Romana Extra Band 60

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ZÄRTLICHE NÄCHTE AUF IBIZA von TAYLOR, ANNE
Ein schwieriger Auftrag bringt die hübsche Sarah nach Ibiza: Sie soll den Maler Ben Adams überzeugen, endlich seine Bilder fertig zu stellen. Warum hat sie niemand gewarnt, wie sexy und leidenschaftlich Ben ist? Und wie schrecklich unwillig, sein Herz zu verschenken?

AMORE FÜR IMMER von WINTERS, REBECCA
Auf dem eleganten Anwesen am Comer See kümmert Julie sich um Massimo di Rocches kleinen Neffen - und glaubt sich im siebten Himmel, als der Italiener sie überraschend heiß küsst. Aber seine intrigante Familie setzt alles daran, dass sie so schnell wie möglich ihre Sachen packt …

WENN DIE LEIDENSCHAFT NEU ERWACHT von MORTIMER, CAROLE
Wo sie von Liebe spricht, meint er nur Lust. Sie wünscht sich Kinder, er nicht … Neun Monate nach der Traumhochzeit in Las Vegas scheint alles vorbei zwischen Kenzie und dem Milliardär Dominick. Kann ein romantisches Wochenende die Liebe noch einmal zum Leben erwecken?

EIN MILLIARDÄR ZUM KÜSSEN von ASHTON, LEAH
Milas zärtliche Gefühle für Sebastian waren ihr größtes Geheimnis. Schließlich war ihr Traummann mit ihrer besten Freundin verheiratet. Aber jetzt ist der Milliardär wieder allein. Das Schicksal gibt Mila eine zweite Chance! Sie muss sich nur trauen, sie zu ergreifen …


  • Erscheinungstag 04.10.2017
  • Bandnummer 0060
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744021
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anne Taylor, Rebecca Winters, Carole Mortimer, Leah Ashton

ROMANA EXTRA BAND 60

ANNE TAYLOR

Zärtliche Nächte auf Ibiza

Ben hat nicht die Absicht, seine Villa auf Ibiza mit ir-gendwem zu teilen – bis eine hinreißende junge Frau vor der Tür steht. Ihr zauberhaftes Lächeln gefährdet seine selbstgewählte Einsamkeit …

REBECCA WINTERS

Amore für immer

Massimo weiß, was seine Familie von ihm erwartet: Hochzeit mit einer standesgemäßen Frau aus reicher italienischer Familie. Keineswegs ist dabei die Rede von seiner Liebe zu Julie, dem Kindermädchen seines Neffen …

CAROLE MORTIMER

Wenn die Leidenschaft neu erwacht

Als Kenzie ihren Ex bittet, sie vor der Scheidung noch einmal zu einem Familienfest zu begleiten, verlangt Dominick eine Gegenleistung: ein gemeinsames Wochenende. Gibt es noch eine Chance für ihre Liebe?

LEAH ASHTON

Ein Milliardär zum Küssen

Jeden Gedanken an die schöne Mila verbietet sich der verheiratete Seb. Aber dann schlägt das Schicksal er-barmungslos zu, und als die Trauer vorbei ist, scheint ein zweites Glück möglich …

1. KAPITEL

Erschrocken blieb Sarah Burton stehen. Beim Betreten der Galerie „Ventham’s“ stand sie unvermutet Ben Adams Auge in Auge gegenüber.

Natürlich nicht dem berühmten Maler selbst, sondern einer lebensgroßen Fotografie von ihm, die im Eingangsbereich der Galerie angebracht war. Die Besucher der Galerie sollten damit auf eine geplante Ausstellung von ihm eingestimmt werden.

Aber irgendetwas an dem Portrait zog Sarah in seinen Bann, auch wenn sie nicht sagen konnte, was es war. Natürlich hatte sie schon von Ben Adams gehört. Er war in der internationalen Kunstszene der neue Star, dessen Bilder auf Auktionen diesseits und jenseits des Atlantiks regelmäßig Höchstpreise erzielten. Und nach Mr. Venthams Anruf hatte sie den Namen natürlich sofort gegoogelt. Schließlich wollte sie wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Es entsprach nicht Sarahs Art, unvorbereitet zu einem Termin zu erscheinen.

Das, was sie aus den diversen Beiträgen über Ben Adams erfahren hatte, sprach nicht gerade für ihn, auch wenn die Berichte sehr zurückhaltend formuliert waren. Es ließ sich allerdings auch einiges zwischen den Zeilen herauslesen. Von einem „hochsensiblen Genie“ war da die Rede, dessen „kühne und radikale Pinselführung“ einen „verstörenden Blick auf die Welt und das Wesen des Menschen“ warf. Sarah verstand nicht viel von diesen Interpretationen. Ihr erschienen Adams’ Bilder monumental und maßlos, so wie es auch seinem Charakter zu entsprechen schien.

Bei seinen Gemälden handelte es sich meistens um riesige Leinwände, die vorzugsweise in den Farben rot, schwarz und gelb gehalten waren, mit grob umrissenen Formen, die entfernt menschlichen Körpern ähnelten, allerdings grotesk verrenkt und missgebildet. Die Gemälde hatten etwas Verstörendes an sich, aber das war wohl so beabsichtigt.

Und auch Adams’ Foto verstörte Sarah auf eine merkwürdige, sehr körperliche Weise. Ihr war bewusst, dass ihr Herzschlag sich unter dem Blick seiner dunklen Augen beschleunigt hatte.

Das Bild zeigte Adams in lässiger Pose an eine Wand gelehnt, in zerrissenen Jeans, die Hände in den Taschen einer abgewetzten Lederjacke vergraben. Es kam Sarah so vor, als würde er sie direkt ansehen. Ein merkwürdiger Ausdruck lag in seinem Blick – drohend, abschätzig, belustigt. Sie konnte nicht genau sagen, was es war. Seine Lippen in dem schmalen, kantigen Gesicht waren zu einem leichten Lächeln verzogen, so als würde er sich über die Unruhe, die er in ihr hervorrief, amüsieren.

„Ziemlich heißer Typ, oder?“, flüsterte plötzlich eine Stimme an ihrem Ohr. Sarah wirbelte herum.

„Fiona!“

Fiona Denning umarmte sie. „Sarah! Wie schön, dich wiederzusehen! Das ist ja eine Ewigkeit her. Zehn Jahre, oder irre ich mich? Du hast dich kein bisschen verändert.“

Das sollte wohl heißen, dass sie immer noch so langweilig und unscheinbar wie früher war, konstatierte Sarah trocken für sich. Auch Fiona war noch ganz die Alte: laut, sexy und auffallend. Allerdings war es mit ihrer Fülle von rotblonden Locken, den langen Beinen und der üppigen Oberweite nicht allzu schwierig, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Fiona hakte sich vertraulich bei Sarah unter und führte sie durch die Galerie. „Ventham’s“ war eine der renommiertesten Kunsthandlungen von London. Gemälde in Millionenhöhe, von Picasso bis Warhol, säumten ihren Weg.

„Ich bin ja so froh, dass du Zeit hast, diesen Auftrag zu übernehmen, Sarah.“ Fionas Stimme senkte sich zu einem vertraulichen Flüstern. „Mr. Ventham ist kurz davor, durchzudrehen. Dieser Adams macht ihn wahnsinnig. Ich hätte ja angeboten, selbst nach Ibiza zu fliegen, aber Mr. Ventham meinte, ich wäre nicht die Richtige für diese Aufgabe. Er hat wohl Angst, Adams könnte sich in mich verlieben.“

Fiona lachte selbstgefällig. Nein, sie hatte sich wirklich nicht geändert seit der Zeit, als sie beide zusammen das Wirtschaftskolleg besucht hatten. Sie war immer noch völlig eingebildet und von sich selbst überzeugt. Und offensichtlich verstand sie es nach wie vor, jeden Mann um den Finger zu wickeln. Wie sonst ließ sich erklären, dass sie in einer derart angesehenen Galerie arbeitete, obwohl ihre schulischen Leistungen nicht gerade berauschend gewesen waren. Dazu trug sie absolut unpassend für diese Stellung einen super kurzen, knappen Minirock und schwarze Overknee-Stiefel mit schwindelerregenden Bleistiftabsätzen.

Sarah war wie gewohnt in einen schlichten blauen Hosenanzug und flache Pumps gekleidet, obwohl ein kleiner Absatz bei ihrer Größe von eins zweiundsechzig nicht geschadet hätte. Doch wenn sie den ganzen Tag auf den Beinen war, ließ sich das nur in flachen Schuhen aushalten.

Und dass sie bei Männern kaum begehrliche Blicke auslöste, ob mit oder ohne Absatz, war Sarah gewöhnt. Sie war eigentlich recht hübsch, mit sanft gewellten, brünetten Haaren, die ihr ovales Gesicht umrahmten, und mit großen, ausdrucksstarken braunen Augen. Auch ihre Figur konnte sich durchaus sehen lassen. Sarah war schlank und zierlich, mit weichen, wenn auch nicht übermäßigen Rundungen an den richtigen Stellen.

Doch Sarah legte keinen Wert darauf, ihre körperlichen Vorzüge durch sexy Kleidung oder Make-up zu betonen. Ihre Naturwellen bearbeitete sie jeden Morgen so lange mit dem Glätteisen, bis sie zu einem schnurgeraden Bob gebändigt waren, und außer mit etwas schwarzer Mascara und einem farblosen Lipgloss schminkte sie sich kaum. Von frühester Jugend an war ihr eingebläut worden, unauffällig aufzutreten.

„Ich habe Mr. Ventham erzählt, was du bei Roger Chapman zustande gebracht hast, und er meinte, das wäre genau das, was er sucht“, plauderte Fiona ungezwungen weiter.

Sarah starrte sie einen Augenblick verständnislos an, bis ihr wieder einfiel, wovon Fiona redete. Roger Chapman war ein Mitschüler am Kolleg gewesen, ein ziemlich nachlässiger, renitenter Bursche, der damals kurz davorstand, hinausgeworfen zu werden. Also hatte Sarah sich bereit erklärt, ihm Nachhilfestunden zu geben und es damit tatsächlich geschafft, ihn durch das Studium zu schleusen. Sie hatte es aus Mitleid getan („Barmherzigkeit“, wie ihr Vater sagen würde). Roger sollte eine faire Chance haben, es im Leben zu etwas zu bringen. Das erschien ihr nur gerecht.

Aber es gab noch einen anderen Grund, warum sie ihn unterstützt hatte. Einen Grund, den sie sich selbst nur vage eingestand. Rogers rebellische Art, seine Auflehnung gegen jede Form von Bevormundung, hatte etwas in ihr berührt. Eine Seite von ihr, die für gewöhnlich im Verborgenen blieb.

„So, da wären wir“, unterbrach Fiona ihre Gedanken. Sie klopfte an eine Tür mit dem Schild „George Ventham, Esq.“. Ohne weiteres Zeremoniell schob sie Sarah in ein großes, gediegen wirkendes Büro.

Ein grauhaariger Mann in Anzug und blaugrüner Clubkrawatte kam hinter dem schweren Mahagonischreibtisch hervor und reichte ihr die Hand. „Miss Burton, ich bin unendlich dankbar, dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten, mich aufzusuchen. Aber wie Miss Denning in ihrem Telefonat schon angedeutet hat, befinde ich mich in einer absoluten Notsituation.“

George Ventham bot Sarah einen Stuhl an. Dann ließ er sich wieder hinter seinem Schreibtisch nieder. Sarah schätzte ihr Gegenüber auf Ende sechzig – ein liebenswürdiger Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Das Büro war mit Antiquitäten und schweren dunklen Möbeln eingerichtet. Über eine Wand erstreckte sich ein Bücherregal, vollgestopft mit Bildbänden und dicken Wälzern in Ledereinbänden. Hinter dem Schreibtisch hing ein Alter Meister, eine biblische Szene über die Vertreibung aus Ägypten. Als Kontrast dazu lag ein aktuelles Buch über Ben Adams aufgeschlagen vor Mr. Ventham.

Auf der einen Seite war eines von Adams’ Gemälden abgedruckt, ein scheinbar wirres Durcheinander von Strichen und Formen. Die Kapitelüberschrift auf der anderen Seite lautete „Genie und Wahnsinn“ – ein sehr treffender Titel, wie Sarah fand.

Mr. Ventham breitete in einer entschuldigenden Geste die Hände aus. „Ich habe natürlich Erkundigungen über Sie eingezogen, Miss Burton, nachdem Miss Denning Sie mir empfohlen hatte. Ich hoffe, Sie verstehen das. Andrew lobte Sie in den höchsten Tönen. Er meinte, ich könnte keine bessere Mitarbeiterin finden als Sie.“

Bei der Erwähnung von Sir Andrew Richardsons Namen huschte ein Lächeln über Sarahs Gesicht. Sieben Jahre lang hatte sie als persönliche Assistentin für den bekannten Londoner Industriellen gearbeitet und sich immer in ihrer Stellung wohlgefühlt. Doch nach dem Tod ihres Verlobten war es ihr einfach nicht mehr möglich gewesen, noch länger zu bleiben. Der Unfall von John hatte alles für sie verändert…

Entschlossen drängte Sarah die Bilder der Vergangenheit, die nun in ihr aufstiegen, zurück. Es war genau das: Vergangenheit. Und sie musste endlich aufhören, in ihren Erinnerungen zu leben und sich dem Leben, das jetzt vor ihr lag, stellen.

„Sie verstehen, Miss Burton, dass mein Anliegen sehr heikler Natur ist“, fuhr Mr. Ventham mit gesenkter Stimme fort. „Ben Adams ist – wie soll ich sagen – etwas … schwierig. Er ist ein begnadeter Künstler, darüber besteht gar kein Zweifel. Der begabteste junge Maler, dem ich jemals begegnet bin.“

Mr. Ventham lächelte bei dem Gedanken. „Ich begegnete ihm zu ersten Mal in einer Londoner U-Bahn-Station. Zu dieser Zeit lebte er quasi auf der Straße, obwohl er eigentlich aus einem begüterten Elternhaus stammt. Aber es gab wohl irgendeinen Konflikt mit seinem Vater, über den er allerdings nie sprach. Jedenfalls sprayte er eine exakte Kopie von Da Vincis Mona Lisa an die Wand der U-Bahn-Station, ohne jede Vorlage. Und dann verpasste er ihr einen Schnurrbart.“

„Er scheint Humor zu besitzen“, meinte Sarah.

„Oh ja, das tut er. Aber er hat eben auch seine dunklen Seiten. Ein etwas unausgeglichenes Temperament, wenn Sie verstehen, was ich meine?“

„Ich glaube, ich kann Ihnen folgen“, sagte Sarah zustimmend. Das Bild, das George Ventham von seinem Schützling zeichnete, deckte sich mit den Zeitungsberichten, die sie gelesen hatte.

„Seit Tagen versuche ich verzweifelt, Ben zu erreichen. Er geht einfach nicht ans Telefon. Das ist zwar nichts Ungewöhnliches bei ihm. Aber wir bereiten gerade eine große Ben-Adams-Ausstellung vor, wie Sie vielleicht den Plakaten in der Galerie entnommen haben. Die umfassendste und umfangreichste Show, die es in London jemals gegeben hat. Ich erhoffe mir davon exzellente Verkaufsergebnisse. Allerdings warte ich immer noch auf mehrere Bilder, die Ben mir für die Ausstellung zugesagt hat und die in den Prospekten auch bereits angekündigt wurden. Und jetzt meldet er sich einfach nicht. Wie stehe ich denn vor meinen Kunden da, Miss Burton?“

Der Galerist sah sie Hilfe suchend an. Sarah nickte. „Ich verstehe.“

„Ich würde ja selbst nach Ibiza fliegen, wo Ben sich zurzeit aufhält, aber ich bin hier in London einfach unabkömmlich. Die Vorbereitungen für die Ausstellung laufen auf Hochtouren, in sechs Wochen ist die Eröffnung.“

„Und was genau erwarten Sie von mir?“, unterbrach Sarah seine weitschweifigen Ausführungen.

Mr. Ventham machte ein verlegenes Gesicht. „Ich möchte, dass Sie nach Ibiza fliegen und dafür sorgen, dass Ben die versprochenen Bilder liefert. Egal, wie Sie das anstellen. Miss Denning meinte, dass Sie genau die Richtige für diese Aufgabe wären. Sie sind anscheinend ein Organisationsgenie und selbstbewusst. Genau das braucht Ben. Eine starke Hand. Und lassen Sie sich nicht von ihm einschüchtern. Er kann manchmal etwas ruppig sein. Aber das meint er nicht so. Er ist einfach impulsiv – wie Künstler eben sind.“

Sarah zögerte einen Augenblick. Sie war nicht restlos überzeugt, ob sie für diese Aufgabe wirklich geeignet war. Ben Adams’ dunkle, ausdrucksstarke Augen, die sie so unverhohlen zu mustern und bis in ihre tiefste Seele zu blicken schienen, fielen ihr wieder ein. Wollte sie diesem Mann tatsächlich begegnen? Andererseits war es nur eine Fotografie, die sie gesehen hatte. Reiß dich zusammen, Sarah, ermahnte sie sich selbst. Du kannst dich nicht ewig verstecken! Die Worte ihres Vaters klangen wieder in ihrem Ohr, unerbittlich, wie ihr schien: „Jeder von uns wird im Leben an den Platz geführt, der ihm vorherbestimmt ist.“

Und im Grunde genommen blieb ihr auch gar nichts anderes übrig. Die letzten zwei Jahre, in denen sie sich ihrer Trauer um John hingegeben hatte, hatten ihre Ersparnisse beinahe aufgebraucht. Außerdem machte es bei Bewerbungen keinen guten Eindruck, so lange arbeitslos gewesen zu sein. Sie musste diesen Job annehmen, ob sie wollte oder nicht.

Sarah gab sich einen Ruck. „Natürlich, Mr. Ventham! Ich werde mein Möglichstes tun, um Ihnen die Bilder zu verschaffen.“

Der Galerist strahlte sie erleichtert an. „Würden Sie das wirklich, Miss Burton? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass Fiona – ich meine, Miss Denning – mir Ihren Namen nannte. Sie sind wohl sehr gute Bekannte? Natürlich hatte sich auch Miss Denning für die Aufgabe angeboten, aber bei allem Respekt für ihre Fähigkeiten ist sie einfach zu – nun ja, zu …“

„Ich verstehe“, unterbrach Sarah ihn, da er offensichtlich um Worte rang. Fiona war alles, was Sarah nicht war, das wollte er wohl damit sagen.

Mr. Ventham wirkte verlegen. „Für diese Aufgabe braucht es einfach … Durchsetzungsvermögen.“

Im Gegensatz zu Sex-Appeal, ergänzte Sarah in Gedanken. „Wann soll ich abreisen?“

„Sofort, wenn möglich. Miss Denning hat bereits für morgen einen Flug gebucht. Oder ist das zu kurzfristig für Sie?“

„Nein, nein. Ich habe hier nichts Wichtiges mehr zu erledigen“, erwiderte Sarah. Und niemanden, der auf mich wartet.

„Wunderbar! Ich hörte schon, dass Sie zurzeit … äh, freiberuflich tätig sind“, meinte Mr. Ventham taktvoll.

Freiberuflich? Nun, so konnte man es auch ausdrücken. Verzweifelt traf ihre berufliche Situation allerdings eher.

Mr. Ventham überreichte ihr diverse Schreiben, Kuverts und Visitenkarten, sowie ein Flugticket mit ausführlichen Reiseunterlagen. „Sie haben völlig freie Hand, wie Sie mit Ben Adams umgehen wollen, Miss Burton. Aber ich brauche diese Bilder unbedingt, und zwar in spätestens fünf Wochen. Hier ist der Name einer spanischen Speditionsfirma, die üblicherweise den Transport erledigt. Und hier ist Bens Adresse. Ich werde ihm Ihr Kommen ankündigen, per E-Mail und SMS. Natürlich verrate ich ihm nicht, was Ihre eigentliche Aufgabe ist. Ich werde sagen, dass ich eine persönliche Assistentin für ihn gefunden hätte, um ihn zu unterstützen. Bei den Unterlagen ist ein entsprechendes Empfehlungsschreiben, das ich mir erlaubt habe, schon im Voraus aufzusetzen.“

Sarah lächelte schwach. Offensichtlich war Fiona gut informiert, wie es um ihre Situation stand. „Natürlich. Ich verstehe.“

Mr. Ventham begleitete sie zur Tür. „Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden, was dieser Verrückte treibt. Und lassen Sie sich nicht von ihm unterkriegen!“

George Venthams Worte klangen noch immer in ihren Ohren, als Sarah keine 24 Stunden später in einer British-Airways-Maschine Richtung Ibiza unterwegs war. Sie fragte sich, ob es wirklich klug von ihr gewesen war, diesen Auftrag anzunehmen.

Sich dem Leben zu stellen, war eine Sache. Es mit Ben Adams aufzunehmen, offensichtlich eine ganz andere. Was sie seit dem letzten Tag noch in den Klatschspalten über den exzentrischen Maler gelesen hatte, überstieg ihre schlimmsten Befürchtungen. Er hatte den Ruf eines ruppigen, ungehobelten Zeitgenossen, der nur tat, wozu er gerade Lust hatte. Journalisten pflegte er anzupöbeln oder mitten im Gespräch einfach stehen zu lassen. Die alkohol- und sexgeschwängerten Partys in seiner Villa auf Ibiza waren legendär. Dass er mit siebenunddreißig noch unverheiratet war, ließ sich wohl nur darauf zurückführen, dass keine Frau es länger als zwei oder drei Monate mit ihm aushielt. Und umgekehrt. Und ausgerechnet Sarah sollte diesen Berserker bändigen!

Nachdenklich zog Sarah ein kleines, in graues Leder gebundenes Buch aus ihrer Handtasche. Es war ihr Tagebuch, das sie führte, seit sie ein Teenager war. Alles, was sie bewegte, vertraute sie Abend für Abend seinen weißen Seiten an. An der Innenseite des Einbands steckte immer noch Johns Foto. Es war abgegriffen und begann, allmählich zu verblassen. So wie die Erinnerung an ihn mehr und mehr verschwand. Doch der Schmerz über seinen Verlust steckte immer noch wie ein Messer in ihrem Herzen.

„Ach, John“, flüsterte Sarah lautlos. „Warum hast du mich allein gelassen?“

Sie erinnerte sich wieder an den grauen, nebelverhangenen Vormittag, als Sir Andrew sie in sein Büro rief. In jenes Büro, in dem sie fünf Jahre zuvor John Carlisle kennengelernt hatte. Einen aufstrebenden jungen Ingenieur, der in Sir Andrews Ölförderfirma arbeitete. Erst waren sie und John nur Kollegen gewesen, doch allmählich wurde daraus eine wachsende Vertrautheit und schließlich Liebe. John versprach, ihr all das zu bieten, wovon sie träumte: ein Zuhause, eine Familie, eine glückliche Zukunft. Sie planten bereits ihre Hochzeit. Doch dazu kam es nicht.

Mit belegter Stimme hatte Sir Andrew ihr mitgeteilt, dass es auf der Ölbohrinsel, auf der John arbeitete, einen Unfall gegeben hatte. Ein Kran war umgestürzt. Sarah hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Sir Andrews Gesichtsausdruck sagte ihr mehr als jedes Wort.

Immer noch traten bei dem Gedanken daran Tränen in ihre Augen, auch noch nach mehr als zwei Jahren. Eine ganze Welt, die sie sich in ihren Träumen mit John aufgebaut hatte, war von einer Sekunde zur anderen zusammengebrochen. Und sogar jetzt saß sie immer noch inmitten der Trümmer und versuchte verzweifelt, sich wieder aufzurappeln.

Der Flieger neigte sich zum Landeanflug. Ibiza tauchte zu Sarahs Rechten auf, ein graugrüner Fleck, wie ein schmutziger Smaragd in einem azurblau schimmernden Meer. Die Außentemperatur betrug um sieben Uhr abends immer noch 28 Grad Celsius, teilte der Kapitän den Fluggästen mit. Sarah wurde klar, dass die langärmelige Seidenbluse unter ihrem grauen Kostüm vielleicht doch nicht die richtige Wahl gewesen war. Aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern.

Als sie das Flughafengebäude verließ, traf die Hitze sie wie ein Schlag. Ihre Bluse war im Nu durchgeschwitzt, ihr strenger Bob begann sich zu kräuseln. Sarah hoffte, dass wenigstens das Taxi klimatisiert sein würde, aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Das Taxi war klein, heiß und laut. Sarah musste Ben Adams’ Anschrift nach vorne schreien, worauf der Fahrer eine dramatische Litanei auf Spanisch vom Stapel ließ, von der sie nur so viel verstand, dass sich die gesuchte Adresse auf der anderen Seite der Insel befand, etwa 25 Kilometer entfernt.

Das schien nicht übertrieben weit zu sein. Aber die Straße wand sich durch eine raue, zerklüftete Landschaft, vorbei an kleinen Ortschaften, einzelnen einsamen Gehöften und endlosen kargen Feldern, sodass es schon dunkel war, als sie endlich ihr Ziel erreichten. Ben Adams’ Villa war bereits von Weitem sichtbar. Sie thronte auf einem Felsvorsprung oberhalb einer steilen Klippe, ein Palast aus Glas und Beton, der, einem Leuchtturm gleich, hell erleuchtet in die Dunkelheit hinaus strahlte. Das Meer dahinter ließ sich nur als schwarze, bedrohliche Masse erahnen.

Ein plötzliches Gefühl der Beklommenheit überkam Sarah. Weit und breit war kein anderes Haus, geschweige denn eine Ortschaft, zu sehen. Sie war ganz allein. Alleine mit diesem Ben Adams, dem sie noch nie in ihrem Leben begegnet war. Und von dem sie nur wusste, dass er entfernte Ähnlichkeit mit dem Teufel persönlich hatte.

Oh, mein Gott, dachte Sarah mit wachsender Verzweiflung. Worauf habe ich mich da nur eingelassen?

Das Taxi war weg. Obwohl sie seit mehr als zehn Minuten klingelte, war im Haus nichts zu hören außer laut hämmernder Rockmusik. Frustriert drückte Sarah die Klinke nach unten und stellte überrascht fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Zögernd trat sie ein.

Sie stellte ihren Koffer im Vorzimmer ab und betrat einen weitläufigen Wohnraum, der im typischen spanischen Finca-Stil eingerichtet war, mit viel Holz, rotbraunen Steinfliesen und farbenfrohen Polstern und Teppichen. Unwillkürlich kam ihr der Lieblingsausdruck ihres Vaters in den Sinn: „Sündenpfuhl“. Obwohl das Ganze auf sie eher einen sinnlich-verspielten Eindruck machte. Aber die Angst vor der „Sünde“ war ihr von frühester Jugend an eingeimpft worden.

In der Mitte des Raumes saß ein junger Mann und starrte angestrengt auf einen großen Flachbildschirm, auf dem ein Videospiel lief. Sarah kramte in ihrer Erinnerung nach den paar Fetzen Spanisch, die sie am Kolleg gelernt hatte. „Perdón! Vive aqui el señor Ben Adams?“

Der junge Mann warf nur einen kurzen Blick, der keinerlei Erstaunen verriet, in ihre Richtung. „Ja, sicher! Kommst du zur Party?“, antwortete er auf Englisch und mit einem deutlichen amerikanischen Akzent.

„Party?“

„Ich bin sicher, heute steigt noch eine Party“, murmelte der Amerikaner, während er weiter an seinem Controller hantierte.

Sarah seufzte. Viel war aus ihm nicht herauszubekommen. „Und wo finde ich Mr. Adams?“

„Ben? Im Atelier, wo denn sonst?“

„Und wo ist das Atelier?“

Der junge Amerikaner machte eine vage Kopfbewegung. „Na, oben. Aber ich würde da lieber nicht raufgehen. Ben mag es nicht, wenn er bei der Arbeit gestört wird.“

Doch Sarah stieg bereits die breite Steintreppe mit dem schmiedeeisernen Geländer hinauf. Wenn Adams arbeitete, war das zumindest ein gutes Zeichen. „Welche Tür?“, rief sie nach unten.

„Zweite rechts.“

Entschlossen ging Sarah auf die Tür zu und trat ohne zu klopfen ein. Doch auch bei ihrer zweiten Konfrontation mit dem Maler prallte sie erschrocken zurück. Ben Adams stand mit dem Rücken zu ihr vor einer lebensgroßen Leinwand, die das vage Bild einer nackten Frau zeigte. Das Modell dazu rekelte sich auf einem Bett an der gegenüberliegenden Wand.

Mit einem breiten Pinsel zog der Maler einen roten Strich quer über das Gemälde. Als sein Arm nach hinten schwang, trafen mehrere dicke rote Farbspritzer Sarah im Gesicht und auf ihrer Bluse.

2. KAPITEL

Überrascht wirbelte Ben herum, als er hinter sich einen leisen Schrei hörte. Dieser Idiot Dennis wusste doch, dass er nicht gestört werden durfte! Aber vor ihm stand nicht Dennis, sondern eine junge Frau mit knallrotem Gesicht. Wo die Farbspritzer aufhörten und die natürliche Röte, die in ihre Wangen geschossen war, anfing, ließ sich nur schwer sagen. Die junge Frau starrte ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Verlegenheit an, die Ben beinahe zum Lachen brachte.

Mit geübtem Blick taxierte er den Neuankömmling: schlank, zierlich – auch wenn sich unter der unförmigen grauen Kostümjacke (wer zum Teufel trug im Hochsommer auf Ibiza eine Kostümjacke?) nicht allzu viel erkennen ließ. Weiches brünettes Haar umrahmte das Gesicht, und ihre Beine waren ausgesprochen wohlgeformt, auch wenn sie durch flache Gesundheitsschuhe und einen lächerlich altmodischen, knielangen grauen Rock verschandelt wurden. Alles in allem war sie nicht unattraktiv. Der Typ scheues Reh, den Mike immer so anziehend gefunden hatte. Der Gedanke an seinen Bruder ließ Bens Züge hart werden.

„Raus“, bellte er die Frau an.

„Mr. Adams, ich bin …“

Wütend schleuderte Ben den Pinsel beiseite. „Jetzt haben Sie es verdorben! Das ist alles Ihre Schuld. So kann ich nicht arbeiten!“

Natürlich stimmte das nicht ganz. Er plagte sich schon seit Tagen mit diesem blöden Bild herum, aber er kam einfach nicht weiter damit. Und Estelle war auch ein lausiges Modell. Aber wenn diese lächerliche Person mit ihrem roten Gesicht und den großen braunen Augen nicht hereingeplatzt wäre, dann hätte er vielleicht …

Kurzentschlossen packte Ben das Bild, hob es über den Kopf und trug es durch die weitgeöffneten französischen Fenster hinaus auf den Balkon. Ohne zu zögern, schleuderte er die Leinwand einfach über das Geländer in die Tiefe.

„Nein“, schrie die junge Frau hinter seinem Rücken. „Sind Sie verrückt geworden? Ich meine …“

Verlegen brach sie ab, als er sich zu ihr umdrehte. Die Röte in ihrem Gesicht vertiefte sich.

„Wer zum Teufel sind Sie überhaupt?“, fuhr Ben sie an, unfreundlicher als er beabsichtigt hatte. Andererseits, warum sollte er nicht unfreundlich sein, wenn sie ihn bei der Arbeit störte? Nur weil sie aussah wie ein kleiner Vogel, der aus seinem Nest gefallen war? Das genügte noch nicht, um Mitleid zu erwarten, und schon gar nicht von ihm.

Die junge Frau schob sich an ihm vorbei zum Balkongeländer und starrte unsicher in die Tiefe. Schäumend schlugen die Wellen gegen die Klippe, auf der das Haus stand. Die tosende Brandung schien sie zu verunsichern. Rasch trat sie einen Schritt zurück und wandte sich ihm zu.

„Mein Name ist Sarah Burton. Hat Mr. Ventham Sie nicht über mein Kommen in Kenntnis gesetzt?“

„Ich lese nie Georges Mails, das weiß er. Was wollen Sie hier?“

Ben ging zurück ins Atelier, und die Engländerin (denn das war sie ihrem Akzent nach) folgte ihm.

„Mr. Ventham schickt mich, Ihnen behilflich zu sein …“

„Wobei?“, unterbrach Ben sie. Seine Lippen verzogen sich zu einem belustigten Grinsen. „Sollen Sie mich abends ins Bett bringen?“

Befriedigt stellte er fest, dass die rote Farbe in ihrem Gesicht sich erneut verstärkte. „Ich brauche kein Kindermädchen. Das letzte hatte ich, als ich …“

„Sechzehn war“, wollte er sagen, aber die Worte kamen nicht über seine Lippen. Als er sechzehn war und Mike fünfzehn, kurz bevor …

„Mr. Ventham meinte, Sie könnten eine Sekretärin brauchen“, redete die Engländerin weiter, aber Ben hörte nur mit halbem Ohr zu. „Die Ihre Termine koordiniert, Ihre Korrespondenz erledigt und Ihre Mails beantwortet.“

Sie betonte das Wort Mails so laut, dass er aus seinen Gedanken gerissen wurde. Beinahe feindselig starrte Ben sie an.

„Und warum sollte ich das wollen?“

Er trat an einen kleinen Tisch, der mit halbleeren Flaschen und Gläsern beladen war, und schenkte sich ein Glas Champagner ein. Champagner hatte immer eine beruhigende Wirkung auf ihn. Zumindest redete er sich das ein. Und es spielte auch nicht wirklich eine Rolle.

„Um Ihren Verpflichtungen Mr. Ventham gegenüber nachzukommen.“

Die Engländerin (Wie war noch mal ihr Name? Sarah irgendwas) trat an seine Seite und sah ihn mit ihrem rot gesprenkelten Gesicht eindringlich an. Eigentlich wirkte sie absolut lächerlich, wenn nicht dieser eigentümlich scheue, verletzliche Ausdruck in ihren braunen Augen gewesen wäre. So als hätte sie Angst davor, ihn anzusehen.

Unerklärlicherweise verspürte Ben das Bedürfnis, sich zu ihr zu beugen und sie zu küssen, seine Hände in ihren Haaren zu vergraben und sie an sich zu ziehen – was kompletter Schwachsinn war. Sie war nicht einmal sein Typ. Er bevorzugte Blondinen mit üppiger Oberweite und endlos langen Beinen. Keine blassen Engländerinnen. Verdammt, alles an ihr erinnerte ihn an England und an ein Zuhause, das es nicht mehr gab!

Ben leerte das Glas Champagner in einem Zug. „Geht es um die verdammten Bilder? Dann sagen Sie George, er bekommt die Bilder, wenn sie fertig sind. Punkt.“

„Aber die Ausstellung …“

„Wenn George unbedingt diese Ausstellung machen will, dann ist das sein Problem, nicht meines“, unterbrach Ben sie ungehalten.

„Aber es ist auch Ihre Ausstellung. Eine Präsentation Ihrer Werke!“

Ihr Blick wurde beinahe flehentlich, wie der eines Rehs, das hilflos in die Scheinwerfer eines heranrasenden Autos starrte. Warum zum Teufel berührte ihn dieser Blick so?

„Und warum sollte mich das interessieren?“, entgegnete Ben schroff, wobei er sich nicht sicher war, ob er damit ihr eine Antwort gab oder sich selbst. Er malte nicht, um anderen zu gefallen. Er malte, um die Bilder, die ihn seit einundzwanzig Jahren verfolgten, aus seinem Kopf zu bekommen.

„Weil …“ Sie suchte verzweifelt nach Worten. „Weil Ihre Arbeit doch ein Ausdruck Ihrer Persönlichkeit ist.“

Das hätte sie nicht sagen sollen. Ben machte einen beinahe drohenden Schritt auf sie zu. „Was wissen Sie schon über meine Persönlichkeit? Denken Sie …?“

„Ben, mir wird langsam kalt. Kann ich mich wieder anziehen?“, hörte er Estelle träge hinter sich murren.

Ben wirbelte herum. „Zieh dich an und verschwinde“, fauchte er die junge Frau auf dem Sofa an.

Dann wandte er sich wieder der Engländerin mit den verschreckten Rehaugen zu, die ihn so ansah, als könnte er sie mit einem Wort von ihrem Leid erlösen. Was wusste sie schon von ihm? Was wusste sie von irgendeinem Leid? „Und Sie auch. Ich brauche keinen Aufpasser!“

Wütend schleuderte er das Champagnerglas in eine Ecke und stürmte aus dem Raum.

Sarah war wie vor den Kopf gestoßen. So hatte sie sich ihr erstes Zusammentreffen mit Ben Adams beim besten Willen nicht vorgestellt.

Nicht nur, dass sie sich lächerlich gemacht hatte, schien sie ihn auch aus irgendeinem Grund gegen sich aufgebracht zu haben. Auch wenn sie nicht sagen konnte, weshalb.

Tränen drohten in ihre Augen zu schießen, die sie verbissen niederkämpfte. Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Sie musste diesen Job durchziehen, koste es, was es wolle. Sie musste beweisen, dass sie … Aber sie wusste selbst nicht so genau, was sie beweisen musste. Sie wusste nur, dass sie nicht aufgeben durfte. Sonst war sie verloren.

„Nehmen Sie sich das bloß nicht so zu Herzen“, ließ sich die junge Frau auf dem Sofa vernehmen, während sie mit entspannten Bewegungen in eine türkisfarbene Tunika schlüpfte. „Ben schreit immer herum, wenn ihm etwas gegen den Strich geht. Und dann beruhigt er sich wieder.“

Sarah wandte sich der Frau zu. Der Anblick ihres weichen, wohlgeformten Körpers, der sich unter dem dünnen Seidenstoff abzeichnete, die üppigen schwarzen Locken und das blendend weiße Lächeln riefen einen Hauch von Neid in Sarah hervor. Die junge Frau streckte ihr die Hand entgegen. „Ich bin Estelle. Willkommen im Irrenhaus!“

Ihr Lächeln war offen und ansteckend. Trotzdem musste Sarah sich überwinden, zu fragen: „Sind Sie Mr. Adams Freundin?“

„Ich?“ Estelle schüttelte sich. „Um Himmels willen, nein. Das wäre mir zu gruselig.“

„Gruselig?“

Estelle zuckte etwas verlegen mit den Schultern. „Ben ist ein netter Kerl, aber er ist so – du hast ihn ja selbst erlebt. Einen Moment ist er ganz lieb und freundlich, und im nächsten Moment flippt er völlig aus. Das wäre nichts für mich. Ich bin mit Dennis zusammen. Er ist Amerikaner, aus Kalifornien. Er will mich mitnehmen, wenn er wieder zurückfliegt. Dann werde ich vielleicht in Hollywood entdeckt. Ich will nämlich Schauspielerin werden. So wie Penelope Cruz.“

Sarah erwiderte ihr naives, freundliches Lächeln. Estelle brachte bestimmt alle Voraussetzungen mit, ein glückliches, sorgloses Leben zu führen. Manche Menschen schienen dafür bestimmt zu sein, und manche nicht. „Gott liebt die Mühseligen und Beladenen“, pflegte ihr Vater zu sagen, aber Sarah hatte sich immer gegen diese Vorstellung gesträubt, dass es nichts als Kummer und Sorgen im Leben geben sollte.

Estelle beugte sich zu ihr. „Hast du einen Freund?“, wollte sie in vertraulichem Tonfall wissen.

Sarah biss sich auf die Lippen. „Nicht … im Moment“, erwiderte sie ausweichend, was nicht wirklich gelogen war, aber eben auch nicht ganz der Wahrheit entsprach. Zumindest nicht der Wahrheit, die ihre Antwort suggerierte.

Estelle kicherte. „Schade. Ich fände es cool, ein bisschen über die Jungs zu lästern. Das macht Spaß.“

Sie hakte sich bei Sarah unter. „Na, komm. Ich zeig dir, wo du schlafen kannst.“

„Mr. Adams will doch, dass ich wieder abreise…“, warf Sarah ein, aber Estelle machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das meint er doch nicht so. Außerdem geht heute sowieso kein Flug mehr.“

„Wohnt ihr beide auch hier, du und Dennis?“

„Manchmal. Eigentlich hat Dennis ein Ferienhaus unten am Strand gemietet, aber seit wir vor drei Wochen Ben kennengelernt haben, verbringen wir die meiste Zeit hier.“

Sarah warf einen Blick zurück zum Balkon. „Wirft Mr. Adams, also Ben viele Bilder aus dem Fenster?“

„Ziemlich viele“, erwiderte Estelle unbekümmert. „Eigentlich fast alle, die er malt.“

Verzweifelt rieb Sarah an ihrem Gesicht herum, bis sie kaum noch zwischen den Farbsprenkeln und ihrer geröteten Haut unterscheiden konnte. Das verflixte Zeug ging einfach nicht ab!

Wieder schossen ihr Tränen in die Augen. Was hatte sie nur dazu bewogen, hierherzukommen? In das Haus dieses Irren, der sie nicht wollte, um eine Aufgabe zu übernehmen, der sie nicht gewachsen war?

Estelle hatte sie mit ihrem Koffer in einem der zahlreichen Schlafzimmer der Villa abgesetzt. Sarah konnte hören, wie die junge Frau und der Amerikaner lachend das Haus verließen. Offensichtlich wollten sie noch ausgehen, nachdem hier doch keine Party mehr stattfand. Ben Adams war verschwunden, der Himmel mochte wissen, wo er steckte.

Und die Klippen unterhalb der Villa waren mit zertrümmerten Gemälden in Millionenhöhe bedeckt. Was sollte sie nur Mr. Ventham erzählen? Halten Sie mich auf dem Laufenden, hatte er sie ermahnt. Worüber? Dass er seine Ausstellung in den Wind schießen konnte?

Sarah holte tief Luft, versuchte, ruhig zu werden. Nein, sie durfte sich von Ben Adams nicht einschüchtern lassen. Sie musste zumindest versuchen, ihn zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. So schnell durfte sie nicht aufgeben. Vielleicht sah die Welt ja morgen wirklich anders aus und Ben Adams hatte sich wieder beruhigt, so wie Estelle es angedeutet hatte.

„Sie müssen Terpentin verwenden“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihrem Rücken.

Sarah wirbelte herum. In der Tür des blau-weiß gekachelten Badezimmers lehnte Ben Adams und starrte sie mit einem halb amüsierten, halb feindseligen Blick an. Wie lange er schon dagestanden und sie beobachtet hatte, konnte Sarah nicht sagen.

„Wie kommen Sie hier herein?“, fragte sie eine Spur zu schrill. Sie hatte doch die Schlafzimmertüre abgeschlossen.

„Der Balkon verläuft über die gesamte Breite des Hauses“, erklärte Ben.

Und Estelle hatte das französische Fenster im Schlafzimmer geöffnet, um die Tageshitze hinauszulassen, wie sie sagte. Trotzdem …

„Das gibt Ihnen nicht das Recht …“, setzte Sarah an, aber Ben unterbrach sie ungerührt: „Ich habe Terpentin im Atelier. Kommen Sie mit.“

Als sie nicht reagierte, packte er sie einfach am Arm und zog sie hinter sich her. Er ging mit weiten, ausladenden Schritten, sodass Sarah Mühe hatte, mit ihm mitzuhalten. Vielleicht war ja jetzt eine Gelegenheit, ihm ihr Anliegen zu unterbreiten?

„Mr. Adams, ich wollte …“

„Sie brauchen mir nichts zu erklären“, erwiderte Ben gleichmütig. „George Ventham macht sich Sorgen. Deshalb hat er sie geschickt, um nach dem Rechten zu sehen. Aber Sie müssen wissen, Miss – wie war noch mal Ihr Name?“

„Sarah Burton.“

„Sie müssen wissen, Miss Burton, dass sich George Ventham immer Sorgen macht. Wenn die Sonne scheint, sorgt er sich, dass ihre Strahlen die Bilder in seiner Galerie beschädigen könnten. Und wenn es regnet, befürchtet er, dass die Gemälde durch die Feuchtigkeit angegriffen werden. Er kann nicht begreifen, dass es sich bei diesen Bildern nur um imaginäre Dinge handelt, mit einem imaginären Wert. Sie sind nichts weiter als ein Stück Leinwand oder Papier mit etwas Farbe darauf. Sie haben nichts mit dem realen Leben zu tun.“

„Aber viele Menschen schätzen diese imaginären Dinge, wie Sie es nennen“, versuchte Sarah einzuhaken. Sie gingen über den Balkon zu Bens Atelier. Unter ihren Füßen konnte Sarah die Brandung spüren, die gegen die Klippen schlug, und ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit.

„Weil sie Idioten sind“, wies Ben sie streng zurecht. „Weil sie keine Ahnung haben, was im Leben wirklich zählt.“

Als sie in seinem Atelier ankamen, griff er nach einem Lappen, träufelte etwas Flüssigkeit aus einer braunen Flasche darauf und begann mit geübter Hand, Sarahs Gesicht zu bearbeiten.

„Das Leben muss man sich nehmen“, fuhr er beinahe trotzig fort. „Jedes einzelne Stück davon. Man muss es genießen und aussaugen bis zum letzten Tropfen. Es wird einem bestimmt nichts geschenkt oder auf einem silbernen Tablett serviert.“ Ein Schatten huschte über sein Gesicht. „Und man sollte versuchen, glücklich zu sein, solange man dazu in der Lage ist.“

Sarah starrte ihn an. Warum sagte er so etwas? Und wie kam er dazu, genau das auszusprechen, was sie vor Kurzem selbst gedacht hatte? Zum ersten Mal hatte sie den Mut, ihn genauer anzusehen. Ein bitterer Zug lag um seine schmalen Lippen, und seine dunklen Augen schienen geradewegs durch sie hindurchzusehen. Trotzdem wischte er mit unerwarteter Sanftheit über ihre Wange, während seine linke Hand leicht auf ihrer Schulter ruhte.

Die Berührung sandte ein eigenartiges Kribbeln durch Sarahs Körper. Gegen ihren Willen wanderte ihr Blick weiter über seinen Oberkörper und seine Arme, die sich muskulös und sehnig unter seinem dünnen Shirt abzeichneten. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie nicht so empfinden sollte. Sie war nicht zu ihrem Vergnügen hier, sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen.

„Ich … ich kann das selbst“, versuchte sie, Ben Adams Hand abzuwehren. Aber der Griff seiner linken Hand auf ihrer Schulter wurde fester, während er mit seiner Tätigkeit fortfuhr.

„Können Sie nicht. Also, halten Sie still. Und hören Sie auf, ständig rot zu werden, oder ich erwische nie die echte Farbe!“

Bei diesen Worten schoss erst recht Hitze in ihre Wangen. Ben Adams Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Grinsen. Sie durfte sich nicht ständig von ihm aus der Fassung bringen lassen, ermahnte Sarah sich selbst. Offenbar machte es ihm Spaß, sie in Verlegenheit zu stürzen.

Ben trat einen Schritt zurück. „So, jetzt könnte man Sie fast wieder als menschlich bezeichnen.“

Für einen Augenblick ruhte sein Blick mit einem beinahe zärtlichen Ausdruck auf ihr, doch sofort verdunkelten sich seine Augen wieder. Schroff schob er sie von sich. „Und jetzt sollten Sie schlafen gehen. Damit Sie morgen möglichst früh Ihren Rückflug buchen können.“

Bevor Sarah sich von ihrer Verblüffung erholen und zu einer Antwort ansetzen konnte, hatte er bereits das Atelier verlassen und die Tür mit festem Griff hinter sich geschlossen.

Verloren stand Sarah in dem halbdunklen Raum. Dieser Ben Adams war ein Rüpel durch und durch, schoss es ihr durch den Kopf. Doch sie musste sich eingestehen, dass sie das von Anfang an gewusst hatte. Noch bevor sie ihm begegnet war. Dennoch wusste sie nicht, wie sie mit seiner schwierigen Art umgehen sollte.

Mit plötzlicher Heftigkeit sehnte Sarah sich zurück in die heile, sichere Welt der Vergangenheit. Als sie noch in dem Glauben lebte, dass sie eines Tages John Carlisles Frau sein würde, mit Kindern und einem Zuhause, um das sie sich kümmern konnte. Damals war alles so klar und einfach gewesen. Jetzt war sie ganz auf sich allein gestellt. Wenn sie versagte, welche Möglichkeiten hatte sie dann noch?

Das düstere alte Cottage im Lake District, in dem sie aufgewachsen war, tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Der Job in der Pfarrkanzlei, der immer für sie offenstand, wie ihr Vater ihr nach Johns Tod angeboten hatte. Nein, nur das nicht! Sarah fröstelte bei dem Gedanken, trotz der warmen Brise, die durch die geöffneten Balkontüren in das Atelier wehte.

Zaghaft sah sie sich in dem großen Raum um. Mehrere Leinwände in verschiedenen Größen lehnten an den Wänden, aber sie waren allesamt leer. Ein Bild stand verhüllt auf einer Staffelei. Als sie das Tuch anhob, fand sie darunter ein halbfertiges Portrait von Estelle. Aber aus irgendeinem Grund war es nicht gelungen. Etwas fehlte, auch wenn Sarah nicht sagen konnte, was es war. Offensichtlich hatte das auch Ben Adams gespürt, denn ein breiter roter Strich zog sich quer über das Gemälde.

Seufzend ließ Sarah das Tuch sinken. Offensichtlich war das alles, was Ben in den letzten Wochen gemalt hatte. Und der Rest lag am Fuß der Klippen. Vorsichtig trat Sarah an das Balkongeländer und blickte in die Tiefe, wo sie in der Dunkelheit jedoch nichts erkennen konnte. Nur das Schäumen der Brandung war zu hören, was erneut ein flaues Gefühl in ihrem Magen auslöste.

Sei kein solcher Angsthase, schalt Sarah sich selbst. Du kannst schwimmen. Wenn auch nicht allzu gut, wie sie in einem Nachsatz hinzufügen musste. Wasser war nicht ihr Element. Die dunklen Tiefen, die sie beim Schwimmen in einem See oder Teich unter sich spürte, hatten ihr immer Angst gemacht. Als würde da unten etwas lauern, das sie in die Dunkelheit ziehen wollte. Aber das waren natürlich nur kindliche Hirngespinste. Und das Schwimmen konnte man trainieren. Vielleicht würde sie hier auf Ibiza Gelegenheit dazu haben.

Im Augenblick hatte sie allerdings Dringenderes zu tun. Sorgfältig verschloss Sarah die Balkontüre, als sie in ihr Zimmer zurückkehrte. Ihr Blick fiel auf das graue Tagebuch, das auf dem Nachttisch lag. So viel hatte sie im Kopf, das sie ihm nach diesem ersten Tag anvertrauen wollte. Aber sie war zu müde und erschöpft. Sie würde morgen über alles nachdenken, sich eine Strategie zurechtlegen, wie sie Ben Adams doch noch von sich überzeugen konnte. Rasch schlüpfte sie in ihren Pyjama, löschte das Licht und war sofort eingeschlafen.

3. KAPITEL

Ben versuchte, nicht an die Engländerin zu denken. Aber irgendetwas an dem Blick ihrer braunen Augen, als er ihr Gesicht gesäubert hatte, ließ ihn nicht los. Es war eine Mischung aus Furcht, Unsicherheit und hoffnungsvollem Vertrauen gewesen.

Der alte Zynismus stieg in ihm auf. Sie würde schon noch lernen, dass man ihm nicht vertrauen konnte. Dass er geübt darin war, alles, was er liebte, zu zerstören. So wie seine Bilder. Oder seine Beziehungen. Oder …

Düster starrte Ben auf das nächtliche Meer hinaus. Er saß auf einem Felsvorsprung unterhalb seines Hauses, knapp über der Wasserlinie, sodass er die Gischt spüren konnte, die zu ihm heraufspritzte. Die warme Nachtluft hüllte ihn ein, trotzdem konnte sie die Kälte in seinem Inneren nicht vertreiben. Ben fühlte sich ausgebrannt und leer. Er arbeitete Tag und Nacht, aber keines der Bilder, die er malte, konnte ihn zufriedenstellen. Alles, was er vermitteln wollte, schien bereits gesagt worden zu sein. Dennoch spürte er tief in seinem Inneren ein merkwürdig drängendes Gefühl, das er einfach nicht in Worte, geschweige denn in Bilder fassen konnte.

Frustriert vergrub Ben sein Gesicht in den Händen. Alles schien so sinnlos zu sein. Wenn er nicht mehr malen konnte, was sollte er dann tun, um die Leere in seinem Inneren zu füllen?

Am nächsten Morgen stand Sarah gegen sechs Uhr auf. Die Sonne schien warm und einladend in ihr Zimmer, und auch das Meer unter ihren Fenstern war ruhig und glatt wie ein tiefblauer Spiegel. Die Schatten der vergangenen Nacht schienen gebannt, und Sarah blickte mit neuer Zuversicht in den Tag. Sie würde es schaffen, diese Aufgabe zu erledigen. Hatte sie das nicht immer getan?

Sie entschied sich für eine Jeans und ein schlichtes weißes T-Shirt. Business-Outfits waren in dieser Umgebung eher nicht angesagt, wie sie mittlerweile herausgefunden hatte. In der Küche, die sie nach kurzer Suche fand, bereitete eine ältere Spanierin am Herd etwas zu essen zu. Auch sie schien nicht erstaunt zu sein, auf einmal einer fremden Frau gegenüberzustehen.

„Frühstück, Señora?“, fragte sie in gebrochenem Englisch.

„Si, por favor“, antwortete Sarah und zauberte damit ein Lächeln auf das Gesicht ihres Gegenübers.

Die Spanierin tischte Berge von Toast, gebratenem Speck, Rühreiern, Würstchen, Schinken und eine Kanne Kaffee für Sarah auf. Dabei erzählte sie in einem bunten Kauderwelsch aus Englisch und Spanisch, dass sie Bens Haushälterin sei, die täglich vorbeikam, um für Ordnung im Chaos der Villa zu sorgen. Ihr Name war Rosita, und sie lebte in San Miguel, einem kleinen Dorf etwa fünf Kilometer entfernt.

Während Sarah frühstückte, schlurften Dennis und Estelle schlaftrunken in die Küche. Offenbar waren sie irgendwann im Lauf der Nacht zurückgekommen. Sarah ergriff die Gelegenheit beim Schopf, sich sogleich ihren Aufgaben zu widmen. Sanft, aber bestimmt nahm sie die Kaffeetassen, nach denen die beiden greifen wollten, und bugsierte Ben Adams Hausgäste zur Tür.

„Ich fürchte, dass Mr. Adams in den nächsten Tagen keine Zeit für euch haben wird. Er muss dringend seiner Arbeit nachgehen. Warum geht ihr nicht in der Zwischenzeit zurück in euer Strandhaus? Mr. Adams wird sich bei euch melden, wenn er es einrichten kann.“

Die beiden waren offensichtlich zu müde und überrumpelt, um irgendeinen Protest einzulegen. Anstandslos packten sie ihre Habseligkeiten zusammen und ließen sich von Sarah hinauskomplimentieren, während Rosita vergnügt zusah. Lachend schüttelte sie den Kopf, als sich die Tür hinter Dennis und Estelle schloss.

„Das wird Señor Ben nicht gefallen. Oh, nein, das wird ihm gar nicht gefallen!“

Aber Sarah fühlte allmählich ihr altes Vertrauen in ihre Fähigkeiten zurückkehren. Mit ruhiger Entschlossenheit bestrich sie einen weiteren Toast mit Butter und wartete auf Señor Bens Erscheinen.

Gähnend betrat Ben kurz nach acht Uhr die Küche. Er war am Vorabend für seine Verhältnisse früh zu Bett gegangen, noch vor Mitternacht, trotzdem fühlte er sich wie gerädert. Die Engländerin saß am Tisch und aß Speck mit Eiern. Natürlich hatte er nicht wirklich erwartet, dass sie abreisen würde. Und wenn er ehrlich war, hätte er es sogar bedauert. Auch wenn er selbst nicht wusste, weshalb. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, die er schwarz trank, und setzte sich Sarah gegenüber. Mit einem abschätzigen Blick betrachtete er die junge Frau.

„Na, wenigstens haben Sie sich heute etwas Vernünftiges angezogen“, bemerkte er ohne Einleitung. Das weiße T-Shirt verriet mehr von ihrer Figur, die äußerst zufriedenstellend zu sein schien.

Sie warf ihm einen beinahe koketten Blick aus ihren großen braunen Augen zu. „Dann kann ich bleiben?“

Obwohl sie sich bemühte, gleichmütig zu klingen, schwang Sorge in ihrer Stimme mit, so als wäre die Frage von ungeheurer Bedeutung für sie. Ben musterte sie aufmerksam. Etwas versteckte sich hinter dieser ruhigen, geschäftsmäßigen Fassade, die sie an den Tag legte. Was hatte die korrekte Miss Burton zu verbergen?

Betont gleichgültig zuckte er die Achseln. „Meinetwegen. Wenn Sie schon mal da sind, können Sie sich genauso gut nützlich machen. Dieser ganze Bürokram interessiert mich sowieso nicht.“

Er sagte sich, dass er tatsächlich Hilfe brauchen konnte, um frei zu sein für seine Malerei. Obwohl das natürlich nur die halbe Wahrheit war. Aber diese Miss Burton interessierte ihn aus irgendeinem Grund. Vielleicht … vielleicht war sie ja wirklich der Ansporn, den er brauchte, um wieder zu seiner alten Form zu finden.

Mit einem Ausdruck von Erleichterung auf ihrem Gesicht beugte Sarah sich vor. „Mr. Ventham meinte …“

„Wie lange arbeiten Sie schon für den guten George?“, unterbrach Ben sie. „Ich kann mich nicht erinnern, Sie schon einmal in seiner Galerie gesehen zu haben.“

Und sie wäre ihm bestimmt aufgefallen, auch wenn sie nicht wirklich auffällig war. Nicht so wie diese unmögliche Rothaarige, mit der George sich so gern umgab. Aber Sarah Burton hatte etwas, das seinen Blick gefangen hielt.

Er konnte sehen, dass er sie mit seiner Frage in Verlegenheit brachte. „Ich … das ist … noch nicht sehr lange. Ich bin eine Bekannte seiner Assistentin, Miss Denning.“

„Die schöne Fiona?“ Ben verzog spöttisch die Lippen. Dass diese beiden Frauen irgendetwas gemein haben sollten, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. „Die muss doch schon über vierzig sein!“

„Sie ist dreißig, so wie ich. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.“

Ben konnte hören, dass sich in Sarahs Empörung ein Hauch von Befriedigung mischte. Offensichtlich ging ihr die aufdringliche Miss Denning genauso auf die Nerven wie ihm. Für einen Moment erlaubten sie sich beide ein verschmitztes Grinsen. Dann sah Ben sich um. Ihm fiel auf, dass es ungewöhnlich still im Haus war.

„Wo sind Estelle und dieser Amerikaner? Wie heißt er noch mal?“

„Dennis“, half Sarah ihm aus. „Ich habe sie nach Hause geschickt. Sie wohnen, wie es scheint, in einem Ferienhaus ganz in der Nähe.“

„Wirklich?“ Ben konnte seine Überraschung nicht verbergen. „Kompliment! Wie ist Ihnen das gelungen? Ich versuche die beiden seit drei Wochen hinauszuekeln und habe es bis jetzt noch nicht geschafft.“

Sarah antwortete nicht, sondern aß mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck weiter. Über den Rand seiner Tasse hinweg beobachtete Ben sie. Amüsiert nahm er zur Kenntnis, dass sie seine ungenierte Musterung irritierte. Offensichtlich hatte sie es in ihrem Leben noch nicht oft mit bösen Jungs zu tun gehabt. Diese Erfahrung durfte er ihr auf keinen Fall vorenthalten. Denn schließlich, konstatierte Ben zynisch, lernte man nur aus den schlechten Erfahrungen. Die guten pflegte man als selbstverständlich hinzunehmen.

„Der gute George ist also besorgt um mich“, begann er das Gespräch erneut.

Sarah schob einen Umschlag über den Tisch. „Hier ist ein Schreiben von Mr. Ventham, in dem er Sie bittet, meine Dienste zu akzeptieren. Er meint …“

„Reden Sie immer so geschwollen?“, unterbrach Ben sie. „Das ist ja nicht auszuhalten! Rosita!“

Die Haushälterin erschien in der Tür. „Si, Señor Ben?“

„Einen Whiskey“, befahl Ben. „Ich brauche was zur Aufmunterung.“

Er sah Sarah scharf an, aber sie ließ sich nicht anmerken, ob seine unhöflichen Worte sie getroffen hatten. Rositas Gesicht nahm einen flehenden Ausdruck an. „Señor Ben … bitte! Nicht Whiskey am Morgen!“

„Rosita!“ Bens Stimme wurde messerscharf, und die Spanierin verschwand unterwürfig, nur um gleich darauf mit einem Glas zurückzukehren, das mit einer goldbraunen Flüssigkeit gefüllt war. Ben kippte den Whiskey in einem Zug hinunter. Das Getränk brannte wie die Hölle in seiner Kehle, aber das verhinderte wenigstens, dass er irgendetwas anderes fühlte.

Die ganze Zeit über ließ er Sarah nicht aus den Augen, die seinen Blick mit eisiger Miene erwiderte. Sie wirkte ziemlich tough, trotz ihrer zierlichen Figur und der rehbraunen Augen. Allerdings entging Ben nicht, dass ihr akkurat geschnittener Bob sich an den Spitzen einzudrehen begann und sanfte Locken um ihr Gesicht formte. Die unerschütterliche Miss Burton hatte also doch nicht alles so unter Kontrolle, wie sie glaubte. Ein amüsiertes Lächeln umspielte Bens Lippen. Er hatte das Gefühl, dass er mit dieser Engländerin noch viel Spaß haben würde.

Ein Geräusch ließ sie beide aufblicken. In der Küchentür stand eine großgewachsene blonde Frau in einer fließenden weißen Seidenbluse, die sie kühl und unnahbar erscheinen ließ. Die Frau trat ohne Gruß auf Ben zu und küsste ihn.

Mit einem harten, slawisch klingenden Akzent rief sie: „Ben, Darling, wie schön, dich zu sehen! Du hast dich eine Ewigkeit nicht mehr blicken lassen! Ich musste einfach vorbeikommen und sehen, ob alles in Ordnung ist. Ich habe schon angefangen, mir Sorgen um dich zu machen.“

Ben bedachte sie mit einem Blick, der halb Begehren und halb Verachtung ausdrückte. Seine Mundwinkel zuckten. „Niemand braucht sich Sorgen um mich zu machen. Du weißt doch, Daria: Unkraut vergeht nicht.“

Sein Blick wanderte zu Sarah zurück. Herausfordernd sah er sie an, so als wären die Worte an sie gerichtet gewesen und nicht an die fremde Frau. Sarah hatte den Kuss mit einem merkwürdigen Gefühl von Beklommenheit beobachtet. Fühlte sie etwa Eifersucht in sich aufsteigen? Unsinn, sagte sie sich selbst. Sie war hier, um zu arbeiten. Um ihre Aufgabe zu erledigen und wieder so etwas wie einen Sinn in ihrem Leben zu finden. Wer oder wer nicht die aktuelle Geliebte dieses Malers war, konnte ihr gleichgültig sein.

Trotzdem blieb dieses nagende, unangenehme Gefühl bestehen.

Daria war Bens Blick gefolgt und musterte Sarah nun eindringlich. Die Frau war etwa Mitte vierzig, vielleicht auch älter. Ihr sorgfältiges Make-up, das besonders ihre eisblauen Augen betonte, sowie ihre Frisur, die in weichen hellblonden Wellen ihr Gesicht umspielte, kaschierten ihr Alter jedoch sehr geschickt. Der funkelnde, zweifelsohne echte Schmuck, den sie trug, tat ein Übriges, sie zeitlos und begehrenswert erscheinen zu lassen.

„Deine neue Haushälterin, Darling?“, fragte sie mit einem spöttischen Unterton.

„Nein, mein Kindermädchen!“ Ben grinste, als Sarah empört das Gesicht verzog. „Wie du siehst, wird gut auf mich achtgegeben.“

„Das sehe ich.“ Daria griff nach Bens Tasse und nahm wie selbstverständlich einen Schluck daraus. Dabei ließ sie Sarah nicht aus den Augen. Ben ließ seinen Blick vergnügt zwischen den beiden Frauen hin und her wandern. Offensichtlich amüsierte ihn die Spannung, die in der Luft lag.

„Daria, darf ich vorstellen: Sarah Burton. Miss Burton: Daria Andreeva, eine sehr liebe alte Freundin von mir.“ Bei dem Ausdruck „alt“ kräuselten sich Darias Lippen unerfreut. Aber sie sagte nichts darauf. „Daria ist Kunstsammlerin. Sie besitzt eine der größten Galerien in Moskau“, fuhr Ben fort.

„Dann gehört sie wohl zu den Leuten, die imaginären Dingen hinterherlaufen?“, fragte Sarah mit einem Anflug von Bosheit in ihrer Stimme.

Ben grinste sie mit einem übermütigen Funkeln in seinen dunklen Augen an. Sarah fühlte sich auf eine merkwürdige Weise mit ihm verbunden, so als würden sie beide ein Geheimnis miteinander teilen.

Auch Daria schien das zu spüren. Ihre Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. Demonstrativ legte sie ihre Hand auf Bens Schulter. „Du kommst doch zu meiner Party morgen, Darling?“

Ben blinzelte. „Eine Party? Davon weiß ich noch gar nichts.“ Sein Blick ließ Sarah nicht los. Er betrachtete sie mit einer plötzlichen Ernsthaftigkeit, die ein eigenartiges Kribbeln in ihrem Bauch verursachte.

Daria lächelte säuerlich. „Ich hatte dir doch davon erzählt. Und du hast fest versprochen zu kommen.“

„Da musst du mit meinem Kindermädchen reden. Sie entscheidet, ob ich Ausgang bekomme oder nicht. Ich muss nämlich erst noch ein paar Bilder fertig malen. Für die große Ausstellung in London, du weißt doch.“

Daria betrachtete Sarah mit neuem, feindseligem Interesse. „Oh ja, die Ausstellung. Ich plane übrigens eine ähnliche Show in Moskau. Es wäre mir eine große Ehre, einen so bedeutenden Maler wie Ben Adams in meiner bescheidenen Galerie präsentieren zu dürfen.“

Ben lachte laut. „Daria, nichts an dir oder deiner Galerie ist bescheiden.“

Daria Andreeva bedachte Sarah mit einem eisigen Blick. „Sie werden mir doch nicht meine Party verderben, Miss Burton? Ich bin sicher, das wäre auch nicht in Bens Interesse.“ Sie beugte sich zu Ben und hauchte einen Kuss auf seine Wange. „Ich zähle auf dich, Darling. Bis morgen.“

Dann stöckelte sie kühl und selbstsicher aus dem Raum.

Sarah blinzelte irritiert. Hatte sie das eben richtig verstanden? Plante diese Frau etwa, Ben von der Galerie Ventham abzuwerben?

Ben stand auf. „Dann werde ich mich wohl besser an die Arbeit machen. Ich will nicht zwei Frauen an einem Tag verärgern. Das wäre sogar für mich zu viel.“

Er bedachte sie mit einem weiteren eindringlichen Blick, aber Sarah achtete kaum auf ihn. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was sollte sie nur tun? Mr. Ventham informieren? Und ihm noch mehr schlaflose Nächte bereiten? Nein, sie beschloss, erst noch genauere Informationen einzuholen. Und sie wusste auch schon, wer ihr diese Informationen beschaffen konnte. Allerdings brauchte sie eine Gelegenheit, um allein und in Ruhe zu telefonieren.

Als Rosita kam, um das Frühstücksgeschirr abzuräumen, wandte Sarah sich an die Haushälterin. „Wie weit ist es bis nach San Miguel, wo Sie wohnen, Rosita?“

„Oh, nicht weit. Vier oder fünf Kilometer.“ Rosita machte eine vage Handbewegung in nördlicher Richtung. „Es gibt einen Pfad die Küste entlang, der direkt nach San Miguel führt.“

Sarah holte rasch ihre Tasche aus dem Zimmer und marschierte los. Es war ein strahlender und vor allem wieder heißer Tag. Sarah schwitzte sogar in ihrem dünnen T-Shirt. Zu ihrer Linken glitzerte und funkelte das Meer wie ein blauer Spiegel. An einem ruhigen Tag wie diesem konnte Sarah ihre Ängste selbst nicht verstehen. Wie konnte sie nur so dumm sein, sich vor ein bisschen Wasser zu fürchten? Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass sie im Augenblick größere Probleme hatte als ihre mangelnden Schwimmkenntnisse.

Verzweifelt drehte Sarah ihr Handy nach allen Richtungen, aber sie bekam einfach keinen Empfang. Vielleicht gab es ja in San Miguel einen Sendemast? Hoffentlich!

Sie musste unbedingt Fiona erreichen. Wenn jemand etwas über eine andere Person herausfinden konnte, dann sie. Klatsch und Tratsch waren schon immer Fionas Spezialität gewesen. Als Sarah sich dem kleinen Dorf mit seinen niedrigen, weiß getünchten Häusern näherte, zeigte ihr Handy endlich wieder eine Verbindung an. Rasch wählte sie Fionas Nummer.

„Galerie Ventham, Fiona Denning am Apparat“, meldete sich die vertraute, leicht lispelnde Stimme ihrer Schulkameradin.

„Fiona, hier ist Sarah!“

„Sarah, Schatz, wie ist Ibiza? Und vor allem – wie ist Ben Adams?“ Sarah konnte geradezu vor sich sehen, wie Fiona ihr verschwörerisch zuzwinkerte. „Willst du mit Mr. Ventham sprechen?“

„Nein, nur das nicht“, platzte Sarah heraus. „Ich meine – Fiona, du musst mir helfen! Aber die Sache ist vertraulich. Hier ist heute Morgen eine Russin aufgetaucht. Ihr Name ist Daria Andreeva. Ich glaube, sie versucht, Ben Adams für ihre Galerie abzuwerben!“

Fiona wurde schlagartig ernst. „Oh Gott, das wäre ja entsetzlich! Du hast recht, das darf Mr. Ventham nicht erfahren. Er ist ohnehin schon mit seinen Nerven am Ende. Was soll ich tun?“

„Versuch, so viel über diese Russin herauszufinden, wie du kannst. Ich melde mich wieder bei dir.“

Sarah klappte ihr Handy zu. Während des Gesprächs mit Fiona war sie in den kleinen Ort hineinmarschiert und hatte ihre Schritte wie selbstverständlich in Richtung der Kirche gelenkt. Unter einer riesigen Platane auf dem Platz vor der Kirche stand eine verwitterte Holzbank. Darauf ließ Sarah sich nieder, lehnte ihren Rücken an den rauen Stamm des Baumes und schloss erschöpft die Augen.

Sie durfte diesen Job nicht vermasseln. Nur das nicht!

Ben stand in seinem Atelier und starrte auf die leere Leinwand auf der Staffelei. Er versuchte, das Bild zu fassen, das in ihm aufstieg, das Bild, das er malen wollte – malen musste. Aber es blieb vage und verborgen. Er fand keinen Anfang, keinen Strich, dem er folgen konnte. Außerdem wurde das Bild immer wieder von einem anderen verdrängt: dem von Sarah Burton. Was zog ihn so zu dieser Frau hin?

Ben versuchte, einen unsicheren Strich auf der Leinwand, aber er wusste im selben Augenblick, dass der Strich falsch war. Das war es nicht, was er malen wollte. Kurz war er versucht, die Leinwand zu packen und ins Meer zu werfen, so wie es seine Gewohnheit war. Aber dann ließ er sie stehen.

Im Schneidersitz setzte er sich auf den Boden und zog seinen Skizzenblock heran. Wie von selbst begann der Stift in seiner Hand ein Augenpaar zu zeichnen. Sarahs Augen. Groß, braun, irgendwie verletzt und verletzlich. Vielleicht erinnerten sie ihn daran, dass er nur zu gut wusste, was es bedeutete, andere zu verletzen und selbst verletzt zu werden.

Vielleicht war sie ja eine verwandte Seele? Vielleicht hatte auch sie ein dunkles Geheimnis? Auch wenn Ben das selbst nicht glauben konnte. Niemand war so wie er. Niemand hatte erlebt und gesehen, was ihm widerfahren war. Niemand konnte verstehen, was in ihm vorging. Warum sollte es ausgerechnet diese Engländerin Sarah tun?

Sie war eine Frau wie jede andere, und Frauen waren in seinem Leben in großer Zahl ein und aus gegangen. Denn für eine ernsthafte Beziehung brauchte es Vertrauen. Und irgendjemandem zu vertrauen, hatte er sich vor langer Zeit abgewöhnt. Er zog es vor, sein wahres Ich freiwillig hinter einer Mauer aus Unfreundlichkeit und Menschenverachtung zu verstecken, ehe jemand herausfinden konnte, was sich hinter dieser Mauer verbarg.

Gedankenverloren hatte Ben weitere Striche auf das Papier gezeichnet, um das Augenpaar herum, und daraus Sarahs Gesicht geformt. Es war das Gesicht einer Frau, die zu tiefsten Gefühlen fähig war, wenn sie sich diese Gefühle selbst erlaubte, wie Ben plötzlich erkannte. Und er spürte den Wunsch in sich, diese Gefühle in ihr zu wecken, zu sehen, wozu Sarah Burton imstande war.

Aber das war natürlich Unsinn. Er hatte keinerlei Interesse an ihr.

Entschlossen riss Ben das Blatt von seinem Block, knüllte es zusammen und warf es in eine Ecke. Unvermittelt tauchte das Bild von Madame Celeste, ihrem französischen Kindermädchen, vor ihm auf.

„Jun–gens! Jun–gens“, hatte sie immer verzweifelt mit ihrem französischen Akzent gerufen, wenn sie in ihr Zimmer kam. „Diese Unordnung, mon dieu! Bitte aufräumen!“

Und Mike und er hatten sich gegenseitig in die Rippen gestoßen und waren wie die Wiesel aus dem Fenster und über das alte Efeugerüst nach unten geklettert. Die arme Madame Celeste hatte keine Chance, sie zu erwischen.

Ben lächelte in Gedanken. Es waren schöne Erinnerungen, an eine Zeit, die noch heiter und sorglos und unbeschwert war. Lange bevor…

Abrupt hob er den Kopf. Wo steckte eigentlich sein neues Kindermädchen? Sollte sie nicht hinter ihm stehen und sichergehen, dass er auch fleißig arbeitete?

„Rosita!“

Bevor Ben das Atelier verließ, bückte er sich rasch und hob das zerknüllte Blatt Papier auf. Sorgfältig strich er die Skizze glatt und legte sie auf den Tisch. Dann trat er hinaus auf die Galerie und beugte sich über das Geländer.

„Rosita!“

„Si, Señor Ben!“ Das runde Gesicht seiner Haushälterin erschien in der Tür zur Küche.

„Wo ist Miss Burton?“

„Sie wollte nach San Miguel. Gleich nach dem Frühstück.“

Ben sah auf die Uhr. Es war weit nach Mittag. Sie sollte längst zurück sein. Vielleicht hatte sie einen falschen Weg genommen? Die Klippen entlang der Küste konnten tückisch sein.

„Ich werde sie suchen“, erklärte Ben spontan, obwohl es eigentlich nicht seiner Gewohnheit entsprach, sich um irgendjemanden Sorgen zu machen.

Rosita machte ein verzweifeltes Gesicht. „Und das Essen, Señor Ben? So ein schöner Braten im Ofen!“

„Den werden Sie warmhalten, Rosita“, grinste Ben. „Wie immer.“

4. KAPITEL

„Kann ich etwas für Sie tun? Möchten Sie vielleicht die Kirche besichtigen?“, klang plötzlich eine sanfte Stimme in zögerndem Englisch an Sarahs Ohr.

Ruckartig öffnete sie die Augen und setzte sich auf. Vor ihr stand ein bärtiger Mann in einer braunen Kutte. Ein Padre, ein Geistlicher, schoss es Sarah durch den Kopf. Eigentlich war er der letzte Mensch auf Erden, den sie in diesem Augenblick sehen wollte. Trotzdem flößte ihr der vertraute Anblick ein Gefühl der Geborgenheit ein.

„Ich … nein, das heißt … doch, ich würde die Kirche sehr gerne sehen.“

Die Mittagssonne brannte auf den Platz. Ihr für einige Augenblicke zu entfliehen, konnte Sarah nur recht sein. Und vielleicht würde sie auch ihren Gedanken entfliehen können. Kirchen hatten immer einen beruhigenden Einfluss auf sie gehabt. Es waren die Menschen in den Kirchen, die ihr Schwierigkeiten bereiteten, wurde Sarah klar.

Doch im gleichen Moment wurde sie schon wieder von einer Weisheit ihres Vaters eingeholt. „Unser Dienst ist an Gott und den Menschen. Aber vor allem an Gott. Er ist immer in unseren Gedanken.“ Doch Sarahs Gedanken waren im Moment mit etwas ganz anderem beschäftigt. Sie zögerte, aber der Pater streckte ihr mit einem einladenden Lächeln die Hand entgegen.

„Bitte kommen Sie! Mein Name ist Padre José. Ich bin der Ortsgeistliche von San Miguel.“

„Ich bin Sarah. Sarah Burton“, stellte Sarah sich vor, während sie Padre José in das Innere der alten Kirche folgte. Nach dem grellen Sonnenschein draußen hatte sie für einen Augenblick das Gefühl, blind zu sein, als die Dunkelheit im Inneren sie umfing. Aber Padre Josés Hand geleitete sie sicher bis vor den Altar, der eher bescheiden aus Holz gearbeitet war, wenn auch mit kunstvollen verzierten Goldornamenten. Die Seitenteile des Altars zeigten Szenen der Kreuzigung und Auferstehung.

„San Miguel ist eine arme Gemeinde“, erklärte Padre José entschuldigend. „Unsere Kirche ist nicht sehr prachtvoll ausgestattet, aber ich war immer der Meinung, dass Güte und Freundlichkeit mehr zählen als Prunk. Und die werden Sie bei den Einwohnern von San Miguel im Übermaß finden. Sie sind zu Besuch in unserem Ort? Es verirren sich nicht viele Touristen in diese Ecke der Insel, die meisten sind Engländer oder Amerikaner. Deshalb habe ich mir erlaubt, Sie auf Englisch anzusprechen.“

„Ich … arbeite im Haus von Mr. Adams, dem Maler“, erklärte Sarah. „Sie haben vielleicht schon von ihm gehört?“

„Natürlich. Ich kenne Señor Ben sehr gut. Ein überaus gütiger und freundlicher Mann.“

Sarah warf dem Padre einen erstaunten Blick zu. Mit dieser Einschätzung von Ben Adams stand er ziemlich alleine da. Aber vielleicht neigte er als Geistlicher dazu, nur das Gute in einem Menschen zu sehen. Auch wenn das auf ihren Vater nicht zutraf. Der hatte sich nie gescheut, einen Sünder als genau das zu bezeichnen. Und Ben Adams wäre nach Einschätzung ihres Vaters mit Sicherheit ein Sünder.

Auch wenn Sarah nicht ganz klar war, worin seine Sünden eigentlich bestehen sollten. Natürlich – Frauen, Alkohol –, all die Dinge, die im elterlichen Cottage verpönt gewesen waren. Die den Weg in die ewige Verdammnis wiesen, wie ihr Vater es mit strengem Blick auszudrücken pflegte. Aber…

„Meine Schwester arbeitet als Haushälterin bei Señor Ben“, unterbrach Padre José ihre Gedanken.

„Rosita ist Ihre Schwester? Wie klein die Welt doch ist!“

„Klein, und doch beinhaltet sie die ganze Pracht von Seinem göttlichen Plan.“

Sarahs Blick wurde nachdenklich. „Glauben Sie wirklich, Gott hat einen Plan mit uns?“

„Was lässt Sie daran zweifeln, Miss Burton?“

Sarah blickte zu Boden. Johns Gesicht stieg vor ihr auf, so freundlich und zuversichtlich. „Weil manchmal Dinge geschehen – Menschen sterben oder verlassen uns.“

„Vielleicht war ihre Aufgabe erfüllt. Vielleicht sollten sie uns auf einen Weg bringen. Aber diesen Weg müssen wir alleine weitergehen. Sie trauern um jemanden, Miss Burton?“

Sarah blickte auf und sah in Padre Josés mitfühlendes Gesicht. Tränen schossen plötzlich in ihre Augen. Sie nickte. „Um meinen Verlobten. Vor zwei Jahren, bei einem Unfall, ist er ums Leben gekommen. Seitdem habe ich das Gefühl, als hätte ich mich selbst auch verloren. Als wäre ein Teil von mir mit ihm gestorben.“

„Wir geben ein Stück unseres Herzens den Verstorbenen mit“, erklärte Padre José schlicht. „Aber es entsteht auch Platz für Neues, wenn wir unsere Herzen öffnen und anderen erlauben, uns zu berühren. Licht und Schatten sind Brüder. Das eine ist nicht möglich ohne das andere. Aber über allem steht Gottes Liebe zu uns Menschen. Und unsere Liebe füreinander.“ Padre José nickte ihr aufmunternd zu. „Liebe ist das größte Geschenk Gottes an uns Menschen, Miss Burton.“

Sarah hörte ihm fasziniert zu. Liebe? Liebe hatte in der Weltsicht ihres Vaters nie einen Platz gehabt. Ja, die selbstlose Liebe einer Mutter zu ihren Kindern oder die barmherzige Liebe den Mitmenschen gegenüber vielleicht. Aber einfach nur Liebe, für einen einzelnen, ganz bestimmten Menschen? Die ganz bestimmt nicht.

Aber genau diese Liebe schien Padre José zu meinen. Eine sehr konkrete, körperliche Liebe. Und warum fiel ihr in diesem Augenblick Ben Adams ein?

Sarah spürte, dass sie errötete. „Ich fürchte, ich muss jetzt gehen“, stammelte sie verlegen.

„Kommen Sie wieder, wann immer Sie Lust dazu haben. Ich freue mich über Gesellschaft.“

Im Hinausgehen deutete Padre José auf die hohen, spitz zulaufenden Kirchenfenster, deren Scheiben Sprünge und Löcher aufwiesen. „Wir brauchen dringend neue Fenster. Mir schwebt so etwas wie in der Sagrada Familia in Barcelona vor. Von einem Künstler gestaltet. Denken Sie, dass ich Señor Ben zu einer solchen Aufgabe überreden könnte?“

„Mr. Adams?“ Sarah hielt beinahe erschrocken inne. „Ich glaube nicht, dass seine Arbeiten für eine Kirche geeignet sind.“

„Oh, warum nicht?“, erwiderte Padre José sanft. „Seine Bilder sind sehr kraftvoll. Ihre zentralen Themen sind Sühne und Vergebung. Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen? Ich finde, sie würden sehr gut in eine Kirche passen.“

„Nun, das ist Geschmackssache“, stotterte Sarah, als sie wieder hinaus in das grelle Sonnenlicht stolperte. Padre José vertrat ganz eindeutig eine andere Form der Religion als die, mit der sie aufgewachsen war.

Vielleicht war es ja das südliche Klima, das zu einer solchen Toleranz und Großzügigkeit beitrug. Sie ertappte sich selbst dabei, ihre teuren Schuhe zu verfluchen, die ihre Füße wie in einem Schraubstock einschlossen, obwohl sie so flach waren. Sobald sie den Ort hinter sich gelassen hatte, bückte sie sich und schlüpfte aus den Schuhen. Der Weg entlang der Küste war zwar steinig und heiß, aber dennoch fühlte es sich äußerst befreiend an, barfuß zu laufen.

Als Kind war sie mit Begeisterung durch die Wiesen um das Cottage gelaufen, hatte Löwenzahn und Gänseblümchen gepflückt und zu kunstvollen Ketten geflochten, auch wenn sie abends wegen ihrer schmutzigen Füße ausgeschimpft worden war. Wann war ihr diese kindliche Freude am Leben abhandengekommen? Wann hatte sie angefangen, alles so schwer zu nehmen?

Sarahs Aufmerksamkeit wurde von lauten Stimmen abgelenkt, die aus der Richtung des Strandes kamen. Als sie zwischen den Felsen einen steinigen Weg hinunterkletterte, sah sie unvermutet Ben Adams, der mit ein paar Kindern am Strand Fußball spielte.

Fasziniert blieb Sarah stehen. Das war ein ganz neuer Ben Adams, den sie da vor sich sah, wie er verschwitzt und lachend, mit nacktem Oberkörper und hochgekrempelten Hosenbeinen, mit drei halbwüchsigen Buben um einen alten Lederball rangelte. Er wirkte in diesem Augenblick unglaublich jung und sorglos. Und Sarah verspürte den beinahe schmerzhaften Wunsch, ihn immer so zu sehen. Die Düsternis, die ihn üblicherweise umgab, zu vertreiben und ihn glücklich zu machen.

Warum sorgte sie sich so sehr um das Wohlergehen eines Mannes, den sie doch erst am Vortag kennengelernt hatte? Für den sie nur arbeitete, und das nicht mal allzu gern?

Natürlich, sie hatte den Auftrag, ihn an seine Verpflichtungen zu erinnern, versuchte sie sich einzureden. Und dazu war er gut gelaunt vermutlich besser imstande. Aber sie musste sich eingestehen, dass sie gerade nicht wirklich an ihre Aufgabe gedacht hatte. Sie hatte an ihn gedacht. An den Mann Ben Adams.

Seine dunklen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, während er ganz auf das Spiel konzentriert war. Eine unglaubliche Kraft und Vitalität ging von ihm aus. Eine Vitalität, die in ihr den Wunsch weckte, ihm nahe zu sein, ihn zu berühren, seine Haut zu spüren …

Der Gedanke erschien Sarah äußerst unschicklich. Wieder so ein Ausdruck ihres Vaters kam ihr in den Sinn: „dunkles Verlangen“. Sie hatte als Kind nie verstanden, was das sein sollte. Damals war ihr Verlangen auf Süßigkeiten und klebrige Getränke gerichtet gewesen, und sie konnte nicht verstehen, inwiefern das „dunkel“ sein sollte.

Aber als sie Ben Adams beobachtete – heimlich und etwas verschämt –, bekamen die Worte ihres Vaters eine neue Bedeutung für sie. Etwas regte sich in ihr. Auch wenn sie es nicht als dunkel empfand, sondern als sehr kraftvoll und lebendig. So kraftvoll, dass es ihr beinahe den Atem nahm.

Mit einem heftigen Atemzug kam Sarah zur Besinnung. Was denke ich da? fragte sie sich. Was ist nur los mit mir?

Als Ben aufblickte, sah er plötzlich Sarah im Schatten der Felsen stehen. Ihr Gesicht war gerötet, Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn und glänzten an ihrem Hals. Ihr widerspenstiges Haar kräuselte sich in ihrem Nacken, die gleißende Sonne verlieh ihm einen rotgoldenen Schimmer, so als wäre es in flüssiges Kupfer getaucht worden.

Er bemerkte, dass sie barfuß war, die Schuhe hielt sie in der Hand. Eigentlich verkörperte sie das Bild einer typisch englischen Touristin, die die Kraft der südlichen Sonne unterschätzt hatte. Und dennoch sah sie so zauberhaft aus, dass er seinen Blick kaum von ihr abwenden konnte.

Als sie bemerkte, dass er sie ansah, errötete sie und senkte hastig ihren Blick. „Mr. Adams, ich wollte nicht …“

„Sagen Sie Ben zu mir“, unterbrach er sie barscher, als er beabsichtigt hatte. „Mr. Adams war mein Vater.“

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, so als würde sie an etwas erinnert, das ihr Schmerz bereitete. „Er ist tot?“, fragte sie mitfühlend.

Ben drehte sich um. Eigentlich wollte er nicht über seinen Vater reden. Aber er hatte selbst davon angefangen, also musste er ihr antworten. Um Zeit zu gewinnen, warf er den Kindern den Ball zu. „Ihr seid zu gut für mich! Ich kann nicht mehr“, rief er auf Spanisch.

Betont gleichgültig zuckte er die Achseln, als er sich Sarah wieder zuwandte. „Soviel ich weiß, ist er vor zwei Jahren gestorben. Ich hatte seit langer Zeit keinen Kontakt mehr mit ihm.“

Seit jener Nacht – seit Mike … Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Warum brachte sie ihn immer wieder dazu, an damals zu denken?

„Und Ihre Mutter?“, fragte Sarah mit sanfter Stimme.

Ben senkte den Kopf und starrte angestrengt auf den Sand zu seinen Füßen. Abrupt bückte er sich nach seinem T-Shirt, das er achtlos über einen Felsen geworfen hatte, und streifte es sich über den Kopf. „Sie starb, als wir – als ich noch ganz klein war. Ich kann mich kaum an sie erinnern.“

Alles, was ihm von ihr im Gedächtnis geblieben war, war ein verschwommenes Gesicht mit dunklen Haaren, das sich über ihn beugte und mit leiser Stimme „Guten Abend, gute Nacht“ sang. Sie war Deutsche gewesen, das Lied war auf Deutsch, sodass er die Worte nicht verstand. Dennoch hatte er sich immer davon getröstet gefühlt und war sofort eingeschlafen.

Beinahe ärgerlich schüttelte Ben den Kopf. Er wollte jetzt nicht über diese Dinge nachdenken. All das war Vergangenheit und längst vorbei. Aber natürlich stimmte das nicht. Alles war noch da, tief in seinem Inneren.

„Es tut mir sehr leid“, flüsterte Sarah. Sie streckte ihre Hand aus, so als wollte sie seinen Arm berühren, aber dann ließ sie es doch bleiben. Und Ben musste sich eingestehen, dass er es bedauerte. Verlegen standen sie sich einen Augenblick lang gegenüber. Dabei war Ben noch nie in seinem Leben verlegen gewesen. Was war nur los mit ihm? Was hatte diese Frau an sich, das ihn so aufwühlte und einfach nicht losließ?

Sarah blickte zu Boden. Sie musste aufhören, Ben ständig anzustarren. Er war ihr Boss, mehr nicht. Und eigentlich sollte sie längst wieder in seiner Villa sein und ihrer Arbeit nachgehen.

Ben setzte sich auf einen Felsen und betrachtete die Kinder, die in einiger Entfernung ihr Spiel fortgesetzt hatten. „Ist das nicht ein tolles Bild?“, murmelte er und deutete auf das Meer. Schaumgekrönte Wellen rollten an den Strand. Die Mittagssonne umhüllte alles mit einem flirrenden Schimmer. „Dieses Licht. Und diese Farben! Wie in einem impressionistischen Gemälde. Ich wünschte, ich könnte so etwas malen.“

Sarah setzte sich neben ihn. Überrascht sah sie ihn an. „Sie lieben die Impressionisten?“

Ben lächelte. „Das trauen Sie mir wohl nicht zu?“

Sarah dachte über die Frage nach. Eigentlich nicht, nach allem, was sie bisher von ihm gesehen hatte. Aber andererseits hatte ihr die Szene am Strand eben einen ganz anderen Ben Adams gezeigt, der durchaus zu lebensbejahenden, positiven Gefühlen fähig war.

„Doch, das tue ich“, erwiderte sie so ernsthaft, dass Ben sie erstaunt ansah. „Und warum tun Sie es nicht? So zu malen, meine ich.“

Sie wünschte plötzlich, ihn dazu animieren zu können. Vielleicht würde das diese Düsternis um ihn herum vertreiben. Aber Ben schüttelte den Kopf.

„Das – ist nicht mein Stil“, antwortete er knapp. Abrupt stand er auf. „Gehen wir zurück zum Haus. Sie bekommen sonst noch einen Sonnenstich. Sie sind diese Hitze nicht gewöhnt.“

Sofort fühlte Sarah sich wieder an ihren Platz verwiesen. Warum schmerzte sie das auf einmal? Schließlich war sie es als Privatsekretärin gewöhnt, mit den Launen ihrer Arbeitgeber zurechtzukommen. Und eigentlich sollte es doch in ihrem Interesse sein, dass Ben ins Haus und an seine Arbeit zurückkehrte. Das war ihre Aufgabe, und Mr. Ventham verließ sich darauf, dass sie diese Aufgabe gewissenhaft erledigte. Ihre persönlichen Wünsche waren nicht von Belang.

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, wie ihr Vater immer mit strengem Blick zu sagen pflegte. Doch Sarah musste sich eingestehen, dass dieser Spaziergang am Strand ein großes Vergnügen für sie war. Sie ertappte sich bei der Vorstellung, dass Ben nach ihrer Hand greifen könnte, so als wären sie ein Liebespaar. Sofort schreckte sie schuldbewusst aus diesen Träumereien auf. Was für ein absurder Gedanke!

Es war ganz offensichtlich, dass Ben Adams nicht das geringste Interesse an ihr hatte. Wie sollte er auch? Ein Mann in seiner Position und mit seinem Ruf. Ben Adams war eine Berühmtheit. Ein Mann von Welt, der in den höchsten Kreisen verkehrte. Und sie war nur … nun ja, nur sie selbst.

„Woher aus England kommen Sie?“, unterbrach Ben ihre Gedanken.

Sofort stieg wieder das düstere, schmucklose Cottage vor Sarahs geistigem Auge auf, diese strenge, freudlose, von strikten Regeln und Grundsätzen geprägte Welt, in der sie aufgewachsen war.

„Aus Pemberton im Lake District“, antwortete sie zögernd. Ihr Zuhause war eigentlich das Letzte, worüber sie in diesem Augenblick reden wollte. Aber Ben schien ihren Widerwillen nicht zu bemerken.

„Das Lake District? Eine tolle Landschaft. Sehr dramatisch! Ideal zum Malen. Ich bin dort einmal gewandert, mit meinem … als ich jünger war.“

Sarah hörte ihm erstaunt zu. Sie hatte ihre Heimat als grauen, kalten, nebelverhangenen Ort in Erinnerung, der sehr genau zu der Atmosphäre in ihrem Elternhaus passte. Die Schönheit der Natur hatte sie dort nie entdecken können. Vielleicht lag es ja auch daran, dass Schönheit nie ein Thema für sie gewesen war.

Schönheit ist eitler Tand. Unser Streben richtet sich auf den Dienst an Gott und den anderen!

Noch so ein Ausspruch ihres Vaters, der sie seit ihrer Kindheit verfolgte. Und sie erinnerte sich plötzlich wieder an eine Szene aus diesen Tagen, die sie beinahe schon vergessen hatte. Sie war damals neun oder zehn Jahre alt gewesen. Eine Freundin hatte sie überredet, sich mit Lippenstift und Lidschatten zu schminken. Natürlich fiel das Ergebnis übertrieben und angemalt aus. Trotzdem war Sarah fasziniert gewesen von der Veränderung, die ein bisschen Farbe in ihr Gesicht gezaubert hatte. Beinahe war sie sich hübsch vorgekommen. Wie eine erwachsene Frau!

Bis der strenge Blick ihres Vaters auf sie fiel. Er hatte gewartet, bis ihre Freundin gegangen war, dann zerrte er sie ins Badezimmer und wusch die Farbe mit einem groben Tuch ab. Beinahe so wie Ben, als er ihr Gesicht von den Farbspritzern gereinigt hatte. Aber wo Bens Ausdruck belustigt und etwas spöttisch gewesen war, hatte das Gesicht ihres Vaters Abscheu und Verachtung ausgedrückt.

„Die Verlockungen des Satans haben keinen Platz in diesem Haus“, polterte er. Und ihre Mutter hatte demütig dazu genickt. Seitdem stand Sarah ihrem eigenen Aussehen zwiespältig gegenüber. Und sie erkannte plötzlich, wie tief dieser Schmerz, den sie längst überwunden glaubte, immer noch saß.

„Haben Sie Geschwister?“, fragte Ben unvermutet. Sein Gesicht wirkte angespannt, so als hätte die Erinnerung an den Lake District eigene Wunden bei ihm aufgerissen.

Sarah nickte. „Drei Brüder. John, James und Matthew.“

„Klingt wie aus der Bibel.“

„Mein Vater ist Reverend der Presbyterianischen Kirche.“

Ben betrachtete sie mit neuem Interesse. „Eine Pastorentochter? Wer hätte das gedacht!“

Seine Stimme klang spöttisch. Trotzdem schwang ein eigenartiger, beinahe zärtlicher Unterton in ihr mit. Sarah fühlte Bens Blick auf sich ruhen. Eine beinahe magnetische Anziehung ging von ihm aus. Seine sehnigen, braungebrannten Arme weckten in ihr den Wunsch, von ihm gehalten zu werden, seine Hände auf ihrem Rücken zu spüren, in ihren Haaren, auf ihrer Haut …

Das Klingeln ihres Handys riss sie aus diesen unangemessenen Träumen. Auf dem Display erschien Fiona Dennings Name. Dass sie ausgerechnet jetzt anrufen musste. Ben sollte keinesfalls mitbekommen, dass sie Erkundigungen über Daria Andreeva einzog. Verschämt drückte Sarah das Gerät an sich.

„Ein … privater Anruf“, stammelte sie. „Von meinem Bruder Matthew.“

Bens skeptischer Blick drückte aus, dass er ihr das offensichtlich nicht glaubte. Aber er sagte nichts. „Dann gehe ich schon voraus. Bis zu meinem Haus ist es nicht mehr weit.“

Als er außer Hörweite war, nahm Sarah den Anruf entgegen. Aus dem Handy kreischte Fionas hysterische Stimme. „Oh mein Gott, Sarah, was soll ich nur tun? Mr. Ventham hatte einen Herzanfall!“

5. KAPITEL

Als Ben den gewundenen Pfad, der über die Klippen zu seinem Haus führte, hinaufstieg, kam er nicht umhin, sich immer wieder nach Sarah umzudrehen. Sie ging am Strand auf und ab und sprach eindringlich in ihr Handy. Offensichtlich handelte es sich um einen wichtigen Anruf. Mit wem sie wohl sprach? Mit ihrem Freund? Ihren Eltern? Und warum interessierte ihn das überhaupt? Schließlich hatte er sie vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden zum ersten Mal in seinem Leben gesehen. Und eigentlich hatte sie überhaupt nichts an sich, das ihn ansprach. Wenn man von den rehbraunen Augen absah. Und dem sanften, eindringlichen Gesicht. Und den widerspenstigen Haaren. Und ihrer schlanken Figur, die so viel Stärke und Schwäche vereinte.

Und warum sprachen ihn alle diese Dinge plötzlich an, die ihn früher nie interessiert hatten? Frauen waren für Ben immer nur Mittel zum Zweck gewesen. Sie dienten ausschließlich seiner körperlichen Befriedigung. Gefühle in sie zu investieren, war nie seine Sache gewesen. Wie sollte er auch Gefühle zeigen, wenn er gelernt hatte, wie viel Schmerz es bringen konnte, jemandem nahe zu stehen und diesen Menschen wieder zu verlieren?

Entschlossen schob Ben diese Gedanken beiseite. Liebe war nichts für ihn, so viel stand fest. Er war sich selbst genug. Alles, was er brauchte, um so etwas wie Erfüllung zu finden, war seine Malerei. Auch wenn es ihm zurzeit immer schwerer fiel, sich auf diesem Weg auszudrücken. Etwas schien in seinem Leben und in seinem Inneren zu fehlen, das ihn inspirierte.

Plötzlich stieg wieder das Bild von Sarah am Strand vor ihm auf, wie sie in diesem gleißenden Licht gestanden hatte, den Blick auf das Meer und eine ferne Sehnsucht gerichtet. Unbewusst beschleunigten sich Bens Schritte. Er brauchte seinen Skizzenblock, um dieses Bild einzufangen: das Licht, das Gefühl, die Stimmung.

Aber eigentlich benötigte er keinen Skizzenblock. Es war alles fix und fertig in seinem Kopf. Ein imaginäres Gemälde, das darauf wartete, von ihm auf die Leinwand gebracht zu werden!

Sarah holte tief Luft. Sie fühlte sich, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Ihre Gedanken überschlugen sich, während sie versuchte, der völlig aufgelösten Fiona ein vernünftiges Wort zu entlocken.

„Fiona, bitte, beruhige dich! Und dann erzähl mir in kurzen Worten, was passiert ist.“

Fiona schniefte. „Es ist alles meine Schuld! Mir ist der Name dieser Russin herausgerutscht. Und da wurde Mr. Ventham natürlich hellhörig. Was sollte ich denn machen? Ich konnte es ihm nicht verheimlichen und habe ihm die ganze Geschichte erzählt. Und plötzlich griff er sich an die Brust und brach zusammen. Oh, mein Gott, Sarah, was soll ich denn jetzt tun?“

Sarah seufzte resigniert. Sie hätte wissen müssen, dass Fiona unfähig war, ein Geheimnis länger als zwanzig Minuten zu bewahren. Aber Fiona war im Moment unwichtig.

„Was ist mit Mr. Ventham? Ist er im Krankenhaus? Wie geht es ihm?“

„Den Umständen entsprechend. Ich bin bei ihm in der Klinik. Schließlich konnte ich ihn in so einer Situation nicht allein lassen.“

„Nein, natürlich nicht.“ Sarah versuchte sich vorzustellen, wie Fiona mit ihrer Hysterie das ganze Krankenhaus in Aufruhr versetzte. Aber es ging jetzt darum, Mr. Ventham zu beruhigen, um seine Gesundheit nicht weiter zu gefährden. „Ist Mr. Ventham ansprechbar? Wenn ja, würde ich gerne mit ihm reden.“

Es dauerte einen Moment, bis sie ihren Auftraggeber am Handy hatte. Seine Stimme klang schwach und erschöpft. „Miss Burton? Bitte machen Sie sich keine Gedanken um mich. Ich bin hier im Krankenhaus in den besten Händen. Es war nur die Aufregung. Diese Daria Andreeva ist wie eine Heuschrecke auf dem internationalen Kunstmarkt. Sie versammelt die besten und begabtesten jungen Künstler in ihrer Galerie, sonnt sich eine Weile in ihrem Glanz und lässt sie dann wieder fallen wie eine heiße Kartoffel, wenn sie sich dem nächsten angesagten Maler zuwendet. Auf diese Weise hat sie schon mehr als eine Karriere ruiniert. Dieses Schicksal möchte ich Ben ersparen. Er war doch bei mir immer in guten Händen. Ich habe alles getan, um …“

Ein Hustenanfall unterbrach Mr. Venthams Rede. Schnell hakte Sarah ein. „Natürlich, Mr. Ventham. Ich bin sicher, Ben – ich meine, Mr. Adams weiß das. Und ich verspreche Ihnen, dass ich alles Menschenmögliche tun werde, um ihn bei Ihrer Galerie zu halten. Alles!“

„Sie sind mein rettender Engel, Miss Burton“, hauchte Mr. Ventham. „Das Schicksal meiner Galerie liegt in Ihren Händen.“

„Sie können sich auf mich verlassen, Mr. Ventham“, versicherte Sarah ihm. Doch als sie aufgelegt hatte, schüttelte sie zweifelnd den Kopf. Alle erwarteten Hilfe von ihr. Dabei wusste sie nicht einmal, wie sie sich selbst helfen sollte!

Mit raschen Strichen skizzierte Ben das Bild. Er konnte es genau vor sich sehen: das Licht, die Landschaft, die Farben. Nur Eines bereitete ihm Schwierigkeiten. Dieser Ausdruck auf Sarahs Gesicht, den er nicht ganz deuten konnte. Diese Sehnsucht gepaart mit Trauer und Resignation. Und da war noch etwas anderes. Eine Art von schuldbewusstem Trotz, als würde sie sich ihre Gefühle selbst nicht ganz erlauben.

Es war ein merkwürdiger Ausdruck, der ihn aus irgendeinem Grund ansprach. Vielleicht, weil er selbst diese Emotionen nur zu gut kannte. Er konnte nur nicht verstehen, warum eine junge, selbstbewusste Frau wie Sarah so empfinden sollte. Was wusste sie schon von Schuld und Trauer?

Bald würde sie sowieso nach England zurückkehren, einen netten Mann kennenlernen, ihn heiraten und jede Menge Kinder großziehen. Für einen flüchtigen Augenblick wünschte sich Ben, dass er dieser Mann sein könnte. Aber gleichzeitig war ihm klar, dass er sich für eine solche Rolle nicht eignete. Er war nicht der nette Kerl von nebenan, der ein normales Leben mit allem Drum und Dran führte. Seit jener Nacht vor einundzwanzig Jahren war sein Leben nicht mehr normal – und das würde es auch nie mehr sein.

Und daran konnte auch Sarah Burton nichts ändern.

Bens Hand tauchte den Pinsel wie selbstverständlich in den Topf mit roter Farbe. Es war beinahe wie ein innerer Zwang, der ihn den Arm heben ließ, um einen weiteren vernichtenden roten Strich über ein weiteres seiner Bilder zu ziehen. Doch im letzten Augenblick hielt er inne. Ohne dass es ihm bewusst geworden wäre, hatte seine Hand eben den Blick in Sarahs schmalem Gesicht vollkommen treffend eingefangen. Und dieser Blick starrte ihn nun von der Leinwand an: traurig, lieblich und sehnsüchtig.

Er konnte dieses Bild nicht zerstören. Nicht nur, weil es Sarah zeigte. Sondern weil er erkannte, dass es genauso geworden war, wie er schon seit langer Zeit zu malen versucht hatte. Doch es war ihm nie zuvor gelungen. Es war immer bei kläglichen Versuchen geblieben, diese Gefühle, die er in sich spürte, auf dem Papier auszudrücken. Bis jetzt. Plötzlich konnte er es auf der Leinwand sehen. Eine neue Leichtigkeit. Ein Gefühl von Licht und Farbe. So als wäre nach einer endlos langen Nacht die Sonne am Horizont aufgegangen.

Ben ließ den Pinsel mit der roten Farbe fallen und starrte fasziniert auf die Leinwand. Das war es! Danach hatte er schon so lange gesucht.

Erschöpft kehrte Sarah zum Haus zurück. Ihre Gedanken drehten sich wie wild im Kreis. Was sollte sie nur tun? Und vor allen Dingen: Wie sollte sie das Versprechen, das sie Mr. Ventham gegeben hatte, halten? Was hatte sie dieser Daria Andreeva entgegenzusetzen? Die blonde Russin war alles, was Sarah nicht war: schön, weltgewandt und selbstbewusst. Daria war eine Frau, die wusste, was sie wollte und wie sie es bekommen konnte.

Und was bin ich? fragte Sarah sich resigniert.

John fiel ihr plötzlich ein, der sie immer „mein scheues Reh“ genannt hatte. Und genau das war sie: ein hilfloses, verängstigtes Reh, das wie hypnotisiert in die Scheinwerfer eines heranrasenden Autos starrte und nicht wusste, in welche Richtung es fliehen sollte. In der Realität glich Ben Adams diesem heranrasenden Auto, das wurde Sarah schlagartig klar. Sein dunkler, verzehrender Blick hielt sie ebenso gefangen wie die Scheinwerfer das Reh.

Sarah fühlte, wie sich bei diesem Gedanken die feinen Haare in ihrem Nacken aufstellten, wie ein leises Kribbeln über ihre Wirbelsäule kroch. Ben Adams scherte sich nicht um die Sorgen und Befindlichkeiten anderer. Er würde vor nichts und niemandem Halt machen, um das zu bekommen, was er wollte. Eine solche Rücksichtslosigkeit kannte Sarah von John nicht. Der war immer der perfekte Gentleman gewesen: freundlich, nachsichtig und rücksichtsvoll. Nie hätte er sie zu irgendetwas gedrängt, das ihren Überzeugungen widersprach. Oder waren es vielmehr die Überzeugungen ihres Vaters? Mit dem Ergebnis, dass sie mit dreißig immer noch Jungfrau war.

Sarah biss sich auf die Lippen. John und sie waren übereingekommen, mit dem Sex bis zur Ehe zu warten. Und es war ihnen nicht einmal schwergefallen. Ihre Beziehung basierte auf Freundschaft, auf gemeinsamen Interessen und gegenseitigem Respekt. Mit John hatte sie nie diese dunkle Begierde gespürt, die Ben Adams’ Anblick am Strand in ihr geweckt hatte.

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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