut mich. Wir sind nämlich stolz auf unsere Stadt, wir Cremoneser!“

Julie biss sich leicht auf die Unterlippe. Wie gern würde sie weiter mit ihm plaudern. „Die Musik ist herrlich!“, versuchte sie, das Gespräch in Gang zu halten.

Er nickte. „Spielen Sie auch?“

„Si, la viola!“ Die Bratsche. Dass sie gerade eine Pause von siebzehn Jahren unterschlug, in der sie ihr Instrument nicht mehr angerührt hatte, war sicher verzeihlich. Doch mit ihrer Aussage schien sie ihn erneut irritiert zu haben, denn er runzelte die Stirn und seufzte. Gleich darauf richtete er sich auf. Etwas ging ihm offenbar durch den Kopf. Nun erst sah sie, was er mit seiner rechten Hand schon die ganze Zeit festhielt. Einen Griff. Den Griff eines Kinderwagens, den er sanft schaukelte. Ein bitterer Geschmack lag Julie mit einem Mal auf der Zunge.

Andiamo a casa?“, fragte er die junge bildhübsche Frau, die neben ihm stand und der Musik lauschte, offenbar die Mutter des Kindes.

Ciao“, sagte er hastig zu Julie, „e tante belle cose!“

Julie schüttelte innerlich den Kopf. Männer waren doch alle gleich! Oder hatte sie sich nur eingebildet, dass dieser Italiener mit ihr geflirtet hatte?

Langsam entfernte sie sich von der Musik. Wie in Trance lief sie die Straßen entlang und kam irgendwann an ihrem Hotel an. Schon von Weitem hörte sie den Lärm.

„Wie lange noch?“, fragte Julie am Empfang statt einer Begrüßung und wies nach oben.

„Sie meinen heute? Noch bis fünf Uhr, die Jungs machen extra Überstunden, um innerhalb der nächsten vier Tage fertig zu sein!“ Mit einem Lächeln reichte die Rezeptionistin ihr den Zimmerschlüssel über den Tresen. „Entschuldigen Sie bitte noch einmal die Unannehmlichkeiten!“

Noch vier Tage dieser Lärm? Julie schüttelte fassungslos den Kopf. Na prima, am ersten Tag ohne Bauarbeiten würde sie bereits wieder abfahren!

„Warum hast du sie nicht gefragt? Ich habe doch gesehen, dass sie dir gefällt!“

Leonardo schüttelte den Kopf. „Tut sie gar nicht.“

„Tut sie wohl! Hör mal, sie war bildhübsch, sah äußerst intelligent aus, hatte eine schöne Figur und dann zu allem Überfluss noch dieses lange glänzende Haar in dieser wahnsinnigen Farbe! Kupferrot, mit einem Schuss Mahagoni. Beneidenswert!“ Sie seufzte und fuhr sich durch ihr eigenes dunkles Haar. „Hier! Schau! Mir fallen sie seit der Schwangerschaft aus!“

„Das sind die Hormone und es hört wieder auf. Du solltest dankbar sein, du hast ein wunderbares, gesundes Mädchen bekommen!“

„Das viel zu oft weint! Die arme Alice! Wenn ich doch nur wüsste, woran es liegt!“

Leonardo wusste es auch nicht. Seine kleine Babynichte war wirklich süß, aber doch sehr anstrengend! Kaum schlief sie mal zehn Minuten, so wie jetzt, atmeten sie alle auf, doch dann erwachte Alice prompt wieder und schrie und schrie, und nichts konnte sie beruhigen.

Das Gesicht der schönen Frau aus der Bar und von der Piazza del Museo tauchte vor seinem inneren Auge auf, und obwohl er sich dagegen wehrte, schien es sich nicht so schnell wieder vertreiben lassen zu wollen. Die zarte helle Haut, mit ein paar allerliebsten Sommersprossen, die großen graugrünen Augen mit den schön geschwungenen Brauen darüber, ihre vollen Lippen … Seine Schwester hatte natürlich den richtigen Instinkt gehabt. Er fühlte sich in der Tat von der Unbekannten angezogen. „Sie ist Engländerin!“, stieß er hervor. „Sie sprach zwar Italienisch, aber ich habe es an ihrem Akzent erkannt.“

„Na und, nur weil …“, setzte Laura an.

Leonardo unterbrach sie sofort. „Und rate mal, was für ein Instrument sie spielt!“

„Doch nicht etwa Bratsche?“, fragte Laura leise, nun doch überrascht.

„Allerdings!!“

„Dafür kann die arme Frau nichts, dass sie wie …“

„Sag ihren Namen nicht!“

Leonardo ballte die Hände zu Fäusten. Seine Barschheit tat ihm im selben Moment leid, doch er hatte das Gefühl, Eve zu verraten …

Seine Schwester blieb mit dem Kinderwagen stehen, während er weiterging. „Es ist zwei Jahre her, Leo …“

Er drehte sich abrupt zu ihr um. „Ja! Und für mich fühlt es sich immer noch an, als wäre es gestern gewesen!“

„Sie ist wunderschön, und ich habe dich seit einer langen Zeit nicht mehr so fasziniert gesehen …“

Nein! Er schüttelte vehement den Kopf, denn nun stieg ihm auch die Erinnerung an den feinen Duft der Unbekannten in die Nase. Frisch und nach Verbene und weiblich und süß … Er würde es seiner Schwester niemals eingestehen, doch in der Bar hatte er tatsächlich einen Moment lang gedacht, dass er sich vielleicht, ganz vielleicht wieder verlieben könnte. Was für ein Irrsinn.

3. KAPITEL

In ihrem Zimmer warf Julie sich aufs Bett, starrte an die Decke und versuchte den Baulärm auszublenden. Nicht nur die Lampe wackelte, das ganze Haus wackelte! Was sollte sie tun?

Nachdem sie einen Moment nachgedacht hatte, sprang sie aus dem Bett, ging an den kleinen Schreibtisch und öffnete ihr Tablet. Auch wenn sie dafür ihr letztes Erspartes, dass sie nach Nicks Spekulationen noch besaß, antasten müsste, sie würde sich im Internet eine andere Bleibe suchen.

Sie wurde schnell fündig. Ein Zimmer fiel ihr besonders ins Auge. Es befand sich in einem einzeln stehenden Haus, nicht weit entfernt vom Geigenmuseum. Es hatte ein großes Fenster, ein eigenes Bad und sah mit den dunkelbraunen Möbeln und den hellen Leinenstoffen sehr gemütlich aus. Der Preis war in Ordnung, und im Erdgeschoss war zudem eine Geigenbauwerkstatt untergebracht, vielleicht konnte sie die ja mal besichtigen? Außerdem lächelte Ida, die bestimmt schon über sechzigjährige Vermieterin, so mütterlich auf ihrem Profilfoto. Was Julie aber am meisten überzeugte, war der Satz: Unseren kleinen Garten können Sie gern mitbenutzen. Schnell fragte sie an, ob das Zimmer für die nächsten vier Tage frei war. Vielleicht sogar schon für heute Abend?

Die Antwort kam prompt. Benvenuti!

Julie sprang vor Freude auf. Das war beinahe zu schön, um wahr zu sein. „Yes!“, rief sie, um den Lärm des Presslufthammers zu übertönen. Dann klappte sie den Koffer auf und begann zu packen.

Es dämmerte schon, als sie ihren Koffer über das Pflaster zog. Julie fühlte sich wie beflügelt. Sie nahm ihren Urlaub jetzt selbst in die Hand!

Sie ging die Via Caldore entlang und kontrollierte die Hausnummern, bis zur Nummer fünfundvierzig musste es jetzt nicht mehr weit sein. Sie kam an einer langen, hohen Mauer vorbei, die immer mal wieder von Pfeilern und Gitterstäben unterbrochen war. Neugierig spähte Julie hindurch. Es gab einen gepflegten Rasen und auch hier Bäume, weiter hinten konnte sie eine altehrwürdige zweistöckige Villa sehen. „Nicht die nummero fünfundvierzig“, sagte Julie leise vor sich, „doch Nachbarn sind wir vielleicht schon …“

Sie sollte recht behalten, das Haus nebenan war sehr viel bescheidener, aber nicht weniger hübsch. Ein Törchen, ein Vorgarten mit hellblau blühenden Hortensien, die wunderbar zum hellgelben Anstrich des Hauses passten, und zwei Treppenstufen, die zu einer dunklen Holztür führten. Julie ließ den Koffer stehen, sprang die Stufen hoch und hatte schon geklopft, bevor sie die Klingel entdeckte. Oh no, das war ein Fehler! Was hatte Vermieterin ihr geschrieben? Bitte nicht klopfen und nicht beim laboratorio klingeln, sondern oben, bei di Francesco! Sie knetete aufgeregt die Hände, doch es war zu spät, schon öffnete sich die Tür und ein weißhaariger Mann erschien, der eine über und über mit Holzspänen übersäte grüne Schürze trug. Seine Stirn war in Falten gelegt. „Was wollen Sie?“, knurrte er auf Italienisch, bevor er auf der Stelle kehrtmachte.

„Ich …“ Entmutigt ließ Julie die Hände sinken. Was für ein Empfang … Doch nun waren Schritte zu hören, und eine ältere Italienerin tauchte in den Tiefen des Hausflures auf, die ihrem Lächeln nach zu urteilen Ida sein musste.

„Kommen Sie, kommen Sie!“

Erleichtert trug Julie ihr Gepäck ins Haus, während Ida sie herzlich begrüßte. „Ich bin Ida und das ist Gaspare, mein Ehemann, der selten hervorkommt, weil er praktisch in seiner Werkstatt wohnt.“ Sie hielt eine Tür auf. „Nun leg dein Werkzeug weg und sag unserem neuen Gast buona sera!“

Julie blickte durch die offene Tür und nickte dem alten Geigenbauer zu, der etwas Unverständliches grummelte und längst wieder an seiner Werkbank saß.

„Nun, das hat ja noch Zeit, am besten, Sie achten gar nicht auf ihn. Ich zeige Ihnen Ihr Reich!“ Julie nickte, Ida sprach im Gegensatz zu ihrem Mann ein sehr klares, leicht verständliches Italienisch.

Das Zimmer war so gemütlich wie auf den Fotos, das Bad mit seinen klobigen Armarturen etwas altmodisch, aber sehr sauber, und als Julie von Ida gefragt wurde, ob sie Hunger habe, hätte sie sie beinahe umarmt, so gerührt war sie von der mütterlichen Fürsorge. Doch sie lehnte dankend ab.

Ida verzog das Gesicht: „Aber frühstücken müssen Sie morgen mit mir! Sie trinken bestimmt englischen Tee? Ich habe einen großen Vorrat davon!“

„Natürlich! Englischer Tee ist wunderbar!“ Den ersten Cappuccino trinke ich dann wieder in meiner Bar Imperial, dachte Julie. Und den cornetto dazu werde ich mir diesmal selbst kaufen!

Resolut verdrängte sie das Gesicht des Mannes mit dem schönen Mund. Vielleicht würde sie auch in eine andere Bar gehen. Sie war nicht auf Männer angewiesen! Auf verheiratete mit Kinderwagen und Ehefrau am Arm schon gar nicht.

Am nächsten Morgen erwachte Julie gut gelaunt. Noch mit geschlossenen Augen streckte sie sich wohlig. Das Bett war himmlisch bequem, die Laken rochen köstlich nach einer Mischung aus Wäschestärke und Sommerwind, aber das Beste von allem: Es war ruhig!

Erholt sprang sie auf, ging in ihr Bad, streifte sich danach ein buntes Sommerkleid über und tappte leise die Treppe hinunter. Signora Ida begrüßte sie in der Küche: „Gut geschlafen, Miss Julie?“

Fantastico“, antwortete Julie, „das Zimmer ist so schön, das Bett so gemütlich, mille grazie! Aber eine Bitte habe ich noch!“

„Ja?“ Ida schaute sie neugierig an.

„Verzeihen Sie mir bitte, wenn ich Sie aus Versehen einmal duzen sollte. Die höfliche Form fällt mir auf Italienisch immer etwas schwer.“

„Aber das ist doch kein Problem, wir können uns duzen! Allora, ich bin Ida!“

„Julie.“ Sie schüttelten sich lachend die Hände. „Ich finde, du sprichst schon ganz fantastisch, wo hast du unsere Sprache denn gelernt?“, fragte Ida, während sie Julie an den hübsch gedeckten Frühstückstisch führte und duftenden Darjeeling einschenkte.

„Meine Mutter war Italienerin“, erzählte Julie und setzte sich. „Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Leider ist Mama recht früh gestorben, als ich erst zehn war.“

O Dio, wie furchtbar!“ Ida sah sie bestürzt an.

„Ja, das war sehr traurig. Doch mein Vater hat dafür gesorgt, dass ich noch drei Jahre lang einmal in der Woche Italienischunterricht erhielt.“ Julie lachte. „Doch ich wollte meinen Vater ja nicht enttäuschen, da er sich doch solche Mühe gab, damit ich das Erbe meiner Mutter nicht vergaß.“

„Das hat er gut gemacht!“ Ida nickte.

„Meine Güte, es ist ja schon nach zehn!“, rief Julie nach einem Blick auf die leise tickende Küchenuhr. „Wie peinlich, sonst schlafe ich nie so lange!“

„Ach, meine Liebe, keine Sorge, du bist hier im Urlaub“, sagte Ida und schob ihr ein Schokoladencroissant hinüber.

Julie nickte, mit einem Mal merkte sie, dass die letzten Wochen wirklich an ihren körperlichen Reserven gezehrt hatten. Die Sache mit Nick und der nervenaufreibenden Beziehung, die sie Gott sei Dank vorerst in die Ruhepause geschickt hatte, die Sache mit dem Geld, das plötzlich auf ihrem Konto fehlte, nicht zuletzt die überraschende Schwangerschaft der Freundin und ihre Neidattacken, die sie mit viel Anstrengung vor ihr geheim gehalten hatte.

Allora, so ein schöner Tag!“ Ida lächelte sie an. „Was hast du heute vor?“

Julie seufzte kurz, erzählte dann aber von dem Geigenmuseum, das für diesen Tag auf ihrem Plan stand.

„Das Museo del Violino ist wirklich sehenswert“, sagte Ida. „Und wenn du dich anschließend erholen möchtest, kannst du dich heute Nachmittag in den Garten setzen.“

Julie bedankte sich für das Angebot, und nachdem sie zusammen plaudernd und lachend das Frühstücksgeschirr abgewaschen hatten, verließ sie das Haus.

Das Museum war ein wundervoller Ort. Julie besichtigte eine komplett eingerichtete Geigenbauwerkstatt und lernte viele neue Dinge über die Geschichte des Geigenbaus.

Ausgerüstet mit Kopfhörern lauschte Julie Klangproben der von den alten Meistern gebauten Instrumente, wie von Guarneri del Gesú, den Brüdern Amati und natürlich Stradivari, die hier zusammengetragen worden waren. Vor einem Cello namens Stauffer blieb sie lange stehen. Was für ein imposantes Instrument hatte Stradivari da vor über zweihundert Jahren geschaffen! Es sollte sich angeblich noch genauso rein anhören wie damals.

Hättest du gern darauf gespielt, Mama? fragte Julie in Gedanken. Du hättest ihm sicher die schönsten Töne entlockt! Wieder spürte sie die Verzweiflung, die sie jedes Mal befiel, wenn sie an ihren eigenen Werdegang als Musikerin dachte. Ich habe es einfach nicht geschafft, hab’s verbockt, entschuldige bitte … Julie zuckte betrübt mit den Schultern und ging weiter.

Sie sah sich noch das moderne, ovale Auditorium mit der hellen Bestuhlung an, in dem an diesem Abend ein Konzert stattfinden würde, doch dann trieb der Hunger sie wieder hinaus.

Das Restaurant, das sich zwischen den großen Säulen direkt zwischen den Flügeln des Gebäudes befand, schien sehr schick und auch sehr teuer zu sein. Julie zögerte, sollte sie dort ein leichtes Mittagessen einnehmen? Nein, das ließ ihr Konto nun wirklich nicht zu. Sie seufzte. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie seinen geliebten Musikverlag nicht weiterführen können und verkaufen müssen. Mit einigen Verlusten zugegeben, doch nach Abzug der Schulden, die sie während des Jahres, in dem sie ihn pflegte, hatte machen müssen, waren immerhin gut achtzigtausend Pfund übrig geblieben. Doch die waren dank Nick nun auch dahin …

Und wenn es auch anders wäre, tröstete sie sich, einsam zu essen war ja nun auch nicht sehr verlockend. In Gesellschaft wäre das etwas anderes … Sofort blitzte wieder das eine, bestimmte Gesicht auf! Mit ihm? Ja. Mit ihm wäre es wunderschön, dort zu sitzen. Aber natürlich! Falls er nicht verheiratet und nicht gerade Vater geworden wäre, wies sie sich heftig zurecht. Einen Augenblick lang spielte sie mit der Idee, einen Kaffee in der Bar Imperial zu trinken, ob er vielleicht dort … Nein! Vergiss es, tadelte sie sich, ich verbiete dir, auf die Suche nach ihm zu gehen! Basta!

In der nächstgelegenen Pizzeria wurden große rechteckige Stücke Pizza in einer Vitrine feilgeboten, aus der es köstlich duftete. Julie erstand ein Stück mit frischen Champignons und eins mit Spinat und nahm sie zusammen mit einer eiskalten Zitronenlimonade mit a casa. Sie musste über sich schmunzeln, sie nannte ihr kleines Zimmerchen bei Ida und Gaspare schon zu Hause.

Als sie im Schatten eines prächtigen Zitronenbaumes in einem gestreiften Liegestuhl saß und ihre noch warmen Pizzastücke direkt mit den Fingern aus dem Karton vertilgte, konnte sie vor lauter Genuss nur leise stöhnen. In diesem Moment klingelte das Handy, das neben dem Liegestuhl im Gras lag. Es war Claire. Julie leckte sich die Finger ab.

„Was machst du, my dear?“

„Mir geht es hervorragend, jetzt, nachdem ich … umgezogen bin!“ Schnell erzählte sie der Freundin von dem Baulärm, was für ein Glück sie mit dem neu angemieteten Zimmer hatte und wie sehr sie seitdem jede Sekunde in Cremona genoss.

„Das hast du richtig gemacht. Ich werde mich bei dieser Pasta-Firma beschweren!“

„Nein, das ist nicht nötig!“ Julie beschwor die Freundin, sich lieber mit positiver Energie um das kleine Wesen zu kümmern, das in ihr heranwuchs.

Nachdem sie noch ein wenig geplaudert hatten, ließ Julie sich den Rest der Pizza schmecken und trank die erfrischende Limonade dazu. Dann streckte sie sich im Liegestuhl aus und döste ein wenig ein, bis sie von einem leisen, aber durchdringenden Geschrei eines Babys geweckt wurde. Die Schreie gingen ihr direkt ins Herz, es musste ein sehr kleines Baby sein.

Ihr eigener Kinderwunsch war schon immer groß gewesen, doch keiner ihrer zwei verflossenen Freunde hatte davon etwas wissen wollen. Langsam erhob sie sich und ging auf die hohe Gartenmauer zu, die sie vom Anwesen der Villa trennte und hinter der es in der Ferne immer noch erbärmlich schrie.

Immer tiefer ging sie in den Garten hinein, als sie plötzlich eine kleine Gitterpforte entdeckte. Neugierig näherte sie sich, wie sah es da drüben bei ihren wohlhabenden Nachbarn im Park der Villa wohl aus? Sie umklammerte die eisernen Stäbe und schaute hindurch.

Auf ihrem Gesicht erschien unwillkürlich ein Lächeln, als sie im Halbschatten eines Baumes eine Konstruktion erblickte, die in diesem Augenblick von einem hochgewachsenen Mann fertiggestellt wurde. Julie konnte ihn nur von hinten sehen, doch als sie sah, dass er den dunkelblauen Arbeitsoverall bis zu den Hüften heruntergerollt hatte und mit blankem Oberkörper arbeitete, leckte sie sich unwillkürlich die Lippen. Er trug eine Kappe gegen die Sonne und prüfte gerade die dicken Seile und das breite Brett auf ihre Tragfähigkeit. Julie fragte sich, ob das so funktionierte, was er sich da vorgenommen hatte.

Die Konstruktion, die an einem tiefen Ast des Baumes hing und anscheinend für den Kinderwagen gebaut worden war, bestand aus einem großen Brett an Seilen. Jetzt rollte der Mann den fahrbaren Untersatz darauf, sicherte ihn und zog alles mit Hilfe eines Seilzugs ein paar Zentimeter nach oben.

Julie hielt die Luft an. Ob das Kind sich durch die Schaukelei beruhigen würde? Und siehe da, nach ein paar Schwüngen hörte das Schreien schlagartig auf. Ja! dachte Julie aufgeregt. Welch geniale Erfindung! Die Vögel zwitscherten, es herrschte Frieden im Nachbargarten.

Auch der Mann, der kaum zehn Meter von ihr entfernt stand, schien innerlich zu jubeln. Er ballte die Hand zur Faust und sandte einen kurzen Blick in die Baumkrone, während er die Schaukel sanft weiter anstieß.

„Leonardo!“, zerschnitt eine hohe Stimme die wunderbare Stille und eine ältere, elegant gekleidete Dame rauschte über den gepflegten grünen Rasen auf den halbnackten Mann im Overall zu. „Denkst du daran, dass die Baroness heute Nachmittag …“ Das Kind fing wieder an zu weinen, der Mann schüttelte den Kopf. „Mamma!“, zischte er. „Ti prego! Eben war sie eingeschlafen!“

„Ach, ihr macht viel zu viel Theater um dieses Kind! Schreien kräftigt die Lungen.“ Sie sah sich um, als ob sie spürte, dass sie beobachtet wurde, und Julie fühlte sich sofort ertappt. Sie wollte sich unbemerkt von der Gartenpforte zurückziehen, als sie auch schon entdeckt worden war. „Und wer ist diese Person da?“

Der Mann drehte sich um, nahm die Kappe ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Im selben Moment bekam Julie weiche Knie. Es war der Mann mit dem schönen Mund, der Mann aus der Bar, der Mann vom Konzert!

Seine Mutter zeigte mit dem Finger auf sie. „Was starren Sie so? Haben Sie uns genug ausspioniert? Wollen Sie vielleicht einbrechen? Aber da kommen Sie Jahre zu spät, das haben andere schon für Sie erledigt!“

Julie wich zurück und floh durch den Garten.

4. KAPITEL

Was hatte die Frau ihr zugerufen? Vielleicht hatte sie es akustisch nicht richtig verstanden? Wieso sollte sie sie ausspionieren? Oder einbrechen? Das konnte nur ein Missverständnis sein. Und zu alldem noch der sexy Fremde. Warum tauchte er dauernd auf? Das war doch wie verhext! Julie eilte auf das kleine Haus zu und in ihr kleines Zimmer. Sie schloss die Fensterläden, als ob sie sich so vor ihm verstecken könnte, doch es half nichts, ununterbrochen musste sie an ihn denken.

Leonardo hatte seine Mutter ihn genannt. Keine sehr sympathische Person, la Mamma, wie es schien. Aber er auch nicht, sein Blick war alles andere als freundlich gewesen, als er sie erkannt hatte.

Julie ging unruhig im Zimmer hin und her, sie trat an die Fensterläden und lugte durch die Lamellen hinaus. Von hier aus konnte sie die hohe Steinmauer und ein paar Baumwipfel sehen. Sie lachte auf, das war doch albern, sich hier im dämmrigen Halbdunkel zu verbergen.

Prompt öffnete Julie das Fenster und die Läden davor wieder. Für ein Nickerchen war sie zu aufgewühlt, sie musste unbedingt mit jemandem über den Vorfall reden! Sie stürmte die Treppe hinunter, doch Küche und salotto waren leer. Egal, dann würde sie jetzt eine Weile durch Cremonas Straßen streifen und sich abreagieren, und vielleicht irgendwo einen Espresso trinken!

Als sie das Haus verlassen wollte, sah sie, dass die Tür der Werkstatt halb offen stand. Sie blieb stehen und lugte hinein. Gaspare stand an einem seiner Regale, die die Wände bedeckten, vor sich hin murmelnd durchwühlte er sämtliche Tüten, Gläser und Kästchen, die darin ein wildes Durcheinander bildeten.

Ohne zu überlegen, platzte sie hinein. „Buona sera, Gaspare. Entschuldigung, wenn ich störe …“

Si?“ Er hörte sich verwirrt und etwas ärgerlich an. Langsam wandte er sich um. „Sie sind nicht Ida“, stellte er nach einem Seitenblick fest und suchte weiter.

„Das ist richtig.“ Julie hielt kurz die Luft an, bis sie genug Mut gefunden hatte, weiterzureden. „Ich war gerade im Garten und wurde … beschimpft!“

„Ach?“ Gaspare hörte mit seiner Suche auf und sah sie endlich an. „Von Beatrice? Elegant wie ein Reh, aber mit dem Mundwerk einer Hyäne?“

Julie lächelte über die treffende Beschreibung und fühlte sich gleich etwas besser.

„Natürlich, es muss Beatrice gewesen sein. Sie schimpft und zetert gern mal, nicht gerade eine angenehme Person, obwohl die Familie, aus der sie stammt, recht interessant ist. Ihr Vater war einer der berühmtesten Geigenhändler der Stadt. Guglielmo Bertolotti! Begabter Violinist, hat später mit dem An- und Verkauf von wertvollen Geigen ein Vermögen gemacht.“ Gaspare hob ungeduldig ein paar Tütchen und Gläser hoch, die alle leer zu sein schienen.

Dann fuhr er fort: „Guglielmo war ein fröhlicher Mann, der wusste, wie man das Leben genießt. Doch im Alter wurde er zunehmend paranoider, und als es dann zu dem Vorfall gekommen ist, bei dem die kostbare Amati-Violine verschwand, ist es mit seinen Nerven immer schlimmer geworden. Die ganze Familie hat darunter sehr gelitten. Auch die Beatrice hat sich verändert, das ist die pure Angst vor der Armut, die da aus ihr spricht.“

Julie zog überrascht die Augenbrauen nach oben. Es war also tatsächlich eingebrochen worden? Und eine wertvolle Geige gestohlen? Nun fiel es ihr leicht, die verbale Attacke durchs Gartentor nicht persönlich zu nehmen. Wieder hörte sie, wie Gaspare das Regal durchsuchte, und fasste sich ein Herz: „Kann ich vielleicht helfen?“

„Was? Sie? No!“ Der alte Mann hinkte zu seiner Werkbank. „Wer sind Sie denn eigentlich? Eine unserer Mieterinnen? Da soll noch jemand den Überblick behalten …“ Mit einem Stöhnen ließ er sich auf den Stuhl sinken.

„Ja, ich wohne für ein paar Tage bei Ihnen. Mein Name ist Julie. Oder auf Italienisch, Giulia! Soll ich Ihnen das, was Sie brauchen, vielleicht mitbringen? Ich wollte sowieso in die Stadt.“

„Mitbringen … Sie wissen doch gar nicht, wohin! Und was ich genau brauche, wissen Sie auch nicht!“ Ungeduldig wischte der Alte über die Arbeitsplatte der Werkbank.

„Schreiben Sie es mir auf!“

„Die bottega ist in einer ganz kleinen Gasse, die finden Sie nicht!“

„Hat die Gasse einen Namen, dann sollte sie auch auf Google Maps sein!“ Julie hielt ihr Handy hoch.

Noch einmal musterte er sie skeptisch, doch dann begann er etwas auf einen Zettel zu kritzeln. „Also gut, Via Redegatti, nummero zehn, sagen Sie Antonio, er soll das Sandarak und den Rest anschreiben, meine Frau bezahlt alles nächste Woche.“ Er reichte ihr den Zettel. „Sie werden wahrscheinlich Stunden brauchen.“

Doch Julie hatte die Adresse bereits auf dem digitalen Stadtplan ausfindig gemacht. Die kleine Gasse lag nur einen Kilometer weit entfernt. „Zu Fuß sind es sechzehn Minuten für eine Strecke, mit dem Fahrrad allerdings nur drei.“

„Nun, dann nehmen Sie eben in Gottes Namen das Fahrrad, meine Frau fährt sowieso nicht mehr damit.“

Ein paar Minuten später fuhr Julie auf einem weißen Damenrad mit geflochtenem Korb am Lenker durch Cremonas Gassen.

„Mamma hat sich unmöglich benommen! Und natürlich wieder die alte Leier mit der Geige. Wie viele Menschen hat sie eigentlich über die Jahre hinweg beschuldigt?“ Leonardo stieß aufgebracht die Spitze seines Schuhs in den gepflegten, sattgrünen Rasen. „Und was wollte diese Frau überhaupt hier? Das kann doch kein Zufall sein …“

„Nun beruhig dich! Dass Ida und Gaspare manchmal an Touristen vermieten, weißt du doch.“ Laura stand unter dem Baum, trat das lose Stück Gras wieder fest und strich ihrem Bruder versöhnlich über die Schulter. „Ich bewundere dich für diese geniale Schaukel-Erfindung. Es wirkt!“

„Gewiss, solange Alices Wagen darauf steht und schaukelt, aber wehe, wir rollen sie wieder herunter …“ Leonardo schüttelte den Kopf, doch seine Schwester grinste: „Mich täuschst du nicht, ich spüre doch, dass dich diese Engländerin interessiert. Dass du so wütend auf sie reagierst, hat bei dir etwas zu bedeuten!“

„Wütend? Ich bin doch nicht wütend!“

„Pssst! Nicht so laut!“ Laura hielt sich einen Finger vor den Mund. „Gut, dann bist du eben nicht wütend, ich möchte dich nur bitten, dich bei dem Gast unserer Nachbarn für Mamas peinliches Benehmen zu entschuldigen.“

„Warum sollte ich?“ Leonardo schnaubte.

„Weil es unhöflich war und die schöne Engländerin bestimmt nicht gern eine Diebin genannt wird. Nur deshalb!“

Leo hob abwehrend die Hände. Es war zum Verrücktwerden, seine Schwester durchschaute ihn mal wieder mühelos.

„Nein, das kannst du nicht von mir verlangen. Es ist mein freier Tag, ich mache also ausnahmsweise einmal, was ich will, und gehe trainieren!“

Eine halbe Stunde später war Leonardo mit seinem Rennruderboot auf dem Fluss und warf sich heftig in die Riemen. Die fremde Engländerin ging ihm trotzdem nicht aus dem Kopf. Wie sie dort an der Pforte gestanden hatte, in dem leichten Sommerkleid … wieder hatte er diese Sehnsucht gespürt, von der er geglaubt hatte, dass sie für immer für ihn verloren wäre!

Bilder erschienen vor seinem inneren Auge, wie er ihr die Haare zärtlich aus dem Gesicht strich, ihre nackte weiche Haut an seiner, ihre langen Beine um ihn geschlungen … Nein! Vehement verbot er sich diese Gedanken. Es würde sich nur alles wiederholen mit ihr, und das durfte nicht sein! Eine weitere tiefe Enttäuschung und Trauer würde er nicht überleben.

Mit noch größerer Kraft zog Leonardo die Ruder durch das Wasser, bis er völlig verausgabt war. Doch auch als er später in seinem Badezimmer unter der Dusche stand, gelang es ihm nicht, nicht mehr an sie zu denken, ja seine Fantasie ging sogar noch stärker mit ihm durch. Er stellte sie sich mit ihm unter dem warmen Wasserstrahl vor… ihr schlanker, verführerischer Körper, die schmale Taille, an der er seine Hände runtergleiten lassen würde, bis zwischen ihr Beine, all das erregte ihn maßlos … „Cavolo!“, fluchte er laut und stellte das Wasser eiskalt, bis er kaum noch Luft bekam. „Das muss aufhören!“ Überstürzt sprang er aus der Dusche, trocknete sich ab und zog sich an. Er war kein Mann, der vor einem Problem davonlief! Er würde jetzt hinübergehen und den gefährlichen Zauber, den diese Frau auf ihn ausübte, ein für alle Mal beenden!

Julie schaute sich fasziniert in dem winzigen Laden um. Auf dem Boden standen kleine und große Säcke, Kisten und Kästen. Die Regale, die bis zur Decke reichten, waren mit Farbdosen, Gläsern mit Schraubverschlüssen und Flaschen vollgestopft. Über allem hing ein unbeschreibliches Gemisch an Gerüchen.

Buona sera!“, grüßte sie, sobald sie den älteren Mann hinter der Theke entdeckt hatte. „Antonio?“ Der Alte nickte ihr mit einem verschmitzten Grinsen zu. „Gaspare schickt mich. Er braucht das hier!“ Sie streckte ihm den Zettel entgegen, denn was darauf stand, konnte sie kaum entziffern. Antonio lief los, anscheinend wusste er trotz des Durcheinanders sofort, wo er das Gewünschte fand, im Handumdrehen stand ein kleines Tütchen vor ihr.

„Sandarak. Harz von der Konifere, von einem Baum“, erklärte er in einfachen Worten.

„Ja, genau das.“ Jetzt erinnerte sie sich wieder. Sandarak war das Wort gewesen.

„Hat Gaspare jetzt doch eine Assistentin eingestellt?“ Seelenruhig suchte er die anderen Sachen zusammen, die auf dem Zettel standen.

Julie schüttelte den Kopf. „Nein, ich wohne nur ein paar Tage bei ihm und Ida.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich mag die zwei“, brach es plötzlich aus ihr heraus. „Es ist wunderschön dort bei ihnen.“

„Ach ja … Sie haben es nicht immer leicht gehabt, die beiden. Konnten keine Kinder bekommen, hatten dann einige Jahre ein Pflegekind bei sich, Marisa, ein entzückendes kleines Wesen, das ihnen weggenommen wurde, weil es plötzlich der leiblichen Mutter zugesprochen wurde, ach, das hat ihnen das Herz gebrochen.“

„Aber das ist ja furchtbar“, wisperte Julie.

„Das Mädchen wäre jetzt ungefähr so alt wie Sie …“ Er räusperte sich. „Aber nun zu den Dingen hier … Ich schreibe an?“

„Ja, Gaspare lässt darum bitten. Ida bezahlt alles in ein paar Tagen.“ Sie nahm die Einkäufe an sich und stieß die Tür auf.

„Eine wunderbare Assistentin hat er sich da geholt …“, hörte sie Antonio hinter sich. Lächelnd und tief in Gedanken verließ Julie den Laden.

Leonardo holte tief Luft, bevor er die Klingel drückte.

Ida öffnete ihm die Tür. „Leo, Junge, wie schön, dich zu sehen!“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm zwei Küsse auf die Wange, die er erwiderte.

Ciao Ida! Ich bin wegen …“

„Gaspare ist in der Werkstatt, soll ich euch einen caffè machen?“ Sie zog ihn sanft in den Flur.

„Danke, das ist sehr nett, aber nein!“ Ehe er sich versah, stand er auch schon in dem angrenzenden Raum und holte erleichtert Luft. Der alte Geigenbauer saß allein an seiner Werkbank. „Leonardo, ragazzo mio, was gibt’s?“

Ääääh, niente …“ Warum war er noch mal hier? In ihrer Nähe sein, einfach nur in ihrer Nähe sein. Er seufzte und spürte ein seltsames Ziehen in seiner Brust. Schade, da hatte er sich verrückt gemacht, und nun war sie gar nicht da.

Buona sera!“ Eine weibliche Stimme kam aus der dämmrigen Tiefe des Raumes und ließ Leonardo zusammenzucken. Dort hinten stand sie und rührte in einem kleinen Topf, der auf einer einzelnen Herdplatte stand. Sie trug eine grüne Schürze, wie Gaspare, deren Bänder ihre schmale Taille noch mehr betonten, und hatte die Haare zurückgebunden, doch sie sah umwerfend aus, und wieder ganz anders, als er sie vom Gartentor oder von dem Konzert in Erinnerung hatte. Sie winkte ihm zu, bevor sie wieder in ihren Topf schaute. „Ich kann hier gerade nicht weg, Gaspare sagt, ich darf das Rühren auf keinen Fall unterbrechen.“

Ihr Akzent war unverkennbar, wie der von Eve damals, und sie machte genau dieselben entzückenden kleinen Fehler. Leo schloss einen Moment die Augen. Bitte nicht!

„Kennst du Giulia schon?“ Ida stand noch immer hinter ihm.

Giulia? Leonardo musste sich zusammenreißen, um nicht vor lauter Verwirrung auf den mit Sägespänen übersäten Boden zu starren. „Nein, nicht wirklich.“ Er setzte ein geschäftsmäßiges Lächeln auf, doch die Reize, die von der jungen Engländerin ausgingen, umhüllten ihn wie ein süßer Nebel und hätten ihm beinahe ein leises Stöhnen entlockt … Ihr wunderschöner Körper, nur von der Schürze verhüllt, ihre vollen Lippen auf seinen … Nein, er hatte das alles schon mal durchgemacht, er wusste doch, wie das enden würde, es würde etwas passieren, was er dann schwer bereute, er musste hier weg!

„Entschuldigung, meine Mutter hat heute totalen Unsinn geredet“, sagte er hastig und streifte Julie für den Bruchteil einer Sekunde mit seinem Blick. „Vergessen Sie das mit der Geige bitte!“ Und damit drehte er sich um und stürzte – fast wie auf der Flucht – aus der Tür.

5. KAPITEL

Julie rührte den rötlich-zähen Lack auf der kleinen Kochplatte unermüdlich weiter. Aus dem kleinen Radio auf der Fensterbank erklang leise Musik, ein Violinen-Konzert von Vivaldi. Sie liebte es schon jetzt, in Gaspares Werkstatt zu stehen, umgeben von den fertigen und halbfertigen Instrumenten, dem Holz, den Werkzeugen und Geigenschablonen an den Wänden, und tatsächlich nützlich zu sein! Wenn ihre Mutter sie nur so sehen könnte!

Julies Blick fiel auf das honiggelbe Cello, das in der Ecke lehnte. Ach, Mama! Ich weiß, ich hätte Musikerin werden sollen, oder wenigstens nach Beendigung des Studiums Dads Musikverlag übernehmen müssen, um euch stolz zu machen. Ihr habt für mich nur das Beste gewollt und euch mit der Erziehung alle Mühe gegeben. Und was ist letztendlich aus mir geworden? Eine Angestellte in einem Buchladen …

Die Flüssigkeit in dem Topf blubberte, sie rührte stärker. Die daraus emporsteigenden Dämpfe machten sie ein bisschen schwindelig, oder lag es daran, dass Leonardo plötzlich aufgetaucht war? Was für ein attraktiver Mann. Selbst wütend machte er eine gute Figur. In gleichmütigem Ton fragte sie: „Was war denn mit dem los?“

„Mit Leo? Eigentlich ein netter Junge!“ Der alte Gaspare zuckte mit den Schultern, kam zu ihr gehinkt und warf einen Blick in den Topf. „Weiter so, ist noch lange nicht fertig.“

„Ja, Leo. Meine Güte, hatte er es plötzlich eilig.“ Ida war wieder hereingekommen, sie trat zu ihnen und öffnete eins der Fenster. „Beim Hinausbringen habe ich ihn noch gefragt, wie es der kleinen Alice geht. Und ihn gebeten, seiner Schwester auszurichten, sie solle mit ihr rüberkommen, jetzt, da die beiden für die paar Wochen bei ihm wohnen. Aber er hat gar nicht zugehört.“

„Nun drängle doch Laura nicht, Ida! Nur weil du so versessen auf Babys bist …“ Die Stimme von Gaspare klang rau und brach ab. Julie tauschte mit Ida einen langen Blick. In ihrem Herzen verspürte sie eine große Wärme für diese Frau, die ein geliebtes Kind wieder hatte hergeben müssen, während die Neuigkeiten über Leonardo sie beschwingten. Ob er verheiratet war oder nicht, wusste sie immer noch nicht, aber zumindest war er nicht der Vater des Kindes, das er im Kinderwagen geschaukelt hatte, sondern sein Onkel, und seine vermeintliche Ehefrau war seine Schwester!

„Wie lange ist das denn eigentlich her mit der gestohlenen Geige drüben in der Villa?“, fragte Julie.

„Ach, Jahre! Da waren die Kinder drüben noch klein.“ Gaspare war zurück zu seiner Werkbank geschlurft und prüfte die nagelneue Geige, die lackiert werden sollte, indem er sie behutsam in seinen kräftigen Händen drehte und von Nahem betrachtete. „Leo war vielleicht zehn, Laura fünf. Und unsere Marisa war noch …“

„… bei uns“, bestätigte Ida mit trauriger Stimme. Ein Moment der Stille entstand, bevor sie sich räusperte und weiterredete. „Dem Großvater der beiden hat es den Verstand geraubt. Er hatte immer Angst, dass man die Villa wegen der kostbaren Geigen, die dort aufbewahrt wurden, eines Tages überfallen würde. Und hat danach immer mehr Sicherheitsleute eingestellt.“

„Vor dem Vorfall mit der kostbaren Amati war Guglielmo ein fröhlicher Mann, der wusste, wie man das Leben genießt“, warf Gaspare ein.

„Er war leidenschaftlich und hatte schon in jungen Jahren den richtigen Instinkt, was die Geigen betraf. Er arbeitete sich aus dem Nichts hoch und wurde immer wohlhabender, kaufte dann die prächtige Villa nebenan und ließ sie umbauen.“

„Doch seine Tochter Beatrice hat er leider zu sehr verwöhnt.“ Ida krauste die Nase. „Beatrice ist eine, die sich nur mit Leuten von Rang und Namen umgibt. Sie kam nicht darüber hinweg, dass ihr Ehemann nicht an den Erfolg ihres geliebten Vaters angeknüpft hat, und auch mit ihrem Sohn ist sie unzufrieden, der nur Häuser entwirft.“

Leonardo war also Architekt? Julie beugte sich vor, um keines von Idas Worten zu verpassen, doch nun kam Gaspare wieder zu ihr und wies auf den Topf: „Noch nicht dickflüssig genug, wir müssen noch mal an die Rezeptur!“

Julie nickte und fühlte sich ertappt. Sie dachte viel zu oft an Leonardo, dabei hatte sie sich doch fest vorgenommen, erst mal keinen Mann mehr in ihr Leben zu lassen. Waren die Erfahrungen mit Nick nicht schlimm genug gewesen? Oh doch, und ihr gewohntes Leben in London erwartete sie schon ganz bald wieder. Deswegen würde sie sich nur auf das konzentrieren, was vor ihr stand: den Geigenlack!

Am Abend schlenderte Julie durch die Gassen von Cremona. Plötzlich fühlte sie sich einsam. Wie gern würde sie hier in Gesellschaft vor der Trattoria sitzen, an der sie gerade vorbeiging. Sie blieb stehen und hob den Blick in den immer dunkler werdenden Himmel, an dem die ersten Sterne zu sehen waren.

London war so weit weg, und doch lagen nur noch eine Nacht und zwei Tage vor ihr, dann würde sie schon wieder zurückfliegen. Sie holte tief Luft und stieß sie wieder aus, um den Druck, der plötzlich in ihrer Brust und auf ihrem Magen lastete, loszuwerden. Die Arbeit machte ihr zwar Spaß, und Dexter war ein großartiger Chef, dennoch … London war eine Ansammlung von Häusern und Plätzen, die sie mit ihrer Vergangenheit konfrontierten. Das große Gebäude, in dem der Verlag ihres Vaters untergebracht gewesen war, die Häuser der Komponisten, die sie mit ihm besucht hatte, all die Hallen, Arenen und Stätten, in denen Mama Konzerte gegeben hatte. Eine vorwurfsvolle Riege, an der sie immer mal wieder vorbeikam und die ihr schlechtes Gewissen gegenüber ihren Eltern immer wieder aufzufrischen schien. Sie versuchte London aus ihrem Kopf zu verbannen. Warum war Claire jetzt nicht hier? Oder Nick? Nein, der nicht.

Du brauchst keinen Mann, um glücklich zu sein, dafür musst du schon selbst sorgen, schimpfte sie mit sich.

Am nächsten Morgen sprang Julie aus dem Bett und zog sich schnell an, sie hatte das Gefühl, sich beeilen zu müssen. Noch achtundvierzig Stunden, dann würde die Zeit hier in Cremona schon wieder vorbei sein. Nach einem kleinen Frühstück konnte sie es kaum erwarten, zu Gaspare in die Werkstatt zu kommen.

Der alte Geigenbauer sah ihr freundlich entgegen und reichte ihr die grüne Schürze von gestern. Der Lack blubberte schon wieder in seinem Topf. „Heute legen wir die Grundschicht an.“

In der nächsten Stunde saßen sie zusammen, und Julie schaute ihm dabei zu, wie er die erste Schicht Lack auftrug. Sie hängten die Violine zum Trocknen auf, dann führte Gaspare sie durch die Werkstatt. Vor den vielen Holzstücken, die in den unteren Regalen gelagert waren, hielt er an und nahm zwei davon in seine großen Hände. „Das Klangholz! Diese beiden Fichtenholz-Keile sind aus demselben Stamm, sie lagen einmal wie zwei Tortenstück nebeneinander, sind sozusagen Zwillinge und werden zusammengeleimt, so wird aus ihnen die Geigendecke. Für den Boden und die Zargen nehmen wir den viel härteren Ahorn. Manchmal auch Nuss oder Kirsche.“

Er gab die Klanghölzer in Julies Hände, die Scheite waren leicht, sie schnupperte daran und legte sie dann aneinander. „Jeder Korpus einer Geige hat also in der Mitte eine Naht? Das wusste ich nicht.“

„Es gibt vieles, was du noch nicht weißt“, sagte Gaspare, doch der Satz klang in Julies Ohren nicht wie eine Beleidigung oder ein Vorwurf, sondern eher verheißungsvoll.

„Gibt es so eine Naht auch im Boden einer Geige?“

„Eher nicht, aber es gibt Ausnahmen, manchmal also schon, doch die Decke ist immer geteilt!“

Sie nickte und sah ehrfürchtig an der Reihe der Geigen entlang, die auf einem der oberen Borde zum Verkauf aufgereiht waren.

„Die Geigen sind wunderschön!“

„Denkst du, sie sehen alle gleich aus?“

Julie kniff die Augen zusammen, legte den Kopf zur Seite und überlegte einen Moment. „Nein, ich finde, sie haben alle ein anderes Gesicht.“

Den Alten schien ihre Antwort zu freuen. „Oh...

Autor

Natalie Anderson
<p>Natalie Anderson nahm die endgültigen Korrekturen ihres ersten Buches ans Bett gefesselt im Krankenhaus vor. Direkt nach einem Notfall-Kaiserschnitt, bei dem gesunde Zwillinge das Licht der Welt erblickten, brachte ihr ihr Ehemann die E-Mail von ihrem Redakteur. Dem Verleger gefielen ihre früheren Korrekturen und da es gerade einen Mangel an...
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Nina Milne
<p>Nina Milne hat schon immer davon geträumt, für Harlequin zu schreiben – seit sie als Kind Bibliothekarin spielte mit den Stapeln von Harlequin-Liebesromanen, die ihrer Mutter gehörten. Auf dem Weg zu diesem Traumziel erlangte Nina einen Abschluss im Studium der englischen Sprache und Literatur, einen Helden ganz für sich allein,...
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