Romana Extra Band 36

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IN ROM SCHENK ICH DIR TAUSEND ROSEN von BLOOM, BELLA
Attraktiv, aber skrupellos! Emily meidet den Geschäftsmann Sean Night. Bis sie ausgerechnet mit ihm nach Rom fliegen muss, um über die Rettung ihres Blumenladens zu verhandeln. Plötzlich überrascht er sie mit zärtlichen Küssen. Hat er etwa doch ein Herz, oder ist das nur Taktik?

VOM FEST DER LIEBE VERZAUBERT von MEIER, SUSAN
Der Unternehmer Ricky Langley braucht eine Begleiterin zur Weihnachtsfeier, Eloise einen Job. Es ist der perfekte Deal, mehr nicht! Denn Ricky hat sofort klargestellt: "Ich bin nicht auf der Suche nach Romantik." Aber warum knistert es dann so sinnlich zwischen ihnen?

KÜSS MICH, MEIN SCHNEEPRINZ! von WALKER, KATE
Prinzessin Clementina weckt ungeahntes Verlangen in Prinz Karim. Aber sie ist für ihn tabu. Schließlich wird sie bald einen anderen heiraten. Doch je länger der Schneesturm sie beide im gleichen Haus gefangen hält, desto schwerer fällt es Karim, ihren Reizen zu widerstehen …

SPANISCHES WEIHNACHTSMÄRCHEN von COX, MAGGIE
"Begleiten Sie mich nach Spanien!" Dominique glaubt zu träumen, als Cristiano Cordova sie über Weihnachten in seinen Palast einlädt. Während sie sich unwiderstehlich zu dem attraktiven Anwalt hingezogen fühlt, fürchtet sie jedoch, dass er sie nur aus Pflichtgefühl so charmant umsorgt …


  • Erscheinungstag 01.12.2015
  • Bandnummer 0036
  • ISBN / Artikelnummer 9783733742553
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Bella Bloom, Susan Meier, Kate Walker, Maggie Cox

ROMANA EXTRA BAND 36

BELLA BLOOM

In Rom schenk ich dir tausend Rosen

Wie kann Emily es wagen, ihm einen Korb zu geben? Die Abfuhr der schönen Blumenhändlerin erwischt Millionär Sean Night kalt. Kurz darauf bietet sich ihm in Rom die Chance, sie doch noch zu erobern …

SUSAN MEIER

Vom Fest der Liebe verzaubert

Ricky Langley würde das Fest der Liebe am liebsten abschaffen. Bis ihn die bezaubernde Eloise zu einer Weihnachtsfeier begleitet – und Gefühle in ihm weckt, die er für immer verloren glaubte …

KATE WALKER

Küss mich, mein Schneeprinz

Groß, breitschultrig, sexy: Prinz Karim ist Clementinas Traummann. Aber sie verzehrt sich vergeblich nach seinen Küssen. Denn ihre arrangierte Ehe mit einem anderen Wüstenprinzen steht kurz bevor …

MAGGIE COX

Spanisches Weihnachtsmärchen

Cristiano Cordova ist gegen seinen Willen fasziniert von Dominique. Nur solange sich der feurige Spanier nicht den Schatten der Vergangenheit stellt, ist in seinem Herzen kein Platz für die Liebe …

1. KAPITEL

„Das ist die romantischste Story, die ich je gehört habe!“ Becky schaute Emily mit einem verträumt entrückten Blick an, der nicht von dieser Welt war. „Ich wünschte, mir würde so etwas mal passieren.“

Emily nickte zustimmend.

„Glaub mir, ich mir auch“, bestätigte sie.

Es war Samstagabend, draußen fegte ein kalter Dezemberwind durch die nächtlichen Straßen Londons, und Emily saß mit ihrer Freundin, die sie ein Weilchen nicht gesehen hatte, im Phoenix – der kleinen Weinbar um die Ecke in ihrem über alles geliebten Viertel Notting Hill. Soeben hatte sie Becky die ganze David-gegen-Goliath-Geschichte erzählt: Wie die übermächtige Blumenkette Nightflowers versucht hatte, ihren kleinen Blumenladen namens DAYSIES zu übernehmen, den sie sich in jahrelanger Arbeit mit ihrer älteren Schwester Rose aufgebaut hatte. Und dass es letzten Endes einem Mann – nein: einem Traum von einem Mann – namens Richard Night zu verdanken war, dass sein Bruder Sean, der wiederum ein einziger Albtraum war, seinen teuflischen Plan in letzter Minute wieder aufgegeben hatte. Und nun lebte ihre Schwester Rose mit Richard Night in einer weißen Villa an der Steilküste Mallorcas – die ganze Sache war noch so frisch, dass Emily sich manchmal fragte, ob all das wirklich passiert war oder ob sie es tatsächlich nur träumte.

„Und was ist mit Sean Night?“, fragte Becky, die ihr offensichtlich nicht richtig zugehört hatte. „Ist der noch zu haben?“

„Sean Night? Bist du noch bei Verstand?“ Emily riss entsetzt die Augen auf. „Gott bewahre, dann könnte ich ja gleich den Leibhaftigen daten.“

Doch Becky schien nicht wirklich überzeugt.

„So schlimm ist er nun auch wieder nicht, finde ich. Ich meine, am Ende hat er doch auf euren Laden verzichtet, oder? Was zeigt, dass auch knallharte Business-Millionäre ein Herz haben …“

Nun, auf den Laden verzichtet – das hatte er. Aber eben nur auf den Druck seines Bruders Richard hin, der sein komplettes Gegenteil war: ein guter Mensch. Und auf den Druck in seiner Brust, um auf die Sache mit dem Herzen zurückzukommen, denn ein Infarkt hatte ihn in letzter Sekunde zum Umdenken gebracht. Doch wer weiß für wie lange, dachte Emily schaudernd und hoffte, dass ihre Sorgen unbegründet waren.

„Weißt du, ich glaube einfach nicht daran, dass Menschen sich ändern. Sie können es, aber sie wollen es nicht“, beantwortete sie die Frage ihrer Freundin. „Sean Night ist ein Löwe, der in einem schwachen Moment ein Reh hat laufen lassen. Aber in der Zukunft wird er es sich wieder schnappen – hoffentlich nicht dieses Reh, aber eben andere.“

Becky blickte sie an, als überlege sie ernsthaft, ob es sich lohnte, sich absichtlich in das Revier des Löwen zu verirren. Sie hatte schon immer ein Faible für gefährliche Typen gehabt.

„Hm. Wäre er vielleicht etwas für mich?“, fragte sie wie von Emily vorausgeahnt.

„Becky!“

„Komm, sag schon! Ist er sexy?“

Sie zwinkerte ihr frech über das kleine Bistro-Tischchen hinweg zu. Offensichtlich hatte sie ein wenig zu tief ins Glas geschaut.

„Nun, wie ich dir schon sagte, habe ich ihn nur einmal gesehen – und zwar in einem Krankenhausbett.“

„Und du fandest ihn trotzdem attraktiv?“

Emily schüttelte den Kopf.

„Los, raus mit der Sprache!“

„Nun … er hat was, ja – wenn man auf Machos steht.“

Becky blickte sie begeistert an.

„Tu ich! Du musst ihn mir unbedingt vorstellen!“

Emily stieß einen tiefen Seufzer aus, um ihre Missbilligung zu demonstrieren.

„Manche Rehe müssen wohl erst von einem Löwen gefressen werden, bevor sie verstehen, auf was sie sich da eingelassen haben.“

Becky nickte ihr übertrieben zu.

„Und zwar mit Haut und Haaren!“, bestätigte sie und ahmte das Knurren eines Löwen nach. Gespräche unter Freundinnen am Samstagabend – was konnte man anderes erwarten? dachte Emily und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Als sie wenig später die Tür zu ihrer kleinen Wohnung über dem Laden aufstieß, erfüllte sie ein Gefühl der Erleichterung. Alles erschien ihr in einem völlig neuen Licht, nicht nur die Wohnung – nein, ihr ganzes Leben. Es war erst ein paar Wochen her, dass sie geglaubt hatte, all das verloren zu haben. Doch in letzter Sekunde hatte sich alles völlig unverhofft zum Guten gewendet. Mit einem einzigen Unterschied: Die Wohnung wirkte ein wenig leer – denn Rose war nicht mehr da. Sie hatte ihr Glück gefunden, und Emily gönnte es ihr von ganzem Herzen.

Und doch: Neben dem Gefühl der Erleichterung schlich sich eine zweite Empfindung in ihr Herz: ein Gefühl der Verlorenheit. Ein Leben lang hatte sie alles mit Rose geteilt, und sie hatte es als selbstverständlich hingenommen, dass sie all das zu ihrem Leben zählen durfte: eine Schwester, die rund um die Uhr für sie da war, ein Blumenladen, in dem sie Tag für Tag ihre Träume verwirklichen konnte – und so weiter und so fort. Erst jetzt stellte Emily fest, dass es eben keine Selbstverständlichkeit war. Würde auch sie ihr Glück finden genau wie Rose? Aber wie? Es war noch früh am Abend, denn Becky hatte sie vorzeitig allein zurückgelassen, um mit ihrem Freund auszugehen. Emily hingegen war solo – der schrecklichste Zustand für eine Frau im Alter von fünfundzwanzig Jahren.

Um diese Zeit solltest du da draußen sein in den Bars und Restaurants von London und dich amüsieren!

Der Gedanke daran war nur schwer zu verdrängen. Dass es nicht so war, lag nicht daran, dass sie schwer vermittelbar war. Im Gegenteil: blond, blauäugig, ein Meter fünfundsechzig und oben herum eher ein bisschen zu viel als ein bisschen zu wenig. Das glatte Gegenteil ihrer sportlich-schlanken brünetten Schwester. Kurz gesagt: Rose war der Kopf und sie der Bauch eines perfekten Duos. Und doch: Was sie zu bieten hatte, schien den Männern zu gefallen. Sie konnte sich jedenfalls nicht über zu wenig Verehrer beklagen. Das Problem war nur, dass die Männer, die ihr gefielen, grundsätzlich verheiratet oder vergeben waren – und die Männer, denen sie gefiel, nun … die wiederum gefielen ihr nicht.

„Was genau erwartest du eigentlich vom Leben, Emily Day?“, fragte sie sich, während sie sich ein Glas Wein einschenkte und auf die romantisch erleuchtete kleine Straße vor ihrem Wohnzimmerfenster hinunterblickte, auf der sie jetzt eigentlich unter einem Laternenpfahl von ihrem Traummann geküsst werden müsste, wenn die Geschichten wirklich wahr wären, die in Filmen und Werbespots gezeigt wurden. Vor allem in der Vorweihnachtszeit. Natürlich war ihr vollkommen klar, was sie erwartete. Was sie vom Leben wollte:

Einfach ALLES.

Die große Liebe, das große Glück.

Aber so einfach war es leider nicht.

Und Träume wie ihre gingen eben nur für die wenigsten Menschen in Erfüllung. Hätte sie nicht erst kürzlich diesen entrückten Glanz in den Augen ihrer Schwester gesehen, zum allerersten Mal in ihrem Leben, sie hätte gesagt: Träume dieser Art gehen nie in Erfüllung. Sie sind und bleiben Träume. Schäume. Aber das, was Rose passiert war, hatte Emily zum Umdenken gebracht. Möglicherweise war es doch möglich – die große Liebe, das große Glück.

Kurz gesagt: ALLES.

Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als es plötzlich unten an der Haustür klingelte. Um diese Zeit? Das konnte nur Becky sein. Vielleicht hatte sie etwas vergessen oder sich doch entschieden, den Rest des Abends lieber mit ihr als mit dem vermeintlichen Mann ihrer Träume zu verbringen?

„Ja?“, sagte sie in den Hörer der Gegensprechanlage. Ein großes Fragezeichen klang in ihrer Stimme mit.

„Ähm, hier ist Sean. Sean Night. Von Nightflowers. Wir haben uns im Krankenhaus kennengelernt. Darf ich raufkommen?“

Sean Night?

Was zum Teufel …? Emily glaubte, sich verhört zu haben. Ja, genau so musste es sein: Das Gespräch mit Becky wirkte noch in ihr nach. Ihre lebhaften Schilderungen der Geschichte. Und sie hatte noch dazu etwas getrunken. Von daher waren Halluzinationen als Nebenwirkung nur eine logische Folge.

Sie warf einen Blick aus dem Fenster.

Und erschrak. Ihre Halluzinationen waren realistischer, als sie befürchtet hatte. Unten am Eingang neben dem Laden stand ein Mann in einem dunklen Mantel. Und mit einem Blumenstrauß in der Hand.

„Darf ich raufkommen?“, wiederholte er.

Ihr Puls beschleunigte sich.

„Entschuldigung, aber ich bin eigentlich gar nicht auf Besuch eingestellt …“, griff sie nach der erstbesten blöden Ausrede, warum sie ihm die Tür nicht öffnen konnte.

„Ich wollte mich nur kurz bei Ihnen bedanken“, vernahm sie seine Stimme durch den kleinen blechernen Lautsprecher neben der Tür. „In einer Minute bin ich wieder verschwunden, keine Sorge.“

„Bedanken? Ähm … das … ist doch überhaupt nicht nötig …!“

„Doch, ist es! Eine Minute, ja?“

„O…kay“, erwiderte Emily, als hätte er sie durch den Lautsprecher mittels Gedankenübertragung gefügig gemacht, und drückte auf den Knopf, der die Haustür mit einem bis zu ihr hinauf vernehmbaren Summen öffnete. In derselben Sekunde bereute sie es bereits wieder. Ihre Wohnung war das reinste Chaos. Seit Kurzem führte sie den Blumenladen unten quasi allein. Aus den zwei DAYSIES – der Name war ein Wortspiel aus Roses und ihrem Nachnamen – war eine geworden. Ein einsames Gänseblümchen sozusagen. Denn ausgesprochen klang der Name wie daisies. Gänseblümchen.

Rose blühte gerade auf Mallorca zu neuer Schönheit auf, während auf Emilys eigenen Schultern nun die ganze Arbeit und ein Großteil der Verantwortung ruhten. Sie war allein in London zurückgeblieben – zugegeben: auf ihren Wunsch hin –, während Rose unter südlicher Sonne auf Wolke sieben schwebte. Emily war nicht mal dazu gekommen, den Abwasch in die Geschirrspülmaschine zu räumen. Und zwar seit drei Tagen.

Ding-Dong!

Schon klingelte es an ihrer Wohnungstür. Erneut meldete sich ihr Fluchtinstinkt, doch dafür war es nun zu spät.

Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt weit.

Sie erkannte ihn kaum wieder, doch er war es: Sean Night – der Mann, der um ein Haar ihre Existenz vernichtet hätte und den sie nur einmal persönlich getroffen hatte, als er in einem Krankenhausbett lag. Heute jedoch trug er ein edles dunkelgraues Sakko unter seinem offensichtlich maßgeschneiderten schwarzen Wollmantel; ein weißes Hemd, dunkelgraue Stoffhosen und schwarze Budapester. Aus einem leicht gebräunten, frisch wirkenden Gesicht strahlten seine beim letzten Mal noch müden graublauen Augen sie charmant an. Sein ehemals fahles dunkelblondes Haar hatte deutlich an Länge gewonnen, auch wenn es hier und da bereits in ein seriös wirkendes Silber überging. Insgesamt sah er frisch und erholt aus. Er wirkte größer, als sie ihn in Erinnerung hatte – bestimmt einen Meter achtzig oder mehr.

Für einen Moment stutzte er.

„Wollen Sie ausgehen?“, fragte er sie verdutzt.

Erst jetzt fiel Emily auf, dass sie immer noch ihren Mantel anhatte und auch ihre Lederstiefel. Schließlich war sie gerade erst zur Tür hereingekommen. Einzig und allein den Schal hatte sie abgelegt.

„Ich? Nein, ich bin gerade erst wiedergekommen – ich habe eine Freundin getroffen“, erklärte sie ihm.

Er nickte verständnisvoll.

„Bitte schön“, sagte er und streckte ihr einen Blumenstrauß entgegen.

Weiße Rosen. Ihre Lieblingsblumen. Woher wusste er …?

Für Emily waren es die geheimnisvollsten Blumen überhaupt, denn das Weiß stand für Unschuld, Reinheit und neue Anfänge. Doch gleichzeitig erinnerten einen die Dornen daran, dass sich hinter dieser vermeintlichen Unschuld und Reinheit, die einen möglicherweise dazu verführten, einen neuen Anfang zu suchen und den gefährlichen Sprung in unbekannte Gewässer zu wagen, eventuell etwas ganz anderes verbarg – die Gefahr, verletzt zu werden. Es war genau diese mysteriöse und nicht zu erklärende Spannung, die weiße Rosen für Emily unwiderstehlich machte. Denn sie waren so zweideutig und geheimnisvoll wie der Beginn eines Märchens. Ob es ein Schauermärchen war oder ein Liebesmärchen, würde man erst sehr viel später herausfinden.

Das Einzige, was ihr nicht gefiel, war das edle nachtschwarze Papier mit der in Gold gestanzten Aufschrift Nightflowers, in das die Rosen gewickelt waren. Nicht, weil es nicht hübsch gewesen wäre, sondern weil es eben diese schreckliche Kette war, die kleinen, aber wunderschönen Blumenläden wie dem DAYSIES den Garaus machten.

„Nun kommen Sie schon, Emily! Nehmen Sie die Blumen“, forderte er sie auf.

Emily? Sie konnte sich nicht daran erinnern, mit ihm per Du gewesen zu sein. Auch wenn er es ihr im Krankenhaus angeboten hatte. Ein Angebot, auf das sie jedoch nie eingegangen war.

Miss Day, bitte!“, korrigierte sie ihn. „Und was verdanke ich Ihren überraschenden Besuch, Mister Night?“

Sean, bitte!“, spielte er den Ball mit einem frechen Augenzwinkern zurück. „Nun, ich wollte mich wie gesagt nur kurz bei Ihnen bedanken – für Ihren Besuch im Krankenhaus.“

Noch immer streckte er ihr den Blumenstrauß entgegen. Schließlich fasste sie sich ein Herz und ergriff die Blumen, bemühte sich aber, eine nicht zu enthusiastische Miene dabei aufzusetzen.

„Aber das war doch selbstverständlich, nach allem, was Sie für mich und Rose getan haben“, log sie ihm lächelnd ins Gesicht. War er ein Held, weil er ihren Laden verschont hatte, den er eigentlich hatte vernichten wollen? Nun: In ihren Augen nicht, aber in seinen offensichtlich schon. Er blickte sie an, als habe er sich eine Belohnung verdient. Erst jetzt fiel ihr auf, an wen er sie erinnerte: an den Schauspieler Sean Penn. Nicht nur derselbe Vorname verband ihn mit ihm. Auch der Star war auf eine mysteriöse Art und Weise attraktiv, aber gleichzeitig hatte er dieses schwer zu deutende Funkeln in seinen Augen, das einem signalisierte, dass man ihm nicht ungestraft den Rücken zudrehen konnte. Kurzum: anziehend, aber gefährlich.

So wie weiße Rosen.

„Es scheint Ihnen ja schon viel besser zu gehen“, schnitt sie schnell das unverfängliche Thema Gesundheit an, bevor sie sich noch weiter in ihre psychologischen Beobachtungen hineinsteigerte, worin sie ziemlich gut war. Wenn sie jetzt nicht damit aufhörte, würde sie ihn in zwei Minuten oder weniger möglicherweise als gemeingefährlichen Psychopathen einstufen.

„Ja, das ist wahr“, erwiderte er, erneut mit einem zweideutigen Augenzwinkern. „Mein Arzt hat mir empfohlen, mich im Treppensteigen zu trainieren. In der Medizin sagt man, wenn man nach einem Herzinfarkt wieder ohne größere Probleme eine Treppe hochkommt, kann man auch wieder Sex haben.“

Oh, wie schön und danke für die intime Information … So viel zum Thema Psychopath! dachte sie.

„Nun, dann vielen Dank, Mister Night! Ich …“, versuchte sie sich aus der Affäre zu ziehen und ihn hier und jetzt abzuwimmeln, bevor er Morgenluft witterte, aber schon kam er ihr zuvor.

„Da Sie den Mantel nun schon einmal anhaben: Würden Sie mit mir ausgehen?“

Emily erstarrte.

Mit ihm ausgehen?

„Sie … meinen … jetzt?“

„Ja, wieso nicht?“, erwiderte er. „Ich kenne ein nettes Restaurant hier direkt um die Ecke und würde Sie gern einladen.“

„Mich einladen – wozu?“

„Wozu?“ Ein erstauntes Lächeln umspielte seinen Mund, der von einem stoppeligen Ein-Tag-Bart eingerahmt war. „Wozu Sie auch immer wollen – Sie dürfen alles bestellen, was auf der Karte steht!“

Emily rollte mit den Augen.

„Nein, ich meinte nicht wozu, ich meinte eigentlich: Wofür?

Endlich schien er zu begreifen. Sein fragender Gesichtsausdruck jedenfalls signalisierte ihr, dass er solch detaillierte Nachfragen möglicherweise nicht gewohnt war. Dass er sie schlichtweg nicht kannte. Dass Frauen, die ihm nicht augenblicklich in die Falle gingen, auf einer fernen Umlaufbahn außerhalb seines Universums schwebten.

Wofür? Nun … um Sie besser kennenzulernen?“

Emily schüttelte den Kopf.

„Ich … nun … ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass das eine gute Idee ist!“, erklärte sie so tapfer und entschlossen wie nur irgend möglich. „Außerdem … habe ich … eine Menge … zu tun. Ja … Arbeit – viel, viel Arbeit!“

„An einem Samstagabend?“

„Nun“, sagte sie und wies mit der Hand hinter sich. „Meine Wohnung ist ehrlich gesagt der reinste Schweinestall. Ich muss dringend aufräumen, was unter der Woche so liegen geblieben ist … Sie wissen ja: Der Laden da unten liegt jetzt ganz allein in meiner Verantwortung.“

Sean blickte sie nachdenklich an.

Ein Weilchen sagte er gar nichts, sondern musterte sie nur, als benötigte er Zeit, um zu verstehen. Schließlich fuhr er doch fort: „Oh, das tut mir wirklich leid. Und ich war überzeugt, ich hätte das Richtige getan. Jetzt verstehe ich Ihre Ablehnung.“

Was sollte das nun wieder? Langsam wurde Emily nervös.

„Wie … meinen Sie das?“

„Nun, dadurch, dass ich auf Ihren Laden verzichtet habe, haben Sie nun jede Menge zusätzlichen Stress, und mir wiederum ist eine tolle Chance auf einen interessanten Standort für Nightflowers entgangen. Sieht so aus, als hätten wir beide nichts bei dem Deal gewonnen, oder?“

Oh, oh. Dieser Unterton in seiner Stimme gefiel ihr gar nicht.

„Wollen Sie mich nicht wenigstens auf einen Kaffee hereinlassen, bevor ich mich wieder auf den Weg mache?“, fragte er sie. „Ist ziemlich kalt draußen.“

„Ich … das würde ich liebend gern, Mister Night“, beeilte sie sich zu sagen. „Aber heute geht es wirklich nicht – vielleicht ein anderes Mal?“

Für einen Moment wirkte er tatsächlich enttäuscht. Oder war es eher Überraschung, was sie in seinem Gesicht las? Überraschung darüber, dass sie sich nicht augenblicklich bei ihm, dem unwiderstehlichen Multimillionär Sean Penn Night, unterhakte?

Doch dann trat er einen Schritt zurück und senkte den Blick.

„Nun, wenn das so ist, wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend, Emily“, sagte er, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und eilte die schmale steile Treppe, die hinauf zu ihrer Wohnung führte, genauso schnell hinab, wie er sie offensichtlich hinaufgekommen war. Nachdem unten die Tür ins Schloss gefallen war, spähte Emily ihm durch die halb geöffneten Vorhänge nach. Er ging zügigen Schrittes durch die Dunkelheit in Richtung eines nagelneuen Aston Martin, der ungefähr so viel kosten musste wie ihre Wohnung. Die Blinker leuchteten auf und ein futuristisch anmutender Piepton erklang, als er den Wagen über die Fernsteuerung öffnete. Nur Sekunden später fuhr er langsam an, bis die Rücklichter schließlich um die nächste Ecke verschwanden.

Er hatte sich nicht einmal zu ihr am Fenster umgedreht auf dem Weg zu seinem Wagen, um festzustellen, ob sie ihm nachsah.

Etwas, das ihr einerseits mehr als recht war.

Andererseits: War es ein gutes Zeichen? Oder ein Zeichen dafür, dass sie ihn mit dem Korb, den sie ihm hier und jetzt verpasst hatte, gegen sich aufgebracht hatte?

„Hoffentlich war das kein Fehler“, sagte sie leise zu sich selbst.

Ein Weilchen nippte sie noch unentschlossen an ihrem Weinglas. Um dann das zu tun, was nach einer spektakulären Entwicklung wie dieser getan werden musste: Rose auf Mallorca anzurufen. Es war erst kurz nach neun in London, also eine Stunde später auf der Insel. Das war kein Problem, da in Spanien die Lichter nie vor Mitternacht erloschen, wie sie gehört hatte. Davon abgesehen: Emily brauchte jetzt jemanden, mit dem sie sich austauschen konnte. So wie früher. So wie es immer gewesen war.

Vor Roses Abreise.

Denn auch das ließ sich nicht länger verleugnen: Je länger sich die Stille in ihrer Wohnung ausbreitete, in der sie nie allein gelebt hatte, desto unheimlicher wurde sie ihr. Und desto mehr beschlich Emily das Gefühl, dass sie möglicherweise soeben wirklich einen schweren Fehler begangen hatte, der nicht wiedergutzumachen war.

Einen Fehler, der sie vielleicht doch noch den Laden kosten würde. Schließlich hatte sie keine Ahnung, zu was Sean Night fähig war, wenn er nicht bekam, was er wollte.

Schließlich war er ein Bösewicht, wie er im Buche stand.

„Mach dir keine Sorgen, Emily“, beruhigte Rose sie wenig später, nachdem sie ihr die ganze Geschichte im Detail erzählt hatte. „Richards Bruder mag knallhart sein, wenn es um seine geschäftliche Strategie geht, aber ich glaube schon, dass er Privates und Berufliches voneinander trennen kann. Wobei …“

„Wobei was?“ Emily kannte diesen Unterton in der Stimme ihrer älteren Schwester.

„Nun, ich meine – was spricht eigentlich dagegen, mit ihm auszugehen?“

Was dagegensprach?

Emily konnte es nicht fassen.

„Rose, glaubst du wirklich, ich gehe mit dem Feind aus?“

„Aber Emily – er hat uns den Laden doch zurückgegeben! Reicht das nicht als Versöhnungsangebot?“

„Als Versöhnungsangebot ja, aber deshalb muss ich mich wohl nicht gleich mit ihm verloben, oder?“

„Natürlich nicht! Aber du musst ihm auch nicht die Tür vor der Nase zuschlagen“, seufzte Rose. „Und … geht es dir sonst gut?“, wechselte sie schnell das Thema.

„Hervorragend!“, erwiderte Emily blitzschnell, um jegliche Diskussionen über ihr brach liegendes Liebesleben unverzüglich im Keim zu ersticken. Sie hatte ohnehin keine Zeit für eine Beziehung, jetzt wo die ganze Arbeit im Laden an ihr hängen blieb.

„Dann schlaf einfach eine Nacht darüber, und morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus“, beruhigte ihre Schwester sie mit demselben Spruch, mit dem schon ihre Mutter sie beide durch schwierige Nächte gebracht hatte. Damals, als ihre Eltern noch lebten.

Als Emily auflegte, wurde sie für einen Moment von einer wehmütigen Melancholie erfasst. Jetzt wo Rose weit weg von ihr auf einer Insel im Süden lebte, hatte sie das Gefühl, ganz allein auf der Welt zu sein.

Ja: Der Laden und die Arbeit waren ihr geblieben.

Aber der Spaß – wo war er in den vergangenen Wochen hin entschwunden?

Erst jetzt begriff sie es: Ohne jemanden, mit dem man es teilen konnte, machte das Leben nur halb so viel Spaß.

Als Emily am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich deutlich besser. Allein die weißen Rosen in der schlanken Porzellanvase auf dem Küchentisch erinnerten sie daran, dass sie Sean Nights Besuch nicht geträumt hatte – sondern, dass er tatsächlich vor ihrer Tür gestanden hatte. Dieser Sonntag verlief ohne weitere Störungen. Und als sie am Montag den Laden betrat, schien die Welt wieder in Ordnung zu sein. Alles war beim Alten. Auch am Dienstag noch.

Doch offensichtlich hatte sie sich zu früh gefreut.

Denn der Tag, der alles ändern sollte, war der Mittwoch.

Sie erblickte den strahlend weißen Briefumschlag bereits durch das Schaufenster, als sie an diesem Morgen kurz nach neun ihr nach Blumen duftendes Reich betrat. Der Postbote musste ihn gerade erst zusammen mit anderen Umschlägen – braunen, grauen, blauen, unbedrohlichen – durch den schmalen Schlitz in der Tür eingeworfen haben.

Sie erkannte das Wappen sofort:

Harris & Company – der Absender war ihr Vermieter.

Alles war exakt so wie erst vor ein paar Wochen, als ihnen aus heiterem Himmel die Kündigung ins Haus geflattert war. Kurz gesagt: das perfekte Déjà-vu.

Mit zitternden Fingern öffnete Emily den Umschlag. Und ließ ihren Blick nervös über den strahlend weißen Briefbogen schweifen, der kein Wässerchen trüben zu können schien und auf dem nur wenige Sätze zu finden waren.

„… bitte teilen Sie uns mit, wann Sie den Laden endgültig räumen werden …“, las sie, während die Buchstaben langsam vor ihren Augen verschwammen.

Sie schaffte es so gerade noch bis zu der kleinen Holzbank.

Wo sie sich kraftlos niederfallen ließ und tief Luft holte.

„Du … hinterhältiger … Mistkerl!“, stieß sie aus.

2. KAPITEL

Es war nicht zu fassen!

Im Grunde hatte er es immer gewusst. Und aus genau diesem Grund hatte er sein Leben bislang so gelebt, wie er es gelebt hatte: ohne Rücksicht auf Verluste. Ja, überhaupt ohne Rücksicht auf andere. Denn diese nahmen ja auch keine Rücksicht auf ihn und seine Bedürfnisse. Sean fragte sich ernsthaft, welcher Teufel ihn geritten hatte, als er sich dazu entschlossen hatte, wie der letzte Depp, der es nötig hatte, mit Blumen vor Emily Days Tür aufzutauchen.

Dieses … arrogante … Weibsstück!

Erst rettete er ihren Laden – und jetzt akzeptierte sie nicht einmal, dass er sie bei ihrem Vornamen ansprach. Und schon gar nicht, dass er sie zum Essen in ein Restaurant ausführte, das sie in ihrem bisherigen Leben höchstens von außen bewundert haben konnte, in ehrfürchtiger Anbetung! Jedenfalls wenn es stimmte, was er über ihren Kontostand annahm, worüber er sich ziemlich sicher war. Das einzig Gute an der Sache war, dass die Erinnerung an sein altes Leben auf einen Schlag zurückgekehrt war. Eine Erinnerung, die der Herzinfarkt über Wochen hatte verblassen lassen. Tatsache war: Um ein Haar hätte dieser äußerst unangenehme Vorfall ihn in einen anderen Menschen verwandelt. Doch jetzt wusste Sean wieder, warum er nie an die große Liebe geglaubt hatte. Emily Day hatte ihn daran erinnert, warum es für ihn – und für jeden halbwegs erfolgreichen Mann auf diesem Planeten – besser war, sich auf One-Night-Stands, Affären und hübsche Escort-Girls zu konzentrieren.

Lieber tausend Euro für eine Nacht als tausend und eine Nacht mit einer Frau wie Emily Day. Dabei war sie ihm im Krankenhaus so nett vorgekommen. Zugegeben: Sie hatte etwas in ihm ausgelöst.

Etwas, das sie nun auf einen Schlag wieder ausgelöscht hatte.

Bravo!

Es war nun einmal so, dass für die meisten Frauen das Alphabet erst mit dem Buchstaben F begann: F wie Feindseligkeit. Dabei wäre der Buchstabe davor – D wie Dankbarkeit – eigentlich angebracht gewesen.

„Haben Sie sich entschieden, Mister Night?“

Es war die hübsche Kellnerin in ihrem strahlend weißen Dress, die ihn mit einem nicht minder strahlend weißen Lächeln aus seinen trüben Gedanken zurück in eine schönere Welt holte. Die Welt, in der er immer zu Hause gewesen war. Bars, Restaurants, hübsche Frauen, die nur spielen wollten. Es war Mittwoch gegen Mittag, und er saß in seinem Lieblingsrestaurant, dem Dinner von Starkoch Heston Blumenthal im Mandarin Oriental Hotel mit Blick auf den Hyde Park. Wobei, in dieser Sekunde wusste er nicht, welche Aussicht ihm besser gefiel: die auf den Park, die Menükarte – oder die Kellnerin direkt vor seinen Augen. Verträumt ließ er den Blick unauffällig über ihre unter einer ebenfalls strahlend weißen Bluse versteckten apfelförmigen Brüste schweifen, um sich dann über ihre sinnlichen Lippen hinauf zu ihren glitzernden eisblauen Augen hochzuarbeiten.

Ahhh! Es war ein Fest für die Sinne. Genau das, was ein Mann brauchte, um sein krankes Herz wieder in Schuss zu bringen.

„Ich denke, ich starte mit dem gegrillten Tintenfisch. Und als Hauptgang hätte ich gern ein saftiges Angus Steak, Darling“, bestellte er, wie er es immer getan hatte. Vor dem Infarkt. Wie ein Mann. „Dazu ein Perrier und ein Gläschen Chateau Lafite.“

Die Augenweide an seinem Tisch tippte es fleißig in ihren kleinen Computer.

„Und zum Nachtisch?“

„Nun – ich schwanke noch zwischen Ihnen, Verehrteste, und dem karamellisierten Apfelkuchen. Was ist süßer?“, fragte er augenzwinkernd.

„Ganz klar der Apfelkuchen!“, kicherte die Bedienung. Er war hier Stammgast und konnte sich etwas erlauben. Jeder wusste, wer er war, sein Trinkgeld stimmte und sein Auftreten ebenfalls: Anzug: Prada, Uhr: Rolex, Schuhe: maßgeschneidert in der Portobello Road. Noch Fragen?

„Hm“, erwiderte er. „Kann ich Ihnen in diesem Punkt wirklich glauben, oder sollte ich es besser ausprobieren?“

„Den Apfelkuchen können Sie gern probieren, Mister Night, und das andere …“ Sie schüttelte den Kopf, aber nur ganz leicht und ein wenig verlegen, so als würde sie tatsächlich erwägen, auf sein Angebot einzugehen.

„Wie wär’s? Gehen wir morgen Abend zusammen aus?“, fragte er. „Eine Schönheit wie Sie verdient es, in den besten Restaurants der Stadt zu speisen und nicht nur dort zu arbeiten.“

Nun war sie es, die ihm verführerisch zuzwinkerte.

„Ich überlege es mir“, hauchte sie ihm zu. „Aber morgen kann ich nicht, da muss ich arbeiten. Vielleicht am Wochenende …?“

„Ich nehme Sie beim Wort, Prinzessin“, erwiderte er erfreut über die Tatsache, dass er offenbar nichts verlernt hatte.

Ja, jetzt würde diese Emily Day Augen machen! Schade, dass sie nicht hier war, um seine Wirkung auf attraktive Frauen mit eigenen Augen zu beobachten. Und um festzustellen, was sie so leichtfertig ausgeschlagen hatte. Und das, obwohl er sich wie ein formvollendeter Gentleman verhalten hatte. Nun ja, den Spruch mit dem Treppensteigen und dem Sex hätte er sich vielleicht sparen können. Aber konnte er ahnen, dass sie so humorlos war? Mein Gott, sie lebten in England! Und wofür waren Engländer in der ganzen Welt berühmt, wenn nicht für ihren ein wenig schrägen Humor und Mutterwitz?

„Mister Night! Wir haben Sie vermisst! Wo haben Sie sich rumgetrieben?“

Vom Nachbartisch winkte Peter Norton rüber, ein Investmentbanker, der noch schwerer wog als er selbst. Vom Kontostand her, verstand sich. Er saß da mit einer Neuerwerbung, blond, blauäugig und mit üppigen Investmentanreizen. Sie konnte sich noch nicht viel länger als drei Wochen in seinem Portfolio befinden, denn kurz vor seinem Herzinfarkt hatte Sean ihn noch mit einer anderen gesehen.

„Ich? Geschäftsreise!“, log er. Niemand musste wissen, was passiert war. Zwei Wörter waren unter Geschäftsleuten in der City unbekannt und durften nicht ungestraft ausgesprochen werden, wollte man nicht aufs Abstellgleis geschoben werden: Das eine war Urlaub, das andere war Herzinfarkt.

„Und? Erfolgreich?“, hakte Peter Norton nach.

„Sehr erfolgreich sogar!“, bestätigte Sean, während ihm die an seinen Tisch zurückgekehrte hübsche Kellnerin mit einem charmanten Lächeln den Wein einschenkte. „Und Sie auch, wie ich unschwer feststellen kann …“, spielte er den Ball mit einem anerkennenden Blick auf Nortons Neuerwerbung zurück.

Norton nickte, während die Blondine nicht das Geringste zu verstehen schien.

Es war ein altes Spiel zwischen ihnen beiden – das ging schon seit Jahren so: Wer hatte die Schönste? Wer hatte die meisten? Das waren die Fragen, um die sich das Spiel drehte. Eine amüsante Sache, die Sean eigentlich immer genossen hatte.

Sie erhoben das Glas und prosteten einander aus der Entfernung zu.

Als Sean ein Stündchen später an die frische Luft trat und diese tief in seine Lungen einsog, fühlte er sich fast, als wäre er wirklich auf einer erfolgreichen Geschäftsreise gewesen.

Und nicht im Krankenhaus.

Wahrscheinlich musste er einfach nur diese innere Stimme aus seinem Kopf löschen, mit der so viele Menschen zu kämpfen hatten, die in letzter Sekunde dem Tod von der Schippe gesprungen waren. Jedenfalls hatte er das mal im Fernsehen gesehen. Die innere Stimme, die einem zuflüsterte, dass man eine zweite Chance bekommen hatte, um es diesmal besser zu machen. Ein besserer Mensch zu werden. Eine erleuchtete Version seiner selbst.

Aber das war Nonsens. Denn was passierte, wenn man es auch nur ansatzweise versuchte, hatte er vor ein paar Tagen erlebt. Man stieß auf nichts als Ablehnung und Unverständnis. Wahrscheinlich funktionierte die Besserer-Mensch-Schiene nur mit Menschen, die eine ähnliche Nahtoderfahrung durchgemacht hatten.

Und deren Gehirne dabei ebenfalls ein paar Kratzer abbekommen hatten.

Sean jedenfalls war froh, dass seines jetzt wieder halbwegs zu funktionieren schien.

Am Wochenende würde er Nicole, die Kellnerin, wiedersehen – die Sache war so gut wie geritzt. Er hatte ihre Nummer und sie seine. Und bis dahin würde er schauen, was ihm sonst noch so vor die Flinte kam. Langsam fing das Leben wieder an, Spaß zu machen.

Ein Gedanke, der jäh durch das Klingeln seines Handys unterbrochen wurde. Unbekannte Nummer, stellte Sean mit einem Blick auf das Display fest, entschloss sich aber, den Anruf trotzdem entgegenzunehmen. Man konnte nie wissen. Auch manche seiner Geschäftspartner aus aller Welt hatte er auf diese Weise kennengelernt.

„Ja?“

„Mister Night?“

Die Stimme kam ihm bekannt vor. Sie gehörte einer jungen Frau.

„Am Apparat“, bestätigte er, während er überlegte, woher genau er ihre Stimme kannte.

„Sie … sind wirklich der gemeinste … Mistkerl! … der mir je begegnet ist.“

Sean zuckte augenblicklich zusammen. Jetzt wusste er, wem die Stimme gehörte – niemand anderem als Emily Day! Der Frau, mit der er um ein Haar ausgegangen wäre. Hätte sie ihrem eigenen Glück nicht so stur im Wege gestanden.

„Was …“ Zu mehr reichte die Zeit nicht. Denn sie war schneller.

„… und zwar von der schlimmsten Sorte!“, fuhr sie fort mit ihrer verbalen Tracht Prügel, die Sean ein absolutes Rätsel war. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, womit er das nun wieder verdient hatte.

„Sie meinen, weil ich mit Blumen vor Ihrer Tür stand und Sie zum Abendessen ausführen wollte? Meinen Sie das?“, ließ er den schief gelaufenen Anmachversuch vor seinem geistigen Auge Revue passieren – in der Hoffnung, dass ihm der Grund ihres Ärgers dabei doch noch einleuchten könnte.

„Sie wissen ganz genau, was ich meine!“

„Nein, das weiß ich nicht, Emily“, stellte er nüchtern fest.

„Miss Day!“, korrigierte sie ihn erneut. Ja, sie schrie es ihm fast ins Ohr. Langsam, aber sicher war er froh, dass sie nicht zusammen ausgegangen waren. Denn offensichtlich hatte sie wie so viele Frauen ein ziemliches Problem mit sich selbst. Wenn sie nicht sogar absolut verrückt oder zumindest schwer gestört war. Eine Schande, dachte Sean, denn sie war so hübsch. Wieso mussten Frauen sich selbst und anderen das Leben nur immer so schwer machen?

„Jetzt streiten Sie es bloß nicht ab!“, fuhr sie fort, ihm die Hölle heiß zu machen.

„Ach ja? Und was in aller Welt sollte ich abstreiten, Emil… Miss Day …?“, antwortete er wahrheitsgemäß. Er wollte noch Julius Cäsar zitieren und dass er seine Hände in Unschuld wusch, ließ es aber lieber bleiben, um nicht zu riskieren, dass nach seinem Herz auch noch sein Trommelfell schwerwiegende Schäden nahm.

„Dass Sie sich meinen Laden unter den Nagel reißen wollen!“

Sean lachte laut auf.

Das konnte sie unmöglich ernst meinen. Oder aber, sie war wirklich verrückt.

„Wissen Sie was, Miss Day: Sie sind ganz schön gestört! Ich bin froh, dass wir nicht zusammen ausgegangen sind!“, klärte er sie auf, um dem Spuk ein Ende zu bereiten.

Ich bin gestört?“

Er konnte förmlich hören, wie sie Luft holte.

„Nach allem, was ich bis jetzt vernommen habe, muss ich das wohl leider annehmen“, erklärte er nüchtern.

„Wenn hier jemand gestört ist, dann Sie, Mister Night!“, schoss sie zurück. „Erst tun Sie so, als ob die Sache sich erledigt hätte – und dann greifen Sie aus dem Hinterhalt an und holen sich unseren Laden doch noch. Sie haben wirklich nichts gemeinsam mit Ihrem Bruder. Schämen Sie sich!“

Was um Himmels willen sollte das? Wäre sie nicht so außer sich gewesen, hätte er angenommen, dass ihn hier jemand gehörig auf den Arm nehmen wollte. Aber so?

„Hören Sie, Miss Day, ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Würden Sie mir die Sache vielleicht einmal genauer erklären, ohne mich dabei anzuschreien?“

Doch er hatte noch nicht einmal ausgesprochen, da vernahm er bereits ein Knacken in der Leitung, gefolgt von absoluter Stille.

Aufgelegt!

Was für eine Unverschämtheit!

Für einen Moment musste Sean sich auf eine Bank setzen. Er spürte, dass die Aufregung Besitz von ihm ergriffen hatte, auch wenn er am Telefon versucht hatte, möglichst cool zu klingen. Doch es ließ sich nicht verleugnen: Sein Herzschlag hatte sich deutlich beschleunigt. Und sein Arzt hatte ihm bei der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht umsonst angeraten, dieses angeschlagene Herz gerade jetzt besonders zu schonen. Er war achtunddreißig Jahre alt. Und er verspürte nicht die geringste Lust, jetzt schon ins Gras zu beißen.

Was in aller Welt hatte dieser wutentbrannte Anruf zu bedeuten? Sean konnte sich nicht den leisesten Reim darauf machen. Doch eines war klar: Wenn es Emily Days Ziel gewesen war, ihm schlaflose Nächte zu bescheren, sollte sie damit keinen Erfolg haben. Er würde der Sache auf den Grund gehen – und zwar jetzt sofort, sobald er nur wieder etwas zu Atem gekommen war.

Kaum eine Stunde später fuhr er vor dem kleinen Blumenladen in Notting Hill vor. Er parkte seinen Aston Martin diskret in einer Seitenstraße. Und trat dann unter dem grashüpfergrünen DAYSIES-Schild hindurch in das Geschäft, begleitet von einem freundlich hellen Bimmeln eines Türglöckchens, das in einem merkwürdigen Kontrast zu der Unterhaltung stand, die die Inhaberin des Ladens ihm soeben am Telefon aufgedrängt hatte. Und die er nun an Ort und Stelle zu Ende führen würde.

„Bin gleich da!“, vernahm er ihre hell und freundlich klingende Stimme aus dem hinteren Teil des Geschäfts. Offenbar nahm sie an, er wäre ein Kunde. Nur eine Sekunde später tauchte sie auf, mit einer Blumenschere in der Hand.

Sie erstarrte, kaum hatte sie ihn erblickt – in ihrem dunkelblauen, knielangen Kleid, das sich unter ihrer DAYSIES-Schürze an ihren Körper schmiegte und perfekt zu ihren goldblonden Haaren passte.

Doch dieser Gedanke verließ seinen Kopf so abrupt, wie er sich hineingeschlichen hatte. Denn sie richtete doch tatsächlich drohend die Gartenschere auf ihn. Als wäre er ein Einbrecher!

„Nun kommen Sie schon, Miss Day!“, sagte er. „Finden Sie das nicht ein wenig übertrieben?“

Doch sie schüttelte nur den Kopf. „Sie sind zu allem fähig, dafür sind Sie bekannt.“

Nun, in diesem Punkt mochte sie recht haben. Er war tatsächlich für seine, nun: hemdsärmeligen Geschäftspraktiken bekannt. Oder besser gesagt: berühmt. Denn wer so erfolgreich werden wollte, wie er es in relativ kurzer Zeit geworden war, konnte sich nun mal keine Zimperlichkeiten erlauben. All das jedoch war vor dem Infarkt gewesen. Auf Anraten seines Arztes hin hatte er sich fest vorgenommen, in Zukunft deutlich kürzer zu treten. Und, wo das Thema treten schon mal angesprochen war: Er wollte anderen Menschen nur noch auf die Füße treten, wenn es sich partout nicht vermeiden ließ.

Emily Day jedoch hatte er nicht auf die Füße getreten, die in hübschen braunen Lederstiefeln steckten, wie er in diesem Augenblick feststellte – von daher musste er sich für nichts entschuldigen. Und war sich auch keiner Schuld bewusst.

„Ich bitte Sie, meinen Laden sofort zu verlassen! Denn noch ist es mein Laden – noch gehört er mir und meiner Schwester!“, stellte sie klar.

„Und daran wird sich auch nichts ändern, denn all das hier ist drei Nummern zu klein für mich“, spielte er den Ball lässig zurück, während er langsam und durchaus ein wenig theatralisch die Hände erhob, um sie dezent darauf hinzuweisen, dass sie noch immer mit der Gartenschere auf ihn wies. „Und egal, was Sie mir vorwerfen: Ich habe damit nichts zu tun.“

„Ach ja? Und was ist dann das?“, fragte sie und wies mit ihrer Behelfswaffe auf einen weißen Briefbogen, der zwischen allerlei Blumen, Töpfen und Utensilien auf dem großen Tisch neben der Kasse lag.

„Ein Brief?“, mutmaßte er.

„Genau. Und zwar von unserem Vermieter. Der uns fragt, wann wir den Laden denn nun endgültig räumen werden.“

Sean stutzte. „Das hat nichts mit mir zu tun.“

Doch Emily Day schüttelte den Kopf. Offensichtlich traute sie ihm nicht im Geringsten über den Weg. Was hatte er ihr nur angetan? Offensichtlich hatte er mit der geplanten Übernahme des Ladens, die für ihn nur eines von vielen Themen auf seinem Schreibtisch gewesen war, ein echtes Trauma in ihr ausgelöst.

„Das glaube ich Ihnen nicht, Mister Night.“

„Nun, es gibt einen ganz einfachen Weg herauszufinden, ob ich die Wahrheit sage oder nicht“, schlug er vor.

„Und der wäre?“

„Sie rufen Ihren Vermieter an und fragen, wer hinter der Sache steckt“, empfahl er ihr. „Und zwar jetzt sofort. Wenn Sie sich nicht trauen, mache ich das auch gern für Sie. Und sei es nur, um Ihnen zu beweisen, dass ich eine absolut weiße Weste habe – strahlend weiß sogar!“

Einen Moment lang starrte sie ihn irritiert an. So als überlege sie, ob es tatsächlich Sinn ergab, was er soeben gesagt hatte – oder ob er sie damit nur von ihrem eigentlichen Plan abbringen wollte, ihn mit der Blumenschere in ihrer kleinen Hand hier und jetzt ins Jenseits zu befördern. Schließlich ließ sie die Schere sinken.

„Gut“, sagte sie. „Ich rufe dort an.“

Sie blickte ihn an, als erwarte sie von ihm, dass er den Laden verließ. Doch Sean rührte sich keinen Zentimeter vom Fleck.

„Ich werde hier solange warten“, erklärte er ihr.

Sofort stemmte sie ihre Arme entrüstet in ihre Hüften. „Und wieso bitte ist das nötig?“

„Damit Sie sich bei mir entschuldigen können, sobald Sie aufgelegt haben.“

„Haha – sehr witzig …“, erwiderte sie und verdrehte genervt die Augen. Dann griff sie nach dem Brief auf dem Tisch und dem Telefon daneben. Wählte die Nummer. Und wartete.

Sean beschloss, ihr ein wenig Privatsphäre zu lassen und sah sich währenddessen die Präsentation der Schnittblumen an und begutachtete die Dekoration des Ladens. Zumindest dafür schien sie ein Händchen zu haben. Er nahm sich vor, einige Ideen bei Nightflowers einfließen zu lassen, während er mit einem Ohr ihrem Gespräch lauschte.

Als sie schließlich aufgelegt hatte, wirkte sie merkwürdig kleinlaut. Verglichen mit ihrem Auftreten kurz zuvor jedenfalls.

„Ich habe mich dazu entschlossen, mich nicht bei Ihnen zu entschuldigen!“, teilte sie ihm ziemlich frustriert mit, zwei Nummern leiser als zuvor und mit sichtlich schlechtem Gewissen.

„Wissen Sie was?“, erwiderte er.

„Nein … was?“

„Es ist mir vollkommen egal, ob Sie sich bei mir entschuldigen oder nicht. Sie wollten von Anfang an nur einen Sündenbock – und das war ich. Ehrlich gesagt fühle ich mich ganz wohl in der Rolle, also belassen wir es einfach dabei. Sagen wir so: Ich habe einen gut bei Ihnen, wenn ich das nächste Mal versuche, Ihnen etwas Schlimmes anzutun. Einverstanden?“

Da! Zum ersten Mal hatte er ihr ein kleines Lächeln entlockt. Das allerdings nicht länger währte als eine Sekunde. Dann ging es wieder über in ihren üblichen grimmigen Gesichtsausdruck, den er offensichtlich in ihr hervorrief.

„Wieso haben Sie Ihren Vermieter eigentlich nicht schon früher angerufen?“

Sein Gegenüber schaute ihn kopfschüttelnd an.

„Der Brief ist heute Morgen erst gekommen – und meine innere Stimme schwor mir, dass er nur von Ihnen sein konnte.“

„Danke für die Blumen“, erwiderte er. „Doch in diesem Fall hat Ihre innere Stimme eindeutig einen Meineid geleistet. Oder anders gesagt: Sie hat Ihnen einen Bären aufgebunden.“

Für ein paar Sekunden schlich sich eine geradezu unheimliche Stille zwischen sie. Sean war richtig gehend überrascht, dass sie nicht sofort nachlegte. Dass sie keinen anderen Grund fand, ihn zu beschimpfen.

„Ja …“, erwiderte sie schließlich, seinem Blick ausweichend. „Es tut mir … ehrlich …“

Was war das?

„Stopp!“, hielt er sie auf, das zu sagen, was sie offensichtlich urplötzlich doch noch glaubte, sagen zu müssen. „Keine Entschuldigungen, ja? Verraten Sie mir stattdessen einfach nur, wer wirklich hinter der Sache steckt?“

Emily Day zuckte mit den Schultern, als spiele das nun wirklich keine große Rolle mehr. „Ricardo Agnelli.“

Sie schien nicht im Geringsten zu ahnen, was sie da soeben von sich gegeben hatte.

„Ricardo Agnelli?“ Nun war es Sean, der ungläubig die Augen aufriss. „Der Blumengroßhändler aus Rom?“

„Sie kennen ihn?“

Natürlich kannte er Ricardo! Seit er ein kleiner Junge war! Schon sein Vater hatte mit ihm zusammengearbeitet, viele Jahrzehnte lang. Er war so etwas wie die graue Eminenz des Blumengroßhandels in Italien. Und einer seiner größten Lieferanten. Mittlerweile musste er auf die achtzig zugehen. Doch was um Himmels willen wollte er mit einem Blumenladen in London? Zeitlebens hatte Ricardo nur Blumen an Händler in aller Welt verkauft – abgesehen von ein paar Läden in Rom, die er mehr als Hobby nebenbei betrieb. Aber London? Die ganze Sache kam Sean merkwürdig vor. Irgendetwas stank hier zum Himmel – und zwar ganz gewaltig.

„Nun, sagen wir: Er ist ein alter Geschäftsfreund.“

Sofort neigte sie misstrauisch den Kopf zur Seite. Er konnte sehen, wie die alte Feindseligkeit, die sich nur Sekunden zuvor endlich gelegt zu haben schien, erneut in ihren Augen aufblitzte.

„Ach, so ist das … Das hätte ich mir natürlich gleich denken können“, kombinierte sie, leider Gottes vollkommen falsch. „Sie stecken unter einer Decke, oder?“

Unter einer Decke mit Ricardo Agnelli? Nun, das wollte Sean sich nicht wirklich bildhaft vorstellen. Er stand auf deutlich weiblichere Formen.

„Wie kommen Sie nur auf diesen ausgemachten Unsinn?“, entgegnete er schärfer, als er es eigentlich vorgehabt hatte. „Im Gegenteil: Ich wäre sogar bereit, Ihnen bei der Sache zu helfen! Damit Sie sehen, dass ich meine Hände ganz und gar in Unschuld wasche.“

Nun war sein Julius-Cäsar-Moment doch noch gekommen.

Wobei: Für einen Moment hielt Sean inne. Hatte er gerade zu viel versprochen?

Zugegeben: Das merkwürdige Vorgehen von Ricardo Agnelli hatte seine Neugier geweckt. Nicht zuletzt, da er selbst und Nightflowers theoretisch genauso oder sogar noch weit mehr als der völlig unbedeutende DAYSIES-Laden betroffen wären, sollte der alte Italiener wirklich vorhaben, sein Imperium auf England auszuweiten. Von daher war es in seinem ureigenen Interesse, so viel wie möglich über diese … nun ja, recht seltsam anmutenden Pläne herauszufinden. Andererseits bedeutete es einigen Aufwand, denn … um es kurz zu machen: Ricardo Agnelli telefonierte nicht besonders gern.

Er war ein Geschäftsmann alter Schule.

Er bevorzugte Gespräche unter vier Augen.

Und wenn schon, dachte sich Sean. Denn er wiederum war ein Mann schneller Entscheidungen, der sich auf jede Situation blitzschnell einstellen konnte und auf alles die richtige Antwort wusste.

„Also: Wollen Sie, dass ich Ihnen helfe?“, wiederholte er seine Frage.

Emily runzelte die Stirn. „Sie? Mir helfen?“

„So, wie Sie es aussprechen, klingt es, als würde der Leibhaftige persönlich vor Ihnen stehen“, teilte er ihr seine Sicht der Dinge mit. Es war schon ein bisschen schockierend zu erfahren, welche Wirkung er offensichtlich auf sie hatte. „Betrachten Sie es so, Miss Day: Wir machen einen Deal. Einen Deal, bei dem Sie nichts verlieren können. Sollte es mir gelingen, Ricardo Agnelli von der Idee abzubringen, Ihren Laden zu übernehmen, hören Sie auf, mich als den schlechtesten Menschen der Welt zu betrachten. Wenn nicht, dürfen Sie mich weiterhin verachten.“

Sie schaute ihn zweifelnd an. „Und was muss ich dafür tun?“, fragte sie schließlich.

„Nichts“, erwiderte er und versuchte ein Gesicht aufzusetzen, das so unbeschwert und unschuldig wie möglich aussah. Von seinem Hintergedanken in puncto Ricardo Agnelli musste sie ja nichts wissen.

„Nichts?“ Erneut starrte sie ihn als, als könne sie es nicht richtig glauben.

„Nun, fast nichts …“, präzisierte er. „Außer mit mir nach Rom zu fliegen.“

Er konnte förmlich sehen, wie ihr die Kinnlade nach unten klappte – kaum hatte er ausgesprochen.

„Nach … Rom?“ Ihre großen blauen Kulleraugen schauten ihn ungläubig an.

„Und zwar noch heute!“, bekräftigte Sean seinen Plan.

Noch am selben Abend trafen sie sich in London Heathrow. Sean hatte auf Firmenkosten zwei Flüge nach Rom reserviert, Business Class, versteht sich. Doch Miss Day bestand tatsächlich darauf, ihren Flug selbst zu bezahlen. Im Grunde hätte er es sich gleich denken können, dass sie die Offerte eines Gentlemans, der er nun mal war, leichtfertig ausschlagen würde. Und da sie sich die Business Class selbstverständlich nicht leisten konnte, fand sie letzten Endes einen Platz in der Economy.

Wie man sich doch sein Leben unnötig schwer machen kann, dachte Sean bei sich, während er seine Beine ausstreckte und es sich bei einem Glas Champagner und einem feinen Abendessen gemütlich machte, während seine Reisegefährtin hinten in der Holzklasse schmorte. Für wen oder was hielt sie ihn eigentlich? Für einen Casanova, der bei der erstbesten Gelegenheit über sie herfiel, sobald er sie mit Champagner abgefüllt hatte?

Nun, der Gedanke war nicht ganz von der Hand zu weisen. Er hatte eine dementsprechende Reputation. Aber doch nicht nur wenige Wochen nach einem Herzinfarkt!

„Besteht nicht die Möglichkeit, telefonisch mit Signore Agnelli zu verhandeln?“, klang immer noch ihr ängstliches kleines Stimmchen in seinen Ohren.

Telefonisch verhandeln? Nun, da kannte sie den alten Kauz schlecht.

Wie gesagt: Er war ein italienischer Geschäftsmann alter Schule. Wichtige Deals wurden unter vier Augen abgeschlossen, beim Abendessen in seinem Stammrestaurant, einer kleinen Pizzeria in dem eher ärmlichen Viertel Roms, in dem er geboren worden war. Nichts Schickes, sondern eher eine Reminiszenz an seine Jugend und ein Beweis dafür, dass er seine Wurzeln nicht vergessen hatte. Er mochte sich aus der Armut befreit haben und nun ein reicher Mann sein, aber gleichzeitig war er eben auch immer noch Ricardo aus der Nachbarschaft. Sean hatte ihn viele Male getroffen, und er strahlte sowohl Wärme als auch Weisheit aus.

Nur eine Sache kannte er nicht: ein Mobiltelefon.

Das Telefonieren überließ er seinem Personal. Zumindest, was das Geschäftliche betraf.

Wer ihn persönlich sprechen wollte, musste zu ihm kommen.

Und bekam mit etwas Glück und den richtigen Kontakten eine Audienz – in diesem Punkt unterschied Ricardo Agnelli sich kaum vom Heiligen Vater, der nur ein paar Straßenzüge entfernt von dessen hochherrschaftlicher Villa im Vatikan residierte.

3. KAPITEL

Was um Himmels willen tat sie hier? Alles war so schnell gegangen, dass Emily kaum Zeit geblieben war, auch nur eine Sekunde lang ihr Handeln zu hinterfragen. Und nun saß sie auf einmal im Flieger nach Rom!

Mit Sean Night.

Träumte sie – oder geschah es wirklich? In beiden Fällen hoffte sie inständig, dass die Sache sich nicht in einen Albtraum verwandeln würde.

Nein, sie traute Sean Night nicht. Irgendetwas an der Sache war nicht ganz koscher. Im Grunde gab es nur zwei Möglichkeiten:

A: Er steckte doch selbst hinter der Sache und versuchte mit diesem Trick, davon abzulenken.

B: Er wollte sie auf diese Weise ins Bett kriegen, sozusagen als Plan B. Aber wenn es das war, machte er sich vergeblich Hoffnungen!

Und doch: Signore Agnellis Übernahmepläne für ihr geliebtes DAYSIES waren real, das hatte sie von ihrem eigenen Vermieter erfahren. Und die Sache eilte. All das hatte einen höllischen Druck aufgebaut. Fest stand: Sie musste schnellstmöglich etwas unternehmen, wenn sie den Laden nicht doch noch verlieren wollte – was eine Schande wäre, nachdem Rose nur Wochen zuvor wie eine Löwin darum gekämpft hatte. Und das höchst erfolgreich, indem sie Richard Night ins Boot geholt hatte. Nun musste Emily beweisen, dass auch sie dazu im Stande war.

Kurz vor ihrem Abflug hatte sie mit Rose telefoniert. Um ihre Meinung einzuholen. Schließlich waren sie Schwestern und Co-Inhaberinnen desselben Geschäfts. Zu ihrer größten Überraschung fand ihre Schwester Sean Nights Angebot keinesfalls verdächtig, sondern sogar ehrenwert. Sie schien nicht den leisesten Zweifel an seinen ehrbaren Absichten zu hegen. Im Gegenteil, sie behandelte ihn fast wie einen edlen Ritter, den man mit Samthandschuhen anfasste.

„Siehst du, ich habe dir doch gesagt, dass er so übel gar nicht ist“, wiederholte sie, was sie so oder ähnlich schon zu ihr gesagt hatte, nachdem Mister Night den vermutlich ersten Korb seines Lebens verpasst bekommen hatte. Von ihr höchstpersönlich – Emily Day.

Doch nun hatte der Wind sich gedreht. Rose war derselben Auffassung gewesen wie Sean Night: Dass sie keine Zeit verlieren durfte. Dass es richtig war, nach Rom zu fliegen, um mit Signore Agnelli zu sprechen – ein Termin, den sie überhaupt nur dank Sean Nights ausgezeichneter Kontakte und Verbindungen bekommen würde.

Gott sei Dank war Anna in letzter Minute eingesprungen – eine Freundin, die seit Kurzem im Laden aushalf und auf einen Fulltime-Job aus war. Nun, jetzt hatte sie Gelegenheit, ihr Können zu beweisen und sich für eine Festanstellung zu empfehlen. Zumindest für die nächsten vierundzwanzig Stunden. Emily betete, dass es nicht länger dauern würde. Dass sie bereits morgen wieder im Flieger zurück nach London säße. Sie hatte die Stadt, die ihr alles bot, was das Herz begehrte, in ihrem bisherigen Leben selten bis nie verlassen und wenn, dann nur für eine Landpartie innerhalb Englands. Obwohl sie eigentlich eine Frohnatur war, jagten einschneidende Veränderungen ihr schon von Kindesbeinen an eine Heidenangst ein – sie bevorzugte ihr Leben stabil und ohne größere Überraschungen, abgesehen von Geburtstagsgeschenken und dergleichen. Im Idealfall war das Leben ein langer ruhiger Fluss, der gemütlich dahinfloss, ohne Stromschnellen oder gefährliche Wasserfälle.

Eine komische Einstellung? Nicht für sie.

Möglicherweise lag es daran, dass sie Sternzeichen Jungfrau war. Damit jedenfalls zog Rose sie immer auf, die angstlose Löwin mit Durchsetzungskraft und Pioniergeist.

„Tröste dich – Jungfrau ist immer noch besser als Steinbock!“

Wie oft hatte sie diesen Spruch schon gehört in ihrem Leben. Und ja: Er traf zu. Das Gefühl der Sicherheit, dass sich der morgige Tag vom heutigen nicht zu sehr unterscheiden würde, erfüllte sie mit innerem Frieden. So war sie nun mal. Sie mochte ihr Leben und ließ nur kleine Änderungen und Ergänzungen zu, die es perfekt machen würden. Was nicht hieß, dass sie eine Stubenhockerin war – im Gegenteil: Sie liebte es auszugehen und mit ihren Freundinnen zu feiern. Solange alles im Rahmen ihrer geliebten kleinen Welt blieb.

Doch diese würde sie nun für eine Reise in eine unbekannte Welt hinter sich lassen müssen. Um zu beweisen, dass auch in ihr ein Löwenherz steckte – genau wie in Rose.

Du musst es so sehen, hatte Emily sich vor dem Abflug selbst Mut gemacht. Das Leben präsentiert dir hier die einmalige Gelegenheit zu beweisen, was wirklich in dir steckt! Dass du mutig und spontan sein kannst. Jetzt kannst du endlich zeigen, was du wirklich auf dem Kasten hast.

Sie stieß einen tiefen, von Zweifeln durchsetzten Seufzer aus, während sie durch das kleine Fenster in das Meer aus weißen Wolken blickte, das sie überflogen. In gut einer Stunde würden sie in Rom landen, der Ewigen Stadt. Im Internet hatte sie last minute eine kleine Pension gefunden, nur ein paar Seitenstraßen von dem Hotel entfernt, in dem Sean Night sich eingebucht hatte: dem Majestic Roma – einem Fünf-Sterne-Palast mit atemberaubenden Stuckfassaden an der berühmten Via Vittorio Veneto, auch als die Fifth Avenue Roms bekannt. Sean Night hatte ihr Bilder vom Hotel auf ihr Handy geschickt, unter der erneut überaus verdächtigen Überschrift „Good Night, Miss Day :-)“. Denn auch hier hatte er ein Zimmer für sie mit reserviert – offensichtlich in dem Glauben, dass sie nicht erkannte, welche Absichten sich dahinter verbargen. Oder diesen Absichten sogar freiwillig auf den Leim ging. Es war ein Wunder, dass er ihr nicht gleich angeboten hatte, in seinem Zimmer zu übernachten!

Erneut hatte sie kaum den Mund zubekommen – vor Empörung. Als wenn sie sich auf diese Weise kaufen lassen würde!

Für wen oder was hielt er sie? Für eine Prostituierte? Eine Schaufensterpuppe? Denn eines war klar: Männer wie Sean Night waren Jäger. Sie waren nicht an inneren Werten interessiert, sondern nur an einem hübschen Fell. Und das besaß sie offensichtlich. Im Grunde war es schon immer so gewesen: blond, blauäugig, gut bestückt und doch von zierlicher Statur – das war anscheinend alles, worauf Männer aus waren. Bis zum heutigen Tag hatte sie noch keinen Mann getroffen, der sich letzten Endes als anders herausgestellt hatte. Und sie hatte durchaus einiges ausprobiert, so war es nun auch wieder nicht – sie mochte eine Jungfrau sein, aber eine Nonne war sie nicht.

Sorry, Empfängerin unbekannt verzogen! hatte sie ihm postwendend zurückgetextet, ohne ihm den Namen der Pension zu nennen, in der sie die nächste Nacht verbringen würde.

Und zwar allein.

Es war ihr egal gewesen, was für ein Gesicht er gemacht hatte, als sie ihm ihre Buchungsinformationen mitgeteilt hatte. Flug in der Holzklasse und die kleine Pension, deren Standard gerade noch über dem einer Jugendherberge lag. Und ja: Im Gegensatz zu ihm, dem Multimillionär, reiste sie wie eine Rucksacktouristin. Aber das war immer noch besser, als sich ungeschützt in das Revier des Jägers zu begeben.

Nein, so war es auf jeden Fall besser. So war sie frei. So war sie auf der sicheren Seite. Seine großzügigen Buchungen für sie bestärkten sie nur noch in ihrem Glauben, dass Sean Night ihr überhaupt nur half, weil er sich davon persönlich etwas versprach. Weil er sie ins Bett kriegen wollte. Als eine seiner Trophäen, von denen er im Laufe seines Lebens sicher schon so einige gesammelt hatte. Doch diesen Gefallen würde sie ihm bestimmt nicht tun. Selbst wenn ihr dadurch eine Nacht in dem flauschig weichen Bett einer Suite in einem Luxushotel wie dem Majestic entging.

„Käse oder Schinken, was darf ich Ihnen anbieten?“

Die Stimme der Stewardess riss Emily aus ihren Gedanken. Mit einem Blick auf die pappigen Sandwiches auf dem Wagen, den die Flugbegleiterin den schmalen Gang entlangschob, schüttelte Emily den Kopf. Nein, danke – sie würde nach ihrer Ankunft in Rom essen. Italienische Küche war schon immer ihr Favorit gewesen. Und nun würde sie wenigstens endlich einmal Gelegenheit bekommen, original italienisch in Italien zu essen. Egal, welche Erfahrungen sie dabei machen würde, Emily war sich sicher, dass sie nur besser sein konnten als das Essen, das sich in dieser Sekunde in ihrer direkten Reichweite befand.

Wenig später landete das Flugzeug wohlbehalten in der Ewigen Stadt.

An der Kofferausgabe traf sie Sean Night wieder.

„Und? Hatten Sie einen angenehmen Flug?“, fragte er und setzte einen Gesichtsausdruck auf, der irgendwo im Nirgendwo zwischen skeptisch und mitleidig angesiedelt zu sein schien. Ihr war es egal.

„Ja, einfach wunderbar!“, bestätigte sie und hievte ihre Tasche vom Gepäckband. „Und nun? Wie geht’s weiter?“, fragte sie.

„Hier lang“, sagte er und wies mit ausgestrecktem Arm in Richtung Ausgang.

Wenig später saßen sie im Taxi. Einen Moment lang hatte Emily mit dem Gedanken gespielt, ein Ticket für einen Bus zu lösen, aber da sie schon dasselbe Ziel hatten – ihre Unterkünfte lagen nur einen kurzen Spaziergang auseinander, auch wenn sie vom Komfort her Meilen voneinander entfernt waren – hatte sie auf diese neuerliche Provokation verzichtet.

„Sobald ich im Hotel bin, rufe ich Ricardos Sekretärin an und versuche, einen Termin für morgen zum Mittagessen zu bekommen“, sagte er.

Morgen? Augenblicklich sackten Emilys Hoffnungen, dass sie bereits morgen Abend wieder in London wäre, in sich zusammen wie ein ruinierter Hefeteig.

„Und was ist mit heute Abend?“, fragte sie.

Kaum hatte sie es ausgesprochen, zwinkerte der Casanova neben ihr auf der Rückbank ihr auch schon zu. Sie saßen nur eine halbe Armlänge voneinander entfernt, und es hätte nur noch gefehlt, dass er seine Hand auf ihr Knie legte.

„Keine Sorge“, sagte er. „Heute Abend lade ich Sie selbstverständlich zum Essen ein.“

Typisch. Dieser Mann war wirklich leicht auszurechnen.

„Nein, ich meinte: Gibt es vielleicht irgendeine Chance, dass wir Signore Agnelli noch heute Abend treffen?“

Die Worte lagen noch in der Luft, schon prustete er los.

„Verehrteste Miss Day“, erklärte er mit diesem ironischen Unterton, den er jetzt immer zu verwenden schien, wenn er ihren Namen aussprach. „Einen Termin morgen Mittag zu bekommen, grenzt schon an ein Wunder. Aber ich werde mein Möglichstes tun, damit wir nicht länger in dieser … schrecklichen … Stadt sein müssen als höchstens ein oder zwei Wochen!“, versprach er mit einem erneuten Augenzwinkern.

Emily zuckte zusammen. „Ein oder zwei Wochen?“

„Nun, kommen Sie schon, das war ein Scherz, Mylady. Entspannen Sie sich mal ein bisschen und genießen Sie die traumhafte Umgebung.“

Sie atmete auf. Und bemerkte erst jetzt, dass das Taxi soeben das Kolosseum passierte, eine der prachtvollen ewigen Baustellen der Ewigen Stadt. Der Himmel war strahlend blau. Und als der Wagen wenig später vor dem Majestic stoppte, von wo aus sie zu Fuß zu ihrer Herberge gelangen konnte, strich ein warmer Wind über ihre Haut. Um ein Haar hätte sie es vor lauter Aufregung und argwöhnischer Gedanken gar nicht bemerkt: Sie war in Rom! Und es war tatsächlich atemberaubend.

„Und Sie wollen es sich nicht noch anders überlegen?“, fragte ihr Reisepartner. „Ich weiß wirklich nicht, warum Sie diesen ganzen Zirkus veranstalten, Miss Day. Wir sind beide erwachsene Menschen, und wenn ich mich recht entsinne, habe ich Sie keineswegs dazu eingeladen, mit mir ein Bett zu teilen, oder?“

„Nein, danke“, sagte sie kurz angebunden und griff nach ihrem Koffer, bereit zum Abmarsch. Den Stadtplan hatte sie bereits aus ihrer Tasche gekramt. Es würde nicht lange dauern, bis sie den Weg zu ihrer Pension gefunden hatte.

Sean Night stieß einen tiefen, verständnislosen Seufzer aus.

„Gut. Wer nicht will, der hat schon“, gab er eine Volksweisheit von sich. „In dem Fall schlage ich vor, dass wir uns hier in sagen wir zwei Stunden zum Abendessen treffen. Mit oder ohne Signore Agnelli. Bis dahin weiß ich auf jeden Fall mehr. Einverstanden?“

„Einverstanden“, murmelte sie, immer noch unglücklich darüber, dass all das nicht schneller über die Bühne gehen würde.

„Ach ja“, schickte ihr Gegenüber noch hinterher, während auch er nach seinem Koffer griff. „Glauben Sie bitte nicht, dass das Ganze ein Kinderspiel wird. Ricardo Agnelli wird nur auf den Laden verzichten, wenn wir eine ausgeklügelte Strategie in der Hinterhand haben. Also am besten lassen Sie sich in der Zwischenzeit etwas Gutes einfallen.“

Sie? Sich etwas einfallen lassen? Was um Himmels willen meinte er damit …? War es nicht eigentlich er, der sich – nun, egal!

„Wir sehen uns um acht“, rief er ihr über die Schulter hinweg zu, bereits auf dem Weg durch das wahrhaft majestätische Eingangsportal des Hotels, ohne ihr auch nur die kleinste Gelegenheit zu geben, etwas auf seine letzten, durchaus beunruhigenden Worte zu entgegnen.

Ein Weilchen blickte Emily ihm nur kopfschüttelnd nach. Kopfschüttelnd und mit dem Gefühl einer rasant in ihr aufsteigenden Hilflosigkeit. Um nicht zu sagen: Verzweiflung. Erst als er schließlich im Innern des Hotels verschwunden war, machte auch sie sich auf den Weg.

In Richtung der Pension Mare – was der klassische Name einer Strandherberge war.

Nicht unbedingt ein gutes Zeichen, dachte Emily, gab es doch überhaupt kein Meer in Rom.

Die Vorahnungen sollten sie nicht täuschen. Die Pension Mare stellte sich als kalte Dusche für ihre guten Hoffnungen heraus. Die Lobby mit einem gelben Kronleuchter, der wie das gesamte Interieur noch original aus den fünfziger oder sechziger Jahren stammen musste, war gerade noch zu ertragen. Aber die Zimmer? Kalter brauner Fliesenboden und in der Mitte ein winziges Bett, das eher einer Pritsche glich – ausgestattet mit einer quietschenden, absolut durchgelegenen Matratze. Beleuchtet von einer Neonröhre. Nun ja, was konnte man in Rom für knapp fünfzig Euro die Nacht erwarten? Zumindest die Lage war spitzenmäßig, der Spaziergang vom Majestic hatte keine zwanzig Minuten gedauert. Als Emily nach der nächsten kalten Dusche – denn warmes Wasser schien es nicht zu geben – in Stiefeln, einem hippiemäßigen, schick geblümten Kleid und ihrer winzigen, körperbetonten Lederjacke durch die noch milde römische Dezemberabendluft spazierte und schließlich die Lichter des Hotel Majestic erblickte, fühlte sie sich gleich um zehn Grad aufgewärmt.

In der herrschaftlichen Lobby angekommen, ließ sie den Blick über die großzügigen Sessel und die in einem einladend warmen Abendlicht liegenden Sitzgruppen schweifen, bis ihr schließlich jemand von hinten mit dem Finger auf die Schulter tippte.

Erschrocken fuhr sie herum.

Es war – wie konnte es anders sein – Sean Night. Auch er hatte sich umgezogen und war nun nahezu ganz in schwarz gekleidet. Er wirkte fast wie ein Armani-Model. Kein Grund, verunsichert zu sein, beruhigte Emily sich sofort wieder.

„Und? Wie ist Ihr … Hotel …?“, fragte er und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Doch damit biss er bei Emily auf Granit.

„Sehr gut, sogar besser, als ich gehofft hatte“, log sie.

„Na dann!“, beglückwünschte er sie, ohne seinen leicht abschätzigen Blick auch nur für eine Sekunde abzusetzen. „Hungrig?“

Ja, das war sie.

Im Flugzeug hatte sie nicht gegessen – und nach dem Schock beim Einchecken in ihre Pension hatte sie mit einem Blick auf die Uhr festgestellt, dass ihr bis zum Wiedersehen mit Sean Night nicht viel Zeit blieb. Jedenfalls nicht genügend, um ihren Körper mit Nahrung zu versorgen. Kurz gesagt: Ihr Magen knurrte – wenn auch Gott sei Dank so leise, dass niemand außer ihr selbst es hören konnte.

Und was die Strategie anging, die sie sich überlegen sollte – Fehlanzeige. Sie hoffte inständig, dass ihr aus dem Stegreif etwas einfallen würde. Was? Ehrlich gesagt: Emily hatte keine Ahnung.

„Treffen wir denn Signore Agnelli zum Essen?“, beantwortete sie Sean Nights Frage ausweichend, so als wäre dessen Erscheinen direkt mit ihrem Appetit verbunden. Doch ihr Gegenüber schüttelte sofort den Kopf.

„Seine Sekretärin versucht, für morgen Mittag etwas einzurichten“, teilte er ihr mit. „Wie schon gesagt: Ricardo Agnelli ist ein viel beschäftigter Mann. Und darüber hinaus geht er auf die achtzig zu.“

„Auf die achtzig?“ Emily glaubte, sich verhört zu haben. „Und dann macht er noch Pläne, sein Geschäft zu erweitern?“ So konnten wirklich nur Männer denken!

„Typisch Mann, oder?“, erwiderte Sean Night, der offenbar ihre Gedanken gelesen hatte. „Nun, soviel ich weiß, hat er eine kostbare Kollektion teurer italienischer Sportwagen. So etwas kostet einiges im Unterhalt … also, was ist nun?“

„Wie, was ist nun?“

„Darf ich Sie zum Essen einladen, oder nicht?“

Emily schüttelte den Kopf, doch dieses Mal konnte sie sich ein kleines, ungläubiges Lächeln nicht verkneifen. Egal, was sie tat oder sagte: Sean Night gab einfach nicht auf. Kein Wunder, dass er als Geschäftsmann so erfolgreich ist, dachte sie für einen Moment. Irgendwann kauften die Leute ihm seine Sachen eben ab, damit sie endlich ihre Ruhe hatten.

„Also gut“, willigte sie schließlich ein, da ihr Magen kurz davor war, sich endgültig auch für Außenstehende bemerkbar zu machen. „Aber nur ein kleiner Imbiss.“

„In Ordnung“, erwiderte er. „Am besten gleich hier im Hotel, da gibt es ein hübsches kleines Bistro. So müssen wir nicht unnötig lange durch die Gegend laufen, sondern können uns auf das Eigentliche konzentrieren.“ Er zwinkerte ihr zweideutig zu wie Casanova höchstpersönlich.

„Das Eigentliche?“, fragte Emily zurück, kurz davor, ihre Einwilligung zurückzuziehen, mit Mister Casanova zu Abend zu essen. Denn wenn er sich davon eine Belohnung erwartete, die über ihre Gesellschaft bei Tisch hinausging, hatte er sich gewaltig getäuscht. Offensichtlich hatte er ihren genervten Gesichtsausdruck bemerkt und schaltete augenblicklich auf ein anderes Programm um.

„Die Strategie!“, erwiderte er und tat, als hätte sie sich alles andere nur eingebildet. „Unser Plan, mit dem wir Ricardo Agnelli davon überzeugen, Ihnen den Laden nicht wegzuschnappen!“, ergänzte er, wenn auch begleitet von einem erneuten Augenzwinkern. Ganz klar: Er spielte mit ihr. Aber es war besser als das, was sie soeben befürchtet hatte. Damit konnte und musste sie leben.

„Ich bin gespannt auf Ihre Vorschläge, Miss Day!“, schob er nach, und sein Blick signalisierte ihr ganz klar, dass er längst ahnte, dass sie nicht die leiseste Idee hatte. „Aber erst mal füllen wir unsere hungrigen Bäuche, wenn Sie gestatten!“

Nun: Hübsches kleines Bistro war deutlich untertrieben. Das Einzige, was halbwegs stimmte, war der Name: Bistrot. Alles andere sah ihr mehr nach einem Sterne-Restaurant aus: das moderne, strahlend weiße Interieur, gemischt mit dunklen Holztönen, die gedämpfte Akustik und Gäste in Anzügen und teuren Kleidern.

Eine Kellnerin in einem schicken schwarz-weißen Dress führte sie an ihren Tisch.

Emily wäre fast vom Stuhl gefallen, als sie die Preise auf der Karte erblickte. Eigentlich hatte sie sich die Option offenhalten wollen, ihren Teil der Rechnung am Ende selbst zu bezahlen – eine Option, die nach diesem Stand der Tatsachen augenblicklich in weite Ferne rückte.

„Wie ich gehört habe, ist das Restaurant berühmt für seine Fischspezialitäten“, sagte Sean Night, den die Preise nicht im Geringsten zu überraschen schienen. „Wollen wir mit den Appetizers for Two starten?“

Die Appetithäppchen für zwei waren ihr auch schon aufgefallen – hundert Euro! Und ja, sie ließen ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen: Shrimps mit einer würzigen Salz- und Weinsauce, marinierter roter Schnappfisch mit Passionsfrüchten, Schwertmuscheln an Artischocken und Mint, Hühnersalat mit Karamellsenf, Spargel mit Mais-Mayonnaise und Trüffeleiern.

Wow! Wenn diese Speisen nur halb so gut schmeckten, wie sie sich anhörten, würden sie sie direkt in den siebten Himmel katapultieren. Andererseits: Es gab nichts im Leben umsonst, das hatte sie gelernt. Alles hatte seinen Preis.

„Ich fürchte, das ist ein wenig außerhalb meiner Preisklasse“, erwiderte sie.

„Sie sind eingeladen, das habe ich doch bereits gesagt“, erwiderte ihr Gegenüber gedankenverloren und ohne von der Karte aufzusehen. Ihr Einwand schien für ihn die gleiche Relevanz zu haben, als hätte sie ihn gefragt ob die Tischdecke weiß war. „Und zwei Gläser Champagner dazu? Das passt doch hervorragend“, schlug er vor.

Emily kämpfte mit sich selbst.

„Warum?“ Mit einem einzigen Wort brachte sie ihre Zweifel auf den Punkt.

Nun sah er von der Karte auf – endlich!

„Warum?“, wiederholte er ein wenig erstaunt. „Weil sich Champagner zusammen mit Fisch und Meeresfrüchten nun mal recht gut als Aperitif verträgt. Aber wenn Sie lieber was anderes trinken wollen, einen Cocktail oder so, sind Sie auch dazu gerne eingeladen.“

Er blickte sie fragend an, als habe er tatsächlich nicht die leiseste Ahnung, dass sich ihr Warum keineswegs auf den Champagner bezogen hatte. Für einen Moment konnte sie sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen, begleitet von einem leichten Kopfschütteln.

„Nein, ich meinte: Warum helfen Sie mir?“, stellte sie die Sache klar und kehrte schnell zurück zu dem Pokerface, das normalerweise für Mister Night reserviert war.

„Warum ich Ihnen helfe?“

Augenblicklich legte er die Karte beiseite, als hätte sie ihn mit dieser Frage tatsächlich aus dem Konzept gebracht.

„Ja. Denn wenn Sie sich eine Gegenleistung für all das erwarten, muss ich Sie leider enttäuschen. Daraus wird nichts.“ So, das war nun klipp und klar.

Doch Sean Night lächelte sie nur an.

„Miss Day“, setzte er an, wie immer mit einem ironischen Unterton in der Stimme. „Sie brauchen das nicht alle fünf Minuten zu wiederholen. Mir ist klar, dass aus uns nichts wird.“

Aha …?

Dieses geradlinige Eingeständnis wiederum überraschte sie nun doch ein wenig. Vor allem aus dem Mund von jemandem wie Sean Night, der normalerweise absolut nichts anbrennen ließ. Das jedenfalls war der Ruf, der ihm vorauseilte. Und so hatte sie ihn selbst bisher kennengelernt.

„Gott sei Dank“, stieß sie befreit aus. „Da bin ich erleichtert.“

„Unter uns gesagt: Ich auch!“, stimmte er ihr zu. „Ich hoffe, Sie verzeihen mir die ehrlichen Worte, aber mit Ihnen würde ich es keine Nacht unter demselben Dach aushalten. Ich stehe nämlich eindeutig auf den sanften Typ Frau.“

Für einen Moment musste Emily nach Luft schnappen. Was sollte das wieder heißen? Sie konnte sehr wohl sanft sein! Und sie war auch kein Ungeheuer, mit dem niemand es auch nur eine Nacht zusammen aushalten konnte! Was bildete er sich ein, ihr so etwas an den Kopf zu werfen? Reiß dich zusammen, befahl sie sich.

„Das beruht ganz auf Gegenseitigkeit“, gab sie das vergiftete Kompliment zurück, als wäre es ihr völlig egal.

Doch Sean Night lächelte sie weiterhin unterkühlt an, als wäre sie nichts weiter als seine Sekretärin, der er in diesem Moment im Büro etwas diktierte. Nicht aber in einem Top-Restaurant bei Kerzenschein.

„Wo das geklärt wäre, können wir uns ja dem Essen zuwenden, oder?“, schlug er vor. Aber so leicht kam er ihr nicht davon.

„Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet“, konterte sie.

Denn so war es: Die Frage nach dem Warum stand immer noch im Raum. Warum half er ihr? Warum lud er sie sogar großzügig ein, wenn nicht für die eine Sache, auf die Männer immer aus waren?

Sean Night blickte sie an, als wäre er wirklich erstaunt darüber, wie beharrlich sie war.

„Sie erwarten tatsächlich von mir, dass ich diese Frage ehrlich beantworte?“

„Ja, genau das erwarte ich von Ihnen.“

Ohne mit ihr anzustoßen, nahm ihr Gegenüber einen Schluck von seinem Champagner, der soeben serviert worden war. Emily wagte immer noch nicht, ihren auch nur anzurühren.

„Nun“, erklärte er ihr. „Auf die Gefahr hin, dass ich Sie damit enttäusche: Die wahre Antwort auf Ihre Frage nach dem Warum ist: Ich helfe Ihnen, weil Sie mir helfen.“

Emily runzelte die Stirn.

Das wiederum … ergab für sie nicht den leisesten Sinn.

„Weil ich Ihnen helfe?“, vergewisserte sie sich, dass sie ihn richtig verstanden hatte.

„Genauso ist es“, bestätigte Sean Night, begleitet von einem kühlen, geschäftlichen, alles durchdringenden, tiefen Blick in ihre Augen. „Sie sind für mich nur Mittel zum Zweck – weiter nichts!“

4. KAPITEL

Ganz ehrlich: Diese Frau konnte einem wirklich auf den Wecker gehen! Sean hatte mittlerweile eingesehen, dass mit ihr nichts laufen würde. Und wenn schon: Es liefen tausende von Emily Days auf den Straßen Londons herum. Sich auf eine einzige Emily Day zu konzentrieren, entsprach einfach nicht seinem Charakter. Es gab ohnehin nur zwei Möglichkeiten:

A: Sie stand wirklich nicht auf ihn, was er für unwahrscheinlich hielt. Alle Frauen standen auf erfolgreiche Männer wie ihn, die noch dazu sexy waren.

B: Sie wollte, dass er um sie kämpfte. Was ebenfalls unwahrscheinlich war, denn Sean Night kämpfte nicht um Frauen. Sie fielen ihm in den Schoß.

Von daher beschloss er, einfach ehrlich mit ihr zu sein. Beziehungsweise so ehrlich, wie es seine persönlichen Interessen zuließen. Da ohnehin nichts zwischen ihnen laufen würde, konnten sie zumindest als Partner zusammenarbeiten. Denn dass er ihretwegen in Rom war, war nur die Hälfte der Wahrheit. Natürlich hatte er gehofft, auf dieser Reise alles zu gewinnen: sie – und die Informationen, die er wollte. Da er sie jedoch offenbar nicht bekommen konnte – jedenfalls nicht, ohne sich selbst in ein kleines Hündchen zu verwandeln, das nach ihrer Pfeife tanzte –, konzentrierte er sich auf Teil zwei seiner Mission.

Die zweite Hälfte der Wahrheit, warum er und Emily Day hier beim Abendessen in der Ewigen Stadt saßen, war, dass sie und er dasselbe Ziel hatten:

Ricardo Agnelli.

„Na wunderbar …“, erwiderte sie stirnrunzelnd, während schließlich und endlich doch noch ein winziger Schluck Champagner über ihre leicht geöffneten Lippen floss. Lippen, die geküsst werden wollten, das war ihm nach wie vor klar. Doch leider war es ihr nicht klar. Sollte sich eben ein anderer an ihr und ihren Lippen die Zähne ausbeißen.

„Ich werde es Ihnen erklären“, setzte er an. Einen Moment lang hielt er inne. „Es sei denn …“

Sie blickte ihn fragend an. „Es sei denn was?“

„Es sei denn, Sie verwenden das, was ich Ihnen sage, gegen mich.“

„Gegen Sie? Wieso sollte ich das tun?“

„Ich weiß auch nicht, warum, aber irgendwie scheinen Sie mir genau dieser Typ Frau zu sein.“

„Genau dieser Typ Frau? Was soll das jetzt wieder heißen?“

„Sie wissen schon: diese weit verbreitete Art Frau, die in dieser Minute alles beschwört, um zu bekommen, was sie will – und in der nächsten, sobald sie es hat, das absolute Gegenteil.“

„Haha.“

„Bevor ich Ihnen also im Detail sage, warum ich Ihnen helfe und warum Sie mir helfen, habe ich eine Testfrage für Sie.“

„Eine Testfrage, hm.“ Sie sah interessiert von der Tischdecke auf, auf die ihr Blick eben noch geheftet war. „Und die wäre?“

„Stellen Sie sich vor, jemand würde Sie entführen, Miss Day. Und nach Tagen oder Wochen der Ungewissheit würde Ihr Entführer Ihnen sagen, dass er Sie laufen lässt. Aber nur, wenn Sie die Polizei nicht einschalten, sondern die Sache auf sich beruhen lassen. Was würden Sie tun? Würden Sie die Polizei einschalten, sobald Sie in Sicherheit wären? Obwohl sie ihm das Versprechen gegeben haben, dass Sie es nicht tun werden?“

Sie legte den Kopf auf die Seite. „Erwarten Sie ernsthaft, dass ich Ihnen auf diese Frage eine Antwort gebe?“

Es war, wie er es vermutet hatte.

„Ja“, erwiderte er.

„Also gut: Ich würde die Polizei nicht anrufen. Zufrieden?“, bestätigte sie. Ein kleines Lächeln um ihren Mund signalisierte ihm, dass sie an dem Spiel Gefallen zu finden schien. „Ich würde zu meinem Versprechen stehen.“

„Lüge“, sagte er und leerte sein Glas in einem Zug.

„Wieso ist das eine Lüge?“, erwiderte sie in gespielter Empörung.

„Weil ich es von Ihren hübschen Lippen lesen kann.“ Er hatte nichts zu verlieren, da durfte er ruhig ein bisschen dicker auftragen. „Und die Schweißperlchen auf Ihrer Stirn verraten Sie noch dazu.“

Augenblicklich fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn.

Es machte ihm Spaß, ein bisschen den Marionettenspieler zu spielen und sie an seinen Fäden in die Irre laufen zu lassen.

„Sie …!“

„Falls Sie wirklich mal entführt werden, kann ich Ihnen nur raten, dicht zu halten. Denn wissen Sie, warum Entführer ihre Opfer am Ende fast immer um die Ecke bringen?“

„Warum?“

„Weil sie genau wissen, dass diese sich in nahezu hundert Prozent aller Fälle nicht an ihr Versprechen halten. Und deshalb bleibt dem Entführer keine andere Wahl als einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen. Sein Opfer zwingt ihn quasi zu einer bösen Tat, die weder der Täter noch das Opfer wollen. Haben Sie es schon mal so betrachtet?“

Sie starrte ihn komplett entgeistert an. „Entweder Sie sind noch verrückter, als ich dachte – oder Sie haben zu viele Thriller gesehen.“

„Beides ist richtig“, bestätigte er. „Also, versprechen Sie mir, die Informationen, die ich Ihnen jetzt gebe, nicht gegen mich zu verwenden? Und versprechen Sie, dass sie sich an dieses Versprechen halten werden?“

„Wenn es die einzige Möglichkeit ist, nicht von Ihnen ermordet zu werden, Mister Night …“ Sie zwinkerte ihm aufmüpfig zu.

Und zwang ihn damit selbst zu einem kleinen Lächeln.

„So wie ich es sehe, ist es die einzige Möglichkeit“, bestätigte er.

„Gut, ich verspreche es. Also, warum helfen Sie mir?“

Sean stieß innerlich einen tiefen Seufzer aus.

Autor

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