Romana Extra Band 88

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DIE HEIMLICHE SEHNSUCHT DES ITALIENERS von PEGGY LANCASTER
Herzensbrecher, Immobilienhai: In dem kleinen sizilianischen Fischerdorf hat Antonio Gardera einen ruchlosen Ruf. Aber sein feuriger Blick macht die hübsche Giulia, die sich hier um ihre Eltern kümmert, atemlos vor Verlangen! Soll sie es wagen und die Warnung vor ihm ignorieren?

STILLE NACHT IN HOLLYWOOD von TERESA CARPENTER
Die Villa ist die perfekte Location für das Filmfest. Eventmanagerin Tori zieht vorübergehend ein - zusammen mit dem attraktiven Filmproduzenten Garrett. Es knistert zwischen ihnen, aber es heißt, dass Garrett sich nie auf Gefühle einlässt. Nicht mal zum Fest der Liebe …

HEISSGELIEBTER FEIND von HELEN BIANCHIN
Diese schwelende Glut in seinem Blick … unwillkürlich erschauert Alesha. Sicher, den mächtigen Loukas Andreou als Geschäftspartner zu haben, wäre himmlisch. Aber seiner Erpressung folgen und ihn heiraten? Das könnte die Hölle für ihr Herz bedeuten …

EINMAL UM DIE WELT ZU DIR von ELIZABETH BEVARLY
Hannah hat ein Problem. Sie kann ihr Millionenerbe nur antreten, wenn sie innerhalb von sechs Monaten schwanger wird! Ist der sexy Weltenbummler Yeager Novak der richtige Kandidat? Dazu muss sie ihn erst von dem größten Abenteuer überzeugen: Liebe und Familie!


  • Erscheinungstag 26.11.2019
  • Bandnummer 88
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744861
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Peggy Lancaster, Teresa Carpenter, Helen Bianchin, Elizabeth Bevarly

ROMANA EXTRA BAND 88

PEGGY LANCASTER

Die heimliche Sehnsucht des Italieners

Die Frauen reißen sich um den italienischen Unternehmer Antonio. Aber er will nur eine: die hübsche Giulia – die ihn für einen skrupellosen Immobilienhai hält! Wie kann er sie von sich überzeugen?

TERESA CARPENTER

Stille Nacht in Hollywood

Liebe kennt Studioboss Garrett Black nur aus Filmen. Bis er in Hollywood mit der schönen Eventplanerin Tori Randall zusammenarbeitet. Sie weckt in ihm ein sehr reales Verlangen …

HELEN BIANCHIN

Heißgeliebter Feind

Entsetzt erfährt Alesha: Ihr Vater hat in seinem Testament verfügt, dass sie Loukas Andreou heiraten muss. Niemals! Doch das Feuer in den Augen ihres Feindes lodert verführerisch …

ELIZABETH BEVARLY

Einmal um die Welt zu dir

Kein Berg ist ihm zu hoch, kein Sturm zu wild: Yeager liebt das Abenteuer über alles. Doch was die hübsche Hannah mit ihm macht, wird zu einem nie gekannten Risiko: Sie bringt sein Herz in Gefahr!

1. KAPITEL

Giulia hakte ihre Freundin Melanie unter, und sie stürmten die Treppenstufen des Büros in einem schicken Altbau mitten in Notting Hill herunter, als wollten sie keine Sekunde ihrer Mittagspause verpassen. Das überraschend warme Aprilwetter hatte die beiden jungen Frauen ermutigt, zum ersten Mal nach dem langen Winter frühlingshafte Kleider zu tragen. Giulias olivfarbener Teint und ihre makellose Haut erlaubten es ihr, jetzt schon ohne Strumpfhose hinauszugehen, auch wenn um sie herum erst die Tulpen und Narzissen aus den Beeten ihre Blüten emporstreckten.

Anders als an ihre Beine ließ Giulia an ihr Dekolleté keinen einzigen Sonnenstrahl. Ihr rotes Kleid war hochgeschlossen, und die nackten Arme bedeckte ein dunkelgrauer Cardigan.

„Giulia, ich kann es kaum glauben, dass du bald meine Chefin bist!“, sagte Melanie strahlend und fügte dann etwas besorgter hinzu: „Aber ich hoffe, das ändert nichts an unserer Freundschaft, oder?“

Giulia hielt auf dem Treppenabsatz an, stemmte ihre Hände in die Hüften und sah ihrer Freundin in die Augen: „Mamma mia! Das ist doch nicht dein Ernst, oder? Wir arbeiten seit Jahren zusammen in diesem Haifischbecken! In einem schönen Haifischbecken wohlgemerkt, aber du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass ich meine beste Freundin hängen lasse, nur weil ich Abteilungsleiterin werde?“

Sie warf ihre schwarzen langen Haare zurück und ignorierte die bewundernden Blicke der Kollegen, die gerade aus der Pause oder einem Meeting zurückkamen. Als Italienerin fiel sie in London immer noch auf, aber vielleicht lag das daran, dass sie einfach umwerfend hübsch war.

„Nein, Giulia, du hast recht. Eine bessere Freundin und Chefin kann ich mir nicht vorstellen. Aber sag mal, hast du nicht gerade gesehen, wie John aus der Grafikabteilung dich angeschaut hat? Und zwar nicht das erste Mal!“, wechselte Melanie das Thema. Sie konnte nicht verstehen, warum ihre Freundin immer noch Single war.

„Ach, John, der ist ganz nett, aber nicht mein Typ“, antwortete Giulia in einem leichten Ton, obwohl ihr schwer ums Herz wurde. Nicht mal Melanie wusste, warum sie sich von einer ernsthaften Beziehung fernhielt.

„Genau wie all die anderen Typen“, lachte Melanie, die selbst glücklich verlobt war. „Lass uns jetzt lieber um etwas Wichtigeres kümmern! Ich habe Hunger! Was hältst du von dem Chinesen, bei dem wir letztens den köstlichen Reis mit süßsaurem Hühnchen verspeist haben?“

Da waren die beiden Freundinnen sich schnell wieder einig, hakten sich wieder unter und gingen durch das beliebte und belebte Londoner Viertel, das nicht zuletzt durch den gleichnamigen Film Notting Hill mit Julia Roberts und Hugh Grant berühmt geworden war.

Als sie das kleine Chinarestaurant betraten und ihnen am Eingang die bunt bemalte Glückskatze zuwinkte, begrüßte Mrs. Chang, eine alte Chinesin im rotgoldenen Kleid, ihre Stammkundin Giulia freundlich. Der Duft von asiatischen Gewürzen und zartem Reis ließ einem das Wasser im Munde zusammenlaufen. Bis auf die Entenleber hatte Giulia schon jedes Gericht probiert.

Als ihnen Mrs. Chang wenig später eine dampfende Schüssel Reis und zwei Schalen mit kross gebratenen Shrimps in frischem Gemüse auf die Wärmeplatten stellte, stürzten sich die beiden jungen Frauen auf das Essen, als hätten sie eine Bergwanderung hinter sich. Dabei hatten sie nur über einem Werbekonzept für ein angesagtes Duschgel gebrütet, das nicht nur Frische auf der Haut, sondern auch ein Glücksgefühl verleihen sollte.

„Die Beförderung wird auch dringend nötig“, sagte Giulia augenzwinkernd. „Nicht nur meine winzige Wohnung hier in Notting Hill ist teuer, auch das Essen verschlingt die Hälfte meines Einkommens.“

Melanie, die mit ihrem Verlobten etwas weiter draußen wohnte und sich für die Mittagspause normalerweise Sandwiches von zu Hause mitbrachte, konnte ohnehin nicht verstehen, warum die sonst durchaus sparsame Giulia jeden Mittag essen ging.

„Tja, vielleicht sollte ich doch mal einen Kochkurs machen“, witzelte Giulia und stocherte in dem Reisgericht herum, das ihr gerade noch so köstlich geschmeckt hatte. Selbst Melanie wusste nicht, dass Giulia sich bei ihren ersten Kochversuchen als Kind mehr als nur die Finger verbrannt hatte. Und so gerne sie Melanie mochte, der Teil ihrer Geschichte, der mit diesem Unfall zu tun hatte, blieb selbst vor der Freundin verschlossen. Außer Giulias Eltern und Marias Familie wusste niemand davon.

„Alles Gute den beiden Damen“, sagte Mrs. Chang und legte ihnen jeweils einen Glückskeks auf den Tisch.

Beide rissen das Papier auseinander und waren dankbar, das unangenehme Thema zu umschiffen und sich stattdessen den Glückssprüchen zu widmen.

Giulia faltete den weißen Zettel auseinander, nachdem sie ein Stück des knackigen Kekses in den Mund gesteckt hatte.

Du wirst das Glück im Schoß deiner Familie finden, stand dort in schwarzer Druckschrift. Giulia schüttelte den Kopf: „Meine Eltern sind weit weg, Geschwister habe ich keine und eine eigene Familie zu gründen, habe ich erst recht nicht vor. So ein blöder Aberglaube.“

Giulia konnte immer noch nicht verstehen, weshalb ihre Eltern, als sie das Rentenalter erreicht hatten, wieder zurück in ihre Heimat Sizilien gezogen waren. Als ob das Meer, ein paar Zitronenbäume und alte Verwandte das Leben mit ihrer Tochter im modernen London aufwiegen konnten! Dann komm doch mit, hatte ihre Mutter gejammert, doch Giulia liebte die Freiheit in London, ihren Job und all die Möglichkeiten, der Enge zu entfliehen, die es für Frauen in den dörflichen Gegenden der italienischen Insel immer noch gab.

Du triffst eine große Liebe, wo du es niemals erwartet hättest, las Melanie vor. „Du hast recht, elender Aberglaube. Ich habe meine Liebe doch längst gefunden und möchte mit ihr das Glück in der Familie finden. Ich glaube, unsere Kekse sind einfach vertauscht worden.“

Melanie schob ihren Zettel zu ihrer Freundin. „Hier, die große neue Liebe schenke ich dir!“

Giulia nahm den Zettel und wollte ihren ebenfalls der Freundin schenken. Doch er war unbemerkt in ihre Handtasche gerutscht, sodass sie ihn nirgends fand.

„Egal, du brauchst keinen faulen Zauber, um mit Robert eine glückliche Familie zu gründen. Ihr seid einfach so ein zauberhaftes Paar, dass es kein bisschen Magie von außen braucht!“, sagte Giulia und meinte es auch genau so. Ob sie sich irgendwann auch auf die Liebe einlassen konnte?

Giulia sah aus dem Küchenfenster auf die hübsche Ziegelwand vom Haus gegenüber, die zum Glück nicht ganz verhinderte, dass etwas Abendlicht in ihre winzige Wohnung fiel. Das Basilikum im Topf auf der Fensterbank wuchs dennoch nur kümmerlich, aber es reichte aus für den Insalata Caprese. Die italienische Vorspeise war ihr Lieblingsgericht und ließ sich außerdem kalt zubereiten. Die Tomaten aus dem Supermarkt waren leider nicht mit denen zu vergleichen, die sie in ihrer Heimat als Kind direkt vom Strauch genascht hatte. Meine Güte, waren die süß und aromatisch gewesen. Da kitzelte ihr Gaumen ja schon, wenn sie nur daran dachte! Über die Treibhaustomaten auf ihrem Teller musste sie schon ordentlich Salz und Pfeffer und natürlich Olivenöl und Balsamicoessig kippen, damit sie nach etwas schmeckten. Öl und Essig hatte sie zu Weihnachten in einem Paket von Mama und Papa geschickt bekommen. Und dickfleischige, sonnengelbe Zitronen waren auch dabei gewesen. Zitronen ernteten ihre Eltern das ganze Jahr in ihrem Garten, weil diese Frucht ständig erntereif war. Die Zitrone hielt sich an keine Jahreszeit, sondern ließ Blüten und Früchte einfach gleichzeitig sprießen.

Giulia seufzte. Sie vermisste ihre Eltern. Es war schon fast wieder ein Jahr her, dass sie sich zuletzt gesehen hatten. In London. Schließlich hatten ihre Eltern als Rentner ja mehr Zeit. Ihr Chef machte ihr immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie überhaupt mal Urlaub machte. Überstunden waren in der Werbebranche einfach normal, und dass sie heute ausnahmsweise mal vor 20.00 Uhr zu Hause war, eine seltene Ausnahme. Ihr Handy klingelte. Mist, ich hätte es leise stellen sollen, dachte Giulia. Das war bestimmt wieder Mr. Smith, der eigentlich an jedem Abend oder Wochenende noch eine Frage hatte. Und heute hatte er im Meeting vor allen Kollegen noch mal betont, dass Giulia als neue Abteilungsleiterin auf jeden Fall immer erreichbar sein musste.

Einmal war ein Großkunde abgesprungen, weil ein anderer Kollege erst nach dem Wochenende auf einen Änderungswunsch reagiert hatte. Das durfte bei der großen Konkurrenz nicht noch einmal passieren!

Aber es war nicht ihr Chef. Das Display zeigte den eingehenden Anruf von Maria an. Maria war die Nachbarin ihrer Eltern und für Giulia seit Kindertagen wie eine liebe Tante. Was hatte sie geweint, als Maria sie am Flughafen verabschiedete, weil die Eltern beschlossen hatten, dass das kleine Mädchen in England eine bessere Schulbildung genießen sollte als in Sizilien. Außerdem gab es damals in der Heimat keinen Job für ihren Vater, der sich in London in einem Restaurant bald vom Kellner zum Koch hocharbeitete. Und heute war Giulia froh, dass ihre Eltern diesen Schritt gewagt hatten.

Aber wenn Maria anrief, war es meist etwas Ernstes. Mit klopfendem Herzen nahm sie das Gespräch an.

„Giulia, wie gut, dass ich dich erreiche! Mein Mädchen, es ist etwas Schreckliches passiert!“, schluchzte die Frau, die rund zwanzig Jahre älter war als sie.

„Mein Gott, Maria, was ist los? Leben meine Eltern noch?“ Sie ließ sich auf den Boden sinken und lehnte sich an die Wand.

„Gerade noch! Dein Vater hat dem Tod schon in die Augen geschaut und deine Mutter war kurz davor!“, schrie Maria aufgeregt ins Telefon. Natürlich auf Italienisch, was Giulia perfekt sprach.

„Maria, sag mir bitte ganz in Ruhe, was passiert ist!“, antwortete Giulia ebenfalls auf Italienisch. Sie hoffte, dass Maria es wie immer übertrieb.

Doch dann musste sie erfahren, dass ihr Vater bei der Tomatenernte im Garten einen Herzinfarkt erlitten hatte, und ihre Mutter daraufhin mit einem Nervenzusammenbruch ebenfalls ins Krankenhaus eingeliefert worden war.

Giulia schossen die Tränen in die Augen, als sie hörte, dass ihr Vater darauf bestanden hatte, die Tochter erst zu informieren, wenn beide über den Berg waren. Sie wollten ihr keine Sorgen machen. Wie konnten sie nur so denken!

„Giulia, ich habe deine Eltern jeden Tag im Krankenhaus besucht, aber wenn sie wieder zu Hause sind, brauchen sie jemanden, der sich um sie kümmert! Ich schaffe das einfach nicht, weil ich selbst jeden Tag noch in der Trattoria meines Schwagers arbeite. Und du kennst meinen Mann, der ist selbst wie ein kleines Kind, dem kann ich zu Hause nicht mal die Verantwortung für die Topfpflanzen übertragen“, sagte Maria, und Giulia wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, bevor sie überhaupt ein Wort sagen konnte. Ihr war beim letzten Besuch schon aufgefallen, dass ihre Eltern zunehmend gebrechlich wurden, obwohl sie erst Mitte sechzig waren.

„Giulia, du musst kommen! Deine Eltern brauchen dich! Sie brauchen ihre Tochter und nicht nur jemanden aus der Nachbarschaft“, sagte Maria.

Giulia sackte in sich zusammen. Sie hatte jetzt keine Zeit zu überlegen, ob sie in der Agentur fehlen würde. Sie musste sofort ein Flugticket buchen.

Drei Tage später landete Giulia auf dem Flughafen in Palermo, der Hauptstadt Siziliens, die früher verschrien war als Hochburg der Mafia. Tatsächlich hatte sich in Giulias Kindheit kaum einer dort nachts noch auf die Straße getraut, aber jetzt erblühte die Stadt immer mehr zu ihrer ursprünglichen Schönheit. Einflüsse aus allen Jahrhunderten ließen die Stadt an manchen Stellen wirken wie aus Tausendundeiner Nacht, an anderen versetzte sie einen ins Mittelalter. Wo sonst auf der Welt gab es Kathedralen und Kirchen, die an arabische Paläste oder Moscheen erinnerten, weil maurische Architekten christliche Kirchen in islamische Gotteshäuser umgebaut hatten? Angesichts der rot gefärbten Kuppeln der Kirche San Cataldo hätte es nicht verwundert, wenn auch beladene Kamele durch die Straßen gelaufen wären. Doch vielerorts war die größte Stadt Siziliens genauso modern wie London. Das Leben pulsierte in der Metropole, auch wenn alte Leute wie Giulias Eltern davon nichts mitbekamen und nur für Arztbesuche oder Behördengänge in die Großstadt fuhren.

Der Flughafen lag etwa dreißig Kilometer außerhalb der Stadt, und Giulia war froh, als sie Maria endlich erblickte.

„Meine süße kleine Giulia!“, rief sie und umarmte Giulia, sodass sie sich fast wieder wie ein kleines Mädchen fühlte.

„Geht es ihnen einigermaßen?“, fragte Giulia, und natürlich wusste Maria gleich, wen sie meinte.

„Ach, ich habe zwei Tage die Wohnung geputzt und vorgekocht, damit sie es zu Hause schön haben. Und es geht einigermaßen, aber du kannst sie nicht länger als einen halben Tag alleine lassen. Nachdem ich sie aus dem Krankenhaus geholt habe, habe ich zwei Tage auf ihrem Sofa geschlafen. Ich hatte Angst, einer von ihnen bekommt einen Rückfall. Mein Mann hat sich schon beschwert“, kicherte sie nun, obwohl das Thema nicht witzig war. Aber genau so kannte Giulia ihre Maria. Bei ihr gab es immer große Emotionen, die manchmal schneller wechselten als das Wetter im April. Maria war etwas füllig und stets adrett gekleidet. Auch jetzt trug sie ein seidenes Halstuch über dem etwas zu eng anliegenden Pulli, der ihre üppige Brust betonte.

Resolut nahm sie Giulias Gepäck und wuchtete es in den Kofferraum, als sie an ihrem Fiat angekommen waren. Der ganze Parkplatz schien übersät mit diesen berühmten italienischen Kleinwagen.

Und auf der Fahrt bemerkte Giulia wieder, dass es hier ganz normal war, alle drei Minuten zu hupen oder sich beim Abbiegen oder Überholen einfach in die engste Lücke zu quetschen.

Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster auf die Mietshäuser vor der Stadt, die eher ärmlich als modern aussahen. Und überall säumten zum Teil mannshohe Feigenkakteen und Wolfsmilcharten die Straßen. Die Gewächse, die sie von zu Hause nur als kümmerliche Pflänzchen auf der Fensterbank kannte, schienen hier erst zu ihrer wahren Größe aufblühen zu können. Das helle Grün sah aus der Ferne harmlos aus, aber Giulia hatte sich als Kind oft genug die Finger gestochen, um zu wissen, dass sie sich in Acht nehmen musste. Ihr fröstelte es einen Moment, obwohl es hier schon sommerlich heiß war. Wahrscheinlich, weil Maria die Klimaanlage im Auto voll aufgedreht hatte.

„Es ist toll, dass du so schnell kommen konntest! Deine Eltern werden sich freuen“, sagte Maria und tätschelte Giulias Knie.

„Ja, das ist doch selbstverständlich. Es war ja nur eine Frage der Zeit, dass sie nicht mehr ganz alleine klar kommen. Ich habe schon nach Wohnungen in London Ausschau gehalten, die für Ältere geeignet sind. Mama kommt mit ihren Knien doch kaum eine Treppe hoch. In London könnte ich sie jeden Abend besuchen, und ich verdiene bald mehr, sodass ich etwas zur Miete beisteuern könnte“, sagte Giulia müde, weil sie die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte.

Sie fuhren jetzt schon durch die kurvigen Straßen zwischen dem Meer und einer Gebirgskette. Links und rechts standen immer mehr Kakteen, Zitronenbäume, aber auch Mauern, die die Grundstücke vor ungebetenen Gästen abschotteten. In den vergangenen Jahren waren immer mehr Grundstücke, die zum Großteil eigene Zugänge zum Meer hatten, von reichen Leuten aufgekauft, neubebaut worden und dienten nur noch als Urlaubsdomizil. Hatten ihre Eltern nicht über einen Immobilienmogul geredet, der aus ihrem Heimatort Asparo ein Ferienparadies für reiche Leute machen wollte?

Gut, dass das Grundstück ihrer Eltern schon seit vielen Generationen im Familienbesitz war. Mittlerweile konnten sich die Einheimischen selbst die Grundstücke nicht mehr leisten, die früher wegen der Hanglage kaum jemand haben wollte. Die meisten, die hier aufgewachsen waren, kannten nichts anderes als die Arbeit als Fischer oder Bauern, die ihre Ware auf dem Markt im Dorf anboten.

„Giulia, was redest du da! Deine Eltern gehören hier hin! Genau wie du! Und eine Frau in deinem Alter sollte nicht die Karriere, sondern einen Mann suchen! Du willst doch nicht als alte Jungfer enden, oder?“, regte Maria sich auf.

„Was heißt hier alt? Ich bin gerade mal sechsundzwanzig Jahre alt!“, entrüstete sich Giulia, obwohl sie genau wusste, dass Maria es nicht böse meinte.

„Was, so alt schon? Für mich bist du immer noch ein kleines Mädchen“, widersprach Maria sich selbst und bog in die Straße ein, in der sich immer noch das kleine Café befand, in dem Giulia schon früher Limonade oder Eis gekauft hatte. Wie damals saßen einige alte Leute auf der Terrasse, man trank Kaffee und spielte Karten. Ob ihr Vater auch manchmal dort saß? Vom Café aus waren es nur noch hundert Meter bis zu dem Haus ihrer Eltern.

„Gibt es denn wenigstens schon einen Anwärter?“, fragte Maria beharrlich nach.

„Nein, gibt es nicht!“, sagte Giulia genervt.

„Dann suchen wir dir hier einen. Dann hast du einen Grund mehr hierzubleiben. Ein Kind gehört zu seiner Familie“, sagte sie theatralisch, und Giulia musste an den Spruch aus dem Glückskeks denken. Sie kurbelte das Fenster herunter. Stickige Luft hatte sie auf dem Flug schon genug gehabt.

Vor dem Café fuhr Maria Schritttempo, weil ein paar Kinder auf der Straße Ball spielten.

„Ich kann mir schon selbst einen suchen, wenn ich das will. Der da hinten, der mit der Sonnenbrille auf der Stirn, der würde mir gefallen“, sagte Giulia provokativ, um endlich Ruhe vor dem Thema zu haben. „Wenn du magst, kannst du ja anhalten und ihn fragen, ob er mit mir ausgehen möchte.“

Giulia grinste, und Maria bremste, um sich den Mann genauer anzusehen. Als sie ihn erkannte, zog sie ihre Augenbrauen zusammen und sah Giulia entsetzt an.

„Von dem musst du dich fernhalten, mein Kind! Das ist der Teufel persönlich. Antonio Giordano bringt nur Unglück. Er ist nicht nur ein eitler Herzensbrecher, sondern er macht unser ganzes Dorf kaputt!“, warnte Maria.

Giulia musterte den Typen durch das offene Fenster genauer, und da lächelte er zu ihr herüber. Sie erschrak. Der Mann mit den fast schwarzen Haaren hatte blaue Augen. Das war eine seltene Kombination, und Giulia erinnerte sich an ein Kinderbuch, in dem ein Junge mit blauen Augen und schwarzen Haaren insgeheim ein Zauberer war. Ging ihr sein Lächeln deshalb durch Mark und Bein, weil dieser Fremde vielleicht auch über magische Kräfte verfügte?

„Siehst du, Giulia, da grinst er dich schon so frech an und glaubt, im nächsten Moment bist du Butter in seinen Händen!“, schimpfte Maria und trat aufs Gas, als die Kinder sich an die Seite gestellt hatten.

Giulia drehte den Kopf, um den Blickkontakt zu halten und lächelte ebenfalls. Alles war ihr recht, um sich vor der ersten Begegnung mit ihren Eltern abzulenken. Sie hatte Angst davor, ihnen zu begegnen und sehen zu müssen, dass sie alt und hilflos geworden waren.

Antonio Giordano sah auf seine Armani Uhr, die er sich selbst zum Studienabschluss geschenkt hatte. Sie erinnerte ihn daran, dass er das Studium mit Bestnoten in Rekordzeit durchgezogen hatte. Und auch jetzt hasste er jede Art von Zeitverschwendung. Er fragte sich, wie lange diese unnütze Diskussion noch dauern sollte! Er saß im Besprechungsraum von PalermoParadise, einem erfolgreichen Immobilienunternehmen, dessen Leitung er vor drei Jahren von seinem Vater übernommen hatte.

Der große Raum im Erdgeschoss des Palazzos mitten in Palermo wirkte eher wie der Festsaal eines vergnügungssüchtigen Königs und nicht wie ein Ort sachlicher Arbeit. In der Mitte des Raumes stand ein runder Tisch aus wertvollem Mahagoniholz, der mit Tee und Köstlichkeiten gedeckt war, die der englischen Queen alle Ehre gemacht hätten. Scones, Sandwiches und eine Kanne mit Earl-Grey-Tee standen auf dem Tisch. Seine Mutter Anita hatte ein paar Jahre in London gelebt, und Antonio vermutete, dass sie dort eine Affäre gehabt hatte. Natürlich vor ihrer Ehe mit seinem Vater Angelo, dem strengen Patriarchen. Anders konnte er sich nicht erklären, warum sie die Sitten aus dieser Zeit auch dem Rest der Familie aufzwang.

„Warum nutzt ihr nicht euren Einfluss, um sie zwangsräumen zu lassen? Ihr kennt doch genug Leute im Bauamt, die euch helfen könnten, sie loszuwerden. Wer so dumm ist, eine großzügige Abfindung auszuschlagen, dem ist nicht anders zu helfen. Von dem Geld könnten sie sich locker eine moderne Hütte leisten. Selbst schuld, wenn sie in dieser Bruchbude sitzen bleiben möchten“, wetterte Antonio. Von dem Landstreifen in Asparo, der direkt an der Steilküste am Meer lag, gehörten ihm schon fast alle Grundstücke. Es war wie eine Sucht für ihn, heruntergekommene Gegenden mit schöner Landschaft in lukrative Paradiese zu verwandeln. Und es war wie bei dem berühmten Gesellschaftsspiel Monopoly. Nur wenn einem alle Häuser einer Straße gehörten, brachten sie das große Geld. Eine ärmliche Hütte würde den Gästen links und rechts ein Dorn im Auge sein.

„Ich möchte aus gutem Grund vorsichtig vorgehen“, sagte sein Vater ungewöhnlich sanft, wobei seine Miene an den gealterten Schauspieler Al Pacino erinnerte. Seine Frau hingegen zuckte sauertöpfisch mit den Mundwinkeln. Sie rückte von ihm ab und nippte an ihrem Tee, als wäre das ihr einziger Trost.

„Tja, den guten Grund kenne ich. Ich sehe es aber auch wie unser Sohn. Wir brauchen uns von diesen Leuten nicht auf der Nase herumtanzen zu lassen. Die kommen doch gar nicht alleine klar! Angelina aus dem neuen Bungalow hat mich erst gestern angerufen. Sie sagt, dass der Anblick der maroden Hütte ihre Augen beleidige, wenn sie von der Straße zu ihrem Haus gehe. Sie könne doch keine exklusiven Gäste empfangen, wenn es nebenan so ärmlich aussieht“, regte sich Anita auf.

„Ich werde die Salvatores noch einmal aufsuchen. Diese Sturheit ist wirklich unerträglich. Im Grunde ist es doch das Beste für die alten Leute, wenn sie das Haus aufgeben. Wie rückschrittlich kann man nur sein!“ Antonio trank den Tee, obwohl ihm ein Ramazotti lieber gewesen wäre. Auch wenn er als Lebemann galt, hielt er sich mit dem Alkohol zurück. Schließlich wollte er nie wieder die Kontrolle über sich verlieren. So wie sein Bruder damals. Und wie er selbst. Die Ohnmacht der schlimmsten Stunde seines Lebens holte ihn immer wieder ein, wenn er sich nicht mit der Arbeit, Partys oder seinem Hobby, dem Segelfliegen ablenkte. Am meisten Befriedigung zog er aus seinem Beruf. Ja, darin spürte er wirklich die Macht, etwas zu verändern.

Er strich sich die schwarzen Haare zurück und spürte den Blick seiner Mutter. Er hasste es, wenn sie ihn so anschaute, weil er wusste, dass sie dann nur seinen Bruder Claudio in ihm suchte. Tatsächlich hatten sie sich sehr ähnlich gesehen, und Claudio würde heute die gleiche markante Nase und die hohen Wangenknochen haben. Nur in der Augenfarbe hatten sie sich von Anfang an unterschieden. Hexenkind hatte seine Oma ihn wegen der blauen Augen manchmal genannt.

„Und wenn sie nicht einsichtig sind, werden wir sie zu ihrem Glück zwingen“, sagte seine Mutter, und die Zärtlichkeit, die für einen Augenblick in ihrem Blick gelegen hatte, verschwand. Auch wenn diese Regung nicht ihm, sondern seinem verstorbenen Bruder gegolten hatte, schmerzte es Antonio, dass ihr Gesichtsausdruck wieder hart wurde. Antonio konnte sie verstehen, schob er seine Gefühle doch auch sofort beiseite, wenn sie drohten, sein Herz zu verunsichern. Herr über seine Gefühle zu sein, bedeutete mächtig zu sein.

„Ich kümmere mich um die Salvatores“, sagte er abschließend, um diese Debatte endlich zu beenden. Bei der Gelegenheit könnte er auch gleich herausfinden, wer diese junge Frau war, die bei Maria Messina im Auto gesessen hatte. In dem kleinen Fischerdorf kannte jeder jeden, und ein anonymes Leben gab es dort nicht. Diese Nervensäge von Maria hatte ihn bei einem der Besuche auf der Baustelle mit einem Schwall an Beschwerden überfallen. Sie wohnte in der Nähe der Salvatores und hatte etwas davon geschwafelt, dass sie es nicht zulassen würde, wenn er mit seinem Mafiaclan das ganze Dorf kaputt machen würde. Antonio hatte nicht mal zugehört, sondern sich einfach seine Sonnenbrille aufgesetzt und sich dem Leiter der Baustelle zugewandt. Sollte das Volk doch froh sein, wenn er für neue Arbeitsplätze und Touristen sorgte! Und diese hübsche Schwarzhaarige mit dem frechen Lächeln könnte ihn vielleicht von seinem Stress ablenken. Sie war nicht von hier, das hatte er gleich gesehen. Und so, wie sie ihn angeschaut hatte, konnte man mit ihr bestimmt eine Menge Spaß haben.

Emilia und Carlo Salvatore hatten schon am Tor gewartet, und Giulia war ihnen erleichtert in die Arme gefallen. Zwar hatte sich ihr Vater auf seinen Stock gestützt und die Knie der Mutter hatten vom langen Stehen gezittert, doch sie strahlten, als sie ihre Tochter endlich wieder bei sich hatten. Giulia spürte, dass die beiden sich nicht anmerken lassen wollten, wie schwach sie noch waren, doch sie waren dankbar, dass Giulia ihnen nun zur Hand gehen würde.

Besonders die Arbeit im Garten, der im Hang lag, war zu viel für die Eltern. Giulia hatte schon immer ein Händchen für Pflanzen und Tiere gehabt, auch wenn die weiße Ziege Bella es ihr heute nicht gerade leichtmachte.

„Jetzt bleib doch stehen, du Diva!“, rief sie, als Bella meckerte und mit den Hinterbeinen ausschlug, während Giulia versuchte, sie zu melken. Einen halben Liter frische Milch hatte sie schon aus dem Euter gepresst. Die Bewegungen gingen ihr leicht von der Hand, obwohl es lange her war, dass sie eine Ziege gemolken hatte.

Als sie fertig war, nahm sie einen Schluck von der warmen Milch, die viel besser schmeckte, als die abgepackte aus dem Supermarkt. Sie hatte Hunger, und hier war sie darauf angewiesen, das zu essen, was der Garten hergab und was ihre Mutter zubereitete. Ein Restaurant gab es hier fußläufig nicht. Aber es reiften Früchte im Garten, die es in London nicht mal zu kaufen gab. Sie hatte sich schon ein paar Mispeln gegönnt. Diese gelbe fleischige Frucht, die an eine riesige Mirabelle erinnerte, würde den Transport im Flieger überhaupt nicht überstehen. Ebenso die Maulbeeren, die man leicht mit Brombeeren verwechseln konnte.

Sie streichelte die Ziege und ließ sie dann wieder laufen. Und das freche Tier hatte nichts anderes zu tun, als die Hühner aufzuscheuchen, die gackernd mit den Flügeln schlugen.

Als Giulia sah, wie ihr Vater, obwohl er die meiste Zeit noch im Bett verbringen sollte, um sich von seinem Herzinfarkt zu erholen, die Gießkanne schleppte, als wäre sie so schwer wie ein Sack Zement, nahm sie ihm diese aus der Hand.

„Lass mich das machen, Papa. Und warum nimmst du nicht den Gartenschlauch?“, fragte sie, während sie die dicken, fast reifen Tomaten bewässerte.

„Solange Wasser im Brunnen ist, nehmen wir das! Wasser aus der Leitung ist viel teurer“, antwortete er und ließ sich auf die Bank auf der kleinen Terrasse fallen, als hätte ihn die Gartenarbeit schon mehr als erschöpft. Schweißperlen standen auf seiner faltigen Stirn. Giulia machte sich wirklich Sorgen um ihre Eltern.

Auch ihre Mutter war noch fahrig und unkonzentriert nach dem Zusammenbruch. Die Sorge, dass ihr Ehemann den Herzinfarkt nicht überstehen könnte, hatte sie komplett aus der Bahn geworfen.

Giulia konnte sich ihre Eltern nicht ohne einander vorstellen. Ihr Leben war nicht aufregend, aber sie schienen völlig damit zufrieden zu sein, einander und dieses bescheidene Häuschen am Meer zu haben. Selbst geerntetes Obst und Gemüse, Milch und Käse von der Ziege und Eier von den Hühnern machten ihr Glück perfekt. Zum ersten Mal konnte Giulia verstehen, weshalb sie England verlassen hatten.

Ob es einen Partner geben würde, mit dem sie auch so einfach leben könnte? Giulia konnte sich das beim besten Willen nicht vorstellen.

„Essen kommen!“, rief ihre Mutter aus der Küche. „Und bringe bitte noch etwas Basilikum, Minze und Petersilie mit!“

Giulia zupfte von dem üppigen Basilikumbusch, der niemals auf ihrer Fensterbank Platz gefunden hätte, eine Handvoll ab, genauso wie von den anderen Kräutern, die in einem Hochbeet wuchsen.

In der kleinen Küche spülte sie die Kräuter ab und suchte nach einem Messer, um sie zu hacken. Ein paar der orangebraunen Kacheln an der Küchenwand hatten Risse, der Herd hatte nur zwei Kochstellen, eine Tiefkühltruhe gab es nicht. Und doch war die Pasta Primavera trotz der bescheidenen Kücheneinrichtung das Beste, was sie seit Langem gegessen hatte.

Ihre Mutter stellte den Topf dampfende Pasta auf den Tisch, die mit Tomaten und Mozzarella, Zwiebeln, Thunfisch und den frischen Kräutern vermischt war. Das Ganze war mit ordentlich Olivenöl und Knoblauch gewürzt. Und der Parmesan war natürlich selbst gerieben.

Giulia lief das Wasser im Mund zusammen, während sie sich die Hände wusch. Allein wegen Mamas Essen hatte es sich schon gelohnt, London für eine Zeit zu verlassen. Ihr Chef Mr. Smith hatte ihr netterweise zwei Wochen Urlaub zugestanden.

„So gehst du mir aber später nicht aus dem Haus“, sagte ihre Mutter und musterte Giulia wie zu deren Teenagerzeiten, während sie drei tiefe Teller und Besteck auf dem Resopaltisch verteilte.

Giulia seufzte. Die ungewohnte Nähe zu den Eltern war nicht immer einfach! Sie schaute an sich herunter. Okay, die Jeans waren schon sehr kurz, aber meine Güte, es war heiß hier! Und ihr Top glich das doch wieder aus. Die Ärmel waren zwar kurz, aber der dünne schwarze Stoff hatte einen kleinen Stehkragen, der über das Schlüsselbein hinausging.

Giulia wollte keinen Streit und lenkte ein: „Mama, das war nur für die Arbeit draußen, ich ziehe mich gleich um.“

Die Mutter strich über den feinen Stoff des Oberteils. „So was Teures zur Gartenarbeit, du weißt wohl nicht, dass man die guten Sachen schonen muss. Ich habe jetzt noch das Kleid, das ich zu unserer Verlobung getragen habe“, sagte sie und stemmte die Hände in die Hüften. Die Kittelschürze kannte Giulia schon aus ihrer Kindheit. Sie bewunderte ihre Eltern für deren Sparsamkeit, und doch wollte sie immer gutes Geld verdienen, weil sie als Kind und Jugendliche auf viele Dinge verzichten musste, die für ihre Mitschüler selbstverständlich waren.

Das köstliche Essen war ihr durch die Kommentare ihrer Mutter ein wenig verleidet worden. So schön es hier auf der einen Seite war, aber die Ärmlichkeit des alten Hauses und der bescheidene Lebensstil ihrer Eltern schnürten ihr manchmal die Kehle zu. Wie würde ihre eigene Zukunft aussehen? Sie konnte nicht ewig hierbleiben. Der Rückflug in knapp zwei Wochen war schon gebucht. Zwischendrin musste sie die E-Mails ihres Chefs beantworten, er fragte jetzt schon, ob sie gegen eine extra Zahlung früher nach Hause kommen könnte.

„Was haltet ihr davon, wenn ihr euch eine Haushaltshilfe besorgt? Ich habe kein gutes Gefühl, wenn ihr auf euch ganz allein gestellt seid, wenn ich wieder weg bin“, sprach Giulia das heikle Thema an, nachdem sie sich noch etwas Parmesan auf die Pasta gestreut hatte.

„Wir kommen schon klar, wenn ich mich erholt habe. Und Maria kommt doch auch jeden Tag und guckt, ob wir noch leben“, wiegelte ihr Vater ab und versuchte, unbeschwert zu klingen.

„Es ist schon schöner, wenn das einzige Kind nicht so weit weg wohnt. Marias Kinder wohnen alle nur eine Autostunde entfernt“, machte ihre Mutter ihr ein schlechtes Gewissen.

„Es war nicht meine Entscheidung, als Kind Sizilien zu verlassen, aber ich habe das Beste daraus gemacht! Ich habe eine tolle Arbeit, Freunde, eine sichere Zukunft!“, entgegnete Giulia und hätte am liebsten ihr Glas auf den Tisch geknallt. „Ihr könnt doch wieder nach London kommen! Wir könnten das Haus hier verkaufen und euch etwas in London suchen. Dann wärt ihr nicht allein!“

„Lieber sterbe ich“, sagte ihre Mutter und verschränkte die Arme vor der fülligen Brust. „Wenn du hierbleiben würdest, wäre alles besser für uns!“

Giulias Herz schlug ihr bis zum Halse. War sie wirklich eine schlechte Tochter, wenn sie bald wieder nach London zurückkehren würde?

2. KAPITEL

Giulia hasste dieses theatralische Auftreten, auch wenn sie das selbst ganz gut konnte. Sie schob den letzten Löffel Pasta in den Mund und sprang auf. Hastig spülte sie ihren Teller und stellte ihn wieder in das offene Regal.

„Nehmt es mir nicht übel, aber ich brauche etwas frische Luft!“, sagte sie und trocknete sich die Hände ab.

„Frische Luft! Hier am Meer hast du immer frische Luft!“ Ihre Mutter riss das kleine Küchenfenster auf. „In London atmest du nur Dreck ein, wenn die Fenster offen stehen!“

Giulia lief in ihr altes Kinderzimmer und holte ihren Badeanzug aus dem Koffer. Sie streifte Jeansshorts und Top ab und zog den hochgeschlossenen Badeanzug an, der sie aussehen ließ, wie eine Wettkämpferin bei den Olympischen Spielen. Fehlte nur noch die schnittige Schwimmbrille. Sie wickelte sich ein großes Badetuch um den Körper und schlüpfte in ihre Flip-Flops.

Hoffentlich hat unser Streit meinen Vater nicht zu sehr belastet, dachte sie, als Carlo zusammengesackt auf dem Küchenstuhl saß.

„Ich habe euch lieb und freue mich hier zu sein. Aber bitte behandelt mich nicht wie ein kleines Kind“, sagte sie und schaute ihre Eltern an.

„Aber du uns auch nicht“, konterte ihre Mutter. „Ihr jungen Leute aus der Stadt denkt immer, nur ihr wüsstet, wie das Leben funktioniert.“ Sie schaute auf Giulias Badeanzug, der unter dem Handtuch bis zum Hals hervorlugte. „Aber pass gut auf, die Wellen sind manchmal ziemlich unberechenbar!“

Sie mussten nicht erklären, warum sie nun alle drei lachten. Es würde einfach dauern, bis die Eltern akzeptierten, dass Giulia längst eine erwachsene Frau war.

Eine Minute später lief Giulia durch den Garten bis zu der schmalen Betontreppe, die nach unten zum Meer führte. Sie schlängelte sich entlang des steilen Felsens hinab und führte unten auf ein kleines Plateau aus Beton, das die Großeltern angebracht hatten, weil Giulias Oma auch so gerne geschwommen war.

Andächtig stellte sie sich auf das Plateau und betrachtete das Mittelmeer, das sich heute vollkommen ruhig präsentierte. Auf dem endlosen Blau glitzerte es hier und da silbern. Aufgeregte Möwen flogen dicht über Giulias Kopf hinweg, als wollten sie ihre Jungen, die sich mit ihrem grauen Gefieder perfekt in den Nischen der Felsen versteckten, vor Giulia beschützen. Eltern waren wohl überall gleich, dachte sie und schmunzelte in sich hinein. Dann ließ sie das Handtuch auf den Boden der Plattform gleiten und schlüpfte aus den Flip-Flops. Vorsichtig stieg sie die Badeleiter hinab und war im Meer.

Es kostete Giulia einen winzigen Moment der Überwindung, in das noch recht kühle Wasser einzutauchen. Und dann war es da, dieses unendlich wunderbare Gefühl der Freiheit. Des Getragenseins. Sie schwamm dem Horizont entgegen. Viel furchtloser, als sie es war, wenn sie festen Boden unter den Füßen hatte. Beim Schwimmen vergaß sie alle Sorgen, selbst die um ihre Eltern. Alles würde gut werden. Das Meer existierte schon seit einer Ewigkeit, und es würde weiter bestehen, ganz egal was an Land passierte. Erst als sie merkte, wie ihre Kraft etwas nachließ, steuerte sie wieder das Ufer an. Bei aller Vertrautheit mit dem Wasser hatte sie von klein auf gelernt, dass das Meer auch unbarmherzig sein konnte. Die letzten Meter zum Plateau tauchte sie und reckte dann ihren Kopf aus dem Wasser. Plötzlich erfasste sie eine unerklärliche Unruhe. Sie musste zurück zu ihren Eltern. Nicht, dass in der Zwischenzeit etwas passiert war? Tropfnass wickelte sie sich in das Handtuch und schlüpfte wieder in die Schuhe. Ihren Vater machte Streit immer so hilflos, nicht dass sein Herz ihm wieder übel mitgespielt hatte.

Sie rannte die Treppe nach oben und eilte dann über die Terrasse ins Haus. In der Küche waren ihre Eltern nicht mehr, obwohl die benutzten Teller vom Mittagessen noch auf dem Tisch standen. Ihre Mutter verließ nie ohne Not die Küche, bevor sie nicht alle Arbeit erledigt hatte! Irgendwas stimmte nicht! Sie hörte Gemurmel. Eine unbekannte Stimme war dabei. Hatten ihre Eltern einen Arzt gerufen?

Panisch hastete sie in das kleine Wohnzimmer und sah, dass dort ein Mann ihren Eltern gegenübersaß. Immerhin saßen sie wach und lebendig auf dem Sofa und schauten sie an.

Ihre Mutter schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund und forderte Giulia auf: „Zieh dir was an, Kind!“

Bevor sie aus dem Zimmer verschwinden konnte, drehte sich der unbekannte Mann zu ihr um. Jetzt schlug Giulia vor Schreck ihre Hände vors Gesicht, was dazu führte, dass ihr das Handtuch entglitt.

Dort bei den Eltern saß dieser Antonio Giordano, der laut Maria alle Mädchen ins Unglück stürzte und der mit den Grundstücken im Dorf Monopoly spielte. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Doch Antonio sah sie mit seinen blauen Augen an, lächelte ohne jedoch preiszugeben, ob er sie erkannte. Er sprach mit tiefer Stimme: „Entschuldigen Sie bitte“, und drehte sich wieder um, um ihr die Möglichkeit zu geben, diskret zu verschwinden.

„Giulia, könntest du dich bitte gleich zu uns setzen, wenn du umgezogen bist“, hörte sie ihren Vater rufen.

Zum Glück hat mich Maria vorgewarnt, dachte sie, während sie sich das Haar bürstete. Dann zog sie sich ihr schlichtes graues Leinenkleid an. Sie betrachtete sich kurz im Spiegel und war zufrieden, weil sie in dem unscheinbaren, aber perfekt geschnittenen Kleid gut aussah. Genauso wusste sie aber auch, dass sie schrecklich aussehen würde, sobald sie sich ihrer Kleidung entledigte. Sie straffte ihre Schultern und schritt erhobenen Hauptes wieder in das kleine Wohnzimmer. Egal was dieser Typ wollte, er würde es nicht bekommen. Jedenfalls nicht von ihr.

„Darf ich vorstellen, das ist unsere Tochter Giulia, die später einmal alles erben wird und deshalb ein Wörtchen mitzureden hat“, kam ihr Vater direkt zum Punkt. Da er nach dem Herzinfarkt dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen war, ließ ihn nun wohl keine Zeit mehr für überflüssiges Geplänkel verlieren.

„Giulia, das ist Antonio Giordano. Seine Familie hat Interesse an unserem Anwesen“, ergänzte er.

Antonio stand auf, und reichte Giulia die Hand. Die eine Sekunde, die er ihre Hand länger hielt als üblich, ließ einen Schauer durch ihren Körper laufen. Rasch zog sie ihre Hand zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ihre Mutter deutete mit einem Nicken an, dass sie sich setzen sollte. Sie folgte und nahm auf dem abgewetzten Sessel neben Antonio Platz. Am liebsten hätte sie ihn auf die andere Seite gerückt, aber das wäre dann doch unhöflich gewesen. Sie musste einfach einen kühlen Kopf bewahren, wie sie das bei Verhandlungen in der Werbeagentur auch tat.

Sie bemerkte, wie Antonio die Familienfotos an der Wand betrachtete. Sie als kleines Mädchen mit ihren Eltern am Strand. Unbeschwert und fröhlich. Sie auf der Abschlussfeier der Schule in London, die Eltern stolz und Giulia sehr ernst, obwohl sie mit Bestnoten abgeschlossen hatte.

„Liebe Signorina Salvatore. Es freut mich, Sie kennenzulernen. Ihre Eltern überlegen, ob es sinnvoll wäre, das mühsam zu pflegende Anwesen aufzugeben, um sich einen entspannten Lebensabend gönnen zu können“, sagte Antonio, als täte er ihren Eltern einen Gefallen, wenn er das Häuschen samt Grund und Boden kaufen würde! Giulia versuchte den Blick ihrer Eltern zu fangen, doch sie sahen nur betreten auf das geblümte Tischtuch. Hatte ihre Mutter nicht vorhin noch gesagt, sie wolle lieber sterben, als ihr Zuhause verlassen?

„Ach, Sie sind also der Wohltäter unseres Dorfes, der armen alten Leuten hilft?“, schoss es aus ihrem Mund.

Nun hob ihre Mutter doch den Blick, allerdings mit einem tadelnden Ausdruck in den müden, alten Augen. „Giulia, wie behandelst du unseren Gast?“

„Schon gut, ich finde es gut, wenn Menschen die Dinge hinterfragen“, entgegnete Antonio Giordano.

Giulia war sich sicher, dass dieser Schönling sie mit dieser Scheinheiligkeit nur um den Finger wickeln wollte.

„Was würden Sie denn bieten?“, fragte sie deshalb direkt.

„200.000 Euro“, antworte er und hypnotisierte sie fast mit seinem Blick.

„Für dieses Grundstück am Meer? In der Größe? Vergessen Sie es“, konterte Giulia. Dieser Mann war gefährlich. Das spürte sie sofort. Es passierte selten, dass ein Mann sie aus dem Konzept brachte, aber dieser tat es. Er saß hier wie ein Löwe vor ein paar wehrlosen Antilopen. Er glaubte, seine Zähne nicht zeigen zu müssen, weil er sowieso als Sieger aus der Schlacht hervorgehen würde.

„Giulia“, mischte sich ihr Vater ein, „vielleicht müssen wir doch zumindest darüber nachdenken, ob wir unser Haus hier aufgeben. Irgendwann kommt der Tag ohnehin. Du hast dein Leben in London. Wir haben alles dafür getan, um dir eine gute Ausbildung zu ermöglichen, nun hast du schon so viel erreicht. Wir dürfen das nicht kaputt machen, nur weil wir uns nicht mehr verändern wollen.“

Jetzt sollte sie auch noch an allem schuld sein! Giulia fühlte ein schlechtes Gewissen. Wäre sie nicht gewesen, wären ihre Eltern nie ausgewandert. Sie wären mit dem Leben hier zufrieden gewesen. Und der böse Blick, den ihre Mutter ihrem Ehemann zuwarf, zeigte ganz deutlich, dass sie nicht einmal darüber nachdenken wollte, ihr geliebtes Zuhause zu verlassen.

„Mama, Papa, es gibt auch andere Möglichkeiten und Hilfestellungen, als euer Zuhause zu verkaufen!“, flehte sie ihre Eltern fast an. Bevor sie vorhin das erste Mal nach vielen Jahren wieder ins Meer getaucht war, hätte sie ihren Eltern sofort geraten, zu verkaufen. Aber jetzt, wo dieser Antonio es ernst machen wollte, wollte sie das Haus ihrer Eltern mit allen Mitteln halten.

„Signor Giordano, Sie wissen genauso gut wie ich, dass allein das Grundstück viel mehr wert ist. Unsere Nachbarin hat mich schon darüber informiert, dass Sie den gesamten Küstenstreifen umgestalten wollen. Und Sie gehen davon aus, dass so ein paradiesischer Ort immer ausgebucht sein wird – zu Ihren Gunsten“, wendete sie sich wieder an Antonio. Meine Güte, hatte er schöne starke Hände! Und in seinem Blick lag für einen winzigen Moment tief versteckt, aber doch sichtbar für jemanden, der selbst schon Schmerzen erlitten hatte, eine große Verwundung. Sie sahen sich an, als wüssten sie beide, dass sie aus demselben Holz geschnitzt waren, auch wenn dieser Antonio es zeit seines Lebens bestimmt leichter gehabt hatte. Ein Luxussohn. Einer, dessen Eltern sich nicht abrackern mussten, um ihm ein Studium zu finanzieren.

Antonio wandte den Blick ab und schaute ihren Vater an. „Wenn es nur um den Preis geht, können wir handeln.“

Giulia hätte schreien mögen ob dieser Überheblichkeit, die aussagte, dass Geld keine Rolle spielte. Aber sie hatte auch ihren Stolz!

„Meine Eltern haben es nicht nötig, ihr Zuhause zu verkaufen. Sollten sie einen bequemen Altersruhesitz brauchen, werde ich dafür aufkommen und dieses Haus“, sie machte eine ausladende Geste wie ein Großgrundbesitzer, der seinem Sohn zeigt, was er mal erben wird, „für uns alle als Urlaubsdomizil erhalten!“, sagte sie und sah Antonio fest in die Augen. Sie glaubte, ein Zucken in seinen Mundwinkeln gesehen zu haben. Er nahm sie nicht ernst. Und auch ihre Eltern sahen aus, als wollten sie widersprechen, doch glücklicherweise überlegten sie es sich anders.

Antonio erhob sich aus dem Sessel und zog eine Visitenkarte aus seiner Hosentasche. In Jeans und weißem Hemd wirkte er leger und überhaupt nicht wie ein profitorientierter Geschäftsmann. Aber das war mit Sicherheit genauso nur Tarnung wie seine vordergründig freundliche Art.

„Falls Sie es sich anders überlegen oder Fragen haben, können Sie sich jederzeit wieder an mich wenden“, sagte er und überreichte Giulia die Visitenkarte.

Interessiert betrachtete Giulia das cremeweiße, aufwendig gestaltete Kärtchen, doch bevor sie die Adresse entziffern konnte, riss ihr Vater es ihr aus der Hand und warf Antonio das erste Mal in dieser Unterredung einen bösen Blick zu.

„Ich werde mich bei Ihnen melden, falls wir es uns überlegt haben“, sagte er und gab Antonio die Visitenkarte zurück. „Wir brauchen Ihre Telefonnummer kein zweites Mal!“

„Meine Güte, erst soll ich über das Haus mitentscheiden, dann habt ihr Angst, ich komme auf dumme Gedanken, wenn ich seine Telefonnummer und Adresse habe!“ Giulia war mit ihren Eltern wieder in die Küche gegangen, nachdem Antonio sich verabschiedet hatte.

„Hast du nicht gemerkt, wie begehrlich er dich angeschaut hat? Da musste ich gleich zeigen, dass ich ein Auge auf dich habe!“, sagte ihr Vater, der immerhin etwas fitter aussah, nachdem Giulia klargemacht hatte, dass man nicht einfach verkaufen werde.

Giulia wunderte sich nicht darüber, schließlich wusste sie, dass der Verkauf trotz aller Vernunft ein zu großes Opfer wäre. „So ein Blödsinn. Das Einzige, was er begehrlich findet, ist die Fläche des Grundstücks und der Preis pro Quadratmeter in der Weitervermarktung“, entgegnete sie und wurde dennoch rot.

„Mein Mädchen, du musst noch viel über die Welt lernen“, seufzte ihre Mutter und setzte einen Kaffee auf.

Giulia strich ihr Leinenkleid glatt und atmete tief durch. Vielleicht war es wirklich das Beste zu verkaufen, aber da gab es bestimmt noch andere Interessenten, die das Häuschen nicht abreißen, sondern es einfach für sich nutzen wollten. Es war zwar nicht das modernste, aber es war gemütlich und vor allem wunderschön gelegen.

„Und selbst wenn er mich angeschaut hat, er macht das doch bei allen Frauen so! Maria hat mir schon einiges von ihm erzählt“, fuhr Giulia fort.

„Du kanntest ihn schon?“, fragte ihre Mutter bestürzt.

„Nein, ich habe ihn nur einmal gesehen. Ihr kennt doch Maria. Sie erzählt immer den Tratsch aus dem ganzen Dorf.“

„Du interessierst dich doch nicht etwa für ihn?“, fragte ihr Vater argwöhnisch und versuchte, auf der Innenseite des Handgelenks seinen Puls zu messen.

„Mama, Papa, ich bin euch für alles so dankbar, was ihr für mich getan habt, aber ihr behandelt mich immer noch wie ein Kind! Was meint ihr eigentlich, wie ich in London lebe? Ich gehe nachts auch ohne männliche Begleitung durch die Straßen nach Hause, schufte für meinen Lebensunterhalt, kümmere mich um meine eigene Wohnung. Ich bin erwachsen!“, erklärte sie aufgeregt und brauchte ihren Puls gar nicht zu fühlen, um zu wissen, dass er raste.

„Giulia, wie kannst du uns das nur antun! Ich mache kein Auge mehr zu, wenn ich weiß, dass du nachts allein durch diese gefährliche Großstadt ziehst. Es wird wirklich Zeit, dass du einen Mann findest, der an deiner Seite ist und dich beschützt. Das nimmt kein gutes Ende, wenn Frauen zu lange allein sind“, sagte Emilia und stellte zuerst ihrem Mann, dann ihrer Tochter einen Espresso auf den Tisch, in den sie ohne zu fragen Zucker reinkippte. Dann ließ sie sich auf einen Küchenstuhl sinken und fasste sich an den Kopf, als wäre eine Migräne im Anmarsch.

„Ich suche aber keinen Mann“, rief Giulia und verließ den Raum, ohne den Kaffee zu trinken.

Den restlichen Nachmittag setzte sie sich an den wackeligen Holztisch in ihrem Zimmer, packte den Laptop aus und arbeitete lange an ihrem aktuellen Projekt für die Werbeagentur. Das Abendessen nahmen sie schweigend zu sich, bis Giulia fragte, ob sie den Wagen ausleihen dürfte.

„Wo willst du hin?“, fragte ihre Mutter.

„Ich möchte einfach etwas rausfahren. Allein sein“, antwortete sie matt.

„Ist das wirklich nötig? Wir sehen uns so selten“, entgegnete ihre Mutter und legte Giulia noch zwei Involtini aus gerollten und überbackenen Auberginenscheiben auf den Teller. Giulia liebte die und aß sie widerspruchslos, aber ihren Ausflug würde sie sich nicht verbieten lassen.

„Doch, es ist nötig. Und wenn ihr mich weiter wie ein Kind behandelt, werde ich morgen abreisen!“, versuchte sie mit fester Stimme zu behaupten. Das hatte den gewünschten Effekt, denn ihr Vater zeigte auf den Autoschlüssel, der in dem Wandschränkchen neben dem Kühlschrank hing.

„Aber pass gut auf dich auf!“

Auf der Fahrt an der Küste entlang, beruhigte sich Giulia wieder. Sie musste Verständnis für ihre Eltern haben. Auf Sizilien bewachte man die Töchter noch immer sehr streng, weil jeder sich noch an die Zeiten erinnern konnte, als ein unschuldiges Mädchen zur Heirat mit einem Mann gezwungen wurde, mit dem es unfreiwillig eine Nacht verbracht hatte. Wenn ein Mann ein Mädchen raubte, konnte die Ehre des Mädchens nur durch die Heirat mit diesem Mann wiederhergestellt werden. Gut, es hatte auch heimliche Paare gegeben, die diese finstere Tradition nutzten, um eine Heirat mit jemandem durchzusetzen, den die eigene Familie sonst nicht für standesgemäß gehalten hätte.

Aber für ganz viele wurden ein paar Stunden mit dem falschen Mann zum Beginn einer langen Leidenszeit. Aber nun lebte man im 21. Jahrhundert, und Maria hatte erzählt, dass es die meisten Eltern nicht mehr so streng sahen, wenn ihre Töchter sich selbstbewusst unter die Männer mischten.

An einer kleinen Bucht hielt Giulia an, schloss den Wagen ab und ging mit einem Handtuch und einer Tasche, in der sie Schlüssel und Handy verstaute, über einen schmalen Weg ans Wasser. Der Mond schien hell genug, sodass sie sich im dichten Buschwerk zurecht fand. In der Ferne sah sie die bunten Lichter Palermos, die von dem pulsierenden Leben der Großstadt erzählten.

An diesem Platz war sie schon oft gewesen. Emilio, der sie anhimmelte, als sie mit sechzehn einen Urlaub mit ihren Eltern hier verbracht hatte, hatte ihr diese geheime Bucht gezeigt. Sie gehörte irgendeinem alten Schriftsteller, der unweit davon sein Feriendomizil hatte, aber selten das Haus verließ. Wie fast überall in Italien war das Meer bis auf den Bereich an öffentlichen Plätzen und Häfen selten frei zugänglich. Fast jede Bucht, fast jeder Abschnitt war durch Zäune abgesperrt. Genau wie dieses Stück Land, aber das rostige Tor stand wie damals offen.

Giulia tat etwas, was sie außerhalb des Badezimmers sonst nie tat. Sie zog sich vollkommen nackt aus, legte ihr Kleid auf die Tasche ins Gebüsch und kletterte vorsichtig über die rauen Felsen, zwischen denen sich immer wieder kleine Sandflächen versteckten.

Auch jetzt war das Meer absolut ruhig. Die Boote der Sardinenfischer waren weit genug draußen, sodass niemand sie beobachten konnte. Der Felsen hinter ihr schützte sie vor etwaigen Blicken von der anderen Seite. Aber im Grunde brauchte sie sich keine Sorgen machen, dass sich jemand an den Strand verirrte. Den Sizilianern war es bei diesem lauen Frühlingswetter noch viel zu kalt, um sich in die Nähe des Wassers zu wagen.

Für eine Londonerin war alles um achtzehn Grad schon warm. Sie tauchte zuerst die Füße ins Wasser und ging dann Schritt für Schritt tiefer hinein. Unwillkürlich zog sie den Bauch ein, als das Nass ihren Nabel umspielte. Als sie auf das Wasser sah, erhaschte sie einen Blick auf ihre Brust und zuckte zusammen. Auch zu Hause sah sie am liebsten nur in den Spiegel, wenn sie bekleidet war. Aber auf einmal hatte sie das Bedürfnis, sich dem Anblick wenigstens im Mondschein zu stellen. Und bei dem sanften Licht sah die Brandnarbe, die sich vom linken Schlüsselbein bis zur rechten Brust quer über ihr Dekolleté zog, gar nicht mehr so bedrohlich aus. Ja, sie besaß sogar den Mut, über die für immer sichtbare Verletzung zu streichen, die der Unfall bei ihr hinterlassen hatte.

Wie stolz war sie als junges Mädchen gewesen, weil sie ihre Eltern mit einem selbstgekochten Essen überraschen wollte. Frittierte Sardellen sollte es geben. Sie hatte auf den Hocker steigen müssen, um das Mehl aus dem Schrank zu holen, in dem die kleinen Fische gewälzt werden sollten. Als sie Pedro auf dem Fischmarkt das Taschengeld von einer Woche hingestreckt und gefragt hatte, ob sie dafür ein Dutzend Fische bekommen würde, hatte er gelacht und gesagt, sie solle das Geld behalten und das nächste Mal einfach ein paar Zitronen aus dem Garten mitbringen.

Die Köpfe und Innereien hatte der alte Fischer entfernt und die Fische in eine Tüte mit Eis gepackt, das bis nach Hause geschmolzen war. Wie Mutter ihr es immer gezeigt hatte, wusch sie die Fische, ließ sie abtropfen und legte sie kurz in Essig ein. Dann füllte sie eine gusseiserne Pfanne mit reichlich Öl, damit die Alici rundherum knusprig frittiert werden konnten.

Mit ihrer Größe reichte sie gerade so an den Herd, dass sie die Pfanne schwenken konnte, damit die Fische darin fast so lebendig schwammen wie im Meer. Doch dann rutschte ihr der Griff der Pfanne aus der Hand, und das heiße Öl ergoss sich auf ihre Brust. Da war auch das karierte Kleidchen kein Schutz, das ihr im Krankenhaus mühsam von der Haut gezogen werden musste. Doch das wusste sie nur aus Erzählungen ihrer Eltern. Sie hatte vor Schmerzen so laut geschrien, dass eine Nachbarin kam und den Krankenwagen rief. Dass sie damals das Bewusstsein verloren hatte, war wohl eine Erlösung gewesen. Nach der Erstbehandlung schmerzte die Wunde noch unsäglich lange. Leider hatten ihre Eltern damals nicht genug Geld, um eine kosmetische Wiederherstellung zu bezahlen. Und sosehr sie diese Narbe auch hasste, sie wollte nie wieder freiwillig in ein Krankenhaus. Außerdem könnten selbst die besten Ärzte der Welt diese Narbe lediglich mildern, aber nicht verschwinden lassen.

Bevor sie sich dem sanften Wasser überließ, legte sie ihre Hand auf die Brust und spürte ihren Herzschlag. Und es war, als ob die Narbe unter ihrer Handfläche weicher würde, als ob ihr ganzes Herz weicher würde. Mit kräftigen Zügen schwamm sie dem Horizont entgegen und fühlte sich auf einmal so ruhig und gelassen wie schon lange nicht mehr. Derzeit vermisste sie ihr Leben in London keine Sekunde, und doch wusste sie, dass sie niemals hier leben könnte.

Die langen Haare hingen ihr schwer über die Schultern, als sie aus dem Wasser stieg. Sie fröstelte und sie sehnte sich nach ihrem warmen Bett. Nach ihrem Ausflug würde sie bestimmt in einen tiefen Schlaf fallen.

Plötzlich sah sie unter ihrem Kleid ein Licht aufleuchten. Ihr Handy. Sie hatte es stumm geschaltet, aber bei jedem Anruf wurde das Display hell. Hoffentlich nicht meine Eltern, die sich schon Sorgen machen, dachte sie und griff nach dem Telefon. Die angezeigte Nummer kannte sie nicht. Ob sie den Anruf einfach ignorieren sollte? Aber was war, wenn es Probleme bei einem Kunden gab? Die wichtigen Kunden erwarteten auch nach Feierabend, dass ihre Fragen sofort beantwortet wurden. Und ihr Chef hatte betont, dass sie in der neuen Position zukünftig jederzeit erreichbar sein musste. Giulia liebte ihre Arbeit, aber sie liebte es auch, einmal Ruhe zu haben. Dennoch konnte sie sich nicht überwinden, den Anruf zu ignorieren und nahm das Gespräch an. „Giulia Salvatore, Werbeagentur John & Smith“, meldete sie sich ganz automatisch.

„Oh, Sie sitzen am Schreibtisch?“, hörte sie eine männliche, belustigte Stimme. Auch wenn sie ihr bekannt vorkam, wusste sie nicht, um wen es sich handelte. Der Mann sprach Englisch.

„Nicht direkt. Ehrlich gesagt bin ich im Urlaub, aber ich habe natürlich dennoch ein offenes Ohr für Ihr Anliegen“, antwortete Giulia, als säße sie im Kostüm im Büro und nicht splitternackt am Strand. War das der Kunde, der mit ihr über eine Kampagne für eine neue Sorte Ingwerbier gesprochen hatte?

„Oh, das freut mich sehr. Bei unserem letzten Gespräch habe ich diese Aufgeschlossenheit etwas vermisst, ganz offen gesagt“, sagte der Anrufer, immer noch ohne seinen Namen zu nennen. Ob er davon ausging, dass sie jeden Kunden an der Sprache erkannte?

„Falls ich den Eindruck erweckt haben sollte, tut mir das leid“, antwortete Giulia und war sich jetzt sicher, dass es der Bierkunde war. Bei dem Meeting war sie wirklich schlecht gelaunt gewesen, hatte aber gedacht, es gut verborgen zu haben.

„Wie kann ich das wieder gutmachen?“, schob sie noch hinterher und zog das Handtuch über ihre Scham, auch wenn der Anrufer das nicht sehen konnte.

„Sie können morgen in Ruhe alle Details mit mir bei einem Drink in einer Bar besprechen. Vielleicht werden wir uns doch noch einig“, sagte er.

Giulia bereute, drangegangen zu sein. Auch wenn sie in ihrer Freizeit arbeitete, hieß das nicht, dass Arbeitstreffen privat waren. So wie er „Drink“ betonte, wollte er mehr von ihr als einen geschäftlichen Austausch.

„Tut mir leid, ich bin auf Sizilien und mir ist es nicht möglich, mich mit ihnen zu treffen. Gerne können wir ein Gespräch nach meinem Urlaub im Büro nachholen. Sie haben den Vertrag schon unterschrieben, oder wollen Sie einen Rückzieher machen?“, entfuhr es ihr barscher als beabsichtigt.

„Giulia, ich habe überhaupt nichts unterschrieben. Und wir sind uns überhaupt nicht einig geworden. Ganz im Gegenteil, Sie haben mir bei dem Besuch bei Ihren Eltern das Gefühl gegeben, als wollte ich Sie übers Ohr hauen“, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung.

Als er sie mit ihrem Vornamen ansprach, hätte sie beinahe das Handy in den Sand fallen lassen. Da sie selbst Italienerin war und mit ihren Eltern nur italienisch sprach, war ihr sein italienischer Akzent, den auch das perfekte Englisch nicht verbergen konnte, gar nicht aufgefallen. Zum Glück fing sie sich schnell wieder, während sie sich umschaute, ob er irgendwo in der Nähe war. Diese Typen mit unseriösen Absichten brachten es fertig, einen zu orten und vielleicht zu überfallen, wenn sie mit Argumenten nicht weiterkamen. Dazu brauchte sie gar nicht erst an all die Mafiafilme zu denken, deren Inhalte kein Klischee waren – zumindest meinten ihre Eltern das.

„Wenn Sie Antonio Giordano sind, glaube ich das immer noch“, antwortete sie schlagfertig.

„Ja, der bin ich. Aber ich möchte Sie davon überzeugen, dass Sie mir vertrauen können“, antwortete er mit einem Selbstbewusstsein in der Stimme, das sie ärgerte. Für wen hielt er sich? Und warum war sie so merkwürdig durcheinander, seit sie kapiert hatte, wer da am Telefon war? Ein Teil von ihr hätte sich gern vom Gegenteil überzeugen lassen. Aber wahrscheinlich war das ein sehr dummer Teil von ihr.

„Dafür ist es zu spät. Sie möchten sich die Not alter Menschen zunutze machen, um aus dem ganzen Küstenstreifen eine Luxusferienanlage zu machen. Oder bedrohen uns die Bagger links und rechts nur zum Spaß?“, fragte sie, obwohl sie wusste, dass es klüger gewesen wäre, einfach aufzulegen.

„Meinen Sie wirklich, Ihre Eltern könnten für immer auf diesem unwegsamen Gelände leben?“, hakte er nach. Nun tat er so, als interessierte ihn das Schicksal ihrer Eltern wirklich, aber Maria hatte sie vorgewarnt. Wer nicht freiwillig in seine Pläne einwilligte, wurde dazu gezwungen. Das war den Nachbarn ein paar Häuser weiter passiert. Sie mussten ihr Haus verkaufen, weil die Abgaben an die Gemeinde auf einmal verdreifacht wurden. Diese Familie Giordano war offensichtlich mit einflussreichen Leuten in Palermo verbandelt.

„Interessiert Sie das wirklich?“, fragte sie und hatte eine unbändige Lust, diesem Mann die Stirn zu bieten.

„Sie interessieren mich“, sagte er mit einem Tonfall, der ihr durch Mark und Bein ging. Gut, dass er nicht sehen konnte, dass ihre Wangen heiß und rot wurden.

Als Giulia darauf nichts erwiderte, fragte er nach: „Und treffen Sie sich mit mir?“

3. KAPITEL

Normalerweise hätte Antonio längst einen Weg gefunden, die Salvatores zum Verkauf zu bewegen. Und wenn es durch ein unschlagbares Angebot war. Lockte das große Geld, wurde irgendwann jeder schwach. Aber die Tochter der Salvatores war die erste Frau, die ihm an Willensstärke ebenbürtig zu sein schien. Sie kämpfte genau wie er. Und das beeindruckte ihn. Und ja, er fand sie einfach verdammt sexy.

Antonio hatte sich von der Party in einem angesagten Club in Palermo entfernt, um Giulia anzurufen. Es hatte ihn nur ein wenig Recherche gekostet, ihre Handynummer herauszufinden. Er starrte vom Balkon der Location aus auf das Meer und wartete auf ihre Antwort.

„Ich überlege es mir“, hörte er durch sein Smartphone. Und dann legte sie auf.

„Hey, Antonio! Komm mit ans Meer!“, rief sein Freund Toni. Er kam mit einer Flasche Champagner und zwei attraktiven Blondinen aus dem Clubraum, die anscheinend schon ein paar Gläser des teuren Getränks genossen hatten.

„Hey, Süßer, du schaust so ernst, kann ich dich aufmuntern?“, fragte die eine und tippte ihn mit ihren langen roten Fingernägeln an. Antonio schob ihre Hand weg. Es langweilte ihn, dass fast alle Frauen ihn begehrten und doch sein Herz nicht berührten.

Obwohl er Giulia nur einmal kurz begegnet war, war es bei ihr genau andersherum. Sie berührte ihn, auch wenn er das nicht einordnen konnte. Und sie ließ ihn zappeln. Er spürte, dass das keine Masche war, um sich interessant zu machen, sondern dass sie wirklich nicht wusste, ob sie ihn treffen wollte.

„Warum so schüchtern?“, hakte die Blondine weiter nach. „Lass uns zum Meer gehen und eine Runde mit Tonis Jacht über das Wasser sausen!“

Sie kicherte und nahm einen Schluck aus der Flasche. Ihre Freundin prostete ihr zu, Toni hielt beide im Arm. Antonio ekelte diese Dekadenz auf einmal an. In seinen Kreisen waren die Leute alle unendlich reich und meinten, ihnen gehöre die Welt. Und sie benahmen sich wie die größten Trampel.

„Nein, danke, ich werde mich nun verabschieden“, sagte er und reichte seinem Freund die Hand, statt ihn zu umarmen. Den beiden Frauen nickte er nur zu. Er wollte nach Hause.

„Es ist doch noch nicht einmal Mitternacht“, sagte die Blondine mit dem kurzen silbernen Kleid.

„Ich habe morgen viel Arbeit“, entgegnete Antonio.

„Ach, Arbeit, Arbeit nervt“, antwortete sie.

Er musste schlucken. Menschen wie die Salvatores arbeiteten täglich hart, ohne dass sie abends eine Flasche Champagner für zweihundert Euro trinken konnten. Wie hatten die Hände von Carlo Salvatore ausgesehen? Wie die eines Bauern. Schwielig und groß.

Antonio hatte keine Lust, sich zu rechtfertigen, warf sich sein Jackett über und verließ den Balkon. Im Club drängte er sich an der tanzenden Menge Menschen vorbei und war erleichtert, als er endlich draußen war.

Es gab noch einen Grund, weshalb er nicht mit auf das Boot wollte. Er, der so stark war, hatte ein Geheimnis. Nie wieder würde er auch nur einen Fuß ins Meer setzen. Das Meer war sein Feind. Er, der letztendlich immer bekam, was er wollte, hatte Angst vor dem Wasser. Es hatte so viel Leid über die Familie gebracht.

Damals war er mit seinem älteren Bruder Claudio nach einer rauschenden Party in der Sommerresidenz der Familie ans Meer gelaufen. Es war die Idee seines Bruders gewesen, nach der Party noch schwimmen zu gehen. Claudio war ein brillanter Schwimmer gewesen, aber der Alkohol hatte ihn an diesem Abend leichtsinnig werden lassen. Während andere Partygäste sich nur mit den Füßen ins Wasser trauten, hatten die Brüder ausgelassen im Wasser herumgetollt und viel Spaß gehabt. Sie spürten gar nicht, wie kalt es war, da sie vorher zu viel getrunken hatten. Und dann war Claudio auf einmal weg gewesen. Anfangs hatte Antonio geglaubt, sein Bruder scherze, um ihm Angst einzujagen. Als Kinder waren sie oft genug um die Wette getaucht, und auch als junge Männer neckten sie sich häufig.

Doch dann tauchte Claudio auf und japste nach Luft. Antonio stürzte sich ins Wasser und schwamm auf seinen Bruder zu, griff nach ihm, konnte seinen Arm festhalten und versuchte ihn an Land zu ziehen. Doch Claudio sackte immer wieder zusammen, und als sie es an den Strand geschafft hatten, konnte auch der Notarzt nichts mehr für ihn tun. Dutzende Menschen umringten das Brüderpaar, und doch hatte sich Antonio noch nie in seinem Leben so einsam gefühlt, als er über dem leblosen Körper seines Bruders gebeugt auf dem Boden kniete. Dann hörte er die Stimme seiner Mutter, die den Namen seines Bruders schrie. Die Menge machte ihr und seinem Vater Platz. Und dann spürte er, wie sie an seinen Schultern rüttelte und schrie: „Was hast du getan?“

Später sagten die Ärzte, dass seine Mutter einen Schock erlitten und deshalb so ungerecht reagiert habe. Sein Verstand glaubte das, aber die Wunde in seinem Herzen schmerzte bis heute. In jener Nacht war nicht nur sein Bruder gestorben, sondern auch die Liebe seiner Mutter zu ihm. Egal was er tat, es genügte nicht. So sollte ihn wenigstens der Rest der Welt bewundern – oder fürchten. Das war sein Motto geworden, während er sein Herz immer mehr verschloss, um es vor weiterem Schmerz zu schützen.

Antonio lief weiter durch das Gedränge von Menschen, das sich in den engen Gassen Palermos ausgebreitet hatte, je später es wurde. Überall wurde gefeiert, in der ganzen Stadt brodelte es vor Lebensfreude und Lust auf einen Neuanfang. Nur in seinem Herzen tobte ein Unwetter. Kein Sturm, eher ein bedrückender Regen, bei dem man glaubt, dass die Sonne nie wieder scheinen wird. Wieder und wieder sah er auf sein Smartphone in der Hoffnung, dass Giulia sich gemeldet hatte.

„Hast du die Salvatores umstimmen können?“, fragte seine Mutter am nächsten Tag, als sie sich wieder an dem großen, runden Tisch trafen, um die Entwicklung des Bauprojektes zu besprechen.

Der Palazzo mitten in Palermo war seit Jahrhunderten in Familienbesitz, und wie sehr viele der alten, reichen Familien, besaßen die Giordanos auch Immobilien vor den Toren der Stadt, in denen es sich im Sommer gut aushielten ließ. Früher, als es noch keine Klimaanlagen gab, boten nur dicke Mauern und große Zimmer Schutz vor der unerträglichen Hitze.

Seit dem Tod seines Bruders hatten sie die Familienresidenz bei Asparo jedoch nie wieder selbst bezogen, sondern nur noch an Feriengäste vermietet. Das war Antonios Idee gewesen, der damit den Grundstein für PalermoParadise legte.

„Ich fürchte, sie sind hartnäckiger als ich gedacht habe. Seit die Tochter ein Wort mitzureden hat, möchten sie nicht mehr verkaufen“, antwortete Antonio und dankte dem Dienstmädchen, das ihm einen Espresso und Cantuccini servierte. Aber auch das süße Mandelgebäck konnte die Bitterkeit aus seinem Inneren nicht vertreiben.

„Was hält sie denn in ihrem Zuhause? Von unserem Geld könnten sie sich doch was viel Besseres leisten“, mischte sich nun auch sein Vater ein.

Antonio antwortete: „Das Grundstück liegt so wunderschön am Meer. Und der alte Baumbestand ist auch unbezahlbar.“

„Und genau deshalb brauchen und wollen wir es auch“, sagte seine Mutter selbstgefällig.

„Mutter, wir haben so viel, sie haben nur das eine. Ich weiß, dass sie es auf Dauer nicht halten können, aber möchtest du ihnen wirklich die Freude an ihrem Garten und dem Haus nehmen?“, fragte Antonio nach. Normalerweise hätte er keine Sekunde gezögert, das Vorhaben durchzusetzen, aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Seit er Giulia getroffen hatte, sah er die Menschen im Hause Salvatore und nicht mehr die lästigen, alten Leute, deren Grundstück er haben wollte. Giulia berührte etwas in seinem Inneren. Sie wühlte ihn auf und ließ sein versteinertes Herz Risse bekommen.

„Das Leben dieser Kleinbauern interessiert mich nicht. Wenn sie unser Geld nicht annehmen, sind sie dumm. Sie können damit überall etwas Neues bekommen, aber wir brauchen genau diese Parzelle, damit der Gesamteindruck unserer Residenzen stimmt. Ich habe schon Anfragen aus den besten Kreisen. Unsere Geschäftspartner dürfen nicht enttäuscht werden“, sagte seine Mutter harsch. Ihr Chanel-Kostüm saß trotz ihrer sechzig Jahre perfekt, und die Haare waren so gekonnt gefärbt, dass keiner auch nur ein graues Haar unter dem dunklen Braun vermutete.

„Wir sind nicht der Nabel der Welt“, entgegnete Antonio und trank noch einen Schluck Kaffee.

„Dein Bruder hätte die Familie immer an die erste Stelle gesetzt“, entgegnete sie spitz. Ihr Mann hob kaum merklich den Kopf, doch sie schob seine Hand nur zur Seite, die auf dem Tisch nach ihrer Hand griff. Der Unfalltod ihres Erstgeborenen hatte Anita schwer getroffen, aber sie nutzte ihn bis heute immer noch dafür, ihre Interessen durchzusetzen.

Antonio reichte es. Er sprang auf. „Wie einfach für ihn, dass er es nicht mehr beweisen muss!“

„Beschmutze das Andenken deines Bruders nicht!“, entgegnete seine Mutter und erhob sich ebenfalls.

„Genau das tust du gerade. Du benutzt seinen Tod als Waffe!“ Antonio ballte seine Hände zu Fäusten, dass es in seinen Fingern knackte. Seinen Schmerz und die Schuldgefühle hatte er lange hinter seiner harten Schale versteckt. Doch er spürte, dass sie sich nicht ewig mit dem Gefängnis in seinem Inneren zufriedengeben würden. „Ich werde die Salvatores nicht mehr zum Verkauf drängen. Wir können die Nachbargrundstücke auch mit kleineren Häusern bebauen, statt das ganze Gelände zu einer großen Ferienresidenz umzugestalten!“ Fest entschlossen sah er seinen Eltern in die Augen.

„Zwei kleine Residenzen mit Blick auf eine marode Hütte?“, seine Mutter lachte höhnisch. „Wenn du dich nicht darum kümmerst, werde ich jemand anderen damit beauftragen. So oder so werden wir die Leute wegbekommen. Je eher sie sich damit abfinden, desto einfacher wird es am Ende für sie sein!“

„Was möchtest du damit sagen? Wird versehentlich ein Bagger ihr Haus beschädigen?“, fragte Antonio nur halb im Scherz.

„Das wird kaum nötig sein, mein Sohn“, antwortete sie mit einer Miene, als verfügte sie über einen gefährlichen Zauber, der die Menschen in ihrer Nähe nach ihrer Pfeife tanzen ließ.

„Antonio, wir haben bereits einige Millionen in die Anlage investiert. Wenn das Projekt platzt, könnte das auch für uns unangenehme Folgen haben“, appellierte nun auch sein Vater an sein schlechtes Gewissen.

„Wenn wir Geldprobleme haben, müssen wir eben neue Geschäftsfelder auftun, aber nicht zu Unmenschen werden!“, entgegnete Antonio.

„Das sagt der Richtige! Wer hat denn das halbe Fischerdorf aufgekauft und die Proteste der Einwohner von der Polizei unterbinden lassen?“, fragte seine Mutter.

In Antonio kroch die Wut hoch. Auch auf sich selbst. Die meisten dieser Menschen waren froh gewesen, dass sie die Grundstücke, die sie seit Generationen immer wieder weitervererbten, endlich in Geld umwandeln konnten. Die meisten von ihnen hatten ohnehin nicht die finanziellen Mittel, um die Häuser nach Jahrzehnten endlich wieder zu sanieren. Viele hatten auch keine Nachkommen, denen sie ihre Häuser und Gärten vermachen konnten. Aber selbst wenn er niemanden wirklich belogen hatte, keiner wusste, wie wertvoll die Grundstücke am Meer wirklich waren. Was war er doch für ein Egoist gewesen!

„Lasst die Salvatores in Ruhe“, rief er so laut, dass das Dienstmädchen, das Getränke brachte, zusammenzuckte.

Stürmisch verließ Antonio den Raum und knallte die schwere Tür hinter sich zu.

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr es mich nervt, dass meine Eltern mich immer noch behandeln wie ein kleines Kind“. Giulia saß mit Maria in Simones Bar, einem kleinen Eiscafé am Hafen von Asparo. Das Fischerdörfchen konnte man vom Haus ihrer Eltern in wenigen Minuten erreichen, wenn man gut zu Fuß war.

„Es sind deine Eltern, und sie handeln nur aus Liebe!“, entgegnete die mütterliche Freundin.

„Ich weiß“, seufzte Giulia.

Die Außenterrasse war bis auf den letzten Platz belegt. Schließlich war heute Markt. Im Hafen lagen bunte Fischerboote aus Holz, die auf ihren nächsten Einsatz warteten. Alte Männer spielten Karten, rauchten und lachten, an den Marktständen tummelten sich die Menschen. Vespa-Fahrer ohne Helm knatterten an ihnen vorbei, Katzen durchsuchten den Müll nach Fischresten. Giulia beobachtete das bunte Treiben und war doch mit ihren Gedanken ganz woanders.

„Nimm noch ein Cannolo. Süßes tröstet immer!“, sagte Maria und zeigte auf die typisch sizilianische Spezialität – eine frittierte Teigrolle, aus der eine süße weiße Creme hervorquoll, die traditionell aus Ziegenmilch hergestellt wurde. In der Creme steckte auch eine kandierte Kirsche, die Giulia als Erstes vernaschte.

„Ich fürchte, meine Probleme lassen sich nicht mit ein paar Süßigkeiten klären“, nahm Giulia das Gespräch wieder auf. „Wenn ich wieder abreise, versinken meine Eltern im Chaos. Wenn ich länger hier bleibe, wackelt meine Beförderung.“

„Denkst du eigentlich nur an deine Eltern und an die Arbeit? Was ist mit dir? Möchtest du nicht auch einfach mal Spaß haben? Was ist mit der Liebe? Es ist nicht gut, wenn eine junge Frau so lange allein ist!“, sagte Maria und tätschelte Giulias Arm.

Zwei junge Männer auf einer Vespa warfen Giulia einen bewundernden Blick zu. Sie schaute weg.

„Und warum sollte das schlecht sein?“, fragte sie.

„Na, weil das Herz ohne Liebe schwer wird“, entgegnete Maria, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt.

Giulia gab sich einen Ruck, um sich Maria anzuvertrauen. „Wenn wir schon bei dem Thema Männer sind: Antonio Giordano hat mich angerufen und gefragt, ob ich mit ihm ausgehe.“

„Mamma mia! Du hast hoffentlich Nein gesagt!“. Maria griff sich an ihr Herz.

Giulia schüttelte den Kopf.

„Nicht? Dann rufe ihn an und sage ab. Oder erscheine einfach nicht“, schlug Maria vor.

„Ich habe gesagt, dass ich es mir überlege“, entgegnete Giulia und ärgerte sich, dass sie das Thema nicht für sich behalten hatte.

„Er möchte dich bestimmt nur um den Finger wickeln, damit ihr das Grundstück verkauft“, sagte Maria ernst. „Hast du nicht die Bagger gehört, die uns schon um sechs Uhr geweckt haben? Der Kerl gibt nicht eher Ruhe, bis er den ganzen Straßenzug besitzt. Wie bei Monopoly. Meine Güte, bei diesem Spiel habe ich immer gegen meine Brüder verloren!“

„Vielleicht verbringen wir ja auch nur einen interessanten Abend miteinander? Und ich werde mich mit Sicherheit nicht um den kleinen Finger wickeln lassen!“, sagte Giulia, richtete ihren Rücken auf und straffte die Schultern, als hätte sie sich genau in diesem Moment entschieden.

„Das haben schon viele Mädchen gedacht“, sagte Maria und zog vielsagend eine Augenbraue hoch.

Giulia hatte Angst, hinter Marias Andeutungen könnten sich wirklich schlimme Geschichten verbergen, doch sie redete sich ein, dass es am besten wäre, sich selbst ein Urteil zu bilden. Maria war zwar herzensgut, aber andererseits besaß sie neben Temperament nicht nur eine blühende Fantasie, sondern auch eine Vorliebe für Tratsch.

Allein über den Markt zu laufen, tat Giulia gut. Sie sollte für ihre Mutter frischen Fisch besorgen. Dass sie diesen niemals zubereiten würde, stand unausgesprochen aber deutlich zwischen ihnen. Giulias Mutter nahm ihr trotz angeschlagener Gesundheit fast jede Arbeit in der Küche ab. Zumindest alle Arbeit am Herd. Am Küchentisch Gemüse zu schneiden war kein Problem, aber sobald der Herd heiß war, machte Giulia einen großen Bogen darum.

An einem Fischstand blieb sie stehen, weil sie in das lebendige Auge eines Tintenfisches blickte, der dort auf dem Trockenen lag. Bis auf das Auge bewegte er nichts mehr. Giulia hätte ihn am liebsten zurück ins Meer geworfen, aber sie wusste, dass der Fischer von dem Fang leben musste.

Lieber waren ihr die Fische, die schon ausgenommen oder portioniert waren. So wie das riesige Stück Schwertfisch, das wahrscheinlich schon eine längere Reise hinter sich hatte. Auch wenn sie sich überwinden musste, kaufte sie bei dem Mann mit der Fischermütze zwei Pfund Sardellen für Alici fritte, die ihre Eltern so gern aßen.

„Giulia?“

Sie zuckte zusammen und ließ vor Schreck die Fischtüte fallen, als sie Antonio erkannte. Diesmal trug er kein Hemd, sondern ein schmal geschnittenes T-Shirt, das seine Muskeln betonte. Auf seinem Gesicht zeigte sich ein Dreitagebart, als wäre er die letzten Tage einfach zu beschäftigt gewesen, um sich zu rasieren.

Sie bückten sich beide gleichzeitig, und ihre Hände berührten sich beim Griff nach der Tüte. Giulia war froh, etwas in den Händen zu haben, so nervös machte sie seine Gegenwart. Antonio sah noch besser aus als bei ihrer ersten Begegnung. Aber er wirkte irgendwie fehl am Platz. Ob er ihr heimlich gefolgt war, um seinen Plan durchzusetzen? Einer wie er ging doch, wenn überhaupt, eher in der Stadt einkaufen als auf den Markt im Dorf.

„Was für eine Überraschung!“, rief er, aber Giulia konnte in seinem Gesicht kein Anzeichen von Heuchelei erkennen.

„Ja, das ist es“, sagte sie nur und bemerkte dann, dass er einen Korb mit Auberginen, Tomaten und Zucchini in der Hand hatte.

„Ich habe leider keinen eigenen Garten“, sagte er lachend und hob den Korb hoch.

„Und deshalb möchten Sie unseren kaufen?“ Giulia konnte nicht anders, als auf den Grund ihrer ersten Begegnung zurückzukommen.

„Giulia, es mag Sie überraschen, aber ich habe es mir anders überlegt. Ich möchte mein Kaufangebot zurückziehen“, sagte er.

Sosehr Giulia gegen den Verkauf war, auf einmal fragte sie sich, ob sie den Eltern mit ihrem Widerstand eine sorgenfreie Zukunft kaputt gemacht hatte. Antonio schien es nicht zu entgehen, dass sie sich über die Nachricht nicht nur freute.

„Es sei denn, Ihre Eltern und Sie möchten unbedingt verkaufen.“

„Nein, aber…“ Sie zögerte einen Moment, bevor sie fortfuhr: „Ich werde mich bei Ihnen melden, wenn wir uns endgültig entschieden haben.“ Sie hätte heulen können bei dem Gedanken, dass ein Verkauf vielleicht doch das Einfachste wäre.

„Die Liste wird aber immer länger.“ Er grinste sie ziemlich verwegen an, während sie ihn fragend anschaute.

„Schon vergessen? Sie schulden mir noch eine Antwort.“

Ach ja, der Drink. Giulia sah verlegen auf ihre rot lackierten Fußnägel in den Riemchensandaletten. Sie war froh, dass sie sich heute hübsch gemacht hatte. Aber warum kaufte ein Mann wie er, in dessen Haushalt es mit Sicherheit nur so vor Angestellten wimmelte, selbst auf dem Markt ein? Sie sah wieder hoch, und als sie in seine Augen blickte, wusste sie, dass es nur einen Grund dafür geben konnte: es machte ihm Spaß!

„Ich halte es für keine gute Idee, mich mit Ihnen zu treffen. Meine Eltern würden mir den Kopf abreißen, wenn sie davon erführen“, antwortete sie und bemühte sich, ihr Herzklopfen zu ignorieren.

Meine Güte! In London war sie eine selbstbestimmte Frau, die ausging, mit wem sie wollte. Und hier? Hier war sie das kleine Mädchen, das ihre Eltern um Erlaubnis fragen musste.

„Und was möchtest du?“, fragte er mit weich klingender Stimme, sodass sie erschauerte. Oder war es die Selbstverständlichkeit, mit der er zum Du gewechselt war? Tausend Stimmen brachten Giulia durcheinander. Er will dich nur benutzen. Er will hintenrum an das Grundstück. Er will sich beweisen, dass er jede haben kann. Er hat schon Tausende Herzen gebrochen. Er hat schon Dutzenden die Grundstücke viel zu billig abgekauft. Nur leider war keine dieser Stimmen ihre. Ihre sagte ganz klar, dass sie schon seit Jahren keine so große Lust mehr gehabt hatte, sich mit einem Mann zu treffen.

„Ich weiß nicht, ob es gut ist, mich mit einem Mann zu treffen, den ich bald nie wiedersehen werde, weil ich wieder nach London fliege“, antwortete sie dennoch verhalten.

„Würde es etwas ändern, wenn du nicht zurückmüsstest?“, fragte er, als wäre eine gemeinsame Zukunft eine Option.

Giulia wich einen Schritt zurück und mahnte sich zur Vernunft. Er war wirklich ein Meister des Flirts. Sie durfte da nicht zu viel hineininterpretieren. Antonio deutete auf den üppig gefüllten Korb: „Falls dir ein Essen mehr zusagt als ein Drink in einer Bar, lade ich dich gerne zu einem Drei-Gänge-Menü ein. Meine Haushälterin wird uns ein erstklassiges Mahl zubereiten.“

Giulia schob die warnenden Stimmen beiseite, die wieder von ihren Gedanken Besitz ergreifen wollten. Sie hörte lieber auf ihren Bauch, und der sagte nicht nur aus Hungergefühl, dass sie große Lust hatte, mit Antonio einen Abend an einem Tisch zu sitzen.

„Brauchst du immer so lange, um etwas Fisch zu kaufen?“, fragte ihre Mutter argwöhnisch, als sie in der Küche alles auspackte.

„Die Auswahl ist hier eben größer als zu Hause“, antwortete Giulia.

„Ach, mein Mädchen, es wird Zeit, dass du endlich eine richtige Frau wirst“, sagte ihre Mutter und knuffte sie liebevoll in die Taille.

„Was meinst du damit?“, fragte Giulia entrüstet und blickte unauffällig auf die altmodische Küchenuhr. Sie hatte sich um acht Uhr mit Antonio verabredet und würde eine gute halbe Stunde Fahrtzeit nach Palermo brauchen.

„Na, dass du für eine Familie sorgen kannst und richtig kochen lernst“, erklärte Emilia.

Giulia sah ihre Mutter an. Von ihrem Zusammenbruch hatte sie sich wirklich schon genug erholt, um wieder die Alte zu sein. Eine gütige, aber manchmal auch herrische Matrone, die alle versorgte. Und wohl auch jemanden brauchte, um den sie sich kümmern konnte. Giulia war klar, dass ihre Mutter sich Enkelkinder wünschte.

„Ich habe keine Familie, die ich versorgen müsste und selbst wenn, könnte doch auch mein Mann kochen, oder?“, sagte Giulia schärfer als beabsichtigt.

Es war am Mittag schon heiß in der kleinen Küche, obwohl die Rollos heruntergelassen waren. Ein paar Lamellen hingen schief heraus, was ihre Eltern nicht zu stören schien. Aber die sizilianische Mittagshitze war nichts gegen das Feuer, das sie damals auf ihrer Haut gespürt hatte.

„Wir hätten dich nicht in England großziehen sollen. Die haben keine Ahnung von guter Küche“, seufzte ihre Mutter und schob Giulia eine Schüssel mit Balsamicoessig hin. „Leg die Sardellen hier hinein, der Fisch mag es sauer“, schob sie hinterher.

Giulia konnte sich noch bestens an dieses Rezept erinnern. Schließlich war es das, das ihr die bleibende Narbe auf der Haut und im Herzen hinterlassen hatte. Ja, sie fühlte sich genau wie damals wie eine Versagerin, die den Wünschen ihrer Eltern nicht gerecht werden konnte.

Ihre Hände zitterten, als sie die kleinen Fische aus dem Essig holte und mit Mehl bestäubte. Das heiße Zischen des Öls in der Pfanne ließ ihren Puls rasen. Bisher hatte sie es komplett vermeiden können, hier zu kochen.

Ihr Vater kam herein. Seine weißen Bartstoppeln ließen ihn noch älter wirken, als er war. Und er stützte sich auf seinem Stock ab.

„Giulia, ich weiß nicht, ob wir hierbleiben sollten. Ich habe diesen Windhund von Antonio Giordano heute Vormittag nebenan gesehen. Die Bagger kreisen uns immer mehr ein. In Zukunft wird es nicht mehr schön für uns hier werden. Und wir sind zu alt, um alles zu bewirtschaften“, fasste er seine Bedenken in Worte.

Giulia war es, als würde ihr Kopf platzen. Das Zischen in der Pfanne, die Kritik ihrer Mutter, die Nachricht ihres Vaters, dass Antonio wieder auf der Baustelle gewesen war. Das war also der wirkliche Grund seines Besuchs in Asparo gewesen! Er wollte die Baustelle besichtigen. Und bestimmt war es nur ein Schachzug, dass er behauptete, ihr Grundstück nicht mehr zu benötigen. Bevor Giulia etwas erwidern konnte, sah sie zu, wie ihre Mutter noch mehr Öl in die Pfanne goss.

„Giulia, tu die Alici schon mal rein, ich …“, sagte ihre Mutter.

„Er führt etwas im Schilde. Ich weiß das“, betonte ihr Vater.

Giulia musste überhaupt kein Unwohlsein vorschützen. Sie hatte das Gefühl, dass jemand sie umklammerte und immer fester zudrückte, je näher sie der heißen Pfanne kam. Sie konnte es nicht. Sie konnte es einfach nicht. Der Geruch von heißem Öl brannte in ihrer Nase. Bevor sie den Herd erreicht hatte, wurde ihr schwarz vor Augen. Der Teller mit den in Mehl gewälzten Sardellen zerschellte auf dem Küchenboden.

„Giulia! Mein Gott, was ist passiert?!“, hörte sie ihre Mutter rufen, die sich über sie beugte.

4. KAPITEL

„Giulia?“ Giulias Mutter rüttelte an ihrer Tochter, während ihr Vater die Pfanne vom Herd nahm, aus der es schon roch, als würde sich das Öl gleich entzünden. Dann beugte auch er sich über seine Tochter und tastete an ihrem Handgelenk nach dem Puls.

„Vielleicht ist einfach alles zu viel für sie. Die Arbeit, die Sorge um uns.“ Ihr Vater sah sie liebevoll an, als sie langsam die Augen öffnete.

„Entschuldigung. Mir war nicht gut“, sagte Giulia matt. Ihr wurde klar, dass sie gerade in die Vergangenheit zurückgeworfen worden war. Jahrelang hatte sie das Braten mit heißem Öl, ja eigentlich alle Arbeit am Herd erfolgreich vermeiden können, weil sie immer eine diffuse Angst hatte. Mit so einem Rückschlag hatte sie jedoch nicht gerechnet. Ihr Unterbewusstsein wollte sie wohl mit aller Macht daran hindern, sich erneut so schlimm zu verletzen.

„Es tut mir so leid, Liebes, nichts als Stress hast du hier bei uns“, sagte ihre Mutter und reichte Giulia ein Glas Wasser, aus dem sie dankbar trank.

„Ist schon gut. Ich brauche nur ein paar Minuten Pause“, antwortete Giulia, erhob sich und setzte sich auf einen Küchenstuhl. Ihr Kopf schmerzte, aber die Panik war vorbei.

Sie sah zu, wie ihre Mutter die Fische aufsammelte, nach Scherben absuchte, etwas Mehl abkratzte, das Öl erneut erhitzte und die Alici in die Pfanne legte. Im Hause Salvatore wurde nichts verschwendet.

Giulia ignorierte das Pochen in ihrem Schädel und fegte die Scherben zusammen. Was sie ebenfalls ignorierte, war ihr schlechtes Gewissen gegenüber ihren Eltern. Sosehr sie es hasste, sie würde die beiden nun anlügen müssen.

„Mama, Papa, ich muss heute Abend wirklich mal etwas anderes sehen! Ich werde Maria fragen, ob sie mit mir ins Kino geht. In Palermo laufen gerade ein paar nette Filme, und so könnte ich endlich mal wieder einen Film in meiner Muttersprache sehen“, sagte sie und ließ die Scherben in den Abfall rutschen.

„Meinst du nicht, du solltest dich lieber ausruhen?“, fragte ihre Mutter besorgt.

„Wir könnten auch mitkommen!“, schlug ihr Vater vor.

Carlo war das letzte Mal als Teenager im Kino gewesen. Er hielt doch nichts davon. Und in die Stadt fuhr er lediglich, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Hoffentlich hatte sich Giulia da gerade nicht selbst in eine Sackgasse manövriert.

„Nein, nein, mein Schatz, das ist zu anstrengend für dein Herz! Lass die jungen Leute ruhig alleine losziehen. Unsere Tochter braucht wohl wieder etwas Stadtluft“, half ihr ihre Mutter und zwinkerte ihr zu.

Giulias schlechtes Gewissen schwoll noch mehr an, aber was sollte sie tun? Wenn sie offenbarte, dass sie mit einem fremden Mann ins Kino ging und dann auch noch mit dem Erzfeind persönlich, dann wären es gleich ihre Eltern, die in Ohnmacht fielen. Im Grunde schützte die Lüge ihre Eltern.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Danke, Mama, genauso ist es. Und ist es okay, wenn wir euer Auto nehmen?“

Im Fiat drehte Giulia die Musik laut auf. Eros Ramazotti. Den hatte sie sogar in London immer wieder gehört. Ihr Kleid rutschte während der Fahrt immer wieder nach oben, und sie fragte sich, ob es nicht zu freizügig für ein Abendessen mit einem Mann war, der laut Maria keine Gelegenheit ausließ, eine Frau zu verführen. Hoffentlich gab es die Haushälterin wirklich. Sie musste vorher aber noch Maria informieren, dass sie als Alibi herhalten musste. Im Tausch gegen eine spannende Story würde sie das bestimmt gerne tun. Giulia musste lächeln. Sie hatte Maria ganz bewusst nicht früher um Hilfe gebeten, weil die sonst versucht hätte, ihr das Treffen mit Antonio auszureden. Während der Fahrt konnte sie schlecht telefonieren. Sie würde Maria sofort nach der Ankunft in Palermo anrufen, damit sie nicht zufällig bei ihren Eltern auftauchte!

Giulia war dankbar dafür, dass sie zumindest vor dem Autofahren überhaupt keine Angst hatte und beteiligte sich an dem allgemeinen Hupkonzert in den Straßen. Wie sehr sie die kleinen rötlichen Häuser aus Muschelkalk liebte, die sich in den Dörfern dicht an dicht schmiegten! Der Hibiskus begann hier und dort schon zu blühen. Überall wuchsen üppige Feigenkakteen. Auf vielen Balkonen flatterten Handtücher oder bunte Kinderklamotten im Wind. Durch manche Gassen passte wirklich nur ein Kleinwagen durch.

Es war hier warm und trocken und nicht so feucht und kühl wie in London. Ob Melanie auch nicht vergaß, die Kräuter auf der Fensterbank zu gießen? Je näher sie Palermo kam, desto höher wurden die Häuser. Sie fand einen Parkplatz in der Nähe des Rathauses. Von dort aus waren es laut Google Maps nur noch zehn Minuten zu Fuß.

Sie wollte mit dem schäbigen kleinen Auto nicht vor dem Palazzo parken und lieber ein paar Schritte gehen. Es dauerte ein wenig, bis sie den Platz vor der Barockkirche Sant’Anna la Misericordia erreicht hatte, in dessen Nähe sich Antonios Zuhause und auch seine Firma befand. Der Platz war belebt, und mittlerweile war die Furcht vor finsteren Gesellen einem fröhlichen Miteinander gewichen. Waren Touristen vor zehn Jahren noch davor gewarnt worden, abends durch Palermo zu flanieren, so gehörte die Stadt mittlerweile zu den sichersten in ganz Europa. Giulia hoffte nur, dass das auch für Antonios Zuhause galt. Ihre Vernunft sagte ihr, dass sie einen großen Fehler beging, doch ihr Herz hatte keine Angst.

Ehrfürchtig schaute sie sich auf dem Platz um. Und da war es, das prächtige Stadthaus mit Stuck an der Fassade und vielen Fenstern mit Blick auf den Brunnen, an dem sich Claudia Cardinale für Viscontis Film Der Leopard geräkelt hatte. Auch wenn Giulia mit dem unvergesslichen Filmstar nicht mithalten konnte, fühlte sie sich selbst fast wie auf dem roten Teppich in ihrem hochgeschlossenen kleinen Schwarzen, in dem sie an Audrey Hepburn in Frühstück bei Tiffany erinnerte. Dass sie so viele schöne Kleider dabeihatte, lag vor allem daran, dass sie kaum Jeans und Shirts besaß. Schritt für Schritt ging sie auf den imposanten Eingang zu. Auf dem Klingelschild gab es mehrere Giordanos. Wahrscheinlich wurde dieser Prachtbau von Generation zu Generation weitervererbt. Statt zu klingeln, schickte sie Antonio eine Nachricht, dass sie da sei und nicht bei der falschen Wohnung klingeln wollte.

Als hätte er schon gewartet, öffnete sich die Tür. Doch statt vor Antonio stand sie vor einer schönen, aber streng blickenden Frau mittleren Alters, die ihm verblüffend ähnlich sah. Neben ihr stand ein Mann in Livree. Wahrscheinlich hatte sie aufgrund der Überwachungskamera über dem Eingang gar nicht klingeln brauchen.

„Guten Abend, mein Name ist Giulia Salvatore. Ich wollte Sie nicht stören, sondern warte nur auf Antonio Giordano. Wir sind verabredet.“

„Guten Abend, Signorina. Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor. Gehören Sie zu der Familie Salvatore aus Asparo?“, fragte die Frau zuckersüß.

Giulia konnte einen Blick in den Flur erhaschen, der mit viel Gold und Stuck eingerichtet war und in den ihre ganze Londoner Wohnung hineingepasst hätte. Außerdem bemerkte sie einen Fahrstuhl, der sich in dem Moment öffnete. Ihr Herz klopfte, als sie sah, wer darin stand. Antonio. Über den Kopf der Frau hinweg schenkten sie sich ein Lächeln.

„Ja genau! Meine Eltern wohnen seit Jahren wieder in Asparo. Sie haben ihre Heimat so vermisst“, sagte Giulia und fühlte sich gleich unbefangener.

Autor

Teresa Carpenter
<p>Teresa Carpenters Familie lebt seit fünf Generationen in Kalifornien. Auch sie selbst wohnt dort: in San Diego an der Küste. Teresas große Verwandtschaft unterstützt sie in allem und gibt ihr Kraft. Besonders stolz macht es sie, ihre Nichten und Neffen zu beobachten, die allesamt klug, sportlich und für eine strahlende...
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