Romana Extra Band 70

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MIT DIR KOMMT DIE LIEBE ZURÜCK von BARLEY, ROBERTA
Sie braucht einen Neuanfang: Nur deshalb hat Emily die Stelle als Privatköchin in der Villa an der romantischen Côte Sauvage angenommen. Doch der geheimnisvolle Herr des Hauses macht es ihr nicht leicht. Warum nur verhält sich der attraktive Yann ihr gegenüber so abweisend?

UNTER DEN STERNEN AUSTRALIENS von DUKE, ELIZABETH
Claire ist verzweifelt. Sie sitzt ohne einen Cent in Venedig fest, dabei muss sie dringend zurück nach Melbourne. Der attraktive Witwer Adam macht ihr ein Angebot: Er nimmt sie mit nach Australien, wenn sie sich um seinen Sohn kümmert. Und seine Frau wird …

DIE NANNY UND DER PLAYBOY-PRINZ von HOLLIS, CHRISTINA
Das darf doch wohl nicht wahr sein! Prinz Lysander will seinen kleinen Neffen zu nachtschlafender Zeit seinen Gästen vorführen? Wütend marschiert die junge Nanny Alyssa in Richtung Ballsaal - und wird von dem Prinzen persönlich mit einem heißen Kuss gestoppt …

ENTSCHEIDUNG AUF ARUBA von EVANS, LINDSAY
Adah ist nach Aruba geflüchtet, um eine Entscheidung zu treffen: Soll sie wirklich die arrangierte Ehe eingehen, um das Familienunternehmen zu retten? Am Strand trifft sie den sexy Surfer Kingsley. Aber wie kann sie in seiner prickelnden Nähe einen klaren Gedanken fassen?


  • Erscheinungstag 10.07.2018
  • Bandnummer 0070
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744397
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Roberta Barley, Elizabeth Duke, Christina Hollis, Lindsay Evans

ROMANA EXTRA BAND 70

ROBERTA BARLEY

Mit dir kommt die Liebe zurück

„Verschwinden Sie aus meiner Küche!“ Wenigstens in seiner Villa in der Bretagne will Restaurantkritiker Yann Ruhe vor den Frauen haben. Aber die bezaubernde Emily weckt ungewollte Gefühle in ihm …

ELIZABETH DUKE

Unter den Sternen Australiens

Sie soll seinem Sohn die Mutter ersetzen. Nur deshalb hat Adam die hinreißende Claire mit zurück nach Australien genommen. Warum nur bringt ihre sinnliche Nähe ihn dann so um den Verstand?

CHRISTINA HOLLIS

Die Nanny und der Playboy-Prinz

Als er plötzlich das Land regieren muss, erwartet Prinz Lysander Pflicht statt Vergnügen. Doch nach einem Blick auf Alyssa, die Nanny seines Neffen, erwacht der königliche Verführer in ihm …

LINDSAY EVANS

Entscheidung auf Aruba

Sonne, Meer und Wind: Mehr braucht Tycoon Kingsley Diallo nicht, um glücklich zu sein. Bis er auf Aruba die umwerfende Adah trifft. Er verliebt sich Hals über Kopf. Aber was verbirgt sie vor ihm?

1. KAPITEL

Warum war sie hier? Emily starrte ins Leere und versuchte, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Vor zwei Jahren hatte sie das verloren, was ihr am liebsten war, und gedacht, dass es von diesem Tag an nicht weiter abwärts gehen konnte. Doch das hatte sich als Trugschluss herausgestellt. Es war nicht das Ende gewesen, sondern der Anfang einer schlimmen Zeit, der Beginn einer immer schneller werdenden Talfahrt in eine immer größer werdende Katastrophe. Sie hielt die Luft an und schloss die Augen, um nicht zu weinen. Mit aller Kraft konzentrierte sie sich auf die erfreulicheren Erlebnisse in ihrem Leben. Es hatte doch auch wunderschöne Zeiten gegeben! Damals, in Paris.

Für einen Moment gelang es ihr, sich in die französische Hauptstadt auf den St.-Quentin-Markt in der Nähe der Gare du Nord zu träumen.

Dort war sie jeden Morgen an den Marktständen vorbeigeschlendert und hatte die frischesten Fische und das knackigste Gemüse gekauft. Oh, wie sie die Atmosphäre dort geliebt hatte! Die Düfte des saftigen Obstes stiegen in ihre Nase, sie konnte die Stimmen der Händler hören und spürte die lebhafte Atmosphäre, als sie von einer scherzenden Stimme unterbrochen wurde:

Mademoiselle, wenn Sie die Melone weiterhin so liebevoll streicheln, will sie bestimmt mit Ihnen nach Hause gehen!“ Der Mann hinter dem Marktstand lachte, und auch die umstehenden Leute stimmten in das Gelächter mit ein.

Emily zog schnell ihre Hand von der gelben Guadeloupe-Melone zurück und öffnete die Augen. Sie schniefte ein wenig, und für ein paar Sekunden hatte sie tatsächlich Mühe, sich zurechtzufinden.

Sie war nicht in Paris, sondern in einem kleinen Ort an der Küste der Bretagne. Wie hatte sie sich so tief in dem Tagtraum verlieren können? Die Menschen des bretonischen Dörfchens Keroman ließen sich mehr Zeit zum Plaudern und mehr Ruhe zum Aussuchen der Ware, als es ein Pariser jemals tun würde. Außerdem gab es hier längst nicht so viele hektische Stimmen, wie im lauten, quirligen Pariser Bahnhofsviertel, wo man neben Französisch jederzeit auch Englisch und Arabisch hören konnte.

Emily seufzte tief, doch der traurige Schleier um ihr Herz ließ sich nicht mit einem einzigen tiefen Durchatmen vertreiben. Sie schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber es gelang ihr noch immer nicht, die Erinnerungen an ihr altes Leben abzuschütteln.

Dann eben anders: Sie stellte sich zwischen die gestreiften Markisen und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Am Himmel zogen federleichte Wölkchen vorbei, die vom Seewind über das klare Blau getrieben wurden.

Sie war aus Paris geflohen, um sich zu verstecken, und dies schien der perfekte Ort für einen Neuanfang zu sein. In Keroman, bei ihrem Bruder William, konnte sie die Zuflucht finden, nach der sie verzweifelt gesucht hatte.

„Hier bist du sicher“, hatte er gesagt, als er sie in die Arme schloss. „Hier kannst du dich erholen und alle Sorgen vergessen.“

Das war unheimlich lieb von ihm, aber wie stellte er sich das vor? Die beiden letzten Jahre waren ein Albtraum gewesen, aus dem sie erst erwacht war, als sie endgültig alles verloren hatte. Sie konnte ihren Schmerz nicht wie ein paar Kuchenkrümel von einer Tischplatte wischen. Doch sie war fest entschlossen, ihm den Gefallen zu tun und es zumindest zu versuchen.

„Mademoiselle!“

Emily wusste, es war unhöflich, stumm zu bleiben, doch sie fühlte sich zu erschöpft, um zu antworten. Sie genoss einfach weiterhin die Wärme der Sonne auf ihrer Haut und versuchte wenigstens, ein bisschen Energie daraus zu schöpfen. Obwohl sie Engländerin war, wurde sie von den meisten Menschen hier für eine Französin gehalten. Ob es an ihren langen dunklen Haaren und ihrer schlanken, hochgewachsenen Figur lag? Oder doch eher an ihrer Vorliebe für Kleider mit dezentem Blumenmuster, von denen sie auch heute eines trug?

Mademoiselle, kaufen Sie nun die Melone?“

Nur widerwillig öffnete sie die Augenlider: „Bien sûr! Aber sicher!“

Sie nahm ihren vollen Korb mit den weiteren Einkäufen und lief zurück zu ihrem Auto. Wenigstens den kleinen roten Peugeot hatte sie nicht verkaufen müssen, dachte sie, als sie den Korb auf dem Rücksitz verstaute und sich auf den Fahrersitz gleiten ließ. Der Wagen war alles, was ihr außer einem Koffer mit Kleidungsstücken und einer Kiste mit ihren privaten Erinnerungen noch geblieben war.

Als sie zehn Minuten später in das abgelegene Gehöft einbog, musste sie schon wieder schlucken, um den dicken Kloß loszuwerden, der ihr die Kehle zuschnürte. Das alte Hofgebäude und die Stallungen bestanden aus hellen Ziegeln. Einige Hühner scharrten in der Sonne, und hinten im Obstgarten leuchteten die Kirschen. Es war so schön friedlich hier. Was für ein Unterschied zu den lebhaften Straßen im zehnten Quartier von Paris, in denen sich die Menschen drängelten, und in denen es nie sehr sauber war. Und doch hätte Emily alles dafür gegeben, die Uhr zurückzudrehen, bis zu dem Augenblick vor zwei Jahren, an dem das Unheil begonnen hatte. Um genau dort wieder zu stehen und alles zu verhindern.

Mit kraftlosen Schritten ging sie über den Hof.

William hatte in einer der Scheunen sein Atelier eingerichtet und verbrachte dort fast den ganzen Tag mit der Arbeit an seinen Bildern.

Emily wusste, dass er es gut mit ihr meinte und ihr helfen wollte. Als ihr Zwillingsbruder durchschaute er immer, was in ihrem Kopf vorging. Mit ihm musste sie nicht viel reden, und nach Reden stand ihr im Moment auch wirklich nicht der Sinn.

Als sie die Hälfte des Hofes überquert hatte, öffnete sich die alte Holztür des Ateliers, und William kam ihr entgegen. Der farbbekleckste Overall stand ihm gut, doch sein Blick war verschlossen und sein Lächeln abwesend. „Ach Emi, da bist du ja!“

Er weiß nicht, wie gut er aussieht, dachte Emily, er lebt nur für seine Kunst und zieht sich einfach viel zu sehr zurück. Seine dunklen, mandelförmigen Augen glichen den ihren ebenso wie sein wohlgeformter Mund mit den vollen Lippen. Doch während ihre Haare glatt hinunterhingen, hatte er schon als Kind einen wilden Lockenkopf besessen.

„Ich weiß, der Kühlschrank war ziemlich leer heute Morgen. Was hast du denn Feines mitgebracht?“, fragte er.

Emily musste wieder einmal den Kopf über ihren Bruder schütteln. Sie hatte jede Menge Schulden bei der Bank, aber dass William ebenso knapp bei Kasse war, verwunderte sie. Es gab kaum etwas zu essen im Haus, nur Butter und Konfitüre.

„Ich habe einen Bärenhunger.“ Nun lächelte er sie an, so herzlich und vertrauensvoll wie früher. „Kochst du uns was?“

„Ich koche nicht mehr. Das weißt du doch.“

„Ach, Emi, verzeih mir! Ich vergaß!“ William umarmte sie und hob sie ein Stück hoch, wobei es ihm offenbar gelang, in ihren Einkaufskorb zu lugen. „Egal, Melone, Brot und Tomaten sind auch okay!“ Sanft setzte er sie auf dem Boden ab.

Yann seufzte leise auf. Der Whisky brannte mild in seiner Kehle, doch das tröstliche Gefühl, das sich für gewöhnlich in seinem Magen ausbreitete und gnädig seinen Kopf benebelte, blieb aus. Er kehrte dem Fenster den Rücken zu und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Dort verfiel er in brütendes Schweigen. Sonst war er immer froh gewesen, nach Hause, auf sein Anwesen, zu kommen, doch heute fühlte er sich selbst hier auf La Roche gereizt und schlecht gelaunt.

Er war überarbeitet, und er trank zu viel. Wobei trinken ja auch ein Teil seiner Arbeit war. Yann stieß die Luft durch die Nase aus, dann hob er den Whiskytumbler abermals an die Lippen und leerte ihn in einem großen Zug.

Es war halb elf Uhr morgens, und er war ein freier Mann! Und ein wohlhabender noch dazu! Wenn er einen zweiten Single-Malt-Whisky trinken wollte, von dem die Flasche hundertzwanzig Euro kostete, konnte ihm das niemand verbieten.

Yann schloss die Augen. Er war plötzlich müde, unheimlich müde. Er hatte alle seine Pläne umgeschmissen und war heute Morgen um fünf Uhr in Paris losgefahren. Es hatten zwar noch die zwei Termine oben im Norden, in Rouen und Amiens, in seinem Kalender gestanden, aber was hatte er getan? Er sagte sie ab und fuhr stattdessen in das kleine bretonische Nest, in dem er aufgewachsen war. Irgendetwas hatte ihn hier hingetrieben. Er konnte sich nicht erklären, was.

„Vielleicht deine Flucht aus ihrem Apartment?“, fragte er sich laut und merkte, wie verächtlich seine tiefe Stimme klang. „Aus dem warmen Bett von … wie heißt sie noch mal?“

Er fühlte sich schlecht. Er hatte lange darüber hinweggesehen, doch nun musste er sich eingestehen, dass es ihm in letzter Zeit häufig nicht besonders gut ging. Vor allem dann, wenn er sich nach einer Nacht in einem schicken Club morgens um fünf aus der Wohnung einer schönen Frau schlich. Ob in Paris, Bordeaux oder Nizza machte keinen Unterschied … Und noch eine Gemeinsamkeit gab es: Keine dieser Damen hatte er je wieder angerufen. Dabei waren manche sogar recht nett, aber es ging nicht. Nein, es ging wirklich nicht.

Allein der Gedanke, eine von ihnen mit hierher zu bringen, verbot sich von selbst. In diesem Moment meldete sein Handy den Eingang einer Nachricht.

Habe gerade deinen Artikel im Parisien gelesen! Deine Witze sind köstlich, deine Bewertung wunderbar bissig geschrieben!! Aufgepasst, ihr Leute vom „L’Aubergine“ … eure Tage als Gourmet-Tempel sind gezählt!

Er drehte sich um und warf das Handy durch den Raum, sodass es auf dem Ledersessel neben der Tür landete. Ärgerlich presste er seine Kiefer aufeinander. Seit wann machten ihm selbst die Kommentare seiner sogenannten Freunde keinen Spaß mehr?

Wieder stand Yann auf und trat ans Fenster. Der Garten leuchtete in sattem Grün, und vor den Mauern blühten die Hortensien, doch das alles und auch der Anblick der hohen Bäume beruhigte ihn heute nicht.

Den Artikel im Le Parisien hatte er in weniger als einer halben Stunde in die Tastatur seines Laptops gehämmert. Er wusste, er konnte mit Worten umgehen. Zwar schrieb er längst nicht mehr so ausgefeilt und überlegt wie früher, dennoch war er gut, oder etwa nicht? Seine Anhänger feierten ihn, und da sie lieber Verrisse, als Lobhudeleien lasen, bekamen sie die von ihm.

Ich bin ein Star, ich bin berühmt, ich musste mir schon mehrere Namen zulegen, um unerkannt zu bleiben, dachte er. Warum also die schlechte Laune? Vielleicht sollte ich keinen Whisky mehr trinken, sondern schlafen gehen. Vielleicht sollte ich aber auch eine Spritzfahrt mit dem kleinen neuen Jaguar Cabriolet machen.

Er grinste. Hatte er nicht alles? Konnte er nicht tun, was er wollte? Doch das Gefühl der Leere in seiner Brust wollte einfach nicht vergehen. Er goss sich einen weiteren Schluck Whisky ein und starrte lange in das Glas, bevor er ihn trank.

Der Wind zerrte an Emilys Haaren, die sie zu einem lockeren Knoten am Hinterkopf zusammengebunden hatte. Mit einer Hand hielt sie die Frisur fest, dann zog sie das Band heraus und ließ ihre seidenweiche dunkle Haarpracht wehen.

Die Wellen brachen sich wild schäumend unter ihr an den Felsen. Emily umschlang ihre Schultern mit den Armen und starrte auf das tosende Meer. Was zog sie nur immer wieder an diesen Platz?

Sie hatte Paris und alles, was geschehen war, hinter sich lassen wollen. Nun musste sie feststellen, dass auch die Côte Sauvage mit ihrer wilden Schönheit sie nicht trösten konnte.

Nach dem Verkauf des Petite Maison in Paris hatte sie immer noch Schulden. Das Restaurant war mindestens doppelt so viel wert gewesen, doch nach dem Skandal hatte sie nehmen müssen, was man ihr anbot.

Der Wind wehte in ihr Gesicht, als ob er ihr helfen wollte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Nun verkroch sie sich schon seit einer Woche bei William. Sie hatte viel geschlafen, war über die Felder und Wiesen marschiert und hatte sich bei Carnac die Menhire angeschaut. Doch die Scharen der Touristen, die mit ihr zusammen die Reihen der riesigen, aufgerichteten Steine bewunderten, hatten sie schnell wieder zurückgetrieben. An den Ort, der jetzt wohl erst einmal ihr Zuhause war. Williams Scheune. Sie seufzte.

William arbeitete Tag und Nacht. Er malte sehr große Formate und ausschließlich die wilde Küste und das Meer, das er so liebte. Die Bilder waren gewaltig und fingen die Stimmung auf einzigartige Weise ein. Doch nur sehr selten verkaufte er eins seiner Werke, und auch das spülte nicht viel Geld in die Kasse. Kurz nach ihrer Ankunft hatten sie sich zusammen vor der Vermieterin verstecken müssen, die das Geld für die monatliche Miete kassieren wollte … William hatte zwar ein paar Witze gemacht, doch auch ihm war es peinlich gewesen, zusammengekauert auf dem Boden des Ateliers zu hocken, um nicht entdeckt zu werden.

Emily stützte die Hände in ihre schmale Taille und schaute über das graublaue Meer. Eigentlich musste sie dem Schicksal dankbar sein. Nach dem Drama in ihrer Kindheit hatte es sie einige Jahre in Sicherheit gewiegt, und ihr nicht verraten, dass ihr Leben mit achtundzwanzig erneut ein einziger Trümmerhaufen sein würde. Nicht nur durch die Katastrophe in ihrem Privatleben, nein auch beruflich musste sie wieder bei null anfangen. Um Geld für sich und ihren Zwillingsbruder zu verdienen, würde sie ihre Trauer und den Kummer so schnell wie möglich verdrängen müssen … In ihrer Tasche befanden sich einige fotokopierte Zettel, die sie in den umliegenden Ortschaften verteilen wollte. Sie hatte am vorherigen Tag ein Arbeitsgesuch formuliert und hoffte, dass jemand in der näheren Umgebung eine passende Stelle frei haben würde. Natürlich hatte sie ein bisschen übertrieben und bot sich als Allround-Talent an: von der Englischlehrerin oder Gärtnerin bis hin zur Schreibkraft oder Putzfrau. Nur kochen würde sie nicht! So sehr es sie schmerzte, aber die Liebe und Leidenschaft dafür hatte sie verloren. Endgültig.

Als sie sich umwandte, bemerkte sie einen Wagen auf dem Parkplatz unterhalb des Felsplateaus. Es war ein Jaguar Cabriolet, fast so klein wie ihr roter Flitzer, doch mindestens dreimal so teuer. Ein Mann saß darin. Sein Blick war unverwandt auf sie gerichtet, während er nun die Fahrertür öffnete und ausstieg.

Er sieht ziemlich gut aus, dachte Emily unwillkürlich und wunderte sich sofort über diesen Gedanken. Seit Jahren hatte kein Mann mehr ihr Interesse wecken können. Sie gestattete ihren Augen einen Moment länger auf seinem gut geschnittenen männlichem Gesicht zu ruhen. Seine Haare waren dunkelbraun und gerade lang genug, dass sie über die Stirn reichten und der Wind sie zerzausen konnte. Sein Gesicht wirkte leicht gebräunt, sein Körper war groß, und obwohl er in einem Anzug steckte, konnte sie sehen, dass er durchtrainiert war. Seine Augen leuchteten hell. Ob grün oder blau, konnte sie noch nicht erkennen. Ja, er war attraktiv, sehr attraktiv! Aber warum war sie auf einmal so empfänglich dafür? Warum fing ihr Herz auf einmal an zu klopfen, als würde gleich etwas Aufregendes passieren?

In ihrem Leben gab es nichts Aufregendes mehr. Nur eine Menge finanzieller Probleme und unendliche Trauer.

Schon wollte sie sich wieder umdrehen und weiter auf das Meer starren. Vielleicht fuhr er ja einfach wieder davon. Doch dann besann sie sich auf ihr Vorhaben. Sie hatte schon genug Zeit verschwendet! Wenn sie sich künftig nicht von Baguette und den geklauten Kirschen aus dem Obstgarten der Vermieterin ernähren wollte, musste sie eine Arbeit finden.

Mit entschlossenen Schritten ging sie den schmalen Pfad zwischen geduckten Ginsterbüschen entlang. Direkt auf ihn zu. Er ist ein echter Mann, fuhr ihr durch den Kopf. Sensibel und stark. Er ist einer von den Männern, mit denen ein Teil der eigenen Seele stirbt, wenn sie gehen, falls man jemals gewagt haben sollte, sie zu lieben …

Der altbekannte Schmerz bohrte sich zuverlässig nach einer Zehntelsekunde in ihr Herz, als sie jetzt an Pierre dachte. Ach, Pierre, warum bist du so früh von mir gegangen? Emily richtete den Blick auf den steinigen Boden. Vor ihrem inneren Auge tauchten Pierres blonder Haarschopf und sein lachendes Gesicht auf, und sie sah, wie er in seiner weißen Kochjacke die Arme für sie ausbreitete. Manchmal, sehr selten, antwortete er ihr, wenn sie in Gedanken mit ihm sprach. Aber heute schien er lieber schweigen zu wollen … Pierre! Wie gerne würde ich mich noch einmal in deine Arme fallen lassen! Nur noch ein einziges Mal!

Sie taumelte ein wenig und spürte, dass der unbekannte Mann zur Seite trat um ihr Platz zu machen, sie dann aber am Ellbogen festhielt, um sie vor einem Sturz zu bewahren. Einen kurzen Moment waren sie auf einer Höhe, und sie blickte in seine Augen. Hell. Grün. Sehr klar, mit dunklen Wimpern und einem noch dunkleren Rand um die Pupille.

„Es geht schon, danke!“ Emily riss sich los. Sie drängte sich an ihm vorbei, darauf bedacht, ihn auf dem schmalen Pfad ja nicht noch einmal zu berühren.

„Sind die Geschäfte zu Ihrer Zufriedenheit verlaufen? Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Einen Kaffee, vielleicht?“

Yann wusste, dass sein Butler längst das Whiskyglas erspäht hatte. „Nein. Keinen Kaffee, Edward. Noch einmal einen davon, bitte!“

Es war vier Uhr nachmittags, und immer noch bewegte er sich in seinem eigenen Haus wie unter einer Glasglocke. Er war mit seinem Jaguar ein bisschen herumgefahren, aber schnell wieder zurückgekehrt. Er hätte es nie zugegeben, doch er fühlte sich verdammt einsam! Gut, dass wenigstens Edward da war.

Sein geschätzter Butler wusste, wie es ihm ging, er stand ihm vierundzwanzig Stunden zur Verfügung, wenn er ihn brauchen sollte, und stellte keine unnötigen Fragen.

Heute hatte Edward es aber anscheinend darauf angelegt, alle stillschweigenden Verabredungen über den Haufen zu werfen. „Keine guten Geschäfte, Sir?“, fragte er noch einmal, anstatt sofort nach nebenan zu gehen, ihm in einem neuen Glas den Whisky an der Hausbar einzuschenken und zu bringen.

„Doch. Sehr gute Geschäfte.“ Yann winkte ab und hing wieder seinen Gedanken nach. Konnte man sich in eine Frau verlieben, die man nur wenige Sekunden lang gesehen hatte? Als er sie am Rand der Klippe entdeckt hatte, war er nicht in der Lage gewesen, seinen Blick von ihr abzuwenden. Vor seinen Augen hatte sie ihre langen dunklen Haare gelöst und im Wind wehen lassen. Für einen Moment hatte er sich eingebildet, sie hätte es nur für ihn getan. Er schüttelte schnaubend den Kopf. Das war lächerlich, sie hatte ihn doch gar nicht richtig wahrgenommen. Was war nur mit ihm los?

Wieder sah er den Moment vor sich, in dem sie sich umwandte und auf ihn zukam … Es war völlig um ihn geschehen gewesen, als er ihre Augen gesehen hatte. Dunkel und leicht oval, wie Katzenaugen. Mein Gott, war diese Frau schön!

Warum aber hatten diese wunderbaren Augen nach ein paar Sekunden schon zu Boden geschaut, als hätte sie genug von ihm gesehen? Wie kam sie dazu? Niemals hatten sich die Augen einer Frau von ihm so schnell abgewandt. Warum ausgerechnet sie? Leute, die ihm schmeicheln wollten, sagten, er sei ein gut aussehender Mann. Er wusste, er war eine ganz passable Erscheinung. Er konnte recht charmant sein, er achtete auf sein Äußeres und hielt sich fit.

Yann schaute auf. Der Butler stand immer noch abwartend neben der Tür.

„Habe ich Ihnen eigentlich erzählt, Edward, dass die meisten Frauen gerade dann mit mir flirten, wenn sie mit ihrem Ehemann am Nebentisch sitzen?“

„Nein, Sir.“

„Das tun sie aber! Sie alle gehen zumindest mit ihren Augen fremd …“

Die Frau von den Klippen nicht, meldete eine Stimme sich in seinem Kopf, und ein sehnsüchtiger Schmerz zog durch seine Brust. Sie hat dich aus ihrem Leben ausgeschlossen, bevor du auch nur einen kleinen Blick darauf hast werfen können.

„Verstehe einer die Frauen! Mein Leben ist doch wunderbar, oder?“ Er wusste, dass seine persönlichen, bisweilen etwas lächerlichen Ausbrüche bei seinem Butler bestens aufgehoben waren.

„Natürlich, Sir.“

„Ich kann nicht klagen. Durch Serge verdiene ich gutes Geld. Sehr gutes Geld, oder etwa nicht?“ Er erwartete keine Antwort. Manchmal hatte er eben nach einer Woche voller Testessen und Autofahren, nach anstrengenden Tagen und zu kurzen Nächten das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, um seine Gedanken in Worte zu fassen. Edward nickte nur und wartete, die Hände auf dem Rücken gefaltet.

„Ab und zu geht er mir auf die Nerven, besonders wenn er mich anpumpt. Er spielt und kann mit Geld nicht umgehen. Doch er ist ein Freund und nimmt mir eine Menge Arbeit ab. Er hat mich bekannt gemacht. Nur brillante Restaurantkritiken oder Artikel über das Essen und Trinken zu schreiben, reicht heute nicht mehr, sagt er immer. Und er hat recht!“ Yann lachte auf, doch er hörte selbst, wie hohl es klang. Er nahm das leere Glas und reichte es dem Butler. „Genug Whisky für heute. Danke.“

„Eine Kleinigkeit aus der Küche, Sir?“

„Nein! Sie wissen doch, ich mag mich mit Essen in meiner Freizeit nicht beschäftigen.“

Weil er auf Serge gehört hatte, war er Frankreichs jüngster und bekanntester Restaurantkritiker und oft in Talkshows eingeladen. Er war ein Star, den die Leute erkannten. Um die Restaurants in Ruhe zu testen, musste er sich immer besser verkleiden. Manchmal heuerte er sogar einen Maskenbildner an. Er lächelte, aber seine Augen blieben ohne Freude.

„Serge hat mich mit den berühmten Leuten des Landes zusammengebracht, die dafür bezahlen, mich einladen zu dürfen!“ Er grinste amüsiert, doch dann wurde sein Gesicht wieder ernst. „Nur meine Eltern kann das nicht beeindrucken. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, stünde ich heute im Bistro meines Vaters und würde bretonische Austern öffnen …“

Yann massierte seine rechte Schläfe, hinter der sich Kopfschmerzen ankündigten. Er hatte es ihnen nie recht machen können. Mit seinem Leben nicht, mit seinem Erfolg nicht.

Er seufzte. Egal, wie viel ich noch verdienen werde, ging ihm durch den Kopf. Egal, ob sie mir irgendwann erlauben, ihnen ein besseres Auto oder ein größeres Haus zu kaufen. Sie werden nie mit mir zufrieden sein. Nicht bis an mein Lebensende.

2. KAPITEL

Ihr Handy hatte tagelang geschwiegen, aber das war Emily gewöhnt. Kaum einer ihrer Freunde rief sie noch an. Sie hatten es aufgegeben, so sehr hatte sie sich in den Jahren nach Pierres Tod abgekapselt. Sie hatte ihr Mitleid nicht gewollt, hatte versucht, es alleine zu schaffen. Mit dem Ergebnis, dass sie einsamer war als je zuvor.

Doch nun klingelte das Telefon plötzlich, und Emily zuckte zusammen. Nach der ersten Schrecksekunde fing sie sich und ging ran.

„Spreche ich mit Emily Bennett?“ Die männliche Stimme am anderen Ende der Leitung klang schon etwas älter, ruhig und sonor. Sie sprach Französisch, hatte aber ganz unverkennbar einen englischen Akzent.

„Ja, mit wem spreche ich?“

„Mein Name ist Edward Clarke. Ich habe Sie dabei beobachtet, wie Sie im La Mer einen Aushang befestigt haben.“

„Aha?“ Emily erinnerte sich an den Namen des Cafés. Auch im La Mer hatte man sie nicht als Bedienung einstellen wollen, ihr aber immerhin erlaubt, einen Zettel aufzuhängen. Wer war der Anrufer? Warum hatte er sie beobachtet und nicht gleich angesprochen?

Als ob er ihre Gedanken lesen konnte, gab er ihr sogleich die Antwort: „Ich muss gestehen, ich habe lange nachgedacht, doch nun bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass ich Sie einstellen möchte!“

Emilys Herz klopfte schneller vor Freude. War das heute etwa ihr Glückstag? Seit einer Woche hatte sie auf den Märkten und in den Geschäften herumgefragt, überall hingen bereits ihre Zettel, aber niemand hatte sich bis jetzt gemeldet. In ihrer Handtasche lag ein weiterer Stapel, sie wusste nur nicht mehr, wo sie die noch verteilen sollte. Es gab einfach nicht genug Arbeit in dieser Gegend des Landes.

„Oh, das ist wunderbar. Um was für einen Job würde es sich denn handeln?“

„Sind Sie Französin? Können Sie kochen?“

Emily schloss die Augen. Nein! Bitte nicht! Erst dieser Hoffnungsschimmer und dann das … Ausgerechnet in eine Küche sollte sie sich wieder stellen?

„Nein, äh… Nein, ich bin Engländerin, wahrscheinlich genau wie Sie.“

Sein gutmütiges, tiefes Lachen wärmte ihr Herz für einen Moment. „Nun, meinen Akzent kann ich wohl nicht verheimlichen. Und was ist mit meiner zweiten Frage?“

„Ob ich kochen kann …? Nein … eher nicht …“ Ihre Stimme erstarb. Sie konnte es nicht mehr. Würde es nie mehr können. Sie war ausgebrannt, müde und leer.

Reiß dich gefälligst zusammen, Emily, meldete sich eine Stimme in ihr, während sie sich in der Wohnküche ihres Zwillingsbruders umschaute. Die Vorratsschränke sind leer, wir haben keinen Cent mehr in der Kasse, und William verkauft sicher auch morgen und übermorgen kein einziges Bild! Du brauchst diesen Job!

Sie räusperte sich: „Doch. Verzeihen Sie, ich glaube, ich habe Sie eben nicht richtig verstanden. Ich kann kochen“, begann sie noch einmal. „Sehr gut sogar. Ich habe Erfahrung in der Gastronomie.“

„Nun, dann bringen Sie Ihre Referenzen und Zeugnisse doch gleich mit, wenn wir uns treffen!“

Emilys Augen suchten die hohe Decke der Wohnküche ab, natürlich ohne auf etwas Hilfreiches zu stoßen. „Entschuldigen Sie, aber damit kann ich nicht dienen.“

„Warum nicht?“, kam es durch den Hörer. „Wo und bei wem haben Sie gelernt?“

„Ich habe … bei …“ Emily stockte und hatte Mühe, die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. Bei Pierre. Ihr geliebter Pierre hatte ihr alles beigebracht! „Es tut mir leid, Mister Clarke. Ich kann es Ihnen nicht mit einem Zeugnis oder einem Zertifikat beweisen.“ Sie durfte ihm nichts über das Petite Maison und vor allen Dingen nichts über dessen Ende erzählen, er würde sonst an ihren Fähigkeiten zweifeln und vielleicht sogar Erkundigungen einholen. Wenn das geschah, würde er sie niemals einstellen!

„Nun. Was sind schon Zeugnisse?“, kam es leichthin vom anderen Ende der Leitung. „Ich habe Sie im Café gesehen und vertraue da ganz meiner Intuition.“

Emily lächelte. Seit acht Jahren lebte sie nun schon in Frankreich, und ihr war nicht bewusst gewesen, wie sehr sie das distinguierte Englisch vermisste, das Edward Clarke nun sprach, seitdem er erfahren hatte, dass sie ebenfalls Engländerin war.

„Es handelt sich eher um die Arbeit einer Haushälterin“, fuhr er fort. „Die Villa liegt nicht weit weg von Keroman. Nur ein paar Kilometer die Küste hinab, in südliche Richtung, die Ortschaft heißt Saint-Philibert, es ist ein herrschaftliches altes Haus am Meer. Ich habe Personal zum Reinigen und auch jemanden für den Garten, doch die Arbeit in der Küche wächst mir ein bisschen über den Kopf.“

Emily überlegte, ob sie es wagen sollte, nach ihrem Lohn zu fragen, da sprach er schon weiter.

„Warum kommen Sie nicht morgen Vormittag in die Villa, ich zeige Ihnen Ihren Wirkungsbereich und Sie entscheiden in aller Ruhe?“

Es war zehn Uhr, als Emily ihren roten Peugeot auf der gegenüberliegenden Straßenseite zum Stehen brachte, um das Tor der Villa aus einigem Abstand betrachten zu können. Die grauen Mauern ragten hoch vor ihr empor, das Tor wirkte wie eine abweisende schwarze Wand aus Metall. Dahinter sah man dutzende Baumkronen, jedoch nicht das Dach eines Hauses. Sie stieg aus und entdeckte drei Überwachungskameras, die sie vermutlich gerade aufnahmen.

Emily hob den Kopf und streckte die Schultern zurück, als sie klingelte. Schließlich kam sie nicht als Bittstellerin, sondern weil man ihr eine Arbeit angeboten hatte. Die Flügel des Tores öffneten sich summend. Sie stieg wieder in ihren Wagen und fuhr hindurch. Das Haus lag inmitten eines großen Parks und war nicht so protzig, wie sie vermutet hatte. Es war keine Villa, sondern eher ein erhabenes, zweistöckiges Landhaus, das aus denselben hellen Steinen wie die Mauer errichtet worden war. In die Fassade waren viele weiße Fenster eingelassen, und aus dem grauen Schieferdach ragten ein paar schlanke Schornsteine in den Himmel.

Emily hielt an, stieg aus und schaute sich neugierig um. Es war so grün hier! Überall sah man Bäume, dazwischen einfache, aber gepflegte Rasenflächen. Rechts und links der Eingangstreppe wuchsen riesige rosafarbene Hortensienbüsche, dazwischen leuchteten roter Fingerhut und blauer Rittersporn.

Hinter dem Haus schien es steil hinab zum Meer zu gehen. Emily meinte fast, das Rauschen der Wellen zu hören. Welche Familie auch immer hier wohnte, sie hatte sich ein Idyll geschaffen.

Gerade als sie sich wieder dem Haus zuwandte, öffnete sich die schwere Eingangstür. „Kommen Sie herein! Herzlich willkommen auf La Roche, unserem Fels in der Brandung!“

Emily lächelte. Der Mann, der sie begrüßt hatte, war ein älterer Herr um die sechzig mit einer sehr würdevollen, aufrechten Haltung. Sein graues Haar war akkurat geschnitten, sein Blick und die hellblauen Augen waren freundlich, doch durchdringend. Er trug einen dunklen Anzug und sah ein bisschen aus wie der strenge, aber liebenswürdige Mister Higgins, ihr Geschichtslehrer im Internat in Colchester.

„Edward Clarke. Ausgebildeter Butler, seit über vierzig Jahren im Dienst mehrerer Herrschaften und aus Cornwall, wie Sie unschwer an meinem Dialekt erkannt haben dürften.“

Emily nickte und reichte ihm die Hand. „Emily Bennett, ebenfalls aus Cornwall.“ Mehr konnte und durfte sie im Moment nicht über sich verraten. Ob sich der Butler mit dieser kärglichen Information zufriedengeben würde? Unsicher musterte sie ihn von der Seite, als er sie nun einließ. Doch Mister Clarke schien keine Bedenken zu haben. In der Halle blieb er stehen. „Ich brauche Unterstützung, Mademoiselle Emily. Darf ich Sie so nennen? Ich bin dann Edward für Sie.“

„Gerne!“

„An den meisten Tagen müssten Sie nur halbtags arbeiten, aber Sie würden sowieso nach Zeitaufwand bezahlt. Nach zwanzig Uhr, sonn- und feiertags natürlich mit Zuschlag.“

Im gleichen Atemzug nannte er ihr einen so hohen Stundenlohn, dass sie nach Luft schnappen musste. Sie würde Williams Ateliermiete zahlen können und noch genug übrig haben, um den Kühlschrank zu füllen. Nach einigen Wochen würde sie vielleicht etwas zurücklegen, um im Laufe der Zeit ihre Schulden zu begleichen.

„Das ist wirklich großzügig“, stammelte sie.

„Das ist der Preis, den wir zahlen, doch dafür verlangen wir Diskretion. Keine Angst, es passiert nichts Illegales hinter diesen Mauern. Doch mein Arbeitgeber ist in manchen Kreisen recht bekannt, er ist viel unterwegs und will hier in der Bretagne nichts anderes als seine Ruhe.“

Emily überlegte einen Moment. Vielleicht ein Schauspieler oder ein bekannter Politiker? Manche von ihnen hatten auch schon in ihrem Restaurant in Paris gesessen. Mit einigen musste man sehr sensibel umgehen. Besonders diejenigen, die unter falschem Namen buchten, waren oft beleidigt, wenn man diskret blieb und so tat, als ob man sie nicht erkannte. Sie zuckte mit den Schultern. Es war ihr egal, für welchen Prominenten sie arbeitete, im Moment waren andere Dinge viel wichtiger. Langsam, langsam würden sich ihre Finanzen vielleicht erholen können. Und sie selbst? Daran wollte sie jetzt nicht denken, das war ein anderes Kapitel.

„Auch ich kann Ihnen keine Referenzen geben.“ Der Butler lächelte auf seine unnachahmlich zurückhaltende Art. „Sondern Ihnen nur einen Vorschuss an Geld und Vertrauen bieten. Ansonsten muss ich Sie bitten, äußerst diskret zu sein!“

„Natürlich“, erwiderte Emily leise.

„Er wird so tun, als ob Sie gar nicht da sind, und genau so werden auch Sie sich verhalten. Und wenn Sie ihm tatsächlich begegnen sollten, dann nennen Sie ihn nur Monsieur. Unbedingt!“ Er tat so, als bemerke er Emilys erstaunten Blick nicht.

„In Ordnung“, flüsterte sie eingeschüchtert. „Ist er da? Der Monsieur?“ Sie schaute in der Halle umher, als ob der Hausherr jeden Moment um die Ecke kommen könnte.

„Nein!“ Edward lächelte. „Monsieur ist heute Morgen weggefahren und kommt erst im Laufe der nächsten Woche wieder. Aber selbst wenn er hier wäre, müssten Sie nicht flüstern. Es reicht, wenn Sie die Küche in Ordnung halten und in den restlichen Räumen möglichst nichts anfassen …“

„ … und mich unsichtbar mache“, fügte Emily für sich hinzu. Umso besser, schließlich habe ich Paris verlassen, um mich zu verstecken.

„Wenn Sie einverstanden sind und morgen das erste Mal zur Arbeit kommen, nehmen Sie doch bitte den westlichen Eingang und parken seitlich hinter dem Haus. Ich gebe Ihnen die elektronische Fernbedienung für das dortige Tor.“

Damit er mich nicht sieht, dachte Emily und zuckte mit den Schultern. Gut, Mr. Geheimnisvoll, das wird kein Problem für mich sein, das ist mir sogar sehr recht!

Edward führte sie herum und zeigte ihr die einzelnen Räume im Erdgeschoss. Zwei Wohnzimmer, ein kleines Bad, ein Esszimmer. Es war still, nur die eine oder andere Wanduhr tickte. Emily hörte ihre eigenen Schritte auf dem Boden, der aus dicken Holzbohlen bestand und dem Haus eine warme, anheimelnde Atmosphäre verlieh. In jedem der Zimmer gab es einen Kamin. Die Möbel waren eine gemütliche Mischung aus modern und antik.

„Und wenn Monsieur nicht da ist, wohnt hier niemand? Es sieht so … so lebendig aus. Als ob jemand gerade den Raum verlassen hätte.“

„Nun“, sagte Edward, „dafür sorgen wir ja, das Team von La Roche. Gerard, dem die Raumpflege untersteht und der alles in Ordnung hält. Antoine, der Gärtner, meine Wenigkeit und jetzt auch Sie!“

Emily lächelte. „Entschuldigen Sie die alberne Frage, aber bügeln Sie wirklich die Zeitung, bevor Monsieur sie lesen darf?“

„Ich würde es tun, damit die Druckerschwärze nicht auf seine Hände abfärbt, doch um sich über die Lage in der Welt zu informieren, bevorzugt Monsieur das Internet.“ Edward schmunzelte kaum merklich. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Küche.“

Emily zögerte. Es wird eine ganz normale Küche sein, beschwor sie sich, sie wird nicht mit der eines Restaurants zu vergleichen sein. Es wird keine Warmhaltestation geben, keinen Balken, um die Bons anzuheften, es wird vielleicht einen sehr teuren, aber keinen Profiherd geben!

Als sie mit den Füßen den schwarzweißen Fliesenboden betrat, war sie erleichtert. Nein, hier erinnerte nichts an die Küche des Petite Maison. Alles war modern und funktional eingerichtet, und ein Designer hatte sich Mühe gegeben, dies in besonders schöne Formen zu packen. Die Arbeitsflächen funkelten vor Sauberkeit. Es gab sogar ein kleines Kühlhaus, das aber vor allen Dingen durch leere Regalflächen bestach. Emily blieb kurz darin stehen und atmete die kalte Luft ein.

Eine lange Zeit war ihre Welt von den heißen Gasflammen der Küche und der erholsamen Kälte der eisigen Vorratskammer begrenzt gewesen. Sie hatte diese Welt über alles geliebt und sich freiwillig hineinbegeben. Seite an Seite mit Pierre.

Edward unterbrach ihre Gedanken: „Ihre Aufgabe würde darin bestehen, die Vorräte zu kontrollieren, aufzustocken und auch frisches Obst und Gemüse einzukaufen.“

Er lächelte sie ermutigend an, und sie konnte sehen, wie sich ein Kranz feiner Falten um seine hellgrauen Augen bildete. „Keine Scheu. Es ist nicht schwer. Bis auf das Frühstück nimmt Monsieur kaum eine Mahlzeit in seinen vier Wänden zu sich. Und das serviere ich ihm. Es sollte nur immer die Möglichkeit bestehen, ein kleines Dinner oder Lunch aufzutischen, für den seltenen Fall, dass einmal Gäste im Hause sein sollten. Trauen Sie sich das zu?“

Emily stieß die Luft aus, die sie seit einer halben Minute angehalten hatte. „Ich denke schon!“ Auch wenn sie Edward Clarke keine Referenzen hatte geben können, war sie eine hervorragende Köchin. Nun ja. Gewesen.

Sie hatte zwar nie eine wirkliche Ausbildung gemacht, doch alles von Pierre gelernt und sechs Jahre mit ihm das Petite Maison geführt. Ihre unendlich tiefe Liebe zueinander hatte sich auch in ihren Speisen widergespiegelt. Sie waren vom Feinschmecker zum Gastro-Paar des Jahres gekürt worden, und im Laufe der Zeit waren wohlwollende Kritiken im Guide Gourmet und im Sternekoch erschienen. Referenzen genug!

Aber die Zeiten sind längst vorbei, dachte sie. Mit Pierres Tod sind auch meine Leichtigkeit und die Liebe für das Kochen gestorben. Warum habe ich das nicht sofort eingesehen?

Ich habe noch nicht mal meine eigenen Messer mitgenommen, Pierre! Dabei hast du mir erklärt, dass eine wahre Köchin immer ihre Messer dabei hat. So ernst war es mir damit, ein für allemal aufzuhören. Seitdem du nicht mehr da bist, bin ich leer und ausgebrannt. Um die Erinnerung an dich zu bewahren, habe ich noch ein halbes Jahr lang ohne dich um unser Restaurant gekämpft. Ich hätte es lassen sollen! Es hat mir nur noch mehr Unglück gebracht.

Edwards Stimme holte sie aus den trüben Erinnerungen an die Vergangenheit: „Abgemacht. Dann können Sie ab morgen hier anfangen, wenn Sie wollen.“

Emily lächelte. Dieser ältere Herr brachte es fertig, ein Gefühl in ihr aufleben zu lassen, das ihr in den letzten beiden Jahren völlig abhandengekommen war: Vertrauen. Zu sehr war sie von den Menschen enttäuscht worden. Besonders von einem, der sich als Freund ausgegeben hatte.

Ich vermisse dich immer noch so sehr, Geliebter, dachte sie. Doch nun geht die Zeit weiter, und ich werde die Zähne zusammenbeißen und wieder Geld verdienen. Sie wandte sich dem Butler zu. „Morgen anfangen? Ja. Das würde ich gerne!“

In diesem Moment klappte im Haus eine Tür, und Edward zuckte ein wenig zusammen. „Oh“, murmelte er, und lauschte den Schritten, die die Treppe zu einem der oberen Stockwerke emporliefen. „Das ist Monsieur.“ Er rieb sich über sein glattrasiertes Kinn, bevor er fortfuhr: „Früher als gedacht zurückgekehrt, aber das ist nicht überraschend. Nicht sonderlich überraschend.“ Er schaute an die weißen Deckenbalken der Küche. „Sie können gerne noch bleiben und eine Bestandsaufnahme machen, damit Sie wissen, was Sie womöglich morgen einkaufen wollen. Das Geld dafür erhalten Sie von mir.“

„Einverstanden.“ Emily nickte ihm zu.

Das verfrühte Heimkommen des Hausherrn schien dem Butler Sorgen zu bereiten.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie.

„Ja, natürlich. Natürlich.“ Wieder zwirbelte er an seinem Kinn herum. War er nervös? „Ich muss Monsieur nur davon in Kenntnis setzen, dass wir ein neues Mitglied im Team haben. Und … ich muss ihm noch etwas sagen …“

Er machte eine Pause und schaute Emily etwas ratlos an.

„Und das wäre?“, fragte sie gespannt.

„Dass Sie eine Frau sind!“

3. KAPITEL

„Was, eine Frau? Was ist denn in Sie gefahren? Warum tun Sie das, Edward? Warum wiedersetzen Sie sich meinen Anweisungen?“

Yann konnte nicht glauben, was sein Butler da gerade beiläufig erwähnt hatte. Er wollte keine Frauen im Haus! Nicht hier. Nicht in seinem heiligen Refugium, das er ohnehin nur selten aufsuchen konnte.

Es reichte ihm voll und ganz, sie in den Restaurants, an den Bars beim Aperitif und an den Nebentischen zu sehen, oder ihnen in den Clubs von Monte Carlo und St. Tropez zu begegnen. Etablissements, in die sein Freund Serge ihn immer wieder schleppte, obwohl er sich schon hundertmal vorgenommen hatte, nie mehr an dieser Art Abendunterhaltung teilzunehmen. Er wusste ja, wie das endete. Er enttäuschte die Frauen, die sich mit ihm einließen jedes Mal. Und damit auch sich selbst.

Yann lief wütend auf und ab, ohne Edward anzusehen, und ließ sich dann auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch fallen. Hier stapelten sich schon die Notizen der letzten Woche und warteten darauf, in viele beißende Restaurantkritiken verwandelt zu werden.

Er stützte den Kopf in die Hände, schon tat es ihm leid, seinen Butler so angefahren zu haben.

„Entschuldigen Sie. Ich bin nervös, Edward. Ich arbeite zu viel. Und ich trinke zu viel, ja, ich gebe es zu! Wobei Weintrinken ja auch zu meinem Job gehört.“

Mein Gott, fiel ihm denn nichts anderes mehr ein? Er benutzte vor seinem Butler schon dieselben Ausreden wie vor sich selbst.

„In der Tat, Sir.“

Yann wusste nicht, worauf sich diese Anmerkung bezog. Auf das Weintrinken, oder die Unmengen, die er sich viel zu oft genehmigte.

„Manchmal bestelle ich mir nach dem Essen noch den einen oder anderen Digestif. Und dann …“ Er sprach nicht weiter. Edward verstand ihn auch so. Spätestens dann, mit einer Menge Alkohol im Blut, fühlte er sich einsam, und Serge, der immer irgendwie in seiner Nähe war, ließ sich etwas für ihn einfallen. Meistens endeten diese Abende im V.I.P-Bereich eines Nachtclubs, auf einem Ledersofa mit einer schönen Frau im Arm.

Yann hob den Kopf und sah Edward anklagend an. „Eine Frau!“, wiederholte er. „Was haben Sie sich dabei gedacht?“

Edward sah zu Boden wie ein Schuljunge, der etwas ausgefressen hatte, sein Vergehen aber nicht besonders bereute.

„Also gut.“ Yann zuckte mit den Schultern. „Was ist das für eine Person, die Sie hier in mein Haus holen wollen? Ist sie aus dem Dorf?“

„Sie wohnt in der Nähe, ja.“

„Haben Sie Erkundigungen über sie eingezogen? Wissen wir, wer sie ist?“ Er wühlte fahrig in seinen Notizen.

„Ja, natürlich, Sir. Das wissen wir. Nichts, worüber wir uns Sorgen machen müssten.“

Yann schaute auf. Edwards Stimme klang auf einmal so weich. Wie alt war sein Butler eigentlich? Darüber hatte er sich noch nie Gedanken gemacht. Er schätzte ihn auf über sechzig. Vielleicht hatte sich sein stets so korrekter Edward ja ein bisschen in die neue Köchin verguckt? Wahrscheinlich handelte es sich bei ihr um eine ältere Frau aus der Nachbarschaft, rundlich, mit schrecklich gelb blondierten Löckchen und der unvermeidlichen Kittelschürze … Er schnaubte. Ach, dann sollte es eben so sein. Wie schön, wenn wenigstens einer im Haus sein Liebesglück fand.

„Meine Güte, Edward, dann lassen Sie diese Person in Gottes Namen hier kochen. Ich will nur nichts von Madame hören und sehen, richten Sie ihr das aus!“

Bien sûr, Monsieur. Sie weiß schon Bescheid!“

Der Butler verbeugte sich mit seiner unnachahmlich würdevollen Haltung und wollte schon gehen, als Yann ihn zurückrief. Er wusste nicht recht warum. Vielleicht, weil er heute noch mit niemandem geredet hatte.

„Ach, Edward.“

„Sir?“

„Ich habe einen alten Freund wiedergetroffen. Tomé, ein Schulkollege. Netter Kerl.“ Er nickte vor sich hin und sprach nicht weiter. Er hatte kaum noch Freunde hier, seitdem er nach seinen Pariser Lehrjahren nicht wieder in die Bretagne zurückgekehrt war. Die Leute waren skeptisch und dachten, wenn man in die Hauptstadt ging, wolle man etwas Besseres sein.

„Vielleicht möchten Sie ihn einmal zum Essen nach La Roche einladen, Sir?“ Edward zog ermunternd die buschigen weißen Augenbrauen hoch.

„Nur weil wir jetzt eine Köchin haben? Nein, nein.“ Yann winkte ab. „Tomé arbeitet in Keromans winziger Sparkassenfiliale, wo meine Eltern ihr Konto haben. Es hat mich ein halbes Kilo Kaviar gekostet, ihn zum Reden zu bringen. Doch es hat sich gelohnt, ich konnte etwas erfahren.“

Er schaute seinen Butler an und schüttelte ungläubig den Kopf. „Wissen Sie eigentlich, dass meine Eltern das Geld, das ich ihnen jeden Monat überweise, nicht anrühren? Keinen einzigen Cent!“

„Stell dir vor, ich soll ihn Monsieur nennen! Nur Monsieur, sonst nichts. Und ihm am besten gar nicht begegnen. Wie komisch ist das denn? Wie in einem Film, oder?“ Emily lachte, und William stimmte mit ein.

Sie schaute ihren Zwillingsbruder zärtlich an, es tat gut, so befreit herumzualbern. Das Schicksal, als Waisen aufzuwachsen, hatte sie schon in ihrer Kindheit sehr eng zusammengeschweißt. Nachdem ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, hatte die zehn Jahre ältere Schwester ihrer Mutter sich ihrer angenommen und sie aufgezogen. Tante Betty war alleinstehend und hatte nie Kinder haben wollen. Nicht die besten Voraussetzungen für zwei lebhafte Vierjährige …

Als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen. Emily, die ein paar Minuten älter war als William, hatte immer die Rolle der Aufgeschlosseneren, Wilderen eingenommen. Er, der Zwilling, der sich mehr zurückhielt, hatte früh seine Faszination für die Malerei entdeckt.

Schon damals hatte sie immer auf ihn aufgepasst. So war er ihr nach dem Schulabschluss auch nach Paris gefolgt. Nur drei Wochen hatten sie bleiben wollen, um die französische Hauptstadt bei Tag und Nacht zu erkunden. Als sie sich Hals über Kopf in Pierre verliebte, war William weitergezogen. Er war in Südfrankreich auf den Spuren van Goghs gewandelt und hatte sich schließlich in der Bretagne niedergelassen, wo auch Monet und Gaugin gemalt und gelebt hatten. Selbst damals war ihr Kontakt immer eng gewesen, sie hatten regelmäßig telefoniert und sich manchmal auch besucht.

Durch eine Ausstellung, die sie für William in einer Pariser Galerie organisiert hatte, wurden sogar ein paar seiner Bilder verkauft. Doch reich war er dadurch nicht geworden. Verschlossen und verträumt wie er nun einmal war, hatte er die wertvollen Pariser Kontakte auch sofort wieder vernachlässigt. Typisch William, er war eben ein Künstler. Ein Überlebenskünstler ohne nennenswerte Ersparnisse, wie sie jetzt wusste.

Emily öffnete den Kühlschrank und inspizierte die gähnende Leere darin. Ihrer Bank war es egal, ob sie schuldlos in die roten Zahlen gerutscht war, oder nicht. Sie erwartete die monatliche Tilgung der Schulden auf ihrem Konto. Doch nun würde sie als Köchin wenigstens wieder Geld verdienen.

Beschwingt kaufte Emily ein paar Tage später auf dem Markt von Keroman frisches Obst ein. Duftende Melonen, tiefrote Kirschen und samtige Aprikosen. Einiges davon würde sie William heute Nachmittag mitbringen, doch der größte Teil war für die Villa und den geheimnisvollen Monsieur bestimmt, den sie immer noch nicht zu Gesicht bekommen hatte.

Nicht, dass sie das störte. Er schien ein anstrengender Zeitgenosse zu sein, der am frühen Morgen schon Whisky trank. Jeden Mittag brachte Edward einen der dickwandigen Tumbler hinunter in die Küche. Einen ausgezeichneten Geschmack hatte er ja, der Monsieur. Sie war zwar keine Expertin, doch das ein oder andere hatte sie von Pierre auch über Wein und Spirituosen gelernt. Teurer, alter Whisky meldete ihre Nase, wenn sie an den Gläsern schnupperte.

Mit den Einkäufen beladen, betrat sie eine halbe Stunde später die Küche des Anwesens. Ein Blick durch das Fenster verriet ihr, dass der Monsieur nicht da war. Eine Tür der Stallungen, hinter denen sich laut Edward sein Wagenpark verbarg, stand offen. Sie kannte nur seinen Mercedes, doch der war nicht zu sehen. Obwohl nun schon einige Tage vergangen waren, wusste sie nicht viel über ihn. Nur, dass er morgens für eine Stunde laufen ging und abends ein paar Runden im Pool schwamm, der sich in den Tiefen des Gartens versteckte. Und sie wusste auch, dass selbst sein Butler ihn nicht einschätzen konnte. Bei ihrer Einstellung war davon die Rede gewesen, dass er in der ersten Woche nicht anwesend sein würde, doch die Realität sah anders aus. Er müsse hier auf La Roche einen wichtigen Auftrag fertigstellen, hatte Edward sie aufgeklärt, und brauche absolute Ruhe.

„Ich werde Sie dabei nicht stören, Monsieur“, murmelte Emily, während sie das Obst wusch. „Doch ich werde dafür sorgen, dass Sie ein paar Vitamine bekommen, statt Alkohol und Chips!“ Missbilligend warf sie einen Blick in den Mülleimer, wo sich die entsprechenden Tüten stapelten. Die beiden leeren Rotweinflaschen auf dem Boden davor sprachen ihre eigene Sprache. Ein Blick auf das Etikett zeigte ihr die Vorlieben des Hausherrn. Ein 1992er Chateauneuf du Pape. Bei ihnen im Petite Maison hätte die Flasche mit mindestens Hundertfünfzig Euro auf der Karte gestanden. Aber das konnte ihr egal sein. Ebenso wie er ihr egal war. Nur für einen gesünderen Lebenswandel würde sie sorgen. Sie arrangierte das Obst in drei Holzschalen. Edward würde sie später im Haus verteilen.

Im Kühlhaus wanderte ihr Blick über die Regale. Sie hatte jede Menge frischer Soßen gekocht, mit einem Datum versehen und ordentlich aufgereiht. Tomatenragout, Fleischragout, Zucchinicreme und drei verschiedene Pestos – die würden sich ein paar Wochen halten. Nach Bedarf brauchte man sie nur aufzuwärmen und mit der selbst gemachten Pasta zu servieren.

„Aber nicht von mir, keine Angst, Monsieur Unnahbar.“

Was sie kochte, schmeckte gut, sie hatte bei der Zubereitung alles richtig gemacht. Dennoch waren die Speisen in ihren Augen nichts Besonderes.

Emily schaute die Obstschalen unschlüssig an. Sie war also ganz alleine im Haus. Edward war an diesem Morgen nach Vannes gefahren, um den Zigarrenschrank neu aufzufüllen und einige Kleinigkeiten zu besorgen, die im Haushalt fehlten. Nur Antoine mähte hinten im Garten den Rasen, das leise Motorgeräusch hatte etwas Tröstliches. Ich bringe das Obst schnell selber hoch, beschloss sie, was soll schon passieren?

Emily schnappte sich zwei der Schüsseln und ging hinüber in das Esszimmer. Auf dem großen Oval des Esstischs würden sich die bunten Früchte ganz außerordentlich hübsch machen. Edward hatte sie auch gebeten, die Blumendekoration zu übernehmen, seitdem er gesehen hatte, mit welcher Leichtigkeit ihr die Arrangements gelangen.

Emily seufzte. Im Petite Maison hatten sie immer einen wunderbaren Strauß auf dem Getränkebuffet stehen gehabt. Von ihr selber zusammengestellt, aus Blumen, die sie auf dem Markt gekauft hatte.

Auf der Treppe zum ersten Stock zögerte sie. Die Regeln waren schon am ersten Tag aufgestellt worden und mehr als klar: Dort oben hatte sie nichts zu suchen. Doch auch in Monsieurs Arbeitszimmer wollte sie eine der Schalen lassen. Aprikosen und Kirschen statt teurem Alkohol. Das war gesünder. Leise schlich sie die Treppe hinauf. Die alten Holzstufen knarrten verräterisch, doch es war ja niemand im Haus.

In seinem Arbeitszimmer stellte sie die Schale auf ein Tischchen und wollte schon wieder hinaushuschen, als sie nicht umhin konnte, sich einen Augenblick umzusehen. Ein bequemer Ledersessel, helle Vorhänge vor dem Fenster, dunkle Balken an der Decke. Keine Bilder an den Wänden, auch der antike Schreibtisch war leer. Sehr leer, bis auf ein iPad und ein paar schöne Füllfederhalter in einer Glasschale. Geschmack hatte er ja, der Monsieur. Was er wohl tat, um sich dieses Leben hier leisten zu können? Die Einrichtung hatte ein Vermögen gekostet, die Stoffe, Möbel und Bilder unten in den Salons, alles war von erlesenem Geschmack und farblich aufeinander abgestimmt.

Seit Pierres Tod vor zwei Jahren waren Männer ihr gleichgültig, doch Emilys Neugier war nun seltsamerweise geweckt, und der geheimnisvolle Hausherr beschäftigte sie mehr, als ihr lieb war. Wer war dieser Monsieur? Ein Schriftsteller? Ein berühmter Regisseur? Aus Edward bekam sie nichts heraus, nicht einmal die kleinste Bemerkung entglitt ihm. Ob sie ihn kannte? Nirgendwo im Haus war ein Foto zu sehen, welches ihn zeigen könnte. Es gab überhaupt keine Fotos!

Was für ein Mensch muss das sein, der noch nicht einmal Bilder von seiner Familie aufstellt, dachte sie und zuckte mit den Schultern. Offenbar war es nicht jedem wichtig, Vater und Mutter zu haben. William und sie konnten ihre Eltern nur noch als eine verschwommene Erinnerung in ihren Herzen bewahren. Sie hätten alles dafür gegeben, ein paar mehr als die kläglichen Fotos zu besitzen, die sich in einer angestoßenen Pralinenschachtel befanden und die sie hüteten wie einen wertvollen Schatz.

Sie warf einen Blick auf einen Stapel Visitenkarten auf dem Schreibtisch. Sie waren teuer, das sah man schon am Papier, und in einer ausdrucksstarken Schriftart bedruckt. Spielerisch blätterte sie die Karten durch. Hatte er eine Gesellschaft mit mehreren Angestellten? Höchstwahrscheinlich, denn sie wiesen alle unterschiedliche Namen auf. Während sie noch über Monsieur Unbekannt nachgrübelte, hörte sie plötzlich Schritte auf der Treppe. Verdammt, das konnte doch nicht sein! Sein Wagen hatte doch nicht in der Garage gestanden … Mit klopfendem Herzen huschte sie über den Flur in das gegenüberliegende Badezimmer.

Mit angehaltenem Atem versteckte sie sich hinter der Tür, die sie in der Eile nicht schließen konnte. Wie peinlich, wenn Monsieur jetzt zufällig hereinkäme und sie entdeckte!

„Was soll das? Was soll das Obst hier?!“, ertönte es da auch schon aus seinem Zimmer. Emily riss vor Schreck die Augen weit auf und biss sich auf die Unterlippe. Meine Güte, seine Stimme klang wirklich sehr wütend.

„Sind wir hier auf einem verdammten Markt, oder was?“

Sie hörte einen dumpfen Knall und zuckte zusammen. Das musste die Schale mit dem Obst gewesen sein. Emily erwartete fast, noch weiteren Lärm zu hören, falls er sich noch an den Früchten auslassen sollte, doch kurz darauf hörte sie ihn telefonieren, und sie atmete erleichtert auf. Nun musste sie nur noch den passenden Moment abpassen, um wieder nach unten in ihr Reich fliehen zu können. Unfreiwillig folgte sie dem Gespräch.

Aha, er wollte einen Tisch reservieren in einem Restaurant. Morgen Abend, auf den Namen Dubois. Dubois, wiederholte Emily für sich. So hieß ihr geheimnisvoller Hausherr also. Sie durchforschte ihr Gehirn, doch der Name sagte ihr nichts. Keine zwei Minuten später führte er noch ein Gespräch. Und dann noch eins. Beide Male nannte er seinen Namen. Einmal bezeichnete er sich als Monsieur Moreau, dann wieder als Monsieur Lefevre.

Emily war verwirrt. Warum all diese Namen? Als das Telefon jetzt klingelte, meldete er sich nur mit einem einfachen „Âllo?“

Sein Gesprächspartner hatte anscheinend schlechte Nachrichten, denn er wurde von ihm beschimpft, nur weil an seinem Auto irgendetwas nicht sofort wieder instandgesetzt werden konnte. Emily nutzte die Gelegenheit, um durch den Türspalt zu blinzeln. Die Bürotür war halb geschlossen, was für ein Glück! Leise schlich sie daran vorbei und gelangte ungesehen nach unten.

In der Küche lehnte sie sich über das Spülbecken und trank erst einmal einen Schluck Wasser. Sie atmete tief durch. Das war knapp gewesen!

Was für ein unangenehmer Mensch, dieser Monsieur Dubois, Lefevre oder Moreau. Ein richtiger Griesgram! Nicht auszudenken, was er mit ihr gemacht hätte, wenn er sie hinter der Badezimmertür erwischt hätte. Emily beschloss, sich noch mehr vor ihm in Acht zu nehmen und ihre Küche nicht mehr zu verlassen, geschweige denn weitere Ausflüge in die obere Etage zu unternehmen.

Obst! Wer stellte ihm Obst hierher?! Edward war es bestimmt nicht gewesen, der wusste, dass er so etwas in seinem Zimmer nicht duldete. Oh ja, er hörte schon, was Edward ihm sagen würde: „Verzeihung, Sir. Die neue Köchin meint es nur gut mit Ihnen!“

Er brauchte niemanden, der es gut mit ihm meinte! Auch keine Köchin! Wollte sie sich etwa einschmeicheln? Wollte sie ein höheres Gehalt? Soviel er wusste, zahlte Edward in seinem Namen hohe Löhne.

Die Aprikosen und Kirschen lagen auf dem Boden verstreut und erfüllten den Raum mit ihrem Duft. Die kleine Melone war weit unter den Schreibtisch gekullert. Er rieb sich die Stirn. Sein geliebter Jaguar konnte nicht so schnell repariert werden, wie man ihm heute Morgen versprochen hatte, er hatte schlecht geschlafen und immer noch einen Kater von gestern Abend. Die ganze Welt sollte ihn in Ruhe lassen! Er sammelte die Früchte auf und legte sie in die Schale zurück, die neben der Tür gelandet war.

Mit einem tiefen Seufzer zog er dann die Schublade auf und griff nach seinen Notizen. Im Restaurant konnte er nicht in sein Handy diktieren oder auf dem iPad herumtippen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Und er wollte ja unerkannt bleiben. In den allermeisten Fällen gelang ihm das auch, denn niemand wusste wie er aussah.

Gelangweilt fächerte er die Papiere auseinander. Vier verschiedene Restaurants im Norden des Landes hatte er in der letzten Woche besucht. Sein Gedächtnis war besser als jede Festplatte, nur ab und zu notierte er sich etwas während des Essens. Den Rest schrieb er stichwortartig im Auto auf, sobald er das Lokal verlassen hatte. Meistens lud er noch einen Freund ein, oder Serge begleitete ihn. Serge war zwar ein Spieler und trotz des reichen Elternhauses, aus dem er kam, ständig in Geldnot, doch er war immer da, wenn er ihn brauchte und nahm ihm einen Teil der ständig mehr werdende Arbeit ab.

Yann verließ sich voll und ganz auf sein Urteil und veröffentlichte die Kritiken dann nach einiger sprachlicher Überarbeitung unter seinem Pseudonym Maxime Clement. Maxime Clement, der Brillante, der Gefürchtete! Er lachte freudlos auf.

„Maxime Clement?!“

Der Name war ihm modern, elegant und eines Kritikers würdig erschienen, doch als er ihn das erste Mal vor seinen Eltern erwähnte, hatte sein Vater nur abfällig mit dem Kopf geschüttelt.

„Ist dir Yann Beudeff nicht mehr gut genug, oder was soll der Quatsch?“, hatte er gebrummt und sich abgewandt. Seine Mutter Marie hatte versucht zu vermitteln. „Das ist ja nur zu deiner Tarnung, oder?“

„Soll er sich tarnen, wenn er isst. Aber als Schreiberling kann er doch so heißen, wie wir ihn genannt haben, oder etwa nicht?“, hatte sein Vater gepoltert. „Yann Beudeff ist ein ehrlicher, bretonischer Name! Glaubst du, es nimmt dich keiner ernst, nur weil du von hier kommst und nicht aus Paris?“

Schreiberling! Seine Eltern hatten ihm nie verziehen, dass er mehr als ein Koch werden wollte, der dauernd in der eigenen Küche stand oder sich mit den Händlern auf den Märkten herumschlug. Apropos Markt … Die Früchte verströmten noch immer ihr Aroma. Bald würden sich auch die kleinen Fruchtfliegen einfinden, die er so hasste!

„Ich kann so nicht arbeiten!“, rief er. Am liebsten hätte er etwas kaputt geschlagen, doch er hielt sich im Zaum. Es war nicht nur das Obst, es war noch ein anderer Geruch, den er im Zimmer wahrgenommen hatte. Auf seine feine, unbestechliche Nase hatte er sich bis jetzt immer verlassen können. Ein sehr dezenter, doch unnachahmlicher Duft eines Menschen. Einer Frau!

Er stammte ganz sicher von der Köchin, die das Obst gebracht hatte. Von wem sonst? Edward wusste, dass Yann in seinem Arbeitszimmer keinen Staub ertrug und von nichts abgelenkt werden wollte.

Yann schämte sich für seine Empfindungen, aber es roch irgendwie erregend. Sinnlich, mehr körperlich als süß, mit einer leichten Note nach einem von der Sonne beschienenen Getreidefeld am Morgen … nach … er suchte nach dem richtigen Wort, bevor er unwillkürlich lächelte. Er versuchte diesen Duft ganz wie den eines Portweins oder Dessertweines in einem seiner Artikel zu beschreiben.

Doch dann wurde er wieder ernst.

Sinnlich, mehr körperlich als süß … ging es denn noch? Die Frau war vermutlich über sechzig, wie seine Mutter! Er war einfach nur peinlich, und das alles nur wegen dieser idiotischen Schale Obst!

Ärgerlich fegte er seine Notizen wieder zurück in die Schublade. Heute würde er nichts mehr hinbekommen, auch gestern hatte er nicht viel geschafft. Mein Gott, wenn die Welt da draußen wüsste, wie überdrüssig er diesem Geschreibsel war! Es gab nur zwei Dinge, die ihn ablenken konnten: Alkohol und schnelles Autofahren.

Aber nach Wein stand ihm nun wirklich nicht der Sinn. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf sein Rennrad zu schwingen, noch einmal bei der Werkstatt vorbeizufahren und dem Meister dort Beine zu machen.

Bevor er das Zimmer verließ, schnappte er sich das Obst und brachte es hinunter in die Küche. Niemand war zu sehen, doch die Tür des Kühlhauses stand einen Spalt weit offen. „Ich wünsche diese Dinge nicht in meinem Arbeitszimmer!“, rief er lauter als beabsichtigt. „Was haben Sie da oben mit dem Zeug eigentlich zu suchen? Nichts!“ Bevor er eine Antwort erhalten hatte, war er schon aus der Küche geeilt.

„Sie wünschen?“ Emilys Herz klopfte, als sie aus dem Kühlhaus trat. Nervös wischte sie ihre Hände an der Schürze ab, doch niemand war zu sehen. Sie hatte um Entschuldigung bitten wollen, aber leider keine Gelegenheit dazu gefunden. Der heimlichtuende Monsieur mit den vielen Namen war schon wieder verschwunden. Natürlich hatte er recht, sie hatte dort oben in den Räumen wirklich nichts zu suchen, aber war das ein Grund, sie gleich so anzublaffen und sich noch nicht einmal vorzustellen?

Schnell nahm sie die weiße Gardine beiseite und schaute aus dem Fenster, um vielleicht einen Blick auf diesen ungehobelten Menschen zu erhaschen. Sie sah nur noch, wie er sich auf sein Rad schwang und über den knirschenden Kies davonradelte. Oh! Monsieur war jung! Jünger jedenfalls, als sie gedacht hatte. Vielleicht Anfang dreißig. Und größer auch. Sie beugte sich vor, um seine Rückenansicht möglichst lange betrachten zu können, bevor er hinter der Kurve des Zufahrtsweges verschwand. Er trug Jeans und ein weißes T-Shirt. Hatte sie bis eben regelrecht Angst vor diesem Monsieur gehabt, war sie nun bei seinem Anblick irgendwie erleichtert.

Er schien ein ganz normaler Mann zu sein. Ein ganz normaler Mann in bester Form, korrigierte sie sich sofort. Mit teurem Haarschnitt und den neuesten Turnschuhen an den Füßen.

Ich schaue einem Mann hinterher, Pierre, sagte sie in Gedanken. Sofort traten Tränen in ihre Augen. „Tu me manques!“, wisperte sie auf Französisch gegen die Scheibe. „Du fehlst mir! Ich vermisse dich! So sehr, so sehr, so sehr!“

Sie ließ die Gardine fallen und wischte sich über die Augen. Eine Minute stand sie bewegungslos auf den schwarz-weißen Fliesen, dann fing sie sich wieder. Sie wollte nicht nachdenken, sondern sich möglichst schnell mit irgendetwas ablenken. Aber womit? Ihr Blick huschte umher und fiel auf die Schüssel mit dem Obst. Die Aprikosen hatten leichte Druckstellen. Sie würde sich jetzt zusammenreißen und aus den malträtierten Früchten eine Tarte aux apricots backen.

Kraftlos suchte sie die Zutaten dafür zusammen. Butter, Mehl, Zucker. Konfitüre für die Glasur. Es war ihr egal, ob der Mann ohne Manieren sie aß. Wenn nicht, hätte Antoine, der Gärtner, morgen wenigstens einen schönen Nachtisch. Oder sie könnte sie mit zu William auf den Hof nehmen, wenn sie die Tarte zwei Tage später noch im Kühlhaus vorfinden würde. Emily seufzte und machte sich ans Werk.

Yann schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr los. Es tat gut, sich zu bewegen. Bei seinem Job mit dem vielen Essen und Trinken war viel Bewegung einfach lebensnotwendig. Doch sobald er das Tor passiert hatte und die Landstraße unter den dünnen Rennradreifen dahinsurrte, plagte ihn das schlechte Gewissen. Er hätte sie nicht so anschreien dürfen. Bestimmt wusste die arme Frau nun weder ein noch aus.

Er stellte sie sich ein bisschen vor wie seine Tante Adele und fühlte sich gleich noch mieser. Er war einfach schlecht gelaunt, schon monatelang. Ach, jahrelang … Zornig trat er in die Pedale.

Auf dem Weg zu der Werkstatt kam er an dem ehemaligen Bistro seiner Eltern vorbei. Die Fenster waren mit alten verblichenen Zeitungen von innen zugeklebt, die alten Blumentöpfe waren zersprungen und boten ein Bild der Trauer.

Das alte Bistro-Schild hing windschief über der Tür. Ty Beudeff. Bei Beudeff.

Das ganze Dorf war bei ihnen ein und ausgegangen, auch die Leute aus den Nachbardörfern. Sein Vater hatte traditionell gekocht, seine Mutter Marie mit ihrer ganz besonderen Herzlichkeit an den kleinen runden Tischen bedient. Er, der einzige Sohn, war in Küche und Gastraum herumgeflitzt, er war dort aufgewachsen und hatte von klein auf geholfen.

Nach seiner Lehre in Paris hatten seine Eltern natürlich erwartet, dass er nach Hause zurückkäme und das Ty Beudeff übernähme. Aber das hatte er nicht getan. Nein, er hatte gegen den Willen seines Vaters sogar noch ein Journalistikstudium begonnen. Er wandte seinen Blick von dem leeren, vernachlässigten Gebäude ab. Im Dorf fragte man sich schon lange, wer das Haus gekauft hatte und warum es immer noch nicht renoviert war.

Wenn er es heute noch einmal entscheiden könnte, hätte er dann darauf bestanden, zu studieren? Vielleicht nicht, wenn er gewusst hätte, dass dies den Bruch mit seinen Eltern bedeuten würde … Er vermisste sie beide, besonders aber seine Mutter, Maman. Doch er konnte die Dinge nicht einfach ungeschehen machen.

Ohne zu wissen warum, machte er einen Schlenker durch das Dorf, bis das Zuhause seiner Eltern in Sicht kam. Er hielt sogar kurz an. Das weiße Haus war von einer halbhohen Natursteinmauer umgeben, wie es hier in der Gegend oft zu sehen war. Die Schieferziegel leuchteten in ihrem typischen Graublau. Wenn Maman jetzt aus dem Fenster sähe … würde sie ihn hier auf der Straße entdecken. Doch alles blieb ruhig.

Nein. Er konnte unmöglich den ersten Schritt tun. Wie oft hatte er ihnen schon angeboten, das Bistro zurückzukaufen, das sie durch diesen Mistkerl von einem Verpächter verloren hatten? Früher, als sie noch miteinander geredet hatten. Yann schüttelte den Kopf. Dass der Verpächter pleite war und das Haus schon lange für lumpig wenig Geld in seinen Besitz übergegangen war, wussten sie nicht. Seine Eltern hätten ihm nur ein versöhnliches Zeichen geben müssen, schon hätte er mit den Arbeiten am Haus begonnen und es wieder zu dem kleinen Schmuckstück gemacht, das es ehemals gewesen war. Doch sie hatten abgelehnt. Vor allem sein Vater ließ ihn spüren, dass es seine Schuld war, dass sie das Lokal hatten schließen müssen.

Voller Wehmut betrachtete Yann die Hortensien, die Maman vor der Mauer gepflanzt hatte. Sie waren noch schöner als seine auf La Roche. Aber es ging nicht. Bevor sein Vater Remi sich nicht bei ihm entschuldigt hatte, würde er nicht mehr an diese Tür klopfen!

4. KAPITEL

Peng! Mit einem lauten Scheppern ließ Emily den Deckel auf den Topf zurückfallen. Wieder hatte er nichts gegessen! So langsam reichte es ihr! Sie legte ihre weiße lange Schürze ab und packte ihre Sachen zusammen.

„Nehmen Sie sich die Suppe doch mit!“, forderte Edward sie in diesem Moment auf.

„Ja, gerne. Aber wir können sie auch in den Gefrierschrank tun“, schlug Emily vor. „Es ist eine pürierte Erbsensuppe, noch ohne Sahne, da ist das Einfrieren kein Problem.“

Monsieur isst ungerne aufgetaute Dinge!“

Monsieur isst überhaupt nichts, was ich koche!“, erwiderte Emily schärfer als beabsichtigt und presste die Lippen aufeinander. Seitdem er mit dem Fahrrad weggefahren war, hatte sie ihn nicht mehr gesehen, was sie eigentlich mit Erleichterung hätte erfüllen sollen. Doch immer wieder schob sich seine Rückenansicht vor ihre Augen, so, als ob er sie damit ärgern wollte.

„Höre ich da einen leichten Überdruss in Ihrer Stimme?“ Edward ließ von dem silbernen Leuchter ab, den er gerade polierte, und sah sie mit seinen hellgrauen Augen prüfend an.

„Ich will mich überhaupt nicht beschweren, Edward! Sie … Sie waren so nett, mir diese Stelle zu geben, und sind überhaupt so gut zu mir!“ Emily lächelte dankbar. „Es ist leicht, in diesem Hause zu arbeiten, und ich schätze Ihre Gesellschaft!“

Sie wies auf das Kühlhaus und die Vorratsschränke. „Aber ich muss gestehen, es ist auch frustrierend! Ich habe in den letzten Tagen ausreichend Soßen und Suppen gekocht, genug um eine hungrige Kompanie drei Wochen zu verköstigen. Doch er? Der Monsieur? Er isst nichts. Er trinkt nur! Rotwein, Whisky, Cognac. Und ernährt sich bevorzugt von Chips! Geschmacksrichtung ‚Meersalz und Vinaigrette‘.“

„Nehmen Sie es nicht persönlich, liebe Emily. Ich finde, Sie haben in diesem Haus innerhalb der letzten Wochen eine besondere Atmosphäre geschaffen. Es riecht immer himmlisch, wenn Sie kochen!“

„Danke“, erwiderte sie lächelnd. Sie mochte diesen Mann, er war wie ein väterlicher Freund zu ihr. Schon so manches Mal hätte sie sich am liebsten an seiner Schulter ausgeweint und vom Tod ihrer großen Liebe Pierre erzählt und auch vom Verlust ihrer Leidenschaft zum Kochen. Doch was hätte er dann von ihr gedacht?

„Wie geht es Ihrem Bruder?“, fragte der Butler.

„Oh! Wenn William malen kann, geht es ihm immer gut!“ Emilys Züge wurden weich.

„Das freut mich!“ Edwards Gesicht wirkte dennoch besorgt. „Und Sie, was machen Sie sonst noch, wenn Sie nicht bei ihm im Atelier oder hier auf La Roche sind? Mein Gott, wenn ich bedenke, dass Sie jahrelang in Paris gewohnt haben! Da muss es Ihnen bei uns doch ziemlich langweilig sein. Sie brauchen doch auch mal ein wenig Ablenkung!“

„Nein, Edward, keinesfalls! Ich bin froh, meine Ruhe zu haben. Danke.“ Emily schaute zaghaft zu ihm hinüber. Hatte sie ihn mit ihrer schroffen Absage gekränkt? Doch Edward polierte schon wieder voller Konzentration das angelaufene Silber des Leuchters. „Gehen Sie morgen wieder auf den Markt?“, fragte er beiläufig.

„Ja“, antwortete sie. Um wieder Gemüse und Obst zu kaufen, das ich dann zu weiteren Suppen und Soßen verarbeite, oder mit nach Hause nehme, bevor es ungenießbar wird. Doch das sagte sie nicht laut. Sie wollte vor Edward nicht undankbar erscheinen.

„Schön, dann treffen wir uns dort um zehn am Stand mit den Crêpes, und ich zeige Ihnen etwas, das Sie verzaubern wird!“

Emily war froh, dass er ihr nicht böse war. Obwohl sie wusste, dass nichts und niemand sie verzaubern konnte, zwang sie sich zu einer liebenswürdigen Antwort: „Oh, da bin ich sehr gespannt, was Sie im Sinn haben, Edward!“

Am nächsten Morgen war der bretonische Himmel bewölkt, und ein frischer Wind fegte über den Markt. Emily zog ihre dünne Strickjacke enger um sich und bereute, sich nicht wärmer angezogen zu haben. Sie überlegte gerade, ob sie sich einen warmen Crêpe gönnen sollte, doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, tauchte Edward auf und führte sie weg von dem Stand, der die Luft mit köstlichem Geruch nach Karamell und frisch gebackenen hauchdünnen Pfannkuchen erfüllte.

„Wir müssen in die andere Richtung. Zum Fisch!“

Am Austernstand bestaunte Emily die bunten schräg stehenden Plastikkörbe, in denen die verschiedenen Sorten angeboten wurden. Dazwischen leuchtete immer wieder das Gelb von Zitronen. Edward bestellte zehn Austern. Emily schaute ihn skeptisch an, sie mochte diese Delikatesse nicht besonders. Doch Edward bestand darauf, dass sie davon probierte.

„Darf ich vorstellen: Das ist Marie!“ Stolz zeigte er auf die ältere Frau, die mit rosafarbenen Gummihandschuhen und einem kurzen Messer bewaffnet war. Ihre linke Hand steckte zudem noch in einem Kettenhandschuh, damit sie sich beim unermüdlichen Schalenöffnen für die Kunden nicht verletzte. Sie hatte kurze graue Haare, ein wunderschönes, offenes Gesicht und lächelte ihr so herzlich zu, dass Emily die Kälte einen Moment lang kaum mehr spürte.

„Und das ist ihr Mann, Remi.“

„Hier bekommen Sie die frischsten Austern der ganzen Bretagne, Mademoiselle!“, rief ihr der kleine Mann hinter dem Stand zu. Er trug eine Schirmmütze, und sein Bart war dicht und weiß. „Und ein Gläschen Weißwein!“

„Oh, bitte nicht“, lehnte Emily ab.

„Die beiden hatten früher ein Bistro hier in der Gegend und kennen sich mit der hiesigen Küche aus!“, rief Edward ihr über den Wind hinweg zu, der hier am Rande des Marktes besonders rau war.

„Und ob, wir hatten das beste Bistro hier! Das Allerbeste! Aber das Mädchen friert ja!“, rief Remi und warf Emily eine dick wattierte grüne Jacke zu. Sie fing sie überrascht auf. In Paris hätte sie dankend abgelehnt und wäre weitergegangen, doch hier mit Edward fühlte sie sich plötzlich wohl. Dankbar schlüpfte sie hinein.

„Hier, Mademoiselle!“ Remi legte eine geöffnete Schale auf ihre flache Hand und nötigte sie, die Auster zu probieren. Dazu reichte er ihr ein kleines Glas Weißwein. Alkohol, morgens um zehn! Kein Wunder, dass Monsieur so viel trank, seine bretonischen Nachbarn taten es ja auch … Emily hielt inne. Warum kam ihr jetzt ausgerechnet Monsieur in den Sinn?

Pierre, dachte sie sofort, um den beunruhigenden Gedanken zu vertreiben. Dir hätte das hier auch Spaß gemacht. Und du hättest alles probiert! Beherzt legte sie den Kopf zurück und ließ die Auster in ihren Mund gleiten. Salzig, fischig, mit einer Menge Meeresaroma, doch auch sehr lecker. Der Schluck Wein hinterher machte die Angelegenheit noch köstlicher. Sie leckte sich die Lippen.

„Mögen Sie die Bretagne?“, fragte Remi.

„Ich liebe sie!“, sagte Emily ohne zu überlegen und aus vollem Herzen.

„Behalten Sie die Jacke ruhig an, sonst erkälten Sie sich noch“, sagte Marie zu ihr, als Emily nach einer halben Stunde aufbrechen musste. „Bringen Sie sie uns irgendwann zurück. Wir wohnen hier im Ort, da vorne, gleich hinter der Kirche, und sind meistens zu Hause.“ Sie nannte Emily die Adresse.

„Nur heute, am Freitag, stehen wir auf dem Markt!“, bestätigte Remi. „Wenn Sie etwas über die bretonische Küche wissen möchten, kommen Sie vorbei!“

Emily nickte höflich. Früher hätte sie sofort begeistert zugesagt und wäre bei der erstbesten Gelegenheit zu ihnen gefahren, um alles über die traditionelle Küche zu erfahren. Doch heute interessierten neue Rezepte sie nicht mehr.

Auf La Roche ging Emily in den nächsten Tagen wieder ihrer Arbeit nach, doch sie war nicht bei der Sache. Was tat sie hier eigentlich? Sie kochte für einen Sonderling, der sich vor ihr versteckte, und dem sie nicht begegnen durfte …

„Einem gut aussehenden Sonderling, immerhin“, sagte sie zu William, als sie wie immer am Nachmittag in seinem Atelier vorbeischaute.

„Also hast du ihn endlich kennengelernt?“

„Nein“, gab Emily zu. „Ich will mich nicht beschweren“, sagte sie, wie auch schon ein paar Tage zuvor zu Edward, „aber ich wusste nicht, wie wenig Spaß es macht, wenn jemand nichts von dem isst, was ich zubereite.“

„Dabei kochst du fantastisch!“ William grinste und brachte noch mehr Blau auf seine Leinwand. Doch Emily schüttelte nur den Kopf. Ihr Bruder merkte nicht, wie schwer ihr die Arbeit auf La Roche fiel, und das Gefühl des Alleinseins übermannte sie.

Die Trauer um Pierre war nie weniger geworden. In den letzten beiden Jahren hatte es zudem noch die Sorge um das Petite Maison gegeben, dann das Gerichtsverfahren, die Pleite und den Verkauf.

Um sich abzulenken, putzte und schrubbte sie Williams kleine Wohnung, obwohl alles schon blitzte. Sie ging früh zu Bett und weinte sich in den Schlaf.

Am nächsten Tag schlich sie wie betäubt durch die Küche des Anwesens. Ihre Bewegungen waren fahrig, und sie nahm viel zu viel Mehl für die Tarte tatin. Als sie sich um ein Haar eine schwere Kasserolle auf den Fuß fallen ließ, schickte Edward sie nach Hause.

„Wir haben alles, Emily. Vorräte, frische Blumen. Wirklich alles. Es ist gut für heute! Sie nehmen jetzt einen Tag bezahlten Urlaub und machen etwas Schönes!“

„Aber ich kann doch nicht …“

„Keine Widerrede!“ Mit sanfter Gewalt nahm der Butler ihr die Schürze ab und schob sie aus der Küche.

Machen Sie etwas Schönes … Was sollte das bloß sein? Emily fuhr zu ihrem Lieblingsort, der vorspringenden Klippe an der Côte Sauvage, doch nachdem sie einige Minuten reglos dort gestanden hatte und sich den Wind um die Nase hatte wehen lassen, hielt sie es nicht mehr aus und ging wieder zu ihrem Wagen.

Ein vages Gefühl der Enttäuschung beschlich sie, dass sie zunächst nicht deuten konnte. Hatte sie vielleicht gehofft, den Mann wiederzutreffen, dem sie hier vor über zwei Wochen begegnet war? Das ist doch Unsinn, schalt sie sich selbst. Ich habe ihm einmal kurz in die Augen geschaut, das ist alles. Was soll ich schon groß mit ihm anfangen? Mein Herz gehört immer noch Pierre. Nur ihm allein.

Doch eines war ihr klar: Sie musste unter Menschen, sonst würde sie vor Einsamkeit zusammenbrechen!

Entschlossen startete sie den Wagen. Nur ein paar Minuten später stieg sie wieder aus dem Auto und sah sich um. Das musste die richtige Adresse sein. Das kleine Haus bestand aus den typischen Steinen der Gegend, die hellblauen Fensterläden sahen frisch gestrichen und einladend aus. Sie nahm die Jacke vom Rücksitz und klingelte an der Holztür, die in die halbhohe Mauer eingelassen war. Sofort wurde geöffnet.

„Das ist aber schön, Sie wiederzusehen!“, rief Marie ihr über den kurzen Steinweg zu. „Kommen Sie, kommen Sie! Ich mache gerade einen Kuchen!“

Die Französin trug eine makellose weiße Schürze, die Ärmel ihrer gestreiften Bluse waren hochgekrempelt.

In der Küche saß Remi am Tisch und trank Kaffee. Diesmal hatte er seine Mütze nicht auf, und Emily konnte von oben auf seinen weißen Bürstenschopf blicken, bevor sie sich zu ihm beugte und ihn rechts und links auf die bärtige Wange küsste.

„Hier, die kommen in den Far breton!“ Marie hielt ihr eine Schüssel hin und bot ihr eine der saftigen Backpflaumen an. Zunächst wollte Emily ablehnen, denn wie immer hatte sie keinen Hunger, doch das wäre unhöflich gewesen, also griff sie zu. Die Pflaume schmeckte so intensiv und aromatisch, dass sie verwundert die Augen aufriss. „Die sind fantastisch“, murmelte sie mit vollem Mund.

„Ja, natürlich. Sie müssen von bester Qualität sein!“, mischte sich Remi ein, während er ihr einen Kaffee eingoss. „Und erklär ihr, wie man die Beurre noisette macht, Marie, bevor man …“

„Soll ich den Kuchen machen, oder willst du lieber …?“ Marie lachte, und ihre grünen Augen blitzten ihren Ehemann streitlustig an.

Wo habe ich solche grünen Augen schon einmal gesehen, überlegte Emily, doch es fiel ihr nicht ein. Ganz gegen ihre Art hatte sie nicht angeboten zu helfen, und Marie schien das auch nicht zu erwarten. Also lehnte sie sich zurück und sog langsam die vom Kaffeeduft gesättigte Luft ein. Es war wunderbar, hier zu sitzen und einfach nichts zu tun. Eine große Ruhe überkam sie, und sie spürte, wie sie sich das erste Mal seit Monaten entspannte.

Früher hätte sie Notizblock und Stift gezückt, begierig keinen von Maries Schritten zu verpassen, um unbedingt zu lernen, wie dieser bretonische Kuchen zubereitet wurde.

Emily blickte sich um. Die Schränke und Vorhänge waren hellblau wie die Fensterläden und bildeten einen hübschen Kontrast zu den bunten Sammeltellern, die aufrecht in einem Bord standen.

Es war gemütlich und fühlte sich an, als ob ihre Mutter einen Kuchen backte und sie schon hundertmal dabei gewesen wäre. Sie konnte sich leider nicht erinnern, ob Mummy jemals mit ihr und William gebacken hatte, bevor sie viel zu früh in den Trümmern des Autowracks starb … doch sie stellte es sich einfach vor und musste sogar kurz lächeln.

Während Emily ihren Kaffee trank, schaute sie den ruhigen Handbewegungen zu, mit denen Marie die Butter klärte und mit frischen Eiern, Mehl, Zucker und Vanillezucker verquirlte. Sie sah, mit welcher Gelassenheit sie die ovale Auflaufform butterte und dann mit Zucker auskleidete. Eine Backpflaume nach der anderen wurde gemächlich auf den Boden der Form gelegt und mit dem flüssigen Eierteig übergossen.

Kurze Zeit später erfüllte ein so wunderbarer Duft die Küche, dass Emily seit Langem wieder richtig Appetit bekam! Der Kuchen, der eine halbe Stunde später aus dem Ofen gezogen wurde, sah eher aus wie ein goldbrauner, dicker Pfannkuchen. Kaum war er ein wenig abgekühlt, legte Marie ihr ein Stück davon auf den Teller. Emily bohrte ihre Gabel in den lauwarmen Teig und schob sich einen großes Happen in den Mund. Es kam ihr vor, noch nie in ihrem Leben etwas Besseres, Nahrhafteres, Tröstenderes gegessen zu haben.

„Ach! Ich würde gerne immer hier sitzen und Ihnen einfach zuschauen.“

„Aber dann tun Sie das doch!“ Marie goss ihr noch etwas Kaffee in ihre große Milchkaffeeschale nach. „Sie dürfen jederzeit vorbeikommen. Wir freuen uns immer über Besuch.“

Sie plauderten noch über dies und das. Remi fragte Emily über die Gemälde ihres Bruders William aus, und Marie zeigte ihr stolz den großen Garten, in dem sie auch Gemüse anbaute.

„Früher hat Remi in der Küche unseres Bistros gestanden, und ich habe bedient. Aber so wie es heute ist, gefällt es mir auch. Wir gehen ab und zu zum Markt und verkaufen Austern. Alles andere reicht uns zum Leben.“

Emily hielt die Luft an. Jetzt würde Marie gleich fragen, woher sie kam und was sie bis jetzt gemacht hätte. Doch nichts dergleichen geschah.

Sie war erleichtert, dass auch Remi ihre Arbeit, Edward und La Roche mit keinem Wort erwähnten. Was hätte sie auch sagen sollen?

Entschuldigen Sie, über meinen Arbeitgeber darf ich nicht reden?

Wahrscheinlich kümmerte es die beiden älteren Leute nicht, wer sich hinter den dicken Mauern von La Roche verbarg. Die Bretonen seien zwar ein feierfreudiges Völkchen, hatte William erzählt, doch ihre Neugier auf Fremdes wäre begrenzt. Bevor sie Menschen aus anderen Gegenden von Frankreich in ihre Gemeinschaft aufnahmen, konnte es schon mal mehrere Jahre dauern.

Der Nachmittag verging wie im Flug, und es dämmerte schon, als Marie damit begann, ein typisch bretonisches Gericht für den Abend zuzubereiten. Es sollte Rindfleisch mit Schalotten geben. Emily hatte abgelehnt, bis zum Essen zu bleiben und ihren Bruder vorgeschoben, dem sie angeblich bei dem Bespannen neuer Rahmen helfen musste.

Doch es war faszinierend, mit welcher Leichtigkeit und schlafwandlerischen Sicherheit Marie die Mahlzeit zubereitete! Beinahe träumerisch, ging es Emily durch den Sinn, während sie die von harter Arbeit gezeichneten Hände der älteren Frau betrachtete.

Vielleicht ist dies das ganze Geheimnis. Vielleicht muss ich alles Nachdenken und Grübeln sein lassen, und mich nur auf das konzentrieren, was ich im Moment tue, um das Kochen und das Leben wieder genießen zu können.

Sie sah von Maries Händen zu Remi. Auch er hielt sich nur an seinem Glas Wein fest und schaute seiner Ehefrau zu. Sie haben sich beide, sie wirken zufrieden, dachte Emily. „Haben Sie Kinder?“, fragte sie, ohne nachzudenken. Einen Augenblick lang wurde es ganz still.

„Einen Sohn, aber der ist schon lange ausgezogen“, sagte Remi, und Marie begann wieder die Schalotten für das eingelegte Rindfleisch zu hacken. Emily biss sich auf die Lippen. Sie war so froh gewesen, dass man sie hier in diesem gemütlichen Haus nicht ausgefragt hatte, und nun platzte sie mit einer indiskreten Frage heraus. In jedem Leben gibt es Schicksalsschläge, dachte sie, und manchmal ist es besser, nicht allzu neugierig zu sein und nicht die Wahrheit zu wissen.

5. KAPITEL

Die Musik dröhnte aus den Lautsprechern, und blaurote Lichter zuckten über die Wände. Der Tisch war voller Gläser. Einige Flaschen lagen in einer beleuchteten Halbschale auf Eis. Wodka und Gin neben Red-Bull-Dosen, Orangensaft und Tonic.

„Komm, Maxime, einen trinken wir noch! Du wirst doch jetzt nicht etwa schon ins Bett wollen? Was sollen die Damen denken?“ Serge umarmte Yann überschwänglich von hinten und zog ihn wieder auf das weiße Ledersofa des Nachtclubs.

Yann ließ ihn gewähren. Wenn sein Freund so viel getrunken hatte, war es besser einzulenken. Er würde ein paar Minuten abwarten und sich dann heimlich davonmachen. Gegenüber auf dem Sofa räkelten sich zwei junge Frauen in elegant-lasziven Posen. Serge ließ sich jetzt zwischen sie plumpsen und grinste zufrieden. An ihre Namen konnte Yann sich nicht mehr erinnern, obwohl Serge sie ihm vor zehn Minuten vorgestellt hatte.

Serge kannte so viele Leute, er kannte alle, die Rang und Namen hatten. Sein Vater war ein berühmter Anwalt gewesen. Als Sohn hatte er die Bekanntschaft der Stars und Sternchen sozusagen geerbt.

Gerade schien er etwas über Yann zu erzählen, während er rechts und links jeweils ein Knie der Frauen umfasst hielt. Beide Damen waren langbeinig und blond und schauten bewundernd zu ihm hinüber. Yann zuckte mit den Schultern. Natürlich nutzte Serge auch Yanns Bekanntschaft und sein Können aus. Dafür verhalf er ihm zu mehr Einfluss. Als Dank ließ Yann ihn manchmal Restaurants testen. Warum auch nicht?

Autor

Christina Hollis
<p>Christina Hollis wurde ein paar Meilen entfernt von Bath* in der englischen Grafschaft Somerset geboren. Sie schreibt, seitdem sie und einen Stift halten konnte. Ihr erstes Buch bestand aus ein paar Sätzen über Puppen, die in einem Korb lebten. Damals war sie drei Jahre alt! Die Schule verließ sie mit...
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