Romana Extra Band 42

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ES WAR EINE RÖMISCHE LIEBESNACHT ... von RICHARDSON, ROMY
Aufgebracht fliegt Faye nach Italien: Sie will die Stessos, ihre Stofflieferanten, wegen Betrugs zur Rede stellen. Doch bei dem Feuer in Maurizio Stessos Augen fehlen ihr plötzlich die Worte. Und als er sie zärtlich küsst, verschwindet die Wut, und die Sehnsucht erwacht …

HÖRST DU DIE BRANDUNG DES MEERES? von GILMORE, JESSICA
Liebe? Gibt es nur in Büchern! Da ist Ellie nach einer Enttäuschung ganz sicher. Aber als eines Tages ein attraktiver Mann ihre kleine Buchhandlung in Cornwall betritt, kommen ihr Zweifel. Denn Max Loveday sieht aus wie ein zum Leben geküsster Romanheld …

MEIN GRIECHISCHER TRAUMPRINZ von BIANCHIN, HELEN
Den Himmel auf Erden könnte Tina haben, wenn sie den Antrag des millionenschweren griechischen Tycoons Nic Leandros annehmen würde! Eine Zweckehe? Stolz sagt sie Nein - eine Antwort, die den erfolgsgewohnten Nic erst recht herausfordert …

ZURÜCK IN DEN ARMEN DES MILLIONÄRS von HAYWARD, JENNIFER
"Du hast deinen 50.000-Dollar-Ehering von der Brooklyn Bridge geworfen?" Lilly ist egal, dass ihr Noch-Ehemann Riccardo entsetzt ist! Aber niemals hätte sie mit seiner Weigerung gerechnet, die Scheidungspapiere zu unterzeichnen. Und noch viel weniger mit seiner Erpressung …


  • Erscheinungstag 17.05.2016
  • Bandnummer 0042
  • ISBN / Artikelnummer 9783733743406
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Romy Richardson, Jessica Gilmore, Helen Bianchin, Jennifer Hayward

ROMANA EXTRA BAND 42

ROMY RICHARDSON

Es war eine römische Liebesnacht …

Fayes hitzige Vorwürfe sollten Maurizio Stesso ärgern. Doch so viel Verzweiflung liest er in ihren Augen, dass er sie nicht nur zärtlich küsst – sondern ihr auch noch ein verführerisches Angebot macht!

JESSICA GILMORE

Hörst du die Brandung des Meeres?

Trau dich, zu lieben! Seit Max mit der jungen Buchhändlerin Ellie über ein Vermächtnis verhandeln muss, stellt er sich vor, wie wunderschön es wäre, wenn sie die Angst vor der Liebe überwinden würde …

HELEN BIANCHIN

Mein griechischer Traumprinz

Ungläubig hört Tina, dass Nic Leandros sie heiraten will. Sie kennt den griechischen Unternehmer doch kaum! Natürlich sagt sie Nein. Und erfährt schnell, dass Nic diese Antwort nicht gelten lässt …

JENNIFER HAYWARD

Zurück in den Armen des Millionärs

Ein Skandal um die De Campos? Unmöglich. Riccardo denkt nicht daran, Lillys Scheidungspapiere zu unterzeichnen! Er braucht eine Ehefrau zum Repräsentieren! Und vielleicht noch für etwas anderes …

1. KAPITEL

Was habe ich mir nur dabei gedacht? fragte sich Faye, rückte ihre Reisetasche auf der Schulter zurecht, strich sich mit der Hand durch ihr rotes Haar und sah auf das in der Abendsonne liegende Gutshaus der Familie Stesso.

Bis der Taxifahrer sie vor der steinernen Toreinfahrt hinausgelassen hatte, war sie davon überzeugt gewesen, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Während des ganzen Fluges von Edinburgh nach Pisa hatten Wut und verletzter Stolz sie angetrieben, den Geschäftspartner ihres Vaters zur Rede zu stellen. Und auch während der letzten Strecke in dem überfüllten Zug von Pisa nach Perugia, als sie sich vollkommen übermüdet und erschöpft auf einen letzten Sitzplatz fallen gelassen hatte, gingen ihr die Fragen nicht aus dem Kopf, die sie schon seit Wochen quälten. Warum waren Nick und ihr Vater trotz der Sturmwarnung mit der alten Segeljacht aufs Meer hinausgefahren? Und warum hatte ihr Vater ihr nie etwas von den finanziellen Schwierigkeiten erzählt, in denen Gordon’s Capes & Plaids steckte?

Zugegeben, ihr Vater hatte in den Wochen vor dem Segelunfall ungewöhnlich nervös gewirkt. Auf ihre Nachfragen hatte er mit einer für ihn vollkommen untypischen Ungeduld reagiert. Schließlich hatte sie sich sein Verhalten damit erklärt, dass er sie, wie immer, nicht mit geschäftlichen Dingen belasten wollte, und nicht weiter nachgehakt. Jetzt machte sie sich deswegen schreckliche Vorwürfe. Vielleicht wäre ja alles anders gekommen, wenn sie nachgebohrt hätte.

Faye schluckte schwer. Wie in einem Film zogen die Ereignisse der letzten Wochen an ihr vorbei. Der Segelunfall, der ihren Mann Nick das Leben gekostet hatte, und seit dem ihr Vater als vermisst galt. Die Kündigung der langjährigen Assistentin ihres Vaters, die sie mit dem Chaos in der Buchhaltung einfach im Stich gelassen hatte. Ihre Suche nach einer Erklärung in den Geschäftsbüchern ihres Vaters. Lieferscheine für italienische Kaschmirware, die zwar bezahlt, aber nicht eingetroffen war. Und schließlich die Entdeckung eines Fotos in der untersten Schublade im Schreibtisch ihres Mannes …

Auf dem Bild war ein Pärchen Arm in Arm vor der Fontana di Trevi in Rom zu sehen, darunter ein Schriftzug: Per il mio tesoro, mille baci. Für meinen Schatz, tausend Küsse. Die schwarzhaarige Frau war nach der allerneuesten italienischen Mode gekleidet und schien den verliebten Blick des Mannes an ihrer Seite voll und ganz zu genießen. Im ersten Moment hatte sie Nick kaum erkannt, so fremd erschien Faye der strahlende Mann, der er nur zu Beginn ihrer wenige Monate alten Ehe gewesen war. Doch auf den zweiten Blick bestand kein Zweifel: Der Mann auf dem Foto war Nick! Und an dem digitalen Datum unten rechts in der Ecke sah sie, dass das Foto nur wenige Wochen vor dem Segelunfall entstanden war!

Ihr Mund war trocken geworden, und ihr Herz hatte sich angefühlt, als müsste es jeden Moment ihren Brustkorb sprengen, so hart und schnell klopfte es. Was hatte ihr Mann nur für ein Spiel getrieben? Wer war diese Frau? Und warum wusste Faye nichts von seiner Romreise? Sie selbst war zwar noch nie dort gewesen, doch der italienische Kaschmirlieferant Tissu Stesso schickte ihrem Vater jedes Jahr Kalender mit den schönsten Sehenswürdigkeiten Italiens, die stets einen besonderen Platz in seinem Büro gefunden hatten. Faye konnte sich gut an die Fotos des Trevi-Brunnens erinnern, nur zu gern wäre sie selbst einmal dort gewesen. Sie hatte sogar angefangen, Italienisch zu lernen, aber eine Reise allein nach Italien hätte ihr Vater ihr niemals erlaubt. Und Nick war zu oft geschäftlich unterwegs gewesen, und hatte es erholsamer gefunden, an freien Tagen zu Hause zu bleiben. Jetzt wusste sie auch, warum.

Tränen der Wut waren in ihr aufgestiegen, und je länger sie das Foto angestarrt hatte, desto klarer war ihr geworden, dass sie etwas unternehmen musste.

Gab es einen Zusammenhang zwischen Nicks Geliebter, seiner Reise nach Rom und dem nicht gelieferten Kaschmir? Sie wusste selbst nicht, wie sie darauf gekommen war, aber nachdem all ihre Anrufe bei Tissu Stesso von einer resoluten Assistentin abgewimmelt worden waren und sie auf ihre Mails lediglich die Antwort erhielt, dass die Ware selbstverständlich nach Schottland verschickt worden war, war sie neben ihrer Verzweiflung vor allem skeptisch geworden. Wie sollte sie Gordon’s Plaids & Capes vor dem Bankrott retten, wenn sie ausgerechnet von ihrem Hauptlieferanten kein Kaschmir mehr geliefert bekam?

Irgendetwas stimmte hier doch nicht!

Und so hatte sie sich kurzfristig entschlossen, nach Italien zu reisen und Ernesto Stesso persönlich zur Rede zu stellen. Wenn sie den Dingen wirklich auf den Grund gehen wollte, musste sie über ihren Schatten springen. Dass sie dafür die erste größere Auslandsreise ihres Lebens unternehmen musste, versetzte sie zwar in Panik, aber nach den tragischen Ereignissen der letzten Wochen war sie es gewohnt, sich überfordert zu fühlen.

Noch am gleichen Tag hatte Faye einen Flug nach Pisa gebucht und vor Aufregung war ihr Adrenalinspiegel kaum auf ein normales Level gesunken. Was sie wohl in Italien erwarten würde? Auch der Gedanke an Nick und seine Geliebte ließ ihr keine Ruhe. Wie schändlich von ihm, sie so zu hintergehen, nachdem sie gerade mal ein Jahr verheiratet gewesen waren! Sie hatte ihm vertraut, wenn er auf Reisen ging, ebenso wie ihr Vater ihm vertraut hatte. Als Geschäftsführer hatte er Nick in so vielen Dingen freie Hand gelassen – Verfügungsgewalt über die Konten, Auswahl der Einkäufe –, vielleicht war ihr Vater zu großzügig ihm gegenüber gewesen, wie Faye nun bitter feststellte.

Aber das war jetzt nicht mehr zu ändern. Du musst einen Schritt vor den anderen setzen, sagte sie sich immer wieder. Und dafür musste sie als Erstes herausfinden, warum Gordon’s Plaids & Capes trotz der bezahlten Rechnungen keine Ware mehr geliefert bekam. Sie war sicher, dass sie hier in Perugia eine Antwort finden würde.

Doch als Faye jetzt den mit weißem Kies bestreuten Innenhof des großzügigen Anwesens der Familie Stesso betrat und durch den Seiteneingang einen üppigen weitläufigen Garten erblickte, verließ ihr Mut sie schlagartig.

Unter einer riesigen hellgrünen Platane saßen an einem langen bunt gedeckten Tisch ungefähr zwanzig Personen unterschiedlichen Alters und aßen zu Abend. Laut lachend wurden Weinkaraffen und Schüsseln herumgereicht, und jeder schien seinem Gegenüber besonders wichtige Neuigkeiten mitzuteilen zu haben. Übermütige Kinderrufe drangen zu ihr hinüber, und alle wirkten in einem Maße unbeschwert und ausgelassen, dass sich Faye ihrer Einsamkeit so bewusst wurde, dass sie es kaum ertragen konnte.

Sie selbst hatte vor ihrer Heirat stets allein mit ihrem Vater zu Abend gegessen, und selbst während ihrer Ehe war der dritte Platz an dem runden Mahagonitisch im Speisezimmer des alten, immer etwas düster wirkenden Herrenhauses in einem ehemals großbürgerlichen Stadtteil Edinburghs oft leer geblieben. Nick hatte immer häufiger Ausreden gefunden, warum er nicht zum Dinner erscheinen konnte, und ihre Hoffnungen, mit einem lebenslustigen, erfahrenen Mann wie ihm ein neues aufregenderes Leben führen zu können, waren schon bald verblasst. Anstatt sie in seinen Freundeskreis zu integrieren, oder sie auf seine Reisen mitzunehmen, hatte ihr Mann sie ständig vertröstet. Und wenn er mal zu Hause gewesen war, hatte er unbegründete Streitereien vom Zaun gebrochen. Schon bald hatte sich Faye in ihrer Ehe einsamer gefühlt als zuvor.

Der Anblick der vertraut beieinander sitzenden Tischgesellschaft machte ihr einmal mehr schmerzlich bewusst, was es bedeutete, keine Familie zu haben. Auf einen untreuen Ehemann konnte sie verzichten, auch wenn sie ihm weiß Gott kein so schreckliches Ende gewünscht hätte. Aber dass sie auch ohne ihren Vater auskommen musste …

Tränen stiegen in ihr auf. Was hatte diese Reise überhaupt für einen Sinn? fragte sie sich verzweifelt. Selbst wenn sie Antworten auf ihre Fragen bekäme, so würden sie doch nicht ihren Vater zurückbringen. Das Einzige, was ihr jetzt noch blieb, war die Firma. Morgen würde sie ganz offiziell das Büro von Tissu Stesso in Perugia aufsuchen und eine Erklärung verlangen, sagte sie sich tapfer.

Entschlossen kehrte sie dem Gartenidyll den Rücken zu und rieb sich die kleinen Sorgenfalten von der Stirn, als ein lautes Motorengeräusch sie aus ihren Überlegungen riss. Im nächsten Moment steuerte ein dunkelgrüner Sportwagen durch das Steintor direkt auf sie zu und bremste mit einem satten Geräusch unmittelbar vor ihr auf dem knirschenden Kies.

Erschrocken sprang Faye einen Schritt zurück. „Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?“, rief sie und drückte ihre große Ledertasche fest an die Brust.

Doch der Fahrer schien von ihrer Äußerung und der Tatsache, ihr einen gehörigen Schrecken eingejagt zu haben, nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Er zog den Schlüssel aus dem Zündschloss, sprang mit einem eleganten Satz aus dem offenen Wagen und, mit einer Hand schräg auf das heruntergekurbelte Fenster gestützt, sah er sie aus seinen dunklen Augen herausfordernd an.

Scusa, es tut mir leid. Habe ich Sie erschreckt?“

Sprachlos sah Faye in sein aufregend schönes Gesicht, und als sich zu seinem musternden Blick auch noch ein Lächeln auf seine Lippen legte, glaubte Faye, im Erdboden versinken zu müssen. Warum starrte er sie so an? Und warum wurde ihr so heiß? Eine derartig flammende Hitze war das letzte Mal in ihr aufgestiegen, als sie im Mathematikunterricht vergeblich versuchte hatte, eine endlos lange Funktionsgleichung an der Tafel zu lösen, und das ausgerechnet bei einem Lehrer, der jedem Model hätte Konkurrenz machen können.

Und warum fühlte sich ihr weiches Kaschmirtuch, das sie über ihrer Jeansbluse trug, und das sie eben noch als angenehm wärmend empfunden hatte, jetzt so schwer an wie ein Bärenfell? Was war nur mit ihr los? Konnte dieser atemberaubend attraktive Mann nicht aufhören sie anzulächeln?

„Ann?“

„Wie bitte?“

„Erkennst du mich nicht?“

„Erkennen? Ich Sie?“

Certo, sicher! Wie lange ist es her, seit du als Austauschschülerin meine Schwester hier auf dem Anwesen besucht hast? Habe ich mich denn so verändert?“, fragte er charmant und blinzelte ihr so unverhohlen flirtend zu, dass ihre Wangen brannten.

„Also, ich glaube, hier liegt …“, begann Faye erklärend, doch schon im nächsten Moment wurde sie von dem aufbrausenden Italiener unterbrochen.

Dio mio, ich bin es, Maurizio! Maurizio Stesso. Der Bruder deiner italienischen Brieffreundin.“ Er ließ seine Hände in der Luft herumwirbeln, stützte sie dann auf den Hüften ab und musterte Faye von oben bis unten. Sein Blick war durchdringend „Du siehst toll aus. Aber ich wusste gar nicht, dass du schon eine Woche vor Sandras Hochzeit anreist.“

„Das bin ich auch …“, versuchte Faye vollkommen verunsichert das Missverständnis aufzuklären.

Aber Maurizio Stesso war kein Mann, der auf Einwände einging, geschweige denn seine eigenen Äußerungen infrage stellte. „Ist auch nicht so wichtig. Hauptsache, du bist rechtzeitig gekommen“, fiel er Faye wieder ins Wort.

Kurzentschlossen schnappte er sich ihre Reisetasche, warf sie sich über die Schulter und legte ihr seinen Arm um die Taille. „Auf jeden Fall kann ich mich noch sehr gut an dich erinnern“, fügte er mit unmissverständlichem Blick auf ihre langen roten Haare hinzu.

Mit diesen Worten führte er sie durch den Hauseingang, stellte die Tasche ab und schob sie weiter in einen breiten hellen Steinflur, der durch ein offenstehendes Holzportal in den Garten hinausführte.

Faye schluckte, dieser Mann schien sie für jemanden zu halten, der sie gar nicht war. Doch ehe sie zum nächsten Versuch ansetzen konnte, dem Verwechslungsspiel ein Ende zu setzen, befanden sie sich schon in dem riesigen Garten, der von dieser Seite noch schöner wirkte als vom Hof aus. Die Abendsonne tauchte die Szenerie in ein warmes, goldenes Licht, das die leicht geschwungene Hügellandschaft Umbriens mit ihren stolz aufragenden Zypressen, roten Klatschmohnfeldern und dunkelgrünen Wiesen wie eine Zauberlandschaft wirken ließ. Warm legte sich die Luft auf Fayes nackten Arme, und für einen Moment glaubte Faye wirklich, sie sei im Paradies.

„Du bist!“, rief ein kleines schwarzgelocktes Mädchen, kniff sie in die Seite und rannte davon.

Als Faye ihren Begleiter fragend anschaute, lachte dieser auf. „Das ist Sophia, die Tochter meines Cousins. Sie will, dass du sie fängst. Du holst sie bestimmt schnell ein“, sprach er ihr aufmunternd zu. „Ich besorge in der Zwischenzeit zwei Stühle für uns. Heute ist wirklich fast die ganze Familie hier, aber kein Wunder, es ist Sonntag, und wer keine dringenden Termine hat – so wie unglücklicherweise meine Schwester heute –, der lässt sich die beste hausgemachte Pasta ganz Umbriens auf keinen Fall entgehen.“

„Aber ich kann doch nicht …“, versuchte Faye der Aufforderung auszuweichen.

„Oh doch, du kannst.“ Maurizio schenkte ihr ein aufrichtiges Lächeln. „Du hast hier doch auch schon früher fangen gespielt, oder nicht? Und jetzt beeil dich, Sophia sieht zwar aus wie ein Engel, aber wenn sie ihren Willen nicht bekommt, kann sie zu einer richtigen kleinen Hexe werden.“

Jetzt musste auch Faye lachen, und obwohl sie es vor einem Moment noch für unmöglich gehalten hätte, lief sie jetzt hinter dem Mädchen her, das sich hinter einer alten Platane versteckt hatte.

Etwas aus der Puste, griff Faye nach dem Arm der Kleinen und lachte. „Hab dich!“ Doch anstatt Faye zurückzuticken, sah das hübsche Kind sie mit großen Unschuldsaugen an.

„Bist du die neue Freundin von Onkel Maurizio?“, fragte sie.

„Aber nein, wie kommst du denn darauf?“, erwiderte Faye und schob verlegen ihre Hände in die Taschen ihre Jeans.

„Weil du so schön bist. Maurizio mag schöne Frauen. Und eine mit roten Haaren hat er noch nie gehabt …“ Für einen Moment blieb Faye die Luft weg, doch ehe sie reagieren konnte, hörte sie ein leises „Schade“, dann war die Kleine wieder zu ihren Cousinen und Cousins gehüpft, und die Kinderschar jagte sich weiter hinter Obstbäumen und Oleanderbüschen.

Lächelnd ging Faye zurück. So gerannt war sie zum letzten Mal als Neunjährige, bevor sie wochenlang das Bett hüten musste, um eine schwere Lungenentzündung auszukurieren. Sie hatte zu lange mit ihren Freundinnen draußen im Regen gespielt, und ihr Vater hatte sich große Vorwürfe gemacht. Nach ihrer Genesung hatte er sie sogar von der Schule genommen und einen Privatlehrer engagiert. Aus Angst vor einem Rückfall, der einen Herzfehler hätte nach sich ziehen können, war ihr jede körperliche Anstrengung untersagt worden. Für Faye bedeutete dieses Verbot, auf die heißgeliebten Ausflüge mit ihren Freundinnen in den nahegelegenen Wald zu verzichten. Die hatten Faye zwar anfangs noch häufiger besucht, aber nach und nach hatte der Schulalltag ihnen immer weniger Zeit dafür gelassen, und ohne dass sich ihr Vater darüber bewusst war, verebbten nach und nach all ihre sozialen Kontakte.

Mamma wird sich freuen, dich nach all den Jahren wiederzusehen“, riss Maurizio sie aus ihren Erinnerungen und brachte sie zurück in die Realität.

„Da bin ich mir nicht so sicher“, entfuhr es Faye leise. Seine Mutter würde doch bestimmt sofort erkennen, dass sie nicht die Brieffreundin ihrer Tochter war. Oder bestand zwischen dieser Ann und ihr wirklich so eine Ähnlichkeit?

„Und Vater sicher auch. Er hat sich aus der Firma zurückgezogen – vor ein paar Monaten habe ich die Leitung von Tissu Stesso übernommen. Aber entschuldige, ich wollte dich nicht langweilen, warum sollte dich das interessieren? Jetzt wirst du erst einmal mit uns essen, du bist sicher sehr hungrig, so blass wie du aussiehst“, bemerkte er fast schon fürsorglich. Konnte es sein, dass dieser umwerfend charmante Mann sich wirklich für sie interessierte?

Faye folgte ihm an den Tisch und buchte sein Verhalten unter italienischer Gastfreundschaft ab, dennoch lag etwas in seinem Tonfall, das sie nicht benennen konnte. Zudem wandte er kaum den Blick von ihr ab, was sie nur noch mehr verunsicherte. Wahrscheinlich bildete sie sich das alles nur ein – sie hatte schließlich eine lange Reise hinter sich und war erschöpft. Die Stimmen der großen Tischgesellschaft, die herzlichen Begrüßungsrufe, Sophia, das Klirren des Geschirrs, das Lachen der Gäste, und … Maurizio Stesso an ihrer Seite, der ihren Arm nicht mehr losließ und sich mit ihr unterhielt wie mit einer alten Freundin.

Von dem, was sie eben noch als Außenstehende neidvoll bewundert hatte, war sie nun selbst ein Teil. Und als sie von der köstlichen Pasta und dem exzellenten Wein probierte, war sie erst recht sicher, zu träumen. Im Vergleich zu den einsamen Mahlzeiten, die sie in den letzten Tagen in dem dunklen Herrenhaus mit Blick auf ihren verregneten Garten zu sich genommen hatte, konnte der Kontrast nicht größer sein.

So muss sich Alice im Wunderland gefühlt haben, ging es Faye durch den Kopf. Sie fragte sich nur, was geschehen würde, wenn sie aus diesem Traum erwachte.

2. KAPITEL

„Du hast dich überhaupt nicht verändert“, erklärte Signora Stesso und legte ihre Hand auf Fayes schlanke Finger, doch ihr Mann musste ihr widersprechen.

„Teresa, ma certo, aber natürlich hat sie sich verändert. Ihr letzter Besuch ist mindestens sieben Jahre her. Damals war sie noch ein Kind!“

„Ja, das stimmt. Aber ihre Haare sind immer noch genauso wunderschön wie damals. Heute trägst du sie anders, nicht war, tesoruccio?“, stellte die Signora mit Blick auf Fayes glatte Haare fest.

„Also, ich muss Ihnen …“, begann Faye verunsichert.

Si peccato, es ist so schade, dass Sandra heute unbedingt nach Rom fahren musste. In dem ganzen Trubel um die Hochzeit hat sie den Termin deiner Ankunft sicher falsch notiert. Weißt du, sie ist einfach so durcheinander, la nostra figlia, die Hochzeit, ihr Kleid …“ Sie beugte sich zu Faye hinüber. „Sie ist davon überzeugt, dass sie ihre Dessous eine Nummer zu klein gekauft hat, deshalb ist sie nach Rom gefahren, um sie umzutauschen. Ich hoffe, die Verkäuferin überzeugt sie vom Gegenteil“, flüsterte Signora Stesso ihr hinter vorgehaltener Hand leise zu.

Faye nickte lächelnd und nahm noch etwas von der gegrillten Paprika. Sie konnte nicht fassen, dass sie dieses Spiel mitspielte, aber die freundliche Familie jetzt während des Essens vor den Kopf zu stoßen, brachte sie einfach nicht übers Herz.

„Und, Ann, hast du deinen Plan umgesetzt, Tierärztin zu werden?“, fragte Signor Stesso geradeheraus. „Nach deinem Besuch damals gab es für Sandra jedenfalls kein anderes Thema mehr, und auch sie wollte unbedingt Tiermedizin studieren“, plauderte der ältere Herr munter drauflos.

„Nein, ich äh … ich habe überhaupt nicht studiert“, versuchte Faye wenigstens einen wahren Satz von sich zu geben und erntete damit ein Paar hochgezogene Augenbrauen.

„Ach nein? Aber deine Eltern wollten dich doch unterstützen, oder nicht?“, hakte Signor Stesso unbeirrt nach.

„Meine Eltern sind …“ Faye legte ihr Besteck beiseite und sah auf ihren Teller.

Papà bitte, Ann hat eine lange Reise hinter sich“, kam Maurizio ihr zu Hilfe. „Ich bringe dich jetzt am besten auf dein Zimmer.“ Ein Blick hatte genügt, um zu sehen, dass der hübschen Ann die Fragerei seiner Eltern unangenehm war. „Es reicht ja wohl, dass Sandra die Anreise ihrer Brautjungfer verschwitzt hat, da müsst ihr sie nicht noch mit eurer Neugier in Verlegenheit bringen.“

„Nein, so ist das nicht …“ Faye fühlte sich mittlerweile wie in einem Labyrinth, aus dem es keinen Ausgang gab. In ihrem Kopf drehte sich alles, und in ihren Schläfen fühlte sie ein quälendes Pochen. Kein Wunder, sie hatte seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen. Und dann dieser Empfang im Haus der Familie Stesso. Sie hatte sich das alles wirklich ganz anders vorgestellt.

„Du hast recht, Maurizio. Scusa, Ann, entschuldige! Das war sehr unaufmerksam von uns“, versuchte Signor Stesso einzulenken und tätschelte Faye väterlich die Schulter. „Ruh dich aus, tesoro. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“

Faye nickte betreten. Jetzt fühlte sie sich sowieso nicht mehr in der Lage, die Dinge klarzustellen. Sie sehnte sich nur noch nach einem Bett. Und Signor Stesso hatte recht, morgen würde die Welt wieder ganz anders aussehen, … wenn sie die Verwechslung aufgeklärt hatte. Mit dieser Begründung ließ sich ihr schlechtes Gewissen wenigstens zum Teil beruhigen.

Als sie aufstand und sich für das Essen bedankte, legte Maurizio ihr eine Hand auf den Rücken, und Faye spürte, dass die Wärme seiner Berührung durch ihren ganzen Körper schoss. Bestürzt biss sie sich auf die Lippe. Auch wenn ihr Mann sie offensichtlich betrogen hatte, war sie schließlich seit wenigen Wochen Witwe. Reiß dich zusammen! forderte sie sich auf. Wahrscheinlich waren ihre Sinne etwas überreizt. Die lange Reise, das fremde Land, die Menschen, die sie eigentlich gar nicht kannte und die ihr doch so vertraut vorkamen.

Erinnere dich daran, warum du hier bist, ermahnte sie sich. Diese Familie ist vielleicht der Grund dafür, warum die Firma deines Vaters bald vor dem Bankrott steht!

„Maurizio, du könntest doch morgen mit Ann einen Ausflug nach Assisi machen, sozusagen als Entschädigung dafür, dass Sandra ihre Brautjungfer versetzt hat. Die Firma wird dich sicher für einen Tag entbehren können, nicht wahr, mein Sohn?“, schlug Signor Stesso freundlich, aber bestimmt vor.

Irritiert blieb Maurizio stehen, eigentlich hatte er keine Zeit, sich freizunehmen. Aber vielleicht würde es ihm wirklich guttun, für ein paar Stunden abzuschalten. Auf den internationalen Messen für Stoffe und Kaschmir, die in den nächsten Tagen zunächst in Mailand und anschließend in New York stattfanden, würde es wieder mehr als hektisch werden.

„Nein, ich bitte Sie, Signor Stesso. Ihr Sohn braucht sich wegen mir keine Umstände zu machen. Ich wollte morgen sowieso …“ Was? Abreisen? Herrje, wie sollte sie aus diesem Schlamassel nur je wieder herauskommen?

„Ich könnte versuchen, es einzurichten, aber wenn du kein Interesse hast …“ Maurizio sah sie vielsagend an und schenkte ihr sein hinreißendes Lächeln.

Es gab genug Frauen in Umbrien, die wer weiß etwas dafür gegeben hätten, einen Ausflug mit ihm zu unternehmen, und normalerweise musste er sich nicht aufdrängen. Oder war dieses entzückende Wesen vielleicht in festen Händen? Er wunderte sich selbst darüber, dass ihm diese Vorstellung überhaupt nicht gefiel.

Von dem Moment an, als er sie so allein auf dem Hof stehen sah und sie ihn aus ihren grünen Augen angestarrt hatte, als wäre er ein zweiköpfiges Ungeheuer, fühlte er sich magisch von ihr angezogen. Sicher, sie machte einen etwas verwirrten Eindruck. Aber er kannte das Gefühl, nach einer langen Reise in die große Runde seiner plappernden Familie zu kommen, obwohl man sich einfach nur nach etwas Ruhe sehnte.

Maurizio liebte seine Familie über alles, und er würde alles für sie tun. Aber er konnte verstehen, dass sie einem manchmal etwas viel werden konnte. Ann war sicher einfach nur erschöpft. Wenn er sie erst einmal auf ihr Zimmer gebracht hatte und sie sich hinlegen könnte … Plötzlich wurde sein Atem schwer – allein der Gedanke, wie sie in dem hellen Gästezimmer in seinem alten Jugendbett liegen würde, ließ das Blut heißer durch seine Adern pulsieren.

Was war denn in ihn gefahren? Wie konnte er so über die Brautjungfer seiner Schwester denken? Auch wenn deine Verlobte seit zwei Monaten ein Praktikum in New York macht, musst du dich nicht wie ein verschossener Teenager aufführen, rügte er sich. Er würde Ann morgen mit nach Perugia nehmen – dort konnte sie shoppen und sich die Stadt ansehen, sie kannte sich ja schließlich aus –, aber für einen Ausflug hatte er keine Zeit, basta!

Faye zuckte mit den Schultern. Aus ihrem eben noch so charmant lächelnden Gastgeber war plötzlich ein düster dreinblickender Mann geworden. Sie war ihm über die breite Treppe in das obere Stockwerk gefolgt, und nun gingen sie schweigend durch einen langen Flur, von dem unzählige Zimmer abgingen. Wahrscheinlich war es ihm unangenehm, dass sein Vater ihn wie einen kleinen Schuljungen dazu aufgefordert hatte, etwas mit ihr zu unternehmen. Es war ihr schon in dem Moment, als Signor Stesso den Vorschlag machte, mehr als peinlich gewesen – Maurizio hatte bestimmt Besseres zu tun, als ihr die angebliche Langeweile zu vertreiben.

Während Faye durch den weiß getünchten Flur ging, entdeckte sie an den Wänden zahlreiche Fotos, Zeichnungen und Aquarelle. Alle hatten das gleiche Motiv: das Stesso-Anwesen und den weitläufigen Garten. Es war faszinierend, wie unterschiedlich die jeweiligen Künstler das elegante dreistöckige Gutshaus aus hellem Stein auf die Leinwand gebracht hatten, und als Maurizio vor einer Zimmertür abrupt stehen blieb, prallte sie in ihre Betrachtungen versunken prompt gegen ihn.

Für den Bruchteil einer Sekunde standen sie so dicht beieinander, dass Faye seinen Herzschlag spürte. Wie aus einem Reflex hatte sie ihre Hand auf seinen Arm gelegt, und es hätte sie nicht gewundert, wenn sein Hemd in Flammen aufgegangen wäre. Ging es ihm etwa genauso, oder warum starrte er auf ihre Hand, als hätte sich eine Drachenklaue auf seinen Arm gelegt? Sein Blick war ernst. Die unbeschwerte Fröhlichkeit, die eben im Garten noch zwischen ihnen geherrscht hatte, war verschwunden. Ahnte er vielleicht, dass sie nicht die Frau war, für die er sie hielt? War das der Grund für seinen harten Gesichtsausdruck? Ein Frösteln überzog ihre Arme – wie konnte sich ein Mensch in wenigen Minuten nur so verwandeln?

„Maurizio, du musst mich nicht bespaßen“, versuchte sie hastig die Situation zu entschärfen. „Ich kann mich sehr gut allein beschäftigen …“

„Ich weiß“, sagte er mit rauer Stimme und nahm ihre Hand. Diese Berührung traf sie wie tausend kleine Nadelstiche. Er ließ seinen Blick über ihr Gesicht gleiten, und sie spürte, dass sich hinter bloßem Interesse noch etwas anderes verbarg. Seine dunklen Augen blitzten auf, und sein markant geschnittenes Gesicht war ihrem so nah, dass sie für einen Moment die Luft anhielt.

„Wir sehen uns morgen früh.“ Mit diesen Worten ließ er ihre Hand los und öffnete die Tür zu dem Gästezimmer, in dem ihre Tasche etwas verloren vor ihrem Bett stand. „Buena notte, Ann.“ Und ohne einen weiteren Blick drehte er sich um und ging.

Faye schloss die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Dann atmete sie seufzend aus. Sie hatte diese Reise eindeutig zu überstürzt angetreten. Wenn sie besser vorbereitet gewesen wäre, wäre es sicher nicht zu diesem peinlichen Missverständnis gekommen. Dann hätte sie sich gegen diesen dominanten Mann vielleicht etwas besser durchsetzen können. In Sachen Durchsetzungskraft hatte sie noch einiges zu lernen.

Aber wie soll man sich auf die Begegnung mit einem Mann wie Maurizio vorbereiten? schoss es ihr durch den Kopf – worauf das schlechte Gewissen sie im nächsten Moment wieder wie ein Blitz durchfuhr. Bei allen Fehlern, die Nick begangen hatte, war er doch ihr Mann gewesen. Wie konnte sie so kurz nach seinem Tod überhaupt an einen anderen denken? Sie hatten sich doch geliebt, oder?

Faye ging in das angrenzende große Badezimmer, in dem dunkel gebeizte Holzmöbel einen schönen Kontrast zu den weißen Kacheln bildeten. Neben dem offenen Fenster stand eine Vase mit frisch geschnittenem Klatschmohn, Abendluft erfüllte den Raum.

Nach einer heißen Dusche wickelte sich Faye in ein großes weiches Handtuch und legte sich in das breite Bett. Sie war so erschöpft, dass sie sich nicht einmal mehr Gedanken darüber machen wollte, was den Stimmungswechsel zwischen Maurizio und ihr heraufbeschworen haben könnte. Trotz der Müdigkeit fühlte sie sich wie berauscht von dem lauen Sommerabend, dem Wein und von … Maurizio. Herrje, sie konnte einfach nicht mehr klar denken. Letztendlich war es auch egal, warum er sie so ernst angesehen hatte. Schließlich würde sie dieses Anwesen morgen sowieso verlassen. Spätestens dann wäre der freundliche Ton zwischen ihnen Geschichte.

Doch immerhin hatte sie für einen Abend erlebt, was es bedeutete, Teil einer Großfamilie zu sein. Und dieses Gefühl von Geborgenheit und gegenseitigem Vertrauen zu erleben, hatte sie fast vergessen lassen, dass sie nur ein Eindringling war.

Am nächsten Morgen wurde Faye von den Sonnenstrahlen geweckt, die durch das Fenster auf ihre Schultern fielen. Sie fühlte die kühle Damastbettwäsche auf ihrem nackten Körper und erschrak. War sie wirklich so müde gewesen, dass sie sich noch nicht einmal ihr Nachthemd angezogen hatte? Plötzlich hellwach griff sie nach dem noch etwas feuchten Handtuch, das auf den Boden gerutscht war, und sprang aus dem Bett.

Stück für Stück fügte sich die Erinnerung an den gestrigen Abend wie ein Puzzle zusammen, und Faye stöhnte auf. Es war wirklich nicht so einfach, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Wenn man nicht aufpasste, wurde man sogar für eine Person gehalten, die man überhaupt nicht war.

Ausgeschlafen und mit etwas Abstand betrachtet, erschien es ihr vollkommen unverständlich, in was sie da gestern Abend hineingeschliddert war. Warum hatte sie auch an einem Sonntagabend noch auf das private Anwesen der Stessos fahren müssen und sich nicht gleich ein Hotel in Perugia genommen? Sie hatte noch so einiges zu lernen, wenn sie sich in Zukunft allein durchs Leben schlagen musste.

Viele Erfahrungen hatte sie bisher nicht machen können, dafür hatte ihr überängstlicher Vater gesorgt. Nach ihrer Krankheit hatte ihr Vater noch sorgsamer über sie gewacht, als er es sowieso schon immer getan hatte. Mit der Folge, dass Faye sich bald überhaupt nichts mehr zutraute – ihr Selbstbewusstsein schwand und aus dem temperamentvollen rothaarigen Kind wurde ein scheuer, unsicherer Teenager. Jede Entscheidung war ihr abgenommen worden, und nun fühlte sie zum ersten Mal in ihrem Leben, was es hieß, ohne den Rat anderer einen Entschluss zu fassen.

Sie stand auf, ging zu ihrer Tasche, holte sich frische Wäsche und eines ihrer geliebten breiten Kaschmirtücher heraus. Auch die Zahlungsbelege suchte sie zusammen und verstaute sie in der Handtasche. Dann machte sie sich im Bad fertig und zog sich hastig an. Sie wollte die Konfrontation mit der Familie Stesso so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Als sie in Jeans und hellen Turnschuhen die Treppe hinunterging, wunderte sie sich darüber, dass sie kein einziges Geräusch vernahm. Wo waren die vielen Leute, die gestern Abend noch für Trubel gesorgt hatten? Wahrscheinlich waren die Familien wieder nach Hause gefahren, damit die Kleinen heute in die Schule gehen konnten. Faye spürte Bedauern in sich aufsteigen, sie hätte sich gerne noch von der kleinen Sophia verabschiedet, die sie so an das Kind erinnerte, das sie selbst einmal gewesen war.

Schnell verdrängte sie die sentimentalen Gefühle, sie musste sich jetzt auf die Gegenwart konzentrieren. Energisch band sie ihre Haare zusammen und wurde im nächsten Moment von dem Duft frischen Kaffees in Richtung Küche gelotst. Ihre Hoffnung, vielleicht auf eine Hausangestellte zu treffen, die ihr Auskunft darüber geben könnte, warum es im Haus so still war, wurde nicht erfüllt.

Stattdessen blickte sie auf breite Schultern, die in einem maßgeschneiderten Anzug steckten, und einen männlichen Hinterkopf, dessen leicht gewelltes Haar in ihr den Wunsch wachrief, es mit den Händen zu verstrubbeln. Das fängt ja gut an, dachte sie bei sich und versuchte es mit einem möglichst unbeschwert klingenden „Guten Morgen, Maurizio“.

Maurizio war gerade im Begriff, seine Espressotasse an den Mund zu führen. Er war spät ins Bett gegangen und hatte seiner Schwester mehrmals auf die Mailbox gesprochen, um zu erfahren, warum sie die Ankunft ihrer Brautjungfer einfach vergessen hatte, doch bisher hatte sie nicht zurückgerufen. Jetzt hoffte er, der starke Kaffee würde ihm den fehlenden Schlaf ersetzen. Als er Ann im Türrahmen stehen sah, verharrte er eine Sekunde mit der Tasse vor seinen Lippen, um im nächsten Moment das heiße Getränk hinunterzustürzen. Für einen Moment hätte er fast seine Fassung verloren. Mit ihren engen Jeans, dem schlichten weißen T-Shirt und ihrem cremeweißen Kaschmirtuch über den Schultern sah sie einfach hinreißend aus. Er räusperte sich kurz, dann besann er sich auf seine Manieren.

Buon giorno, Ann“, begrüßte er sie. „Hast du gut geschlafen?“

„Ja, danke“, erwiderte sie, bevor sie allen Mut zusammennahm, um mit ihrem Geständnis zu beginnen. „Maurizio, wegen gestern Abend … ich muss dir etwas sagen. Es tut mir sehr leid, aber …“

„Nein, Ann, ich muss mich entschuldigen. In unserer Familie geht zurzeit alles drunter und drüber. Sandras Hochzeit, der Führungswechsel in der Firma. Obwohl mein Vater mir den Chefsessel überlassen hat, glaubt er immer noch, das Sagen zu haben. Und da ihm das in der Firma nicht mehr gelingt, fängt er jetzt im privaten Bereich damit an.“

„Er hat es sicher nur gut gemeint“, versuchte Faye den alten Herrn zu verteidigen. Konnte dieser Führungswechsel etwas damit zu tun haben, warum Tissu Stesso ihr kein Kaschmir mehr lieferte? Von ihrem Vater wusste sie, dass er Ernesto Stesso vor vielen Jahren auf einer Textilmesse in London kennengelernt hatte. Seither erhielt Gordon’s Plaids & Capes hochwertigste Kaschmirware zu einem besonders guten Kurs. Aber wie es dazu gekommen war, hatte er ihr nie erzählt. Er war in so vielen Dingen verschlossen gewesen, und was Geschäftliches betraf, hatte sie es in der Regel auf sich beruhen lassen.

Ihr Vater hatte sich immer gewünscht, dass sie sich um das Haus und den Garten kümmerte – so wie es ihre Mutter getan hatte, die kurz nach ihrer Geburt gestorben war. Da er diesen Verlust nie ganz verwunden hatte, tat Faye alles, um ihm wenigstens eine perfekte Tochter zu sein. Dass er seiner einzigen Tochter mit diesem Leben die Luft zum Atmen nahm, hatte er sicher nicht gewollt.

„Ja, mein Vater meint es immer gut, mit allem. Aber seine Gutmütigkeit hat sich schon negativ auf die Firma ausgewirkt. Die Zeiten haben sich geändert. Es gibt keine Geschäfte mehr, die nur mit einem Handschlag besiegelt werden. Dafür ist die Konkurrenz zu groß. Besonders in der Kaschmirbranche.“ Maurizio redete sich regelrecht in Rage. „Die Chinesen haben längst begonnen, die Qualität unseres Kaschmirs zu kopieren. Es wird immer schwerer, den Unterschied zu erkennen, aber was sofort ins Auge fällt, ist die Differenz im Preis. Der Markt wird von Billigprodukten überschwemmt. Früher gab es Kaschmir nur in exklusiven Läden, heute bekommt man die Pullover nachgeschmissen. Es wurde höchste Zeit, dass mein Vater die Geschäfte aus der Hand gibt. So konnte es nicht mehr weitergehen. Kredite gewähren ohne Bonitätsprüfung, Gratisproben versenden und so weiter …“

Bedauernd schüttelte Faye den Kopf, sie ahnte, dass Maurizio in allem eine härtere Gangart einführen würde. Sie zog ihren Kaschmirschal fester um die Schultern. Obwohl sie sich mit geschäftlichen Angelegenheiten nicht auskannte, so wusste sie doch ganz genau, ob sie hochwertiges Kaschmir oder kopierte Ware in den Händen hielt. Schließlich war sie mit Kaschmir aufgewachsen. Und während ihrer Krankheit als Kind hatte sie im Bett sitzend Stunden damit verbracht, aus Kaschmirresten Kleider für ihre Puppen zu nähen.

„Ich kann nicht glauben, dass die Kunden das nicht erkennen“, widersprach sie Maurizio daher vehement.

„Darum geht es gar nicht, es geht um den Preis und die Masse. Es … entschuldige, bitte“. Er griff nach seinem klingelnden Handy, das auf dem Tisch lag, und nahm den Anruf entgegen.

„Pronto.“ Dann schwieg er für eine Weile und fuhr sich schließlich mit der Hand durch die Haare. „D’accordo. Gute Besserung. Melde dich, wenn es dir wieder besser geht.“

Faye sah ihn fragend an.

„Es tut mir leid, aber ich muss sofort in die Firma. Meine Assistentin hat sich bei ihrem Sohn mit Windpocken angesteckt. Und das ausgerechnet vor den Messeterminen.“ Fluchend tippte er auf sein Handy ein.

„Maurizio, ich wollte dir etwas sagen“, begann sie, mittlerweile fühlte sie sich wie eine echte Idiotin.

„Es tut mir leid, den Ausflug nach Assisi musst du mit Sandra machen, wenn sie denn mal wieder zurückkommt“, erklärte er ihr abwesend. „Du musst leider auf sie warten.“

„Ich will jetzt überhaupt nicht mehr warten.“ Ihre Stimme wurde schrill.

„Was ist denn hier los? Guten Morgen, Ann. Buon giorno, Maurizio“, begrüßte Signor Stesso die beiden und schaute Faye verwundert an.

„Ich bin nicht Ann, verdammt noch mal!“ Doch ihre Worte gingen im Klingelton von Maurizios Handy unter.

„Sandra, di dove sei? Wo treibst du dich herum? Ann ist schon gestern Abend angereist, hast du das etwa vergessen?“, begann Maurizio mit seiner Schwester zu schimpfen, doch nachdem er auch sie zu Wort hatte kommen lassen, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Ungläubig runzelte er die Stirn. „Aber sie ist doch hier, sie steht neben mir … okay, ich verstehe. Grazie, Sandra, bis später.“ Sprachlos starrte er auf sein Handy, dann wanderte sein Blick zu Faye, die bei den letzten Worten blass geworden war.

„Das war Sandra“, erklärte Maurizio tonlos. „Ann hat ihr schon vergangene Woche abgesagt. Sie kann überhaupt nicht kommen. Sandra wollte es erst einmal für sich behalten, um nicht noch mehr Unruhe in die Vorbereitungen zu bringen.“

„Wie bitte?“, fragte Signor Stesso verständnislos.

„Ich wollte es Ihnen die ganze Zeit über sagen, aber Sie lassen mich ja nicht ausreden. Ich bin nicht Ann. Und ich war auch noch nie hier. Ich bin überhaupt zum ersten Mal in meinem Leben in Italien“, erklärte Faye verzweifelt.

Maurizio spürte ein Rauschen in seinen Ohren.

„Kann du uns dann vielleicht sagen, wer du wirklich bist?“ Maurizios Stimme klang schneidend.

„Mein Name ist Faye, Faye Gordon“, erläuterte sie. „Ich will wissen, warum Sie Gordon’s Plaids & Capes seit einem halben Jahr kein Kaschmir mehr liefern, obwohl wir all unsere Rechnungen bezahlt haben. Am Telefon wurde ich ständig abgewimmelt, und meine E-Mails wurden anscheinend nicht ernstgenommen.“ Ihre Stimme bebte. „Daher habe ich keinen anderen Weg gesehen, als persönlich hierherzukommen.“ So, jetzt war es raus.

Ein kalter Luftzug drang durch die offenstehende Terrassentür, und der Blick, mit dem Maurizio sie bedachte, ließ sie noch stärker frösteln. Auch Signor Stesso sah sie vollkommen entgeistert an. Faye zog ihren Schal fester um ihre Schultern. Wie hatte sie innerhalb von wenigen Stunden nur so ein Desaster anrichten können? Ihr Magen zog sich zusammen bei dem Gedanken an den gestrigen Abend und an das Lächeln, das Maurizio ihr geschenkt hatte, als er aus seinem dunkelgrünen Sportwagen gesprungen war. So etwas würde sie jetzt mit Sicherheit nie wieder erleben. So schnell, wie der Zufall ihr den kostbaren Moment zugespielt hatte, so schnell hatte sie ihn auch wieder verloren. Sie fühlte sich wie kurz vor einem Gewinn beim Roulette, nur dass die Kugel im letzten Augenblick wieder aus dem von ihr gesetzten Zahlenfach herausgesprungen war.

3. KAPITEL

„Ich fasse es nicht.“ Maurizios Lippen zitterten vor Wut. „Wie kommst du dazu, dich hier einzuschleichen und uns alle anzulügen?“

„Maurizio, hör auf, mit ihr zu schimpfen“, versuchte Signor Stesso, seinen Sohn zu beruhigen.

„Vater, deine Gutmütigkeit ist jetzt wirklich fehl am Platz“, platzte es aus ihm heraus. „Sie hat unser Vertrauen und unsere Gastfreundschaft missbraucht. Und jetzt wirft sie uns auch noch vor, unsere Geschäfte nicht korrekt erledigt und ihre Firma betrogen zu haben.“ Seine Augen funkelten.

„Du bist wirklich die Tochter von Edward Gordon?“, vergewisserte sich Signor Stesso.

Faye nickte, sie fühlte sich hundsmiserabel. Maurizio hatte recht, sie hatte das Vertrauen der Familie Stesso missbraucht. Aber doch nur deshalb, weil die Verführung so groß gewesen war, einmal keine Außenseiterin zu sein. Sie alle hatten es ihr so leicht gemacht, nicht die Wahrheit zu sagen … Doch dann hielt sie einen Moment inne. Warum sollte sie sich deswegen schlecht fühlen? Schließlich gab es einen Grund, warum sie hier war, und der bestand schließlich nicht darin, dass sie etwas vortäuschen wollte. Im Gegenteil.

„Ich kann nicht mehr sagen, als dass es mir leid tut. Außerdem habe ich nicht gesagt, dass wir von Ihnen betrogen worden sind!“ Sie warf Maurizio einen giftigen Blick zurück. Was er konnte, konnte sie schon lange. Es wurde endlich Zeit, dass sie lernte, sich zu behaupten. Warum sollte sie damit nicht sofort anfangen? „Tatsache ist, dass Gordon’s Plaids & Capes seit über einem halben Jahr keine Lieferung mehr erhalten hat.“

„Aber das kann doch gar nicht sein“, bemerkte Signor Stesso irritiert. „Maurizio, was weißt du darüber?“

„Wenn die Gordons ihre Rechnungen bezahlt haben, dann haben wir natürlich geliefert“, antwortete Maurizio ernst. „Wenn nicht, dann haben wir unter meiner Führung begonnen, säumigen Kunden unser Kaschmir nicht zu schicken. Das ist doch ganz selbstverständlich.“

Jetzt zog Faye einen kleinen Bund Rechnungen aus ihrer Handtasche und legte sie Maurizio auf den Tisch.

Aufmerksam begutachtete er die Unterlagen. „Ja, das Geld wurde an uns überwiesen, so sieht es jedenfalls aus.“

„Dann verstehe ich nicht, wo das Kaschmir geblieben ist“, erwiderte Faye mit fester Stimme.

Während des Gesprächs hatte sich Ernesto Stesso auf einen Stuhl gesetzt, Faye sah, wie blass er plötzlich geworden war.

„Das muss von unserer Buchhaltung überprüft werden. Ich habe wirklich nicht alle Kunden mit den entsprechenden Geschäftsverläufen im Kopf“, erklärte Maurizio unbeirrt.

„Wo ist Edward eigentlich? Wo ist dein Vater? Warum kommt er nicht selbst?“, wollte Ernesto plötzlich wissen.

Nichts lag Faye ferner, als dem alten Herrn in diesem Moment zu eröffnen, dass ihr Vater nach einem Segelunfall als verschollen galt. Er wirkte nicht so, als ob er eine schlechte Nachricht gut verkraften würde. Andererseits wollte sie nicht schon wieder Verwirrung stiften, indem sie die Wahrheit verschwieg. Sie musste ihm sagen, was geschehen war, schließlich verband die beiden eine jahrelange Geschäftsfreundschaft.

„Er hatte …“, begann sie zögerlich. Maurizios warnender Blick ließ sie zusammenzucken.

„Am besten wir fahren sofort in die Firma“, unterbrach er sie hastig, „dann verschaffen wir uns vor Ort einen Überblick, wann die Kaschmirlieferungen unser Haus verlassen haben. Kannst du damit leben, Ann … äh …?“

„Faye“, wiederholte sie ihren Namen.

„In Ordnung. Faye.“

„Die Gordons sind nicht irgendwelche Kunden“, blaffte Ernesto seinen Sohn an. „Hier muss ein Missverständnis vorliegen, Maurizio. Hast du mich verstanden?“

Als Maurizio nichts erwiderte, lenkte Faye mit sanfter Stimme ein: „Bestimmt ist es so, Signor Stesso. Wir regeln das. Ich verspreche es Ihnen.“

Doch ihre Antwort schien ihn nicht zu beruhigen. „Dein Vater ist ein ganz besonderer Mann. Ohne ihn …“ Das Sprechen fiel dem älteren Herrn plötzlich schwer, er legte sich die Hand auf die Brust und holte tief Luft.

In diesem Moment betrat Signora Stesso die Küche. Mit einem Blick erfasste sie die Situation und ging mit eiligen Schritten auf ihren Mann zu. Ohne ein Wort zu sagen, half die resolute Frau ihm auf. „Vieni, komm! Hinter dem Haus scheint die Sonne, dort kannst du dich auf die Liege legen. Ich bringe dir deinen Cappuccino.“ Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal um. „Du erklärst mir später, was passiert ist, Maurizio!“

Als die beiden die Küche verlassen hatten, sahen sich Maurizio und Faye betreten an. Faye fand ihre Sprache als Erste wieder.

„Deinem Vater geht es nicht gut“, bemerkte sie mitfühlend.

„Nein, es geht ihm nicht gut.“ Maurizio stand auf und begann, wild mit den Händen zu gestikulieren. „Immer muss er sich in alles einmischen, das hat er nun davon. Er will immer das letzte Wort haben und begreift einfach nicht, dass die Dinge nicht mehr so sind, wie sie mal waren. Ich muss frischen Wind in die Firma bringen.“

„Frischen Wind?“, fragte Faye nach.

„Genau, der Schmusekurs, den mein Vater jahrelang in Bezug auf seine Kunden für richtig gehalten hat, kostet uns viel Geld. Die Firma muss Kosten reduzieren …“

„Ich dachte immer, dass ein Vertrauensverhältnis zwischen Geschäftspartnern mehr wiegt als alles andere. Das hat mein Vater jedenfalls immer behauptet“, unterbrach ihn Faye ernst und warf ihm aus ihren grünen Augen einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Wenn die Geschäfte gut laufen, kann man sich den Luxus vielleicht erlauben – aber wenn nicht … Ich muss nach vorne schauen und die Konkurrenz im Blick haben, sonst …“

„Sonst was?“

„Ach nichts“, wehrte er ihre Frage unwirsch ab und zog den Autoschlüssel aus seiner Hosentasche. Er würde einer wildfremden Frau sicher nicht davon erzählen, dass minderwertiges Kaschmir unter dem Label Tissu Stesso an seine Kunden geraten war. Dem Problem musste er schon allein auf die Spur kommen.

„Wir fahren jetzt nach Perugia und prüfen in der Buchhaltung eure Konten, dann werden wir klarer sehen“, wechselte Maurizio das Thema. Fast abweisend sah er sie an, und sein Blick hatte nur noch wenig mit dem Mann zu tun, dem sie gestern Abend begegnet war. Auf seiner Stirn hatten sich Sorgenfalten gebildet, und Faye sehnte sich danach zurück, ihn lächeln zu sehen.

Eine Viertelstunde später wurde Faye in Maurizios dunkelgrünem Sportwagen in den Sitz gedrückt und hielt sich mit der rechten Hand am Türgriff fest. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte er das Tempo gerne drosseln können. Dennoch nahm sie genug von der Landschaft wahr, um von den weiten Klatschmohnfeldern, den sanft aufsteigenden hellgrünen Weinbergen und den abseits gelegenen umbrischen Landhäusern beeindruckt zu sein. Durch das klare Licht der Vormittagssonne sah die Landschaft so gestochen scharf aus, dass sie wie eine Fotografie wirkte.

Tief atmete Faye die lauwarme Luft ein, während ihr der Fahrtwind durch die Haare wirbelte. Für einen Moment vergaß sie beinahe, dass sie zu einem Termin unterwegs war, von dem nicht nur ihre, sondern auch die Zukunft von Gordon’s Capes & Plaids abhing.

Herrje, ihre Existenz stand auf dem Spiel! Außerdem hatte der Segelunfall sie erst vor wenigen Wochen zur Witwe gemacht.

Doch seit sie in Italien war, neigte sie dazu, bestimmte Dinge zu verdrängen. Die weitläufige Landschaft und die wärmende Sonne gaben ihr ein Gefühl von Freiheit, das die Realität in weite Ferne rücken ließ – und an die Wirkung, die der Mann an ihrer Seite auf sie ausübte, wollte sie erst gar nicht denken. Es war der gleiche Zauber, den sie auch gestern Abend gespürt hatte. Ja, es war wie ein Zauber, der sich um sie legte, sobald sie in Maurizios Nähe war. Den sie durchbrechen musste, wenn sie retten wollte, was noch zu retten war …

Lautes Handyklingeln riss sie aus ihren Gedanken, und als Maurizio sein schon vertrautes „Pronto“ in die Freisprechanlage bellte, wurde sie ruckartig wieder in die Realität katapultiert. Von wegen Zauber! Der Mann neben ihr war ein knallharter Geschäftsmann.

Sie konnte sich zwar nicht erklären, warum Maurizio überhaupt Gefühle in ihr auslöste – aber sie wusste, dass sie in der prekären Situation, in der sie sich befand, keinen Platz hatten! Wenn sie nicht mehr Willensstärke an den Tag legte, würde sie womöglich schneller mit leeren Händen wieder nach Hause fahren, als Maurizio das Gaspedal durchgetreten hatte. Entschlossen ballte sie die Hände auf ihrem Schoß zusammen. Sie würde sich jeden einzelnen Lieferschein vorlegen lassen und Italien nicht eher verlassen, bis sie eine vollständige Erklärung für den Verbleib ihres Kaschmirs erhalten hatte.

Maledetto, verdammt!“ Maurizio schaltete das Headset aus und fluchte laut. Er wusste, dass er überreagierte. Es würde sich schon eine Vertretung für seine Assistentin, die ausgerechnet jetzt krank geworden war, finden lassen. Auch wenn das eben schon die zweite Absage einer potenziellen Ersatzkraft war.

Ein Blick auf Faye genügte, um zu erkennen, was sie von seiner Flucherei hielt. Als typische Britin war sie sichtlich schockiert. Warum konnte er sich auch nicht zusammenreißen? Als Teenager war sein Temperament zwar häufig mit ihm durchgegangen, aber mittlerweile konnte er sich beherrschen, das hatte seine Arbeit in der internationalen Geschäftswelt ihn gelehrt. Eigentlich hätte es ihm auch egal sein können, was sie von ihm dachte, aber das war es nicht. Er wusste zwar nicht, warum – erst recht nicht nach diesem Ich-bin-nicht-die-für-die-ihr-mich-haltet-Theater und ihren Vorwürfen gegen die Firma –, aber so war es nun mal. Sie sprach etwas in ihm an, etwas, das ihn in Unruhe versetzte.

Vielleicht lag seine Gereiztheit aber auch an der allgemeinen Verfassung, in der er sich gerade befand. In den letzten Wochen hatte er stets bis in die Nacht hinein gearbeitet. Neue Designangebote musste er ebenso begutachten wie die Qualität der Kaschmirwolle, die er aus Zentralasien, Afghanistan und der Mongolei bezog. Es war klar, dass er, nachdem sein Vater ihm endlich die Leitung der Firma übertragen hatte, einiges würde umkrempeln müssen, um Tissu Stesso konkurrenzfähig zu halten.

Die Verarbeitung von Kaschmirwolle zu den begehrten Strickwaren und Decken war längst ein knallhartes Geschäft – mit dem er sich bestens auskannte. Er war für die Firma durch die ganze Welt gereist, stets auf der Suche nach der hochwertigsten, der besten, der weichsten Wolle. Das war der Anspruch, dem das Unternehmen seit Jahrzehnten treu geblieben war.

Umso erschreckender war es für Maurizio also gewesen, dass sich plötzlich Kunden beschwert hatten. Zunächst hatte er deren Vorwürfe nicht ernst genommen und für den Versuch gehalten, den Preis zu drücken. Doch als ihm ein Londoner Kunde, ein Hersteller von Kaschmirmänteln, eine Probe zurückschickte, musste er der Wahrheit ins Gesicht blicken. Die Ware war nicht in einwandfreiem Zustand gewesen. Nur mit Mühe hatte er den Kunden besänftigen können.

Maurizio konnte sich einfach nicht erklären, wie es dazu gekommen war. Wenn das so weiterging, musste er sich demnächst persönlich ins Lager stellen und jede einzelne der edel verpackten Kartonagen überprüfen.

Doch nicht nur die Beschwerden setzten ihn unter Druck, auch die vermaledeite Familientradition, dass ein Stesso, der als Firmenoberhaupt an der Spitze stand, eine Familie zu gründen hatte, verursachte ihm Bauchschmerzen.

Im Klartext hieß das nämlich, dass er heiraten musste, und zwar bald. Die Tatsache, dass er sich in den letzten Jahren nicht gerade wie ein seriöser Familienvater in spe verhalten hatte, war mit ein Grund dafür gewesen, warum sein Vater den Chefsessel nicht hatte räumen wollen.

Stesso senior verurteilte den lockeren Lebensstil seines Sohnes, zu dem wechselnde Beziehungen ebenso gehörten wie das Paragliding. Aber bis jetzt reichte Maurizio die Familie, die er schon hatte, vollkommen aus. Und obwohl er mit vielen attraktiven Frauen liiert gewesen war, hatte er bisher keinen Grund gesehen, einer von ihnen treu zu bleiben. Wenn er ehrlich war, konnte er sich das auch in Zukunft nicht vorstellen.

Letztendlich hatte erst die Krankheit seinen Vater dazu gezwungen, sich zur Ruhe zu setzen, was jedoch nicht hieß, dass Maurizio von seiner Pflicht entbunden war, der Frau fürs Leben sein Jawort zu geben.

Doch schließlich hatte er eine sehr pragmatische Lösung für dieses Problem gefunden und beschlossen, Stephanie Azzaro zu heiraten, die Tochter einer Familie, die schon seit Ewigkeiten mit den Stessos befreundet war. Maurizio und sie hatten schon als Kinder miteinander gespielt und auf derselben Schule ihren Abschluss gemacht. Zudem war Stephanie attraktiv, gebildet und eine ambitionierte Designerin.

Es war nicht ausgeschlossen, dass sie ihn eine Zeit lang in der Firma unterstützen würde, wohlgemerkt nur so lange, bis sie schwanger wurde – denn das war natürlich Ziel und Zweck jener Tradition: Kinder auf die Welt zu bringen. Denn ein Familienunternehmen konnte nur so lange eines bleiben, wie auch für entsprechenden Nachwuchs gesorgt war.

Die Verlobungsringe hatte Maurizio schon letzte Woche gekauft. Und den offiziellen Antrag wollte er Stephanie in New York machen. Der Messerummel und eine Vielzahl von Kundengesprächen würden ihm zwar wenig Zeit lassen, aber ein Tisch im Rainbow Room, einem von Italienern geführten Nobelrestaurant im 65. Stock des Rockefeller Plaza, war schon reserviert.

Er hoffte, dass sich der Verlobungszeitraum auf ein Jahr ausdehnen lassen könnte, somit wäre er den lästigen Gedanken an eine Hochzeitsfeier und die damit verbundenen Vorbereitungen erst einmal los. Denn das Chaos, das rund um die Vermählung seiner Schwester bereits herrschte, stellte für ihn das reinste Abschreckungsmanöver dar.

Bei dem Gedanken an Stephanie umschloss er das elfenbeinfarbene Lenkrad noch fester, und als er einen Seitenblick auf die neben ihm sitzende Faye warf, wurde ihm klar, dass seine wachsende Anspannung in unmittelbarem Zusammenhang mit ihr stand.

Seit gestern Abend gab diese Frau ihm das Gefühl, in einer Achterbahn zu sitzen, und das lag nicht allein an der Verwechslungskomödie, die sie ihm und seiner Familie vorgespielt hatte. Ihre ganze Erscheinung, die flammend roten langen Haare, die wie flüssiges Kupfer glänzten, ihre grünen Augen, die ihre Farbe zu wechseln schienen, und ihre scheue, aber auf seltsame Weise auch bestimmende Art verunsicherten ihn. Außerdem erinnerte die feingeschwungene Form ihrer Lippen ihn daran, wie lange er keine Frau mehr geküsst hatte …

Maurizio schluckte und sah starr geradeaus. Eigentlich hätte er jetzt gern noch einmal richtig Gas gegeben, aber sie näherten sich bereits der Stadtgrenze, es wäre unsinnig für eine derart kurze Strecke zu beschleunigen. Er musste sich zusammenreißen und daran denken, wen er vor sich hatte. Die Gordons waren nicht irgendwelche Kunden, da hatte sein Vater recht …

„Was meinte dein Vater eigentlich vorhin mit seiner Bemerkung?“, hörte er Faye plötzlich neben sich fragen. Konnte sie Gedanken lesen?

„Welche Bemerkung meinst du?“

„Er sprach von meinem Vater, und in seinem Ton lag so etwas wie …“ Faye suchte nach dem passenden Wort.

„Bewunderung? Dankbarkeit?“, kam ihr Maurizio zur Hilfe.

„Ich weiß nicht, diese Begriffe wären mir jetzt nicht dazu eingefallen. Ist es denn so? Ist er ihm dankbar?“, wollte sie wissen.

„Du willst mir doch nicht im Ernst erzählen, dass du nicht weißt, in welcher Beziehung unsere Väter zueinander stehen?“, antwortete er hart.

„Sie sind langjährige Geschäftspartner. Ihr liefert uns die besten Kaschmirstoffe, die man auf der Welt bekommen kann, und wir verarbeiten sie zu Decken, Schals und Capes. Eben zu allem, was man bei uns in Schottland für einen kalten Herbst und Winter braucht …“, erklärte Faye.

„Mehr weißt du nicht?“

„Was meinst du damit?“ Sie schüttelte den Kopf. „Früher haben sie sich einmal im Jahr geschäftlich in London getroffen, aber diese Reisen hat irgendwann der Geschäftsführer meines Vaters übernommen. Nick hat mir allerdings nie erzählt, dass er Signor Stesso persönlich getroffen hat.“

„Nein, das hat er sicher nicht. Mein Vater hat schon seit einigen Jahren seine Salesmanager zu den Kunden ins Ausland geschickt. Aber du musst doch darüber Bescheid wissen, dass wir euch Ware zu besonderen Konditionen geliefert haben?“, hakte Maurizio erneut nach.

„Ja, ich weiß etwas von einer Vergünstigung, mehr aber auch nicht. Vater hat nicht gern darüber gesprochen. Er wollte mich nie mit geschäftlichen Dingen belasten, er hatte …“ Faye hielt inne.

Verwundert sah Maurizio sie von der Seite an. „Er wollte, er hatte? Du sprichst in der Vergangenheit.“

Mittlerweile hatten sie den Stadtkern von Perugia erreicht, und Maurizio musste an einer roten Ampel halten. Konnte es wirklich sein, dass sie nichts von der Geschichte wusste, die sein Vater ihnen schon erzählt hatte, als er und seine Schwester noch Kinder gewesen waren? Hatte Edward wirklich niemandem erzählt, dass ihm jemand sein Leben verdankte? Nicht einmal seiner eigenen Tochter?

Im nächsten Moment schaltete die Ampel auf Grün. Maurizio fuhr los und bog ab, um über das holprige Kopfsteinpflaster in die Altstadt Perugias zu gelangen, wo Tissu Stesso seinen Hauptsitz hatte.

Als er erneut zu Faye hinüberblickte, da er immer noch auf eine Antwort wartete, sah er, dass sie angestrengt nach vorn sah und ihre Mundwinkel vor Anspannung zitterten. Schweigend parkte er den Wagen auf dem firmeneigenen Parkplatz im Hinterhof des alten Stadtpalazzos. Er zog die Handbremse an, drehte sich zu ihr und stützte den Ellbogen auf die Rückenlehne des Sitzes.

„Was ist mit deinem Vater?“, fragte er schlicht, doch es dauerte eine Weile, bis sie antwortete.

„Er gilt als vermisst. Es gab einen Segelunfall“, brachte sie tonlos hervor. „Mein Mann konnte geborgen werden, mein Vater wurde nicht gefunden.“

Maurizio blickte schweigend aus dem Fenster, bis er seine Fassung wiedergewann.

„Das tut mir leid.“ Er ahnte, was in ihr vorgehen musste, und versuchte, sich das ganze Puzzle zusammenzusetzen. Eine junge Frau, die von einem Tag auf den anderen auf sich selbst gestellt ist und eine Firma leiten soll. Eine Reise nach Italien, und schließlich er selbst und seine Familie, die sie für jemand anderen hielten …

„Danke für dein Mitgefühl“, sagte sie und sah ihn aus ihren grünen Augen mit der Spur eines Lächelns an, erleichtert darüber, dass er nun Bescheid wusste. Mit verdeckten Karten zu spielen, war nicht ihre Sache.

„Und dein Mann, hat er …“ Noch während er zu dieser Frage ansetzte, hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen.

„Nein, er hat das Unglück nicht überlebt.“ Faye wunderte sich selbst, wie sachlich ihr dieser Satz über die Lippen kam.

„Und jetzt?“, fragte Maurizio und wusste im gleichen Moment, dass sein Taktgefühl heute wirklich zu wünschen übrig ließ.

„Jetzt muss ich mich um die Firma kümmern“, antwortete Faye nüchtern. Er sollte nicht merken, wie es in ihrem Inneren tobte, wie hilflos sie sich fühlte angesichts der Herausforderungen, die ihr bevorstanden.

Hätte ihr Vater ihr doch nur etwas mehr zugetraut und sie nicht von allem abgeschirmt. Wenn sie etwas mehr Einblick in die Firma bekommen hätte, würde sie jetzt nicht dastehen wie eine Idiotin. Sie wusste ja, dass er es nur gut gemeint hatte, doch insgeheim machte sie sich Vorwürfe. Vielleicht hätte sie sich mehr gegen ihn durchsetzen sollen, ihn davon überzeugen sollen, sie in die Geschäfte miteinzubeziehen – anstatt immer die perfekte Tochter zu sein.

Doch das Letzte, was sie wollte, war, ihm die Schuld für die ganze Misere in die Schuhe zu schieben. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Vater noch lebte, war gering, aber so lange man ihr nicht das Gegenteil bewies, konnte und wollte sie nicht um ihn trauern. Sie würde sich in die Unterlagen einarbeiten und Gordon’s Plaids & Capes wieder auf Vordermann bringen – sie musste es einfach schaffen!

„Okay“, bemerkte Maurizio gedehnt. „Die Branche ist hart, mach dich auf etwas gefasst.“

„Können wir uns jetzt vielleicht die Lieferscheine für unser Kaschmir ansehen?“, wechselte sie betont schnippisch das Thema, während sie schon die Beifahrertür öffnete.

„Ich sehe, du lernst schnell“, sagte er und stieg ebenfalls aus dem Wagen. Er musste ein Lächeln unterdrücken. Die energische Faye gefiel ihm noch besser als die zurückhaltende und scheue Ann von gestern Abend.

Maledetto, Schluss damit! Von jetzt an war sie absolut tabu, sie war eine Kundin, und er durfte nicht einmal daran denken, wie attraktiv er sie fand. Schließlich wartete in New York seine zukünftige Braut auf ihn, und er war nicht im Geringsten daran interessiert, diese Verbindung aufs Spiel zu setzen.

Eine halbe Stunde später fand Faye sich in einem elegant eingerichteten Büroraum in der obersten Etage des prachtvollen Stesso-Palazzos wieder. Die Decken waren so hoch, dass die Worte in den Räumen hallten, und der opulente Stuck wirkte neben der modernen Einrichtung wie aus einer längst vergangenen Märchenwelt.

Die Buchhalterin hatte ihnen den Computer zurechtgerückt, und die Ordner mit abgehefteten Belegen und Rechnungen türmten sich vor ihnen auf dem breiten gläsernen Schreibtisch. Auf den ersten Blick sah es so aus, als sei alles in Ordnung …

„Das Kaschmir hat unser Haus fristgerecht verlassen, da bin ich absolut sicher“, erklärte die Angestellte im Brustton der Überzeugung. „Ansonsten hätten wir hier oben den Auslieferungsschein überhaupt nicht erhalten.“

Doch was Maurizio interessierte, war weniger der Export als die Überweisungen von Gordon’s Capes & Plaids.

„Hier scheint auch alles zu stimmen“, stellte er fest und blätterte weiter vor. „Stopp, was hat dieser gelbe Haken zu bedeuten, Laetizia?“

Die Finanzexpertin beugte sich über die Papiere und sah sich die Rechnung genau an. „Das sind geplatzte Schecks“, sagte sie schließlich.

„Wie bitte? Das kann nicht sein!“ Faye wurde blass, sie verspürte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen.

„Und die Stoffe sind trotzdem rausgegangen?“, fragte Maurizio ungläubig. Jetzt musste er sich auch noch die Finanzabteilung vorknöpfen. Er war davon ausgegangen, dass wenigstens hier alles hundertprozentig korrekt ablief.

„Ja, das konnte schon mal vorkommen. Signor Stesso hat bei bestimmten Kunden eine relativ großzügig bemessene Zahlungsfrist eingeräumt. Und Gordon’s Plaids & Capes gehört dazu, wie man an der unterstrichenen Zahl erkennen kann“, erklärte Laetizia möglichst sachlich, wobei ihr der düster werdende Blick ihres Vorgesetzten nicht entging.

„Ich kann es nicht glauben. Wir sind doch kein Samariter-Verein. Das ist fahrlässig. Wie konnten Sie sich als Buchhalterin auf so etwas einlassen?“

„Es war immer so gehandhabt worden, meine Vorgängerin hat mich entsprechend der Vorgaben ihres Vaters eingearbeitet. Darüber kann ich mich doch nicht hinwegsetzen“, verteidigte sie sich.

„Maurizio, mein Vater hätte das Geld sicherlich bald gezahlt“, versuchte Faye von der jungen Frau abzulenken.

„Ach ja, und wann bitte schön?“, warf er ihr an den Kopf, doch als er ihr Gesicht sah, bereute er seine harschen Worte sofort. Er war ja kein Unmensch. Aber schließlich trug er jetzt die Verantwortung für Tissu Stesso. „Es tut mir leid, Faye! Aber glaubst du, die Konkurrenz legt auch nur ein annähernd so großzügiges Geschäftsgebaren an den Tag?“

„Ich werde dir jeden Cent zurückzahlen“, erklärte Faye mit eisiger Stimme. „Das bin ich dem guten Ruf unserer Firma schuldig.“ Sie hatte zwar keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte, aber ihr würde schon irgendetwas einfallen.

Erneut blätterte Maurizio durch die Unterlagen, dann sah er sie mit ernstem Blick an, ihm imponierte ihr Stolz.

„Ich weiß dein Angebot zu schätzen. Wobei die Tatsache, dass die Firma deines Vaters offene Rechnungen bei uns hat, immer noch nicht erklärt, wo das Kaschmir geblieben ist, das wir euch nach Edinburgh geliefert haben“, räumte er ein.

„Wenn es Perugia tatsächlich verlassen hat, muss als Nächstes die Spedition unter die Lupe genommen werden“, bemerkte Faye. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr sie dieses Ergebnis ihrer Nachforschungen frustrierte. Außerdem war es ihr wichtig, Maurizio ebenso wie der eleganten Buchhalterin zu zeigen, dass sie einen Plan B hatte. Ob sie auch zu den vielen Freundinnen von Maurizio gehörte, von denen die kleine Sophia gesprochen hatte?

Der Gedanke an das dunkelgelockte Mädchen gab ihr neues Selbstvertrauen. Sie musste das temperamentvolle vor Ideen sprühende Kind in sich wiederentdecken, dann würde sie auch keine Angst mehr haben, sich etwas zuzutrauen.

„Vielleicht wurden die Lieferungen gestohlen“, vermutete sie daher einfach mal ins Blaue hinein. Und obwohl Maurizios Blick ihr sagte, dass er das für unwahrscheinlich hielt, blieb es immerhin eine Möglichkeit. „Es muss jedenfalls gefunden werden, ansonsten kann ich nicht weiterproduzieren und die Webstühle in Edinburgh stehen still. Und das würde heißen, dass ich meine Schulden bei euch nicht bezahlen kann“, zog sie die Schlussfolgerung. Das Ganze war wirklich ein verfluchter Teufelskreis!

Maurizio sah sie erstaunt an. War diese Frau wirklich die gleiche, die gestern Abend mutterseelenallein auf dem großen Innenhof des Stesso-Anwesens in der Abendsonne gestanden hatte? Musste er sich für sie wirklich verantwortlich fühlen? Sie schien die Dinge doch ganz gut im Griff zu haben.

Aber ein Blick auf ihre leicht zitternde Hand sagte ihm, dass sie längst nicht so stark war, wie sie sich plötzlich gab. Und auch wenn ihm keine Erklärung einfiel, was es mit dem verschwundenen Kaschmir auf sich haben könnte, er musste ihr helfen – das wiederum war er seinem und ihrem Vater schuldig.

Faye stand abrupt auf, doch im nächsten Moment spürte sie, dass ihr schwindelig wurde, und stützte sich auf die Glasplatte.

„Möchten Sie ein Glas Wasser trinken, Signorina?“, fragte Laetizia zuvorkommend.

„Das ist eine gute Idee, vielen Dank, aber ich muss vor allem dringend etwas essen“, erwiderte Faye. Warum hatte sie heute Morgen auch nichts gefrühstückt? Weil alles drunter und drüber gegangen war …

„Komm, ich bringe dich in unsere Kantine, dort gibt es die besten Paninis der Stadt.“ Maurizio nahm ihren Arm, und er spürte, dass sie sich für einen Moment etwas zu fest an ihn klammerte. Plötzlich schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass sie von der Begegnung mit ihm vielleicht ebenso irritiert war wie er. Doch dann löste sie ihren Griff, und er schüttelte über sich selbst den Kopf. Faye war erst seit wenigen Wochen Witwe, sie hatte sicher anderes im Kopf, als mit ihm zu flirten. Er musste ihr gegenüber wirklich etwas mehr Respekt an den Tag legen.

Faye holte tief Luft. Das Wasser hatte ihr gut getan. Sie war dankbar über seinen Vorschlag, in die Kantine zu gehen. Doch dass er darauf bestand, sie weiterhin zu stützen, wurde ihr nach wenigen Metern unangenehm. Sie hatte das Gefühl, seine Berührungen müssten Verbrennungen zweiten Grades an ihrem Ellbogen zur Folge haben.

Um sich seinem Griff zu entziehen, begann sie auf dem Weg zum Fahrstuhl geschäftig in ihrer Tasche nach einem Taschentuch zu suchen. Als sie vor dem Aufzug standen und sich die Türen öffneten, atmete sie erleichtert auf. Zwei Angestellte hatten sich im letzten Moment noch zu ihnen gesellt. Nun würde sie nicht allein mit Maurizio in dem messingverzierten Jugendstil-Fahrstuhl nach unten fahren müssen. Trotzdem fühlte sie eine unerträgliche Spannung bei dem Gedanken, so dicht neben ihm zu stehen. Am liebsten hätte sie die Treppe genommen, aber dafür war es nun zu spät.

Gemeinsam betraten sie die verspiegelte Kabine, und schon nach wenigen Augenblicken signalisierte ein sanftes Rucken, dass sie im marmorgefliesten Erdgeschoss angekommen waren. Ein kleiner Pulk von Mitarbeitern wartete bereits und hätte Faye nicht gerade aufgeblickt, hätte sie die Frau wahrscheinlich überhaupt nicht gesehen. In einem knallroten figurbetonten Wickelkleid, die Haare hochgesteckt kam sie Faye sonderbar bekannt vor. Sie schien es eilig zu haben.

„Alessia, ruf mich heute Nachmittag bitte in meinem Büro an!“, rief Maurizio dieser beeindruckenden Schönheit zu, die ihn nun gespielt überrascht erkannte.

Ciao bello! Ma certo, aber natürlich, Maurizio, ich melde mich. Bis später“, flötete sie und drängte sich noch hastiger in die Fahrstuhlkabine.

„Es ist dringend“, rief ihr Maurizio noch hinterher. Doch im nächsten Augenblick hatten sich schon leise die Türen vor ihr geschlossen.

Wie in Trance setzte Faye ihren Gang neben Maurizio fort. Sie kam einfach nicht darauf, an wen diese Frau in dem hautengen roten Kleid mit dem tief ausgeschnittenen Dekolleté sie erinnerte … Ihr wurde übel. Das Foto in Nicks Schreibtisch, Rom, die Fontana di Trevi, „Per il mio tesoro, mille baci“, ein strahlender Nick …

Ihr Mund wurde trocken. War es wirklich möglich, dass Nicks Geliebte hier arbeitete, in Perugia, für die Stessos? Das kann nicht sein, dachte sie, vielleicht sieht sie ihr nur ähnlich. Ganz bestimmt war es so. Im nächsten Moment lenkte sie der Anblick, der sich ihr am Eingang der sogenannten Kantine bot, von ihren Befürchtungen ab. Dies war keine Kantine, sondern ein Ballsaal.

An einem riesigen Tresen im Art-Déco-Stil befand sich das Buffet, auf dem sich Kuchen, süßes Gebäck und Tramezzinis stapelten. Bistrotische sorgten für eine entspannte Kaffeehausatmosphäre, und Kristalllüster hingen glitzernd im Raum. Offenstehende Glastüren wiesen den Weg auf eine breite Terrasse, die durch weit ausgelassene rote Markisen vor der Sonne geschützt wurde. Hier saßen die meisten Angestellten und nahmen ein spätes Frühstück oder schon ihr Mittagessen zu sich.

Doch schon im nächsten Augenblick musste Faye wieder an die Frau von eben denken, und obwohl es Maurizio sicher sonderbar vorkommen musste, konnte sie sich ihre Frage nicht verkneifen.

„Wer war eigentlich die Dame, die uns eben vor dem Fahrstuhl begegnet ist?“, fragte sie möglichst sachlich, während sie sich nach einem freien Platz umschaute.

„Wen meinst du?“

Tat er nur so unwissend oder wollte er sie aufs Glatteis führen?

„Ich meine die Frau in dem schlichten roten Kleid“, wiederholte sie gespielt geduldig.

Maurizio lachte laut auf. „Oh ja, Alessia liebt schlichte Kleider“, erwiderte er lächelnd, und Faye fühlte wie ihr Herz aufging. Nach diesem Lächeln könnte sie süchtig werden.

„Ich wusste ja gar nicht, dass du auch eine humorvolle Seite hast!“, neckte er sie und beantwortete dann erst ihre Frage. „Alessia kümmert sich um den Verkauf unserer Produkte in Mittel- und Nordeuropa, und das macht sie ausgezeichnet, sie ist ja auch meine Cousine“, erklärte er stolz.

„Deine Cousine?“, wiederholte Faye ungläubig und setzte sich an den Tisch, der soeben frei geworden war. Und auch wenn sie auf einem Stuhl saß, hatte sie das Gefühl, soeben den Boden unter ihren Füßen verloren zu haben.

4. KAPITEL

Die Temperatur im Mailänder Flughafen unterschied sich deutlich von der lauen Abendluft, die eben noch Fayes Arme gestreift hatte, und wieder einmal schenkte ihr der weiche wärmende Stoff ihres Kaschmirschals, der nun ihre Schultern bedeckte, wenigstens ein wenig Geborgenheit. Angesichts der Ereignisse, die sie in den letzten zwei Tagen überrollt hatten, ein wahres Geschenk.

Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass ihre Reise nach Italien dazu führen würde, die Vertretung von Maurizio Stessos Assistentin zu werden. Doch nachdem abzusehen war, dass er in den nächsten Stunden keinen Ersatz mehr finden würde, war sein Blick auf Faye gefallen. Diese hatte den Vorschlag zunächst für einen Scherz gehalten, als er sie jedoch darauf hinwies, dass es ein wunderbarer Anfang wäre, um ihre Schulden abzuzahlen, war ihr keine Wahl mehr geblieben.

Nun hatte sie ihren ersten Arbeitstag hinter sich gebracht, und sie befanden sich im Mailänder Flughafen, von wo aus sie heute Nacht mit der Stesso-Privatmaschine nach New York fliegen sollten. Alles schien ihr immer noch so fremd und ungewohnt, und trotzdem spürte sie mit jedem Schritt, dass ihr Selbstvertrauen wuchs.

In den letzten Stunden hatte sie überhaupt keine Zeit gehabt, über ihre Situation nachzudenken. Weder darüber, wie es mit Gordon’s Capes & Plates nach ihrer Rückkehr weitergehen sollte, noch darüber, ob die Frau auf dem Foto, das sie in Nicks Schreibtisch gefunden hatte, wirklich Maurizios Cousine war.

Sie war viel zu abgelenkt gewesen, denn auf der Mailänder Messe war es zugegangen wie in einem Taubenschlag. Hunderte von aufwendig dekorierten Stoffständen, die sich in ihrer Farbenpracht gegenseitig Konkurrenz machten, reihten sich schier endlos aneinander. Zudem brummte ihr auch jetzt noch der Kopf von den vielen Gesprächen mit potenziellen Kunden und dem Stimmengewirr, das in der riesigen Halle in der Luft lag wie das unermüdliche Zwitschern einer riesigen Vogelschar. Und an ihre schmerzenden Füße wollte sie gar nicht denken.

Doch die größte Ablenkung an diesem Tag war eindeutig Maurizio gewesen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch hatte sie beobachten können, dass er zu den wohl erfolgreichsten und attraktivsten Männern Italiens gehörte. Das bewiesen die respektvollen Gesten gestandener Geschäftsmänner Maurizio gegenüber ebenso wie die perfekt geschminkten Augen gestylter Sales-Managerinnen, die beim Anblick Maurizios hell aufblitzten.

„Im Flugzeug wird es wärmer sein“, riss Maurizios Stimme sie aus ihren Gedanken. „Du solltest dir besser angewöhnen, richtige Jacken zu tragen.“ Maurizio wusste nicht, warum sein Ton so schroff und vorwurfsvoll klang. Es gefiel ihm doch, wie sie ihre Kaschmirstolas trug, wie sie den fließenden Stoff um ihren Hals warf oder vor ihrem Dekolleté zusammenzog. Es hatte etwas sehr Feminines, und er konnte nicht genug davon bekommen zu sehen, wie ihr langes rotes Haar auf die anschmiegsame Kaschmirwolle fiel.

Heute auf der Messe hatten sogar einige Kunden nach diesen fein gewebten breiten Schals gefragt, dabei sollte Faye ihn ja nun weiß Gott nicht als Werbe-Model begleiten, sondern als seine Assistentin.

„Ich liebe meine Kaschmirplaids“, erwiderte sie trotzig und konnte den beleidigten Unterton nicht vermeiden. Sie hatte heute wirklich ihr Bestes gegeben, und obwohl sie von wirtschaftlichen Zusammenhängen nicht die Spur einer Ahnung hatte, wusste sie doch enorm viel über die Qualität und Beschaffenheit von Kaschmir. Damit hatte sie sogar einige Einkäufer beeindruckt. „Einem eurer Großkunden aus Schweden gefiel es übrigens auch“, schob sie deshalb triumphierend nach, während sie sich bemühte, mit Maurizio Schritt zu halten, der durch den Flughafen eilte.

„Er hatte wohl eher Interesse an dir als an dem Cape“, brummte Maurizio vor sich hin und wurde noch schneller. Mit ihrer bescheidenen und doch selbstsicheren Haltung hatte sie seine Geschäftspartner und potenziellen Käufer beeindruckt, das war offensichtlich gewesen. Warum ihn das ärgerte, wusste er selbst nicht, und er musste zugeben, dass sein Verhalten geradezu kindisch wirkte. Aber diese Frau war nun mal in sein Leben geplatzt und hatte seinen gleichförmigen, stets reibungslos funktionierenden Tagesablauf auf eine sonderbare Art ins Trudeln gebracht, und wenn es etwas gab, was er sich zurzeit in seinem Leben nicht wünschte, dann waren es unkalkulierbare Veränderungen.

„Wenn du nicht endlich langsamer gehst, musst du dir eine andere Assistentin für New York suchen“, empörte sich Faye plötzlich, blieb stehen und zog sich den linken Ballerina-Schuh aus. Im Laufe des Nachmittags hatte sich eine große Blase an ihrer Ferse gebildet, und der Druck war nicht mehr auszuhalten. Sie hatte einfach die falschen Schuhe angezogen für einen anstrengenden Messetag, und ihre Füße brannten wie Feuer. „Ich dachte, wir fliegen mit einem Privatjet, der wird doch sicher auf uns warten können, oder?“

Certo, sicher, dennoch gibt es in Mailand ein Nachtflugverbot, das auch für Privatmaschinen gilt.“ Er warf einen Blick auf ihren schmalen Fuß, schluckte und sah dann auf seine Uhr. „Wir haben noch exakt fünfzehn Minuten. Meinst du, es wäre dir möglich, dich in dieser Zeit noch bis zur und durch die Gangway zu bewegen, oder soll ich dich tragen?“

Maurizio schüttelte über sich selbst den Kopf. War er jetzt von allen guten Geistern verlassen, warum war er so ungeduldig? Schließlich war Faye seine letzte Rettung gewesen.

Sicher, der Tag heute war auch für ihn anstrengend gewesen, mit dem Unterschied, dass er derartige Marathonveranstaltungen gewohnt war. Und obwohl ihre Familie dem Unternehmen Geld schuldete, hätte sie nicht zustimmen müssen, ihn nach Amerika zu begleiten. Aber er hatte sie unter Druck gesetzt und ihr das Gefühl gegeben, nicht ablehnen zu können … weil er gewollt hatte, dass sie ihn begleitete. Sich derartig von einem Bedürfnis leiten zu lassen, verärgerte ihn, nur aus diesem Grund war er ihr gegenüber so ungehalten.

Er beschleunigte seinen Schritt wieder, es wurde wirklich Zeit, dass er Stephanie wiedersah. Morgen würde er ihr im Rainbow Room einen angemessenen Heiratsantrag machen. Dann würden sie die Nacht miteinander verbringen und seine Hormone würden wieder ins Lot gebracht. Endlich …

„Nein danke, das ist nicht nötig. Ein heißer Tee an Bord reicht mir völlig“, erwiderte Faye trocken und zog ihren Schuh wieder an.

„Den bekommst du. Und unsere Stewardess wird sicher etwas für deine Füße haben“, erklärte er und nahm sie beim Arm. Wieder durchfuhr es ihn wie ein Schlag, als er spürte, dass sie seinen festen Griff für einen Moment erwiderte. Oder bildete er sich das nur ein, und sie packte ihn so fest am Unterarm, weil sie tatsächlich Schmerzen beim Laufen hatte? Sein Handy piepte, und ein Blick darauf beendete seine Spekulationen. Sein Pilot erinnerte ihn an das Nachtflugverbot, wie unnötig!

Noch nie war Faye so besitzergreifend von einem Mann angefasst worden wie von Maurizio. Jede seiner Berührungen wirkte auf sie wie die pure Herausforderung, sich von ihm abwenden zu müssen. Dabei flackerte gleichzeitig der Wunsch in ihr auf, dass er sie noch enger an sich ziehen würde. Glücklicherweise erreichten sie schon bald die imposante Jet-Tür, hinter der sie von einer schlanken Flugbegleiterin in einem hellblauen Kostüm begrüßt wurden.

Im nächsten Moment vergaß Faye ihre brennenden Füße und holte tief Luft. Das Interieur dieses Jets war einfach unglaublich. Obwohl es sich um einen kleinen Privatjet handelte, wirkte der schmale schlauchförmige Raum riesig. Hier standen natürlich keine simplen Sitzreihen mit ausklappbaren Tischen, sondern vor beiden Fensterseiten befand sich eine helle Wohnlandschaft mit pinkfarbenen Kissen, die mit ihren bunten Mustern an die siebziger Jahre erinnerten. Davor verteilten sich cremeweiße Clubsessel und kleine Tische in einem kräftigen Orange.

„Oh mein Gott, das ist ja unglaublich“, kam es Faye fasziniert über die Lippen, während Maurizio bereits Platz nahm und seine Unterlagen sortierte. Erstaunt sah er sie an, und als er ihren entgeisterten Blick sah, legte sich ein Lächeln auf seine Lippen.

„Gefällt dir die Einrichtung?“

„Gefallen? Es ist umwerfend. Wie in einem frühen James-Bond-Film mit Sean Connery“, erwiderte Faye und strich mit den Fingern über die weichen Nicky-Bezüge der Kissen.

Maurizio lachte, ihm gefiel ihre offene und natürliche Art. Eine andere Frau hätte sich ihre Begeisterung vielleicht nicht anmerken lassen. Er dachte an Stephanies Worte, als sie den Jet zum ersten Mal betreten hatte, was für ein Gegensatz! Seine Verlobte bevorzugte Gold und Chrom ebenso wie Glas, die orangen Plastiktische fand sie einfach nur stillos …

„Das ist das Werk meiner Schwester, sie ist Innenarchitektin mit einer unstillbaren Leidenschaft für die Siebziger“, bemerkte Maurizio und nahm eine schmale Lesebrille aus einem Etui.

Faye sah ihn fragend an. „Arbeitest du jetzt etwa noch? Nach so einem Tag?“

„Selbstverständlich. Ich muss noch einiges vorbereiten. Die Mailänder Stoff- und Deko-Messe ist nichts im Vergleich zu dem, was uns in New York erwartet.“ Als er ihren entsetzten Blick sah, musste er erneut lächeln. „Keine Sorge. Meine Assistentin hat eine Mappe vorbereitet, in der die wichtigsten Kunden aufgelistet sind. Vor allem jene, die wir neu akquirieren wollen. Wenn du jetzt etwas schlafen willst, kannst du sie später zum Frühstück durchsehen.“ Mit diesen Worten drückte er ihr eine rote Ledermappe in die Hand, setzte seine Brille auf und klappte einen hauchdünnen Laptop auf, um sich kurz darauf in Zahlentabellen und Berichte zu vertiefen.

Faye ließ sich ihm gegenüber in die Sitzgarnitur fallen und genoss für einen Moment die Entspannung. Dann zog sie ihre Ballerinas aus. Die Füße auf einen der Plexiglas-Hocker zu legen traute sie sich dann allerdings doch nicht.

Als die Stewardess ihr eine flache hübsche Dose mit einer wunderbar nach Limetten und Ingwer duftenden Creme sowie ein Handtuch reichte, sah sie nur verwirrt auf. In diesem Ambiente würde sie ganz bestimmt keine Fußpflege betreiben. Unauffällig sah sie zu Maurizio hinüber. Ihre Reaktion war ihm nicht entgangen, und er warf ihr über seinen Brillenrand hinweg einen amüsierten Blick zu.

„An deiner Stelle würde ich das Angebot annehmen. Wir werden morgen den ganzen Tag auf den Beinen sein, also nimm dir die Entspannung, die du und deine Füße brauchen, d’accordo? Als meine Assistentin musst du schließlich in Form sein.“

Faye nickte ergeben und zog ihren zweiten Ballerina aus. Das war das Höchste der Gefühle, mehr würde sie auf keinen Fall tun. Hastig griff sie nach der Mappe, um geschäftig darin zu blättern. Besser vollkommen erschöpft Informationen über Kunden lesen, als sich vor seinen Augen die Füße einzucremen.

Dem Himmel sei Dank, wir starten, dachte Faye erleichtert. Sie hörte die immer lauter werdenden Turbinen, die den Jet in die Nacht hinaustragen würden, vernahm die Aufforderung der Stewardess, den Gurt anzulegen, und spürte kurz darauf, wie sie beim Beschleunigen in den Sessel gedrückt wurde. Um meine Füße werde ich mich im Hotel kümmern, dachte sie, dann widmete sie sich den Portfolios.

„Du hörst nicht gerne auf Ratschläge anderer, nicht wahr?“, fragte Maurizio und setzte sich vor sie auf einen der ausladenden drehbaren Clubsessel.

Wie sollte sie ihm erklären, dass sie ihr ganzes bisheriges Leben immer nur auf den Rat anderer gehört hatte, auf Ärzte, auf ihren Vater und zuletzt auf die verlogenen Ratschläge von Nick … Sofort tobte in ihr wieder das schlechte Gewissen, dass sie von ihrem erst kürzlich verstorbenen Ehemann so schlecht dachte. Außerdem war es ihr schon den ganzen Tag lang unangenehmen, welche Gefühle Maurizio in ihr wachrief. Sie musste ja nicht unbedingt die trauernde Witwe spielen, aber der Anstand gebot es doch, sich nicht dem Nächstbesten an den Hals zu werfen, dazu noch einem Mann, den sie kaum ein paar Tage kannte.

„Sagen wir mal, ich ziehe es vor, meine eigenen Entscheidungen zu treffen“, erwiderte sie und hoffte, dass er die leichte Röte übersah, die plötzlich ihre Wangen färbte. Aber war es nicht auch ihre eigene Entscheidung gewesen, nach Italien zu fliegen? Sie war halt eine Spätzünderin, was das Thema Selbstständigkeit anging, und auch wenn es sich ungewohnt anfühlte, sich nicht durch eine andere Person in ihren Handlungen abzusichern, merkte sie schon jetzt, wie sehr es ihr gefiel, Entscheidungen zu treffen, ohne dass sich jemand einmischte.

„Diese Einstellung gefällt mir“, sagte Maurizio.

„Ich will nicht behaupten, dass ich immer alles selbst entschieden habe, aber ich finde, man fühlt sich besser. Natürlich kann ich niemandem die Schuld geben, wenn etwas schiefläuft“, erklärte Faye und wunderte sich über ihre plötzliche Redseligkeit.

„Und wenn jemand anderes es besser weiß, wie entscheidest du dann?“, wollte Maurizio wissen.

„Das kommt darauf an, aber ich mache lieber meine eigenen Erfahrungen, als vor lauter Ratschlägen überhaupt nicht zu leben …“ Hatte sie das wirklich gerade gesagt?

„Das sehe ich genauso. Aber erzähl das mal meiner Familie. Seit Jahren versuchen sie, mich vom Paragliding abzubringen. Aber ich brauche einfach den Adrenalinschub“, erklärte er, beugte sich vor und griff wie nebenbei nach ihrem linken Fuß, öffnete den Cremetiegel, nahm einen Klecks der kühlen Creme und verteilte sie mit starken Händen auf ihrer Haut. Am liebsten wäre sie sofort aufgesprungen, so entsetzt war sie über sein entschlossenes Handeln.

Doch gleichzeitig merkte sie, dass ihr beinahe die Luft wegblieb, und ihr Herz schien unendlich laut zu pochen. Eine nie gekannte Hitze drang von ihren Füßen ihre Beine hinauf und strahlte bis in die Wirbelsäule hinein. Und obwohl ihr klar, dass es vernünftiger wäre, ihm ihre Füße zu entziehen, konnte sie nicht anders, als regungslos sitzen zu bleiben, sich auf die Unterlippe zu beißen und sich zu bemühen, nicht genießerisch zu seufzen.

„Es ist die Gefahr, die das Leben in solchen Momenten so besonders macht“, fuhr Maurizio fort und massierte ihren Fuß mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte er das schon hundert Mal gemacht.

Und so empfand er es tatsächlich. Vielleicht lag es immer noch daran, dass er geglaubt hatte, Sandras Freundin Ann vor sich zu haben … aber wenn er ehrlich war, wusste er, dass es an der ungeheuren Anziehungskraft lag, die Faye auf ihn ausübte.

Mit ihr war alles so selbstverständlich, und trotzdem reizte sie ihn mit ihrer etwas spröden Art, hinter der sie ihre Unsicherheit zu verbergen suchte. Er fand es hinreißend, wie sie vorgab, stark zu sein, wusste aber gleichzeitig, dass er sie nicht unterschätzen durfte. Es war ein ständiges Wechselspiel, auf das er sich gerne einließ.

Nachdem er ihr auch den linken Fuß eingecremt hatte, wickelte er ihre Füße in ein flauschiges Handtuch, nahm ihre Beine und legte sie auf einen breiten Hocker.

„Nun wirst du morgen keine Beschwerden mehr haben. Ein altes Geheimrezept meiner Mutter. Am besten du schläfst jetzt“, sagte er bestimmend, nahm ihr die Mappe aus den Händen, an der sie sich während seiner Massage festgehalten hatte, und setzte sich wieder in seinen Sessel.

Er hatte sich beherrschen müssen, ihr nicht noch einen Kuss auf ihren kirschroten Mund zu geben. Nur der Gedanke an Stephanie hatte ihn davon abgehalten. Es wurde wirklich Zeit, dass sie sich wiedersahen … allerhöchste Zeit!

Sie hatten mittlerweile ihre Flughöhe erreicht, und Faye war von Maurizios Berührungen immer noch wie verzaubert. Durch seinen lockeren Plauderton hatte die Situation etwas Normales bekommen, und da er sie kein einziges Mal zweideutig angesehen hatte, war es ihr bald möglich gewesen, sich ein wenig zu entspannen.

Obwohl sie immer noch ein intensives Kribbeln in ihren Füßen verspürte, hatte die Massage tatsächlich eine wohltuende Wirkung auf ihren ganzen Körper. Ihre Augenlider wurden schwer und kurz darauf befand sie sich in einem dämmrigen Schwebezustand, in dem sich Bilder von Maurizio in ihre Vorstellung schoben … Maurizio, der seine Berührungen langsam auf ihren ganzen Körper ausdehnte …

Als ihr bewusst wurde, was sie sich da gerade erträumte, schreckte sie abrupt aus ihrem Halbschlaf auf. Ein Blick genügte, um zu sehen, dass Maurizio immer noch arbeitete. Jedenfalls konnte sie so sicher sein, dass er in ausreichender Entfernung zu ihr saß, und das war ihr in diesem Moment wichtiger als alles andere.

„Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich bei Ihnen noch ein einziges Mal Kaschmir bestelle?“, empörte sich der blonde Mittvierziger mit skandinavischem Akzent. „Die Qualität ist bei der letzten Lieferung erneut abgefallen.“

„Signor Johannsson, es muss sich um ein Missverständnis handeln. Wir beziehen nur feinste und hochwertigste Kaschmirwolle aus Pakistan und Indien, und das seit Jahrzehnten, das müssten Sie als einer unserer treuesten Großkunden doch wissen.“ Maurizio konnte sich nicht erklären, wie sein langjähriger Kunde aus Schweden seine Ware derart niedermachen konnte.

„Das war einmal, Mr. Stesso! Jetzt verfolgt mich eher der Eindruck, dass Sie Ihre Wolle aus China beziehen. Jedenfalls die Ballen, die Sie uns nach Stockholm geschickt haben.“ Mit diesen Worten drehte Johannsson sich um und kehrte dem eleganten Stesso-Messestand den Rücken.

Maurizios Laune sank unter den Nullpunkt, das war bereits der zweite Kunde, der weitere Aufträge stornierte. Er hatte keine andere Wahl, er musste das komplette Einkaufs- und Vertriebssystem überprüfen. Besorgt raufte er sich mit seiner schlanken Hand durch das dichte dunkle Haar und sah zu Faye hinüber.

Sie stand in ihrem smaragdgrünen Seidenkostüm, das er ihr in Mailand hatte besorgen lassen, und in beigefarbenen Wildlederpumps an einem der Stehtische und sah mit ihrem hochgesteckten roten Locken einfach hinreißend aus. Die Farbe des Kostüms und ihrer Haare, dazu ihre gertenschlanke Figur ließen sie wie eine Waldelfe wirken.

Doch dass diese Waldelfe sich gerade in einem offensichtlich angeregten Gespräch mit einem perfekt gekleideten Mann befand, gefiel ihm ganz und gar nicht. Jetzt verabschiedete er sich sogar mit einem Küsschen rechts und links auf ihre Wange. Was fiel ihm ein? Woher kannte sie diesen Kerl? Er würde Faye dringend erklären müssen, dass es in der Firma Stesso nicht üblich war, Vertraulichkeiten mit Kunden auszutauschen.

Doch dazu kam es nicht, denn als er sah, wie sie sich zu ihm umdrehte und sich ein strahlendes Lächeln auf ihre fein geschwungenen Lippen legte, war er von ihrer Ausstrahlung wie geblendet. Ein heftiges Ziehen in seinem Unterleib verärgerte ihn nur noch mehr …

„Maurizio, das war Toni Seer aus Wien. Er hat gerade zweihundert Ballen Kaschmir geordert, ist das nicht fabelhaft?“, erzählte Faye aufgeregt.

„Ich habe ihn noch nie auf einer Kaschmirmesse gesehen“, erwiderte Maurizio statt einer Antwort, doch es gelang ihm nicht, ihre Begeisterung zu bremsen.

„Toni kommt eigentlich aus der Sportbranche“, fuhr sie voller Eifer fort. „Er stellt Snowboards her und eröffnet diesen Winter ein riesiges Hotel-Resort in einem österreichischen Skigebiet. Er möchte jedes einzelne Apartment mit Kaschmirdecken ausstatten und wollte es sich nicht nehmen lassen, die Stoffe dafür selbst auszusuchen.“

Autor

Jessica Gilmore
Jessica Gilmore hat in ihrem Leben schon die verschiedensten Jobs ausgeübt. Sie war zum Beispiel als Au Pair, Bücherverkäuferin und Marketing Managerin tätig und arbeitet inzwischen in einer Umweltorganisation in York, England. Hier lebt sie mit ihrem Ehemann, ihrer gemeinsamen Tochter und dem kuschligen Hund – Letzteren können die beiden...
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