Romana Extra Band 97

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EIN TRAUM WIRD WAHR IN GRIECHENLAND von PENNY ROBERTS

Schon lange träumt Lydia heimlich von ihrem attraktiven Boss Stefanos Papadakis. Als sie ihn wegen einer Erbschaft auf eine Reise begleitet, kommen sie einander endlich näher! Dabei weiß Lydia genau, dass der griechische Playboy zwar an Leidenschaft, aber nicht an die Liebe glaubt …

LIEBESZAUBER AM MITTELMEER von MARION LENNOX

Unerwartet wird Anna nach einem Unfall von dem gut aussehenden Inselarzt Leo Aretino behandelt. Nie hat sie ihre himmlische Romanze vergessen! Jetzt gibt es nur eines, das Leo tun könnte, um auch ihr gebrochenes Herz zu heilen: sie so lieben wie damals.

FLUCHT IN DIE ARME EINES SCHÖNEN FREMDEN von KATE WALKER

Kurz vor der Trauung erwischt Martha ihren Bräutigam beim Fremdgehen! Überstürzt ergreift sie die Flucht. Und läuft prompt in die Arme von Diablo, der tatsächlich verteufelt sexy ist. Mit ihm erlebt Martha eine höllisch heiße "Hochzeitsnacht" …

VERBOTEN SÜSSE KÜSSE von THERESE BEHARRIE

Vom Rivalen zum Verbündeten: Spontan spielt Benjamin Alexas Freund. Er besiegelt die vorgetäuschte Beziehung vor ihrer Familie sogar mit einem verboten süßen Kuss, der Alexa schwach macht. Aber kann sie ihm genug trauen, um ihm ihr größtes Geheimnis zu verraten?


  • Erscheinungstag 04.08.2020
  • Bandnummer 97
  • ISBN / Artikelnummer 9783733747992
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Penny Roberts, Marion Lennox, Kate Walker, Therese Beharrie

ROMANA EXTRA BAND 97

PENNY ROBERTS

Ein Traum wird wahr in Griechenland

Lydia kündigt? Seine schöne Assistentin ist die einzige Frau, auf die Stefanos auf keinen Fall verzichten kann! Der Tycoon will unbedingt, dass sie bleibt – und hat eine verführerische Idee …

MARION LENNOX

Liebeszauber am Mittelmeer

Auch wenn Jahre vergangen sind: Noch immer ist Anna seine Traumfrau. Aber Leo darf sie nicht lieben! Wie eine Mauer steht zwischen ihnen, dass Annas Familie kaltherzig seine kleine Heimatinsel ruiniert hat …

KATE WALKER

Flucht in die Arme eines schönen Fremden

Eine Frau, die frierend im Brautkleid am Straßenrand steht? Da muss Carlos alias Diablo eingreifen und die hinreißende Dame retten! Schade, dass er sie nach einer gemeinsamen Nacht nie wiedersehen wird …

THERESE BEHARRIE

Verboten süße Küsse

Die Restaurantszene in Kapstadt steht Kopf: Alexa Moore und Benjamin Foster sind ein Liebespaar! Bis jetzt waren sie doch erbitterte Konkurrenten. Niemand ahnt, warum Alexa und Ben sich so heiß küssen …

1. KAPITEL

Die Aussicht über die Dächer Athens war einfach fantastisch. Lydia Jasper stand am Fenster des Penthouse im achtundzwanzigsten Stockwerk eines Wolkenkratzers und zog die Vorhänge auf, um Licht in das riesige Schlafzimmer zu lassen. Ringsum gab es keine anderen Gebäude von nennenswerter Höhe, die den Blick auf die Akropolis versperrten. Die Sonne ging gerade hinter dem Parthenon auf und tauchte die antike Tempelanlage in goldenen Glanz.

Vom Bett her hörte sie ein leises Seufzen, dann das Rascheln der Laken aus feinster ägyptischer Baumwolle.

„Stefanos …?“, erklang eine weibliche Stimme. „Wer … sind Sie?“

Lydia atmete tief durch und wandte sich dann vom Fenster ab und der Blondine zu, die inmitten besagter Laken lag und diese bei Lydias Anblick hastig bis zum Hals hochzog.

„Tut mir leid“, erklärte Lydia ungerührt, während sie die im Schlafzimmer verstreuten Kleidungsstücke der Blondine aufsammelte und ihr überreichte, „aber Stefanos ist geschäftlich leider unabkömmlich. Er bittet um Verzeihung, lässt Ihnen aber ausrichten, dass Sie herzlich eingeladen sind, in der Kantine von Abraxas Financial auf seine Kosten zu frühstücken.“

„Ich …“ Die junge Frau errötete und nahm mit gesenktem Blick ihr Kleid und ihre Unterwäsche entgegen. „Wie kann ich Stefanos erreichen?“

„Er wird Sie erreichen“, entgegnete Lydia, wohlwissend, dass er nichts dergleichen unternehmen würde. Im Berufsleben gehörten Loyalität und Zuverlässigkeit zu Stefanos Papadakis’ größten Stärken. Doch was sein Privatleben betraf, war er vor allem eines: ein unverbesserlicher Playboy.

Lydia musste es wissen. Nicht nur, weil sie seit fast fünf Jahren seine persönliche Assistentin war. Hätte sie von Anfang an gewusst, dass sie weit mehr würde organisieren müssen als nur seine Geschäftstermine, hätte sie den Job vielleicht gar nicht erst angenommen.

Allerdings war es da vermutlich bereits zu spät gewesen. Ein Blick in Stefanos’ Augen hatte genügt, und es war um Lydia geschehen gewesen – lange vor ihrem Vorstellungsgespräch bei Abraxas Financial.

Sie unterdrückte ein Seufzen, als die Erinnerungen über sie hereinbrachen. Es war nun mehr als fünf Jahre her, dass ihre Freundin sie in eine Bar mitgeschleppt hatte, um sie nach einer persönlichen und beruflichen Katastrophe auf andere Gedanken zu bringen.

Nun, das hatte in der Tat funktioniert dank des attraktiven Griechen, der sie zuerst auf einen Drink eingeladen und dann zum Tanzen aufgefordert hatte.

Lydia war eigentlich keine Frau, die beim ersten Treffen gleich mit einem Mann ins Bett ging. Doch Stefanos … Er hatte etwas an sich, das sie einfach in seinen Bann gezogen hatte. Und auch heute noch flatterte ihr Herz, wenn sie ihm gegenüberstand.

Es war ein Schock für sie gewesen, als sie sechs Monate später im Vorstandsbüro von Abraxas Financial Services ausgerechnet auf den Mann traf, der sie in jener Nacht so leidenschaftlich geliebt hatte. Und sie war nicht sicher gewesen, ob sie enttäuscht oder erleichtert darüber sein sollte, dass er sie nicht wiedererkannt zu haben schien.

Seither hatte sie nicht mehr aufhören können, an ihn zu denken.

Verliebt in den Chef – was für ein erbärmliches Klischee …

Trotz der unpassenden Gefühle, die Stefano in ihr hervorrief, verhielt sie sich jedoch nicht weniger professionell. Ganz im Gegenteil. Um sich selbst immer wieder zu beweisen, dass sie sich von ihrer albernen Verliebtheit nicht beeinflussen ließ, arbeitete sie doppelt so hart und beklagte sich auch dann nicht, wenn Stefanos’ Wünsche wieder weit über das normale Maß hinausgingen.

So wie heute.

Mit einem Seufzen schüttelte sie den Kopf und bedachte die Blondine, die gerade ihr Kleid überstreifte, mit einem halb mitleidigen Blick. Nur halb, weil ihr immerhin etwas zuteil geworden war, von dem Lydia seit Jahren lediglich träumen konnte.

Nicht, dass es ihr Wunsch war, so wie diese junge Frau hier zu enden. Als amüsanter Zeitvertreib in Stefanos’ Bett, den er am nächsten Morgen nicht schnell genug wieder loswerden konnte. Deshalb war sie damals in aller Früh, als er noch schlief, aus seinem Penthouse geschlichen. Sie hatte den Gedanken einfach nicht ertragen können, von ihm als lästige Verpflichtung empfunden zu werden.

Nein, daran hatte sie nun wirklich kein Interesse. Was nicht bedeutete, dass es ihr gefiel, als Frau praktisch unsichtbar für den großen Stefanos Papadakis zu sein. Damals hatte ihre Freundin sie zurechtgemacht, sodass sie sich im Spiegel selbst kaum wiedererkannt hatte.

„Wünschen Sie, dass ich Sie zu unserer Kantine geleite?“, fragte Lydia, als die Blondine gerade den zweiten ihrer halsbrecherisch hohen Manolo Blahniks überstreifte.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Kann ich mich wenigstens noch rasch frischmachen?“

„Natürlich.“ Lydia deutete in Richtung der Tür, die zum Ensuite-Badezimmer führte. „Nehmen Sie sich ruhig so viel Zeit, wie Sie brauchen. Ein Mitarbeiter wird draußen im Wohnzimmer auf Sie warten und Sie zum Ausgang begleiten.“

Sie verließ den Raum und gab dem Sicherheitsmann noch ein paar Anweisungen, ehe sie selbst in den Lift trat und zwei Stockwerke nach unten in die Vorstandsetage fuhr.

„Ist er inzwischen da?“, fragte sie Peter, ihren Assistenten, als sie ihr Büro betrat.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid. Aber ich habe ein wenig herumtelefoniert. Anscheinend hält er sich noch immer im Fitnessbereich auf.“

Es war absurd, dass sie als persönliche Assistentin des Geschäftsführers selbst einen Assistenten brauchte. Doch die Dinge, die sie für Stefanos erledigte, gingen weit über die üblichen Aufgaben einer PA hinaus. Peter war für all das zuständig, was sie selbst aus Zeitmangel nicht schaffen konnte. Denn auch ihr Tag hatte nur vierundzwanzig Stunden, und die meisten von ihnen widmete sie bereits Stefanos Papadakis.

Das würde sich allerdings bald ändern.

Seufzend strich sie sich eine blonde Haarsträhne zurück hinters Ohr, die sich aus dem akkurat gebundenen Knoten gelöst hatte. „Also schön“, wandte sie sich dann an Peter, „sorgen Sie bitte dafür, dass das Meeting mit Valerian Andrimidou um zwei Stunden verlegt wird. Wenn ich jetzt gleich runtergehe, ihn mir schnappe und unter die Dusche befördere, könnten wir es schaffen. Wenn nicht, dann muss Andrimidou eben ein paar Minuten warten.“

Peter nickte und setzte sich sofort hinter seinen Schreibtisch, um die notwendigen Anrufe zu führen. Wenigstens ein Mann in meinem Leben, der nicht alles unnötig kompliziert macht, dachte Lydia.

Sie kehrte wieder zum Aufzug zurück und fuhr fünf Stockwerke nach unten, wo sich der Freizeitbereich für die Angestellten der Bank befand. Das Fitnesscenter, der Pool und der Saunabereich standen allen Mitarbeitern nach Feierabend zur Verfügung, und in den Mittagspausen wurden kostenlose Massagen angeboten. Ein wahres Paradies, sofern man über Freizeit verfügte.

Was für Lydia nicht zutraf.

Sie durchquerte den lang gestreckten Korridor, an dem zu beiden Seiten die Umkleideräume lagen, und trat dann durch die Glastür in das zu dieser Tageszeit nur schwach beleuchtete Fitnesscenter.

In der hintersten Ecke trainierte ein Mitarbeiter auf dem Laufband, doch Lydias Aufmerksamkeit richtete sich auf den Mann, der gerade, ihr den Rücken zugewandt, am Reck Klimmzüge machte.

Er trug schwarze Shorts und ein schwarzes Muskelshirt, sodass sie bei jeder Aufwärtsbewegung sehen konnte, wie sich sein eindrucksvoller Bizeps anspannte. Seine olivfarbene Haut war mit einem dünnen Schweißfilm überzogen, der im Schein der Deckenbeleuchtung schimmerte.

Lydia schluckte hart, dann strich sie glättend über ihren knielangen Bleistiftrock, straffte die Schultern und räusperte sich vernehmlich.

Er ließ sich auf die Gymnastikmatte unter dem Reck fallen und federte den Schwung mit den Knien ab. Dann drehte er sich um und schenkte Lydia ein Strahlen, das ihr Herz einen Moment lang aussetzen ließ.

„Lydia!“, rief er und kam mit energischen Schritten auf sie zu. „Ist sie weg?“

„Ich möchte Sie darüber in Kenntnis setzen, dass es nicht zu meinem Aufgabenbereich gehört, Ihre One-Night-Stands vor die Tür zu setzen“, entgegnete sie steif. „Aber um Ihre Frage zu beantworten, Stefanos: Ja, sie ist fort. Und Sie müssen sich jetzt auf der Stelle fertig machen – Andrimidou wird in weniger als anderthalb Stunden hier sein, und bis dahin müssen Sie geduscht, angezogen und gebrieft sein. Ich schlage also vor, dass Sie sich in Bewegung setzen.“

„Wenn Sie mich so freundlich bitten …“, entgegnete er mit einem leicht spöttischen Grinsen. „Dann muss ich mich jetzt leider entschuldigen – die Dusche ruft.“ Er hob eine Braue. „Es sei denn, Sie wollen mich begleiten? Ich könnte jemanden brauchen, der mir den Rücken einseift …“

Obwohl das Angebot absolut unangebracht und zudem nicht ernst gemeint war, brachte die Vorstellung Lydias Blut zum Kochen. Verflixt, es wurde wirklich Zeit, dass sie die Kündigung einreichte. Lange würde sie diese Tortur nicht mehr durchstehen.

„Es erstaunt mich zwar immer wieder, dass es noch Dinge gibt, beiden denen Sie nicht meine Hilfe benötigen“, entgegnete sie trocken und mit einer Gelassenheit, die sie bedauerlicherweise nicht empfand, „aber ich bin recht zuversichtlich, dass Duschen in diese Kategorie fällt.“

Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ließ ihn einfach stehen. Und sie verspürte keineswegs den Drang, sich noch einmal umzudrehen, um einen letzten Blick auf seinen halb entblößten Oberkörper zu erhaschen.

Nein, ganz und gar nicht!

Das Lunch-Meeting mit Valerian Andrimidou verlief ganz nach Stefanos’ Erwartungen. Der Mann war reich, aber nicht besonders clever. Auf sich allein gestellt hätte er das Erbe seines Vaters sicher schon vor langer Zeit bei irgendeiner waghalsigen Geschäftstransaktion verloren. Stattdessen hatte sich sein Vermögen inzwischen mehr als verdoppelt – und das verdankte er ausschließlich den klugen Köpfen bei Abraxas Financial.

Es waren solche Männer, mit denen Stefanos zumeist zu tun hatte. Dabei ging es weniger darum, sie wirklich in Finanzangelegenheiten zu beraten, als darum, ihnen ein bisschen Honig ums Maul zu schmieren. Sie bei Laune zu halten und dafür zu sorgen, dass sie gar nicht erst auf den dummen Gedanken kamen, sich eine andere Bank zu suchen.

Nicht unbedingt der Teil seines Jobs, der Stefanos der liebste war – aber jemand musste ihn schließlich machen. Und er war nun einmal derjenige, von dem diese Leute hofiert werden wollten. Für die nackten Zahlen waren andere verantwortlich. Hier ging es um Prestige, um Einfluss und darum, sich wichtig und wertgeschätzt zu fühlen.

Letzten Endes waren auch reiche Männer einfach nur Männer. Und sie wollten die gleichen Dinge wie alle anderen – nur in vollkommen anderen Dimensionen.

Andrimidou erzählte gerade stolz von seinem neuesten Spielzeug, einer zwanzig Meter langen Motorjacht, die er vermutlich ebenso dringend brauchte wie eine weitere Villa. Aber er wurde selbst dann noch nicht müde, sich darüber auszulassen, als das Dessert abgeräumt wurde.

Stefanos beschwerte sich nicht. Andrimidous Monolog kam ihm gerade recht, denn so musste er sich nicht auf das konzentrieren, was sein Kunde redete, und konnte sich seinen eigenen Gedanken widmen. Das Telefonat, das er am vergangenen Abend mit seinem Bruder geführt hatte, wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen.

Nikolaos und ihn verband keine sonderlich enge geschwisterliche Beziehung. Sie hatten sich nie gut verstanden, waren einfach zu unterschiedlich gewesen – oder vielleicht auch zu ähnlich, wer konnte das schon so genau sagen?

Und ihr Vater Grigorios hatte das Seine dazu beigetragen, einen Keil zwischen seine drei Söhne zu treiben.

Was war bloß aus ihnen geworden? Nikolaos, der Älteste, Stefanos selbst – und Ioannis, das Nesthäkchen. Nikos war immer der goldene Junge gewesen, den sein Vater zu seinem Nachfolger herangezogen hatte. Stefanos war für Grigorios nur Luft gewesen. Egal, was er auch tat, wie sehr er sich auch bemühte, die Anerkennung seines Vaters zu gewinnen, es war vergeblich gewesen.

Der alte Mann hatte überhaupt nur einen zweiten Sohn gezeugt, um auf Nummer sicher zu gehen. Man musste schließlich immer einen Plan B in der Hinterhand haben, für den Fall, dass Plan A sich als Fehlschlag erwies.

Ioannis war mit fünf Jahren Abstand zu Stefanos geboren worden, und als Nachzügler hatten seine Chancen, jemals der Erbe des Firmenimperiums zu werden, von Anfang an denkbar schlecht gestanden. Vielleicht war das der Grund gewesen, warum er der einzige Sohn war, den Grigorios wirklich gern gehabt hatte.

Vielleicht lag es auch daran, dass Ioannis als Einziger zu ihrem Vater aufgeblickt hatte wie zu einem Helden.

Trotzdem war es kaum möglich, Ioannis zu hassen. Ebenso wenig, wie man Sonnenschein oder Hundebabys hassen konnte. Jahrelang hatte er die Familie noch bis zu einem gewissen Grad zusammengehalten.

Doch nach dem großen Bruch zwischen Nikos und ihrem Vater war am Ende alles den Bach hinuntergegangen. Stefanos hatte seinen älteren Bruder auf der Testamentseröffnung ihres Vaters zum ersten Mal seit Langem wiedergesehen. Ihr jüngster Bruder schien hingegen wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Er war nicht zu dem Notartermin erschienen, und auch jeder Versuch, mit ihm in Kontakt zu treten, war bisher im Sande verlaufen.

Ioannis war fort.

Und genau da lag das Problem.

Sie brauchten ihn, um das Erbe ihres Vaters antreten zu können. Denn der hatte – vermutlich als letztes Zeichen seiner Überlegenheit – eine Klausel in seinen letzten Willen eingebaut, die regelte, wie mit Patroklos, der Privatinsel, die sich schon seit mehr als Hundert Jahren im Besitz der Papadakis’ befand, verfahren werden würde.

Sie alle drei – Nikos, Stefanos und Ioannis – würden den Sommer gemeinsam auf der Insel verbringen müssen, um die Bedingungen des Testaments zu erfüllen. Dann, und nur dann, würde die Insel in ihren Besitz übergehen.

Unter normalen Umständen hätte Stefanos dieser Felsbrocken im Meer herzlich wenig interessiert.

Es waren einfach zu viele Erinnerungen mit der Insel verknüpft. Erinnerungen, sowohl an gute als auch an weniger gute Zeiten. Und Stefanos war nicht im Geringsten erpicht darauf, diese wieder aufleben zu lassen.

Doch wie das Schicksal es wollte, war vor ein paar Monaten ein großes Tantal-Vorkommen auf der Insel entdeckt worden. Bei der Herstellung moderner Elektrogeräte spielte dieses Mineral eine bedeutende Rolle. Das wiederum hatte zur Folge, dass sich nun gleich mehrere große Minengesellschaften um die Abbaurechte bemühten.

Der Wert des Felsbrockens war also praktisch über Nacht in astronomische Höhen geschnellt.

Stefanos war es relativ egal, was aus Patroklos wurde. Sein älterer Bruder Nikos war zuerst regelrecht besessen von dem Gedanken gewesen, die Insel zu zerstören. Nun schien er einen Sinneswandel erlebt zu haben und wollte sie stattdessen retten.

Beide Optionen waren Stefanos nur recht. Ob er sein Geld nun von einem Bergbauunternehmen bekam oder ob einer seiner Brüder ihn auszahlte – fest stand, dass er am Ende mit einem satten Gewinn aus dieser Sache hervorgehen würde.

Sofern es ihnen gelang, Ioannis aufzutreiben.

Von ihm hing alles ab, und bisher waren sowohl Nikos’ als auch seine eigenen Bemühungen in dieser Hinsicht erfolglos geblieben.

Dabei hatte er sogar die Experten von Abraxas Financial nach Ioannis suchen lassen – und die trugen diesen Namen nicht umsonst. Ihre Spezialität war das Ausfindigmachen säumiger Gläubiger, die versuchten, ihren Verpflichtungen zu entgehen, indem sie irgendwo untertauchten.

Man mochte es kaum glauben, aber das war auch unter Millionären und Milliardären durchaus an der Tagesordnung.

Doch nichts.

Zum letzten Mal war Ioannis gesehen worden, als er auf Patroklos die Fähre bestieg. Das lag nun mittlerweile mehr als zehn Jahre zurück. Ioannis war damals gerade achtzehn gewesen und konnte sich inzwischen überall aufhalten.

Stefanos fragte sich manchmal, ob er seinen Bruder erkennen würde, wenn er in der Athener Metro neben ihm stünde. Nicht, dass Stefanos jemals öffentliche Verkehrsmittel benutzte. Aber darum ging es nicht. Mittlerweile war über ein Jahrzehnt vergangen, seit er Ioannis das letzte Mal gesehen hatte. Menschen veränderten sich. Verdammt, sie wussten ja nicht einmal mit Sicherheit, ob er überhaupt noch am Leben war. Doch irgendwie glaubte Stefanos, dass er es gespürt hätte, wäre seinem Bruder etwas zugestoßen …

Ein Vibrieren in der Innentasche seiner Anzugjacke riss ihn aus seinen Gedanken. „Entschuldigen Sie bitte, Valerian“, sagte er und zückte sein Handy. „Ich muss da kurz rangehen.“

Der Kunde nickte, und Stefanos erhob sich. Normalerweise ließ er Anrufer auf die Mailbox sprechen, während er bei einem Geschäftstermin war. Doch ihm kam die Unterbrechung ganz gelegen. Vielleicht konnte er sich danach wieder auf das konzentrieren, wofür er bezahlt wurde.

Durch die offen stehende Terrassentür trat er ins Freie. Das Gespräch war mittlerweile automatisch an die Mailbox weitergeleitet worden, doch er machte sich nicht die Mühe, die Aufzeichnung abzuspielen. Stattdessen rief er direkt zurück.

„Ja, was gibt es, Lydia?“

Er konnte förmlich hören, wie seine Assistentin am anderen Ende der Leitung die Stirn runzelte. „Ist das Lunch-Meeting mit Andrimidou schon zu Ende?“

„Nein“, entgegnete er.

„Aber … warum rufen Sie dann zurück? Das tun Sie sonst nie! Wissen Sie eigentlich, wie schwierig es war, diesen Kunden für uns zu gewinnen? Er war seit Jahrzehnten mit seinem Vermögen bei einer anderen Bank und dort auch zufrieden. Drei Jahre hat Wallace aus der Akquise gebraucht, um ihn weichzukochen. Sie sollten sich also vielleicht ein bisschen mehr Mühe geben, ihn bei Laune zu halten.“

Stefanos runzelte die Stirn. „Wenn Sie nicht wollen, dass ich Sie zurückrufe, sollten Sie vielleicht nicht während eines Lunch-Meetings, das Sie selbst organisiert haben, anrufen.“

„Aber Sie rufen mich nie zurück. Ach, wissen Sie was? Vergessen Sie es. Ich wollte Ihnen bloß mitteilen, dass ich Mr. Caruthers ausfindig gemacht habe. Er hält sich aktuell auf den Seychellen auf, wo er sich eine Motorjacht gemietet hat.“

„Caruthers? Wirklich?“ Verblüfft hob er eine Braue. „Ist der nicht schon vor mehr als drei Monaten von der Bildfläche verschwunden?“

„So ist es. Aber ich habe ein paar meiner Verbindungen spielen lassen, und siehe da …“

„Das ist wirklich beeindruckend“, sagte Stefanos. „Haben Sie nicht auch letztes Jahr diesen … Constantinou aufgetrieben? Wie machen Sie das nur immer?“

„Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen sein sollte, ich bin verdammt gut in meinem Job.“

Klang sie verärgert? Ja, sie klang definitiv verärgert, auch wenn er nicht recht nachvollziehen konnte, warum.

„Allerdings sind Sie das“, entgegnete er daher. „Der Anzug, den Sie mir für die Spendengala vergangene Woche ausgesucht haben, ist großartig angekommen. Und das thailändische Restaurant, das Sie mir kürzlich empfohlen haben, war wirklich einsame Spitze.“

„Sie meinen das Restaurant, weswegen Sie mich sonntagnachts um halb zwei aus dem Bett geklingelt haben? Ich weiß nicht, ob es Ihnen überhaupt klar ist, aber es ist nicht unbedingt üblich, seinem Vorgesetzten rund um die Uhr zur Verfügung zu stehen. Es gibt so etwas wie Bürozeiten, doch davon haben Sie vermutlich noch nie gehört. Aber was rede ich eigentlich? Gehen Sie zurück zu Ihrem Termin. Wir können auch später immer noch über alles reden.“

Mit diesen Worten beendete sie einfach das Gespräch, ehe Stefanos noch etwas erwidern konnte.

Kopfschüttelnd, aber mit einem amüsierten Schmunzeln auf den Lippen, schob er das Handy zurück in seine Innentasche. Offenbar hatte er Lydia auf dem falschen Fuß erwischt, denn sie war sonst eigentlich sehr verträglich. Sicher, sie beschwerte sich hin und wieder über die Sonderaufgaben, mit denen er sie betraute. Und vermutlich hatte sie recht damit, dass die meisten eigentlich gar nicht zu ihrem Aufgabengebiet gehörten. Aber sie war eben wirklich verdammt gut in dem, was sie tat. Sie organisierte seinen ganzen Tagesablauf – und mehr. Seit sie vor fünf Jahren angefangen hatte, für ihn zu arbeiten, war sie aus seinem Leben nicht mehr wegzudenken.

Vielleicht war es an der Zeit, dass er ihr wieder einmal zeigte, wie froh er darüber war, sie zu haben. Ein kleines Zeichen der Anerkennung und …

Oh …

Aber natürlich, warum war er da nur nicht gleich drauf gekommen?

Lydia hatte bisher noch jeden säumigen Kunden von Abraxas Financial ausfindig machen können. Sie besaß neben hervorragenden Verbindungen auch ein Talent dafür, sich in die Menschen, nach denen sie suchte, hineinzuversetzen. Darüber hinaus war sie unglaublich clever – so clever, dass er sich manchmal fragte, warum sie immer noch für ihn arbeitete.

Wenn also jemand geradezu prädestiniert war, eine vermisste Person ausfindig zu machen, dann Lydia.

Eine vermisste Person wie Ioannis.

Stefanos kehrte wieder an seinen Tisch zurück. Nach dem Telefonat mit Lydia konnte er sich nun jedoch noch weniger konzentrieren.

Kurze Zeit später entschuldigte er sich bei Andrimidou und machte sich auf den Rückweg ins Büro.

Er musste auf der Stelle mit Lydia sprechen.

Persönliche Assistenz der Geschäftsleitung mit Erfahrungen im Terminmanagement und ausgezeichnetem Organisationstalent. Reisebereitschaft wird vorausgesetzt. Die Aufgaben der Position umfassen unter anderem die Vor- und Nachbereitung von Meetings, das Erstellen von Besprechungsprotokollen, die Vorbereitung von Verträgen und die Aufbereitung und Analyse von Statistiken.

Lydia markierte die Seite mit dem Stellenangebot einer großen Online-Jobbörse mit einem Lesezeichen.

Ihr Gehalt wäre zwar nicht so hoch wie bei Abraxas Financial, aber dafür waren ihre Aufgaben klar umrissen. Kein Abwimmeln lästiger One-Night-Stands für den Boss, keine mitternächtlichen Anrufe, um zu klären, welche Krawatte besser zu diesem oder jenem Anzug passte.

Einfach nur ein ganz normaler Job, vorzugsweise für einen Vorgesetzten, in den sie nicht schon seit Jahren heimlich verliebt war und der sie nicht wie eine Leibeigene behandelte.

Sie mochte Stefanos. Ja, das tat sie wirklich. Aber sie konnte nicht mehr länger so weitermachen wie bisher. In all den Jahren, die sie nun schon für ihn arbeitete, waren ihre Gefühle für ihn nicht schwächer geworden. Und es machte sie unglücklich, ständig mitanzusehen, wie er eine Frau nach der nächsten mit in sein Bett nahm, und sich immerzu zu fragen, ob es dieses Mal wohl die Eine war, die es schaffte, den ewigen Womanizer zu zähmen.

Da sie die Hoffnung, dass er irgendwann einmal nicht nur eine Angestellte in ihr sehen würde, inzwischen aufgegeben hatte, war es an der Zeit, die Konsequenzen zu ziehen.

Ein neuer Job musste her – und zwar schnell.

Hastig klickte sie die Anzeige weg, als die Tür zu ihrem Büro, das zugleich das Vorzimmer von Stefanos war, geöffnet wurde.

Stefanos trat ein.

Wie immer, wenn sie ihn sah, flatterte es kurz in ihrem Bauch, bis sie sich zur Ordnung rief und daran erinnerte, dass er ihr Vorgesetzter war und sie seine Angestellte.

Noch.

„Nanu“, sagte sie. „Ist das Meeting mit Andrimidou schon vorbei? Normalerweise gehört er doch zu den Kunden, die Ihre Zeit am längsten beanspruchen.“

„Stimmt.“ Er nickte. „Aber ich habe ihm erklärt, dass ich aus dringendem Anlass zurück in die Firma muss, und dafür hatte er natürlich Verständnis.“

Lydia konnte ihn nur ungläubig anstarren. „Sie haben … was? Was für ein dringender Anlass?“

„Habe ich erfunden.“ Mit einem Seufzen ließ er sich ihr gegenüber auf den Besucherstuhl fallen. „Aber ich muss tatsächlich etwas Dringendes mit Ihnen besprechen.“

„So ein Zufall“, entgegnete Lydia. „Ich auch mit Ihnen. Aber bitte, Sie zuerst.“

„Sie müssen mir helfen, meinen Bruder für mich zu finden.“

„Nikolaos? Aber haben Sie den nicht erst kürzlich bei der Eröffnung des Testaments Ihres Vaters gesehen?“

„Nein, nicht Nikolaos. Ioannis, meinen jüngeren Bruder. Er hat vor Jahren alle Brücken hinter sich abgebrochen, und niemand scheint zu wissen, wo er sich im Augenblick aufhält.“

„Und Sie sind nie auf den Gedanken gekommen, nach ihm zu suchen?“

„Ioannis ist erwachsen, und ich hatte meine eigenen Probleme. Davon abgesehen sind wir Papadakis nicht gerade eine Musterfamilie.“

Lydia runzelte die Stirn. „Und was hat sich geändert?“

„Eine Klausel im Testament meines Vaters besagt, dass wir Ioannis auftreiben müssen, wenn wir unser gesamtes Erbe antreten wollen. Und da zu seinem Nachlass eine kleine Insel in der Ägäis gehört, auf der vor Kurzem ein großes Tantal-Vorkommen entdeckt wurde, das uns alle zu noch reicheren Männern machen wird, als wir es ohnehin bereits sind, habe ich sehr wohl vor, diese Klausel zu erfüllen.“

„Das Glück ist immer mit denen, die ohnehin schon alles haben“, murmelte Lydia bitter.

„Wie war das?“

Sie winkte ab. „Ach, nichts. Und was Ihren Bruder betrifft – ich fürchte, den müssen Sie allein suchen, Stefanos.“ Sie war es leid, sich von ihm herumschubsen zu lassen. Wenn sie jetzt nicht den Absprung wagte, wann dann? Ein neuer Job würde sich schon finden bei ihren Qualifikationen. Sie atmete tief durch, dann ließ sie die Bombe platzen: „Ich kündige.“

2. KAPITEL

Stefanos konnte Lydia einen Moment lang nur fassungslos anstarren. Dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte schallend.

„Der war gut, Lydia. Wirklich gut. Und beinahe hätten Sie mich gehabt. Aber nur beinahe.“

Doch sie lachte nicht.

„Ich meine das durchaus ernst“, entgegnete sie energisch. „Ich kündige, und nach Ablauf meiner zweiwöchigen Kündigungsfrist bin ich weg. Natürlich werde ich Ihnen gern dabei behilflich sein, eine neue PA zu finden, aber …“

„Nein.“ Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Nein, Lydia, das kann ich so nicht akzeptieren. Nicht ohne einen guten Grund für Ihre Entscheidung zu hören.“

„Ich bin Ihnen keine Erklärung schuldig“, entgegnete sie leise. „Sie können froh sein, dass ich nicht auf meinem Resturlaub bestehe. Ich werde gehen – und das ist mein letztes Wort.“

Stefanos fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Es war nicht leicht, ihn zu überraschen, denn er war gut darin, strategisch zu denken und verschiedene Szenarien bereits im Vorfeld durchzuspielen.

Doch niemals, in keinem Szenario der Welt, hatte er je das hier erwartet.

Wenn sie sich manchmal über die kleinen Dinge beschwerte, die sie für ihn erledigen sollte, hatte er das immer von der humorvollen Seite gesehen und die kleinen Wortgefechte mit ihr in gewisser Weise sogar genossen. Sie verstanden sich gut – hatte er zumindest gedacht. So gut, dass sie, wenn sie unter sich waren, durchaus recht unverblümt mit ihm reden konnte. Dafür ließ er sie im Gegenzug Dinge erledigen, mit denen er sonst niemandem betraute.

Und, ja, es war schon möglich, dass er sie mitunter zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten anrief, ohne dabei Rücksicht auf ihr Privatleben zu nehmen. Allerdings musste er zu seiner Verteidigung anfügen, dass sie so etwas eigentlich auch gar nicht besaß.

Sie hatte keinen Ehemann, keinen Verlobten oder auch nur einen Freund. Ihre Familie lebte in Bristol, und laut ihrer eigenen Aussage hatten sie keine besonders enge Verbindung und telefonierten nur hin und wieder miteinander.

Warum also machte sie plötzlich ein solches Gewese um ein paar kleine Zusatzdienste?

Er schüttelte den Kopf. „Sie können nicht gehen, Lydia. Ich brauche Sie hier.“

„Was Sie brauchen, ist jemand, der sein Leben komplett nach Ihnen ausrichtet, Stefanos. Und dieser Jemand werde nicht ich sein. Ich habe wirklich lange nach Ihrer Pfeife getanzt, aber damit ist jetzt Schluss.“

Seine Augen wurden schmal. „Wie viel?“

Sie blinzelte. „Wie viel was?“

„Wie viel hat man Ihnen geboten, damit Sie Ihre Loyalität mir gegenüber vergessen?“

Einen Moment lang starrte sie ihn einfach nur an, dann färbten sich ihre Wangen rot, was er als Zeichen dafür deutete, dass er ins Schwarze getroffen hatte.

Doch zu seiner Überraschung schüttelte sie den Kopf. „Ich kündige nicht, weil ich ein neues Jobangebot habe“, entgegnete sie energisch. „Ich kündige, weil ich es keinen Tag mehr länger aushalte, für Sie zu arbeiten. Sie sprechen von Loyalität, aber das, was Sie von mir erwarten, geht darüber weit hinaus.“

„Moment mal, Sie haben also noch gar keine neue Anstellung?“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich weiß zwar nicht, inwieweit Sie das etwas anginge, aber nein. Ich habe vor, mir in aller Ruhe etwas Angemessenes zu suchen.“

Er hob eine Augenbraue. „Weil Sie es – wie sagten Sie so schön?“ Er räusperte sich und ahmte ihren Tonfall nach: „Weil Sie es keinen Tag mehr länger aushalten, für mich zu arbeiten?“

Ärgerlich funkelte sie ihn an. „Nehmen Sie eigentlich jemals irgendetwas ernst? Aber was frage ich eigentlich? Ich kenne die Antwort doch schon längst!“

„Sie werden nicht kündigen, Lydia.“

Sie reckte das Kinn. „Ach, nein? Wollen Sie mich etwa daran hindern? Nun, versuchen Sie es gern – ich bin schon gespannt darauf, was Sie sich einfallen lassen, um mich zu überzeugen.“

„Ich muss mir überhaupt nichts einfallen lassen“, entgegnete er und funkelte sie herausfordernd an. „Es ist doch ganz einfach: Wenn Sie kündigen, werde ich dafür sorgen, dass Sie nicht einmal mehr einen Job als Bürokraft finden.“

Nun war sie es, die die Augen zusammenkniff. „Sie mögen einflussreich sein, Stefanos, aber auch Ihre Macht hat Grenzen. Ich werde einfach wieder nach England zurückkehren oder mich an irgendeinem anderen Ort in Europa niederlassen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Sie können mich nicht einschüchtern. Mein Entschluss steht fest.“

„Na, dann wünsche ich Ihnen viel Spaß bei der Suche nach einer neuen Anstellung. Mit dem Arbeitszeugnis, das ich Ihnen ausstellen werde, dürfte das allerdings kein Vergnügen werden.“

Lydia stockte der Atem.

„Das wagen Sie nicht“, stieß sie heiser vor Empörung hervor. „Nach allem, was ich für Sie getan habe, werden Sie mir nicht meine Zukunft verbauen. Ich werde mir einen Anwalt nehmen und Sie verklagen!“

Er zuckte lediglich mit den Schultern. „Versuchen Sie es ruhig. Aber ich würde an Ihrer Stelle darüber nachdenken, wer von uns beiden am längeren Hebel sitzt. Abraxas Financial verfügt über ein ganzes Heer an Anwälten. Wir können den Prozess problemlos über Monate, wenn nicht gar Jahre hinausziehen. Schon möglich, dass Sie am Ende recht bekommen. Aber fragen Sie sich mal, was Sie bis dahin machen wollen.“

Ungläubig starrte Lydia ihn an. Das war der Stefanos Papadakis, den sie bisher nur im Gespräch mit säumigen Schuldnern kennengelernt hatte. Kalt, rücksichtslos und ohne jedes Mitgefühl. Doch sie hätte niemals gedacht, dass sie diese Seite von ihm einmal gegen sich selbst gerichtet erleben würde.

Nun konnte sie sehr viel besser verstehen, warum so mancher Kunde kreidebleich und vollkommen eingeschüchtert aus einer Besprechung mit Stefanos gekommen war.

Kaum zu glauben, dass dies ein und derselbe Mann war, der während langweiligen Meetings kleine Zeichnungen auf Servietten kritzelte oder sie sonntags anrief, weil er Hilfe dabei brauchte, eine App auf seinem Smartphone einzurichten.

Der Mann, der ihr jetzt gegenübersaß, war Furcht einflößend. Doch Lydia würde sich von ihm nicht einschüchtern lassen. Zumindest sollte er ihr die Verunsicherung nicht anmerken. „Sie können mich nicht zwingen, für Sie zu arbeiten“, sagte sie schließlich doch kleinlaut. „Und ich glaube auch nicht, dass Sie das wollen.“ Seufzend fuhr sie sich durchs Haar. „Stefanos. Wollen Sie wirklich, dass es auf eine so unschöne Art und Weise zwischen uns zu Ende geht?“

Er zögerte kurz, dann schüttelte er den Kopf. „Ich will überhaupt nicht, dass es zwischen uns zu Ende geht.“ Er streckte über den Schreibtisch hinweg die Hand nach ihrer aus, und die Berührung – so harmlos und unschuldig sie auch war – brachte ihr Blut gleich wieder zum Kochen.

Ihr Herz pochte wie verrückt, und ihre Kehle schnürte sich zu. Warum war sie nur so machtlos gegen die Wirkung, die er auf sie hatte? Sie wollte sich nicht zu ihm hingezogen fühlen.

Jetzt noch weniger denn je.

Sie entzog ihm ihre Hand und atmete tief durch. Als sie wieder zu sprechen begann, war sie selbst überrascht darüber, wie ruhig sie klang. „Das ist überhaupt nicht Ihr Stil, Stefano“, sagte sie. „Aber schön, wenn Sie sicher sind, dass Sie das so durchziehen wollen … Was verlangen Sie von mir im Austausch für ein angemessenes Arbeitszeugnis?“

Erneut schüttelte er den Kopf. „Ich sagte es doch bereits: Ich will nicht, dass Sie gehen. Überlegen Sie es sich doch bitte noch einmal, Lydia. Wenn es Ihnen ums Geld geht – ich bin gerne bereit …“

„Es geht mir nicht ums Geld. Die Bezahlung ist fürstlich, selbst wenn man einkalkuliert, dass ich Ihnen praktisch vierundzwanzig Stunden am Tag auf Abruf zur Verfügung stehe. Aber genau das ist das Problem. Ich kann so nicht mehr weitermachen. Und ich will es auch gar nicht. Als ich hier angefangen habe, wusste ich nicht, dass Sie schon bald mehr oder minder mein ganzes Leben bestimmen würden. Sie verfügen über mich, wann und wie immer es Ihnen passt. Und selbst wenn Sie mir jetzt versprechen, dass Sie sich ändern werden, kann ich Ihnen das einfach nicht glauben. Also frage ich Sie jetzt: Was verlangen Sie von mir?“

Er schien sogleich wieder protestieren zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. „Also schön“, sagte er. „Sie sind also wirklich fest entschlossen?“

Lydia nickte. „Ich werde in spätestens einem Monat nicht mehr Ihre Angestellte sein“, entgegnete sie bestimmt, obwohl sie sich alles andere als wohl dabei fühlte, ihn so herauszufordern.

Er hatte ja recht, mit dem, was er sagte. Er saß ganz eindeutig am längeren Hebel. Wenn er wollte, dann konnte er ihr ohne große Mühe die Karriere verbauen. Und auch wenn die Dinge zwischen Stefanos und ihr nicht immer optimal gelaufen waren – sie liebte ihren Job. Sie wollte nicht alles verlieren, nur weil Stefanos plötzlich seine Muskeln spielen lassen musste.

„Wenn es wirklich nichts gibt, was ich tun kann, damit Sie es sich noch einmal anders überlegen …“

Sie bedachte ihn mit einem festen Blick. „Gibt es nicht.“

„Gut, dann erledigen Sie noch diese eine Sache für mich, und ich lasse Sie in Frieden ziehen.“

Misstrauisch kniff sie die Augen zusammen. „Nicht, dass ich es mir nicht schon denken könnte, aber von welcher einen Sache sprechen wir genau?“

„Sie müssen meinen Bruder für mich ausfindig machen, Lydia. Finden Sie Ioannis.“

Als Lydia am Abend mit ihrem Laptop auf dem Schoß in ihrem Wohnzimmer saß, war ihre anfängliche Zuversicht vom Vormittag verflogen.

Sie hatte geglaubt, dass es ihr keine großen Schwierigkeiten bereiten würde, Ioannis Papadakis zu finden. Sie war gut darin, Leute aufzutreiben, die nicht gefunden werden wollten. Das war im Grunde nicht so schwer, wie man es sich vielleicht vorstellte.

Die meisten Menschen gaben sich zu Anfang große Mühe, jeden ihrer Schritte zu verschleiern. Sie hielten sich zurück, versuchten möglichst wenig aufzufallen. Doch nach einer Weile wurden eigentlich alle unvorsichtig. Sie wiegten sich in Sicherheit und fingen an, Fehler zu begehen. Kleine Fehler manchmal nur, wie zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und auf einem Foto zu erscheinen, das von irgendjemandem ins Internet hochgeladen wurde. Oder größere, wie eine Kreditkarte zu verwenden, die auf den eigenen Namen von der eigenen Bank ausgestellt worden war.

Es war im Grunde gar nicht so schwer, wenn man wusste, wo man die Suche beginnen musste. Zudem war Lydia in ihrem ersten Job bei einem Privatermittler angestellt gewesen. Während der Arbeit für ihn hatte sie eine Menge Dinge aufgeschnappt, die ihr später zugutegekommen waren. Hinzu kamen die Dinge, die sie sich selbst angeeignet hatte.

Ioannis Papadakis schien ärgerlicherweise äußerst vorsichtig zu sein. Und nach allem, was sie von Stefanos wusste, war er seit mehr als zehn Jahren von der Bildfläche verschwunden.

Er war entweder äußerst geschickt darin, nicht aufzufallen, lebte an einem einsamen, verlassenen Ort – oder es gab einen anderen Grund, warum er nirgendwo Spuren hinterlassen zu haben schien. Aber den wollte sie vorerst lieber nicht in Betracht ziehen. Als jüngster der Papadakis-Brüder war Ioannis gerade einmal achtundzwanzig Jahre alt.

Seufzend klappte sie den Laptop zu und stellte das Gerät auf dem Couchtisch ab. Ihre Eigentumswohnung war nicht besonders groß, lag aber in einem der besseren Viertel Athens. Zwei Zimmer, von denen das Wohnzimmer das größere war, ein Duschbad und eine kleine Küche, deren minimalistisch gehaltene Einrichtung sie vom Vorbesitzer übernommen hatte.

Den Rest der Wohnung hatte sie mit viel Liebe zum Detail nach ihrem eigenen Geschmack gestaltet. Helle Farben herrschten vor, viel Holz und weiche Stoffe.

Durch die geöffnete Balkontür drang eine leichte Brise, die die weißen Vorhänge aufbauschte, als Lydia hinaustrat. Dahinter war die Sonne bereits am Horizont verschwunden und tauchte die Akropolis in der Ferne in einen glühend roten Schein.

Es war ein wundervoller Anblick, der sie jedes Mal aufs Neue mit einer gewissen Ehrfurcht erfüllte, und das, obwohl sie nun schon seit ein paar Jahren in dieser Wohnung mit diesem Panorama wohnte.

Die Luft war warm, die Stadt erfüllt von den Geräuschen des Lebens. Aus den Gassen drangen Stimmengewirr, Musik und Gelächter zu ihnen empor. Auf dem Bürgersteig vor ihrem Haus spielten ein paar Männer Xeri – ein griechisches Kartenspiel –, und die schwerhörige alte Dame in der Wohnung unter ihr hatte mal wieder den Fernseher so laut gestellt, dass die ganze Nachbarschaft mithören konnte.

Viele Menschen mochten das als störenden Lärm betrachten, doch für Lydia gehörte das zum Leben in der Großstadt dazu. Wenn sie Ruhe und Frieden wollte, dann konnte sie sich in ihr Auto setzen und an die Athener Riviera fahren, wo es malerische Dörfer und verborgen gelegene Buchten gab, wo man für sich sein und die Seele baumeln lassen konnte.

Wenn man denn Zeit für so etwas hatte.

Etwas, das bei ihr in den vergangenen Jahren stets Mangelware gewesen war. Aber damit würde ja nun bald Schluss sein.

Bei dem Gedanken zog sich etwas in ihrem Bauch schmerzhaft zusammen. Seufzend fuhr sie sich mit beiden Händen durchs Haar. Was stimmte eigentlich nicht mit ihr? Sie war doch schon lange nicht mehr glücklich als Stefanos’ persönliche Assistentin gewesen. Und das lag nur zum Teil daran, dass er sie wie seine Dienstbotin behandelte. So ungern sie es sich eingestehen wollte, es war vor allem die Tatsache, dass sie ihn nicht ansehen konnte, ohne Herzklopfen zu bekommen, die sie letzten Endes zu dieser Entscheidung gebracht hatte.

In all den Jahren war es ihr nie gelungen, diese alberne Verliebtheit abzuschütteln. Warum konnte sie nicht einfach nur ein professionelles Verhältnis zu ihm haben? Wieso musste sie alles unnötig mit Gefühlen verkomplizieren?

Sie wusste doch, dass das alles nie zu etwas führen würde. Stefanos war kein Mann, der sich fest band. Er mochte Sex, daran konnte kein Zweifel bestehen. Immerhin hatte sie nicht wenige seiner Bettgespielinnen persönlich vor die Tür setzen dürfen.

Aber genau da lag ja der Kern des Problems. Für ihn gab es nur bedeutungslose Affären. One-Night-Stands, die vergessen waren, kaum, dass am nächsten Morgen die Sonne aufging.

Und ganz gleich, was Lydia auch für Stefanos empfinden mochte, sie war auf keinen Fall bereit, sich ein weiteres Mal in die lange Reihe von namenlosen Verflossenen einzureihen. Nein, so verzweifelt konnte sie gar nicht sein.

Als es an der Tür klingelte, runzelte Lydia die Stirn. Wer mochte das sein? Sie bekam so gut wie nie Besuch, und wenn, dann immer nur angekündigt. So selten, wie sie zu Hause war, standen die Chancen ansonsten mehr als schlecht, sie anzutreffen.

Sie eilte durchs Wohnzimmer zur Tür, blickte durch den Spion und blinzelte überrascht.

Sie sah noch einmal hin, doch das Bild, das sich ihr bot, hatte sich nicht verändert. Im Flur vor ihrer Wohnung stand niemand anderes als Stefanos Papadakis.

Sofort hämmerte ihr das Herz bis zum Hals, und sie atmete zweimal tief durch, um sich zu beruhigen. Was wollte er wohl? Stefanos hatte üblicherweise keinerlei Skrupel, sich über sämtliche Grenzen des Anstands hinwegzusetzen. Doch bei ihr zu Hause war er bisher noch nie aufgetaucht.

Sie zuckte zusammen, als es erneut klingelte.

Wenn du wissen willst, was er möchte, solltest du vielleicht aufmachen.

„Ja, ja, ist ja schon gut“, murrte sie. „Sie müssen mir ja nicht gleich die Tür eintreten, Herrgott.“

Sie hatte die Tür kaum geöffnet, da stand er schon in ihrer Wohnung. „Sie sind da, gut“, sagte er. „Packen Sie Ihren Koffer, unser Flug geht in anderthalb Stunden.“

Lydia starrte ihn an. „Wovon reden Sie? Ich werde nirgendwo hinfliegen! Haben Sie jetzt komplett den Verstand verloren?“

„Ganz im Gegenteil. Ich habe nichts verloren, sondern gefunden. Oder vielmehr der Mitarbeiter, den ich auf meinen Bruder angesetzt habe. Es ist möglich, dass sich Ioannis vor gar nicht allzu langer Zeit in Rom aufgehalten hat. Zumindest hat es wohl einige Hinweise gegeben, die darauf hindeuten. Und genau deshalb fliegen wir jetzt nach Rom und …“

„Nein.“ Sie hob eine Hand und schüttelte den Kopf. „Ich werde mit Ihnen nirgendwo hinfliegen, Stefanos. Es ist schön und gut, dass ich Ihren Bruder ausfindig machen soll. Wenn das der Preis dafür ist, dass Sie mir ein anständiges und faires Zeugnis ausstellen, dann werde ich es auf jeden Fall versuchen. Aber Sie wissen genau, wie ich arbeite. Ich stelle meine Recherchen am Computer an und nutze meine Kontakte, um Hinweisen nachzugehen. Ich reise nicht auf Verdacht persönlich durch die Weltgeschichte, um vor Ort mehr herauszubekommen.“

„Normalerweise nicht, nein. Aber das hier ist eine besondere Situation. Immerhin geht es hier nicht um irgendeinen säumigen Schuldner, sondern um meinen Bruder, den ich seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen habe.“

Sie musterte ihn skeptisch. „Wollen Sie mir weismachen, dass Sie aus rein sentimentalen Gründen handeln? Wenn ich mich recht erinnere, ging es doch um diese Insel, oder nicht?“

„Schließt denn das eine das andere aus? Aber Sie haben schon recht, es geht mir vor allem darum, diese Klausel im Testament meines Vaters zu erfüllen und die Angelegenheit damit endgültig hinter mich zu bringen. Aber ich hätte auch nichts dagegen, Ioannis wiederzusehen. Er war zwar der kleine Liebling unseres Vaters …“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber irgendwann scheint er ja doch begriffen zu haben, dass nicht alles, was unser werter Herr Erzeuger angefasst hat, sich in pures Gold verwandelt.“

„Das klingt, als wären Sie eifersüchtig auf ihn gewesen.“

Erneut hob er die Schultern. „Ich war in gewisser Weise auf meine beiden Brüder eifersüchtig. Auf Nikos, den älteren, weil mein Vater ihm alle Aufmerksamkeit geschenkt hat, während ich für ihn praktisch unsichtbar war. Und auf meinen kleinen Bruder Ioannis … nun, weil ihn einfach jeder gernhatte.“ Er lächelte selbstironisch. „Im Grunde ganz schön erbärmlich, aber so war es nun einmal. Es hat wohl keinen Sinn, es schönzureden. Ich war kein besonders liebenswerter Junge – und ich schätze, ich bin wohl auch kein besonders liebenswerter Mann. Warum sonst sollten Sie so unbedingt von mir fort wollen?“

Lydia schluckte und musste sich zwingen, nicht die Worte auszusprechen, die ihr auf der Zunge lagen. Nämlich, dass er sehr wohl liebenswert war. Viel zu liebenswert. Dass es sie natürlich nervte, wie er sich ihr gegenüber verhielt, aber sie vor allem nicht mehr damit umgehen konnte, ihn ständig mit irgendwelchen neuen Frauen zu sehen. Sich stets zu fragen, ob diese eine womöglich diejenige sein würde, die es schaffte, ihn an sich zu binden.

Oh, sie verstand sehr gut, wie es sich anfühlte, unsichtbar zu sein …

„Jetzt werden Sie mir bloß nicht sentimental“, entgegnete sie und wandte sich rasch ab, damit er ihr ihre wahren Gefühle nicht vom Gesicht ablesen konnte. „Und nur dass Sie es wissen: Das ändert alles nichts an meiner Antwort. Ich werde mich nicht auf eine wilde Jagd quer durch Europa von Ihnen mitschleppen lassen.“

Er neigte den Kopf zur Seite und setzte seinen besten Hundeblick auf. Großer Gott, wie schaffte er es nur, liebenswert und sexy zugleich auszusehen? Lydia spürte, wie üblich, dass sie sich von seinem Charme einlullen ließ.

„Bitte?“

Nun, das war ein kleines Novum. Zwar war das Wort „Bitte“ durchaus fester Bestandteil von Stefanos’ Wortschatz, denn er war stets höflich in seinen Anweisungen. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass es sich um Anweisungen handelte, keine Bitten.

Das hier … war anders. Nur warum?

Er wusste doch, dass er sie vollkommen in der Hand hatte. Wenn er ihr ein Arbeitszeugnis verweigerte oder ihr eines ausstellte, das mangelhaft war, dann brauchte sie gar nicht erst zu versuchen, eine Anstellung in ihrer aktuellen Position zu bekommen. Natürlich war das nicht in Ordnung – weder rechtlich noch moralisch, und wenn sie ihn deswegen tatsächlich in einen Rechtsstreit verwickelte, würde sie am Ende zweifellos als Siegerin hervorgehen.

Doch das würde Zeit kosten. Zeit, die sie nicht hatte.

Eine PA war jemand, den man ständig um sich herum hatte. Eine Person, die nicht nur in die meisten Unternehmensgeheimnisse eingeweiht wurde, sondern auch eine Menge privater Dinge ihrer Vorgesetzten mitbekam.

Für eine solche Aufgabe zog man niemanden in Erwägung, dem man nicht tausendprozentig vertrauen konnte. Und Stefanos konnte eben dieses Vertrauen in sie mit ein paar wohldurchdachten Worten an ihren potenziellen neuen Arbeitgeber zerstören, ehe sie auch nur die geringste Chance hatte, sich zu erklären.

Letzten Endes musste er also eigentlich nur wieder das Thema Arbeitszeugnis vorbringen, und sie wäre gezwungen, auf sein Kommando hin durch jeden Reifen zu hüpfen wie ein dressierter Hund.

Aber das tat er nicht. Und vielleicht war das auch der eigentliche Grund, warum sie sich schließlich mit einem leisen Seufzen durchs Haar fuhr und sagte: „Ich nehme an, das Wetter in Rom ist zu dieser Jahreszeit nicht viel anders als hier? Nur, damit ich weiß, was ich einpacken muss …“

Ein Strahlen breitete sich auf Stefanos’ Gesicht aus, und so sehr Lydia auch versuchte, sich einzureden, dass es sie nicht berührte, es war vergeblich. Sie war noch nie besonders gut darin gewesen, sich selbst anzulügen.

3. KAPITEL

Der Himmel über dem Flugfeld von Rom strahlte genauso Blau wie vor wenigen Stunden in Athen, als sie den Privatjet bestiegen hatten, der Stefanos als CEO von Abraxas Financial zur Verfügung stand. Man hätte fast meinen können, dass sie im Kreis geflogen und wieder an ihren Ausgangsort zurückgekehrt waren.

Als der Fahrer der Limousine, die auf dem Rollfeld auf sie wartete, Stefanos mit einem „Buongiorno, Signor Papadakis“, begrüßte, verflüchtigte sich die Illusion jedoch.

Lydia atmete tief durch, straffte die Schultern und folgte ihrem Chef auf die Rückbank des Wagens, der ungewohnt gediegen für Stefanos’ Verhältnisse war. Normalerweise zog er schnelle Sportwagen einer Limousine vor. Letztere kamen vor allem dann zum Einsatz, wenn er einen älteren, eher traditionell eingestellten Kunden beeindrucken wollte.

„Die Agentur hatte auf die Schnelle nichts Besseres im Angebot“, erklärte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Es findet zurzeit sowohl eine internationale Handelskonferenz als auch eine Tagung zum Thema Charity und Entwicklungshilfe statt, sodass die Nachfrage größer war als üblich.“ Nachdenklich runzelte er die Stirn. „Wenn Sie diese Dinge organisieren, kommt so etwas nie vor. Wie machen Sie das nur?“

Lydia konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Ganz gleich, wie die Dinge zwischen Stefanos und ihr im Augenblick auch stehen mochten, es war ein gutes Gefühl, für ihre Arbeit wertgeschätzt zu werden.

Etwas, was in den vergangenen Jahren eher selten vorgekommen war. Die meiste Zeit über schien Stefanos es für selbstverständlich zu halten, dass alles um ihn herum stets reibungslos ablief.

Ob er überhaupt eine Ahnung hatte, wie viel davon ihrer unermüdlichen Arbeit und den zahllosen Kontakten zu verdanken war, die sie im Laufe der Zeit gesammelt hatte?

Vermutlich nicht, beantwortete sie sich ihre Frage selbst. Auf seine Art war Stefanos vermutlich immer dankbar für alles gewesen, was sie für ihn tat. Und sie erwartete ja nicht, von ihm mit Lob überschüttet zu werden. Immerhin wurde sie gut bezahlt, da verstand es sich von selbst, dass sie auch gute Arbeit leistete.

Und dennoch …

Während Stefanos in etwas auf seinem Smartphone vertieft war – eine geschäftliche E-Mail möglicherweise, so wie sie ihn kannte –, blickte Lydia zum Fenster hinaus.

Sie war als junges Mädchen einmal mit ihren Eltern in Rom gewesen, doch das war schon so lange her, dass sie sich nicht mehr wirklich daran erinnern konnte.

Es ging am Ufer des Tiber entlang, vorbei am Kolosseum und dem Circus Maximus, der größten Arena des antiken Rom, der mit seinen teilweise noch erhaltenen Türmen und Tribünen auch heute noch einen imposanten Anblick bot.

Vor einem hohen, modernen Glasbau, der zwischen den historischen Gebäuden so fehl am Platz wirkte wie ein E-Book in einer altehrwürdigen Bibliothek, hielt ihr Wagen. Der Fahrer stellte den Motor ab, stieg aus und öffnete ihnen die Tür.

Stefanos wechselte noch ein paar Worte mit dem Mann, der nickte, dann traten sie an dem livrierten Portier vorbei in die kühle Lobby des Hotels.

Auch hier war alles modern, beinahe schon futuristisch. Wände und Einrichtung waren in Weiß gehalten, im Kontrast dazu bestand der Fußboden aus glänzendem schwarzem Marmor, in dem man sich spiegeln konnte.

Zielstrebig ging Stefanos auf die Rezeption zu. Diese war sehr elegant – weiß natürlich und leicht gebogen, mit schwarzen Glasvasen, in denen exotische Blumen kunstvoll arrangiert waren, die auf den ersten Blick wie farbenfrohe Vögel aussahen.

„Stefanos Papadakis“, wandte er sich an die rothaarige Frau hinter dem Empfangstresen. „Ich hätte gern meine übliche Suite und ein weiteres Zimmer für meine Assistentin.“

Die Frau schenkte ihm ein professionelles Lächeln, das eine Spur zu zuvorkommend war. Nicht, dass Lydia es ihr verdenken konnte. Stefanos war ein äußerst attraktiver Mann – da konnte man schon einmal ein wenig die Fassung verlieren.

Sie tippte und klickte, und auf ihrer Stirn bildete sich eine kleine Sorgenfalte, die nichts Gutes verhieß. Schließlich blickte sie auf und erklärte in einem überaus bedauernden Tonfall: „Es tut mir wirklich leid, Signore, aber ich kann keine Buchung unter dem Namen Papadakis finden.“

Stefanos lächelte. „Oh, der Entschluss, nach Italien zu reisen, war relativ spontan. Aber ich steige immer hier ab, wenn ich mich in Rom aufhalte. Wenn meine übliche Suite nicht frei ist, bin ich auch gern bereit, mit einer anderen vorliebzunehmen.“

Lydia ahnte bereits, was als Nächstes kommen würde, doch sie hoffte nach wie vor, dass sie sich täuschte.

Selten war sie weniger erfreut darüber gewesen, recht zu behalten.

„Ich bedaure wirklich sehr, Signore, aber aufgrund der Handelskonferenz, die zurzeit in der Stadt stattfindet, habe ich leider kein einziges Zimmer frei.“

Stefanos’ Lächeln verblasste ein wenig. „Ein kleines Zimmer tut es auch“, sagte er dann mit einer Zuversicht, die Lydia nicht nachempfinden konnte. „Wenn es nicht anders geht, können meine Assistentin und ich uns auch ein Doppelzimmer teilen.“

Unter normalen Umständen hätte Lydia angesichts dieser Aussicht protestiert. Doch sie ahnte bereits, dass das nicht notwendig sein würde.

Abermals behielt sie recht.

Die Rezeptionistin schüttelte bedauernd den Kopf. „Wir sind vollkommen ausgebucht, Signore. Ich könnte Ihnen aktuell nicht einmal eine Besenkammer anbieten. Und ich fürchte, dass es bei den anderen Hotels unserer Preisklasse nicht viel anders aussehen wird.“

Lydia hatte es bereits geahnt, doch Stefanos sah aus, als hätte man ihm gerade erklärt, dass Wasser neuerdings bergauf floss. Und vermutlich war es für ihn tatsächlich eine Erkenntnis derselben Größenordnung, denn sie glaubte nicht, dass er in den vergangenen Jahren jemals erlebt hatte, dass ihm etwas verwehrt blieb.

Von ihrer Arbeitskraft einmal abgesehen. Ihr hatte er allerdings auch zu verdanken, dass stets alles reibungslos ablief. Hätte sie den Trip nach Rom organisiert, dann wäre sie mit Sicherheit über dieselben Schwierigkeiten gestolpert – doch sie zweifelte nicht daran, dass sie eine adäquate Alternative gefunden hätte.

Und das würde sie auch jetzt tun.

Seufzend zückte sie ihr Telefon und wählte eine Nummer aus ihrer Kontaktliste. Nach längerem Klingeln – Lydia befürchtete bereits, dass niemand abnehmen würde – meldete sich eine Männerstimme am anderen Ende der Leitung.

„Sì, pronto?“

„Alberto, ich bin es, Lydia. Hör zu, ich würde mich gern länger unterhalten, und das müssen wir bei Gelegenheit unbedingt nachholen, aber gerade brauche ich dringend deine Hilfe.“

Naturalmente, was kann ich für dich tun?“

Lydia erzählte ihm von der kleinen Zwangslage, in der Stefanos und sie steckten. Und wie nicht anders zu erwarten gewesen war, wusste Alberto Rat. Alles andere hätte sie auch sehr gewundert, denn der junge Mann war, wie sie selbst, PA. Sie hatten sich vor einiger Zeit bei einer Wohltätigkeitsgala kennengelernt, an der ihre beiden Arbeitgeber teilgenommen hatten. Albertos Boss war ein italienischer Süßwarenfabrikant, der seine Produkte international vermarktete. Da sich der Hauptsitz des Unternehmens in Rom befand, besaß Alberto hier natürlich beste Kontakte und Verbindungen.

Und er war mehr als einverstanden, diese für Lydia spielen zu lassen. In ihrer Branche gab es nichts Wertvolleres als einen geschuldeten Gefallen.

„Ich denke, ich weiß, wo ich euch unterbringen kann“, sagte er nach kurzem Überlegen. „Es ist nicht das Ritz, aber aufgrund der Tagungen sind sämtliche größeren Etablissements bis auf das letzte Zimmer ausgebucht.“

„Das ist vollkommen okay“, versicherte Lydia ihm sofort. „Im Notfall sind wir auch mit der Besenkammer einverstanden.“

Alberto lachte. „Nun, ich denke, das wird dann doch nicht notwendig sein. Ich schicke dir die Adresse auf dein Handy. Bestell der Wirtin einen schönen Gruß von mir. Sie ist nämlich meine Tante.“

Nachdem das Gespräch beendet war, wandte sich Lydia wieder an Stefanos. „Ich habe uns eine Unterkunft besorgt. Aber sie wird nicht Ihren üblichen Standards entsprechen, fürchte ich. Ist das ein Problem?“

Beinahe empört schüttelte er den Kopf. „Natürlich nicht. Wofür halten Sie mich?“

Das behielt Lydia dann doch lieber für sich.

Als sie draußen waren, stand ihr Gepäck auf dem Bürgersteig – sie konnten von Glück reden, dass sich niemand daran zu schaffen gemacht hatte! Aber vermutlich war weniger Glück dafür verantwortlich als vielmehr der freundliche Portier.

Lydia runzelte die Stirn. „Wo ist der Wagen?“

„Die Agentur hat ihn uns für den Weg vom Flughafen zum Hotel zur Verfügung gestellt. Danach musste der Fahrer gleich weiter, um einen anderen Kunden abzuholen“, entgegnete Stefanos und zuckte mit den Schultern. „Ich hatte ohnehin vor, mir einen etwas passenderen fahrbaren Untersatz zu besorgen. Was halten Sie von einem Lamborghini, Lydia? Ich meine, wo wir schon einmal in Italien sind …“

Mit einiger Mühe hielt sie ein Seufzen zurück. Sie nahm stark an, dass die Chauffeuragenturen, Fahrdienste und Autovermietungen durch die Konferenz ebenfalls am Rande ihrer Kapazitäten standen.

Zum dritten Mal an diesem Tag wünschte sie sich, sie hätte sich geirrt.

„Nein, ich verstehe“, sagte Lydia eine halbe Stunde später zu dem Mann von der Autovermietung, bei der sie es versucht hatte – der letzten auf ihrer Liste. „Da kann man nichts machen.“

„Und?“, fragte Stefanos, als sie aufgelegt hatte. „Glück gehabt?“

„Mache ich den Eindruck auf Sie?“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist beim besten Willen nichts zu kriegen. Nächste Woche, ja. Aber vor Sonntag ist da nichts zu machen. Und ich will doch stark hoffen, dass wir bis dahin wieder zurück in Athen sein werden.“

Stefanos runzelte die Stirn. „Was sollen wir denn jetzt machen, so ganz ohne Wagen?“

Lydia seufzte resigniert. „Ich schlage vor, wir nehmen uns jetzt erst einmal ein Taxi. Um alles andere können wir uns dann später immer noch kümmern.“

Die Fahrt mit dem nicht klimatisierten Taxi war unerfreulich. Zum Glück hatte Stefanos sein Sakko bereits ausgezogen, bevor er mit Lydia in den Wagen gestiegen war. Doch der Stoff seines blütenweißen Hemds klebte trotzdem an seinem Körper wie eine zweite Haut. Den Schneider in der Londoner Savile Row, der es eigens für ihn angefertigt hatte, würde bei dem Anblick vermutlich der Schlag treffen, doch das ließ sich jetzt nicht ändern. Zum Glück hatte Stefanos gleich ein halbes Dutzend solcher Hemden gekauft. Trotzdem war er froh, als ihr Taxifahrer etwa eine halbe Stunde später in einer kleinen Seitenstraße hielt.

Er stieg aus. Lydia wartete nicht darauf, dass er zu ihr herumkam, um ihr die Tür zu öffnen, sondern kletterte allein hinaus. Er schaute sich um. Nach der drückenden Hitze im Wagen war es hier draußen beinahe angenehm. Natürlich herrschten nach wie vor sommerliche Temperaturen, doch sie fühlten sich erträglicher an.

Die Frage war nur: Wo war das Hotel?

Als der Fahrer sich räusperte, stupste Lydia ihn mit dem Ellbogen an. Trotzdem brauchte er einen Moment, um zu begreifen, was die beiden von ihm wollten. Oh, ja, natürlich. Der Mann wollte bezahlt werden.

Stefanos zückte seine Brieftasche und reichte dem Mann seine Platinkreditkarte. Der schüttelte jedoch den Kopf und sagte etwas auf Italienisch, was Stefanos nicht verstand. Das war allerdings auch gar nicht notwendig, denn seine Geste zeigte unmissverständlich, dass er die Kreditkarte nicht als Zahlungsmittel akzeptierte.

Stefanos verzog das Gesicht. Er trug fast nie Bargeld bei sich, und das war auch jetzt nicht anders.

Hinter sich hörte er Lydia seufzen und dann ein paar Worte auf Italienisch mit dem Taxifahrer wechseln, ehe sie an ihm vorbeiging und dem Mann ein paar Scheine in die Hand drückte.

„Sie sprechen Italienisch?“

Lydia bedachte ihn mit einem pikierten Blick. „Stand alles in meinem Lebenslauf. Und nur dass Sie es wissen – das Geld für die Fahrt setze ich auf meine Spesenrechnung.“

„Natürlich“, sagte er. „Von mir aus gern. Hauptsache, wir können jetzt endlich unser Zimmer beziehen und uns auf die Suche nach Ioannis machen.“ Fragend schaute er Lydia an. „Wo ist das Hotel?“

„Sie stehen direkt davor“, entgegnete sie und deutete auf einen unscheinbaren Hauseingang. Erst auf den zweiten Blick bemerkte Stefanos das Schild, das über der Tür hing.

Camera libera – Zimmer frei.

Zwar sprach Stefanos kein Italienisch, aber das konnte sogar er verstehen. „Das hier?“, fragte er ungläubig. „Das soll ein Hotel sein?“

„Eine Pension“, entgegnete Lydia mit einem Schulterzucken. „Und ehe Sie etwas sagen: Nein, etwas Besseres war nicht zu bekommen. Gewöhnen Sie sich also lieber an den Gedanken.“

Stefanos runzelte die Stirn. „Sie halten mich wohl für einen ziemlichen Snob.“

„Nein“, entgegnete sie. „Ich weiß sogar, dass Sie einer sind.“

Lydia wandte sich ab und ging die Stufen zum Eingang der Pension hinauf. Sie wollte sich am liebsten für ihren Kommentar ohrfeigen, doch sie hatte ihn sich einfach nicht verkneifen können.

Stefanos konnte sagen, was er wollte, er war ein Snob. Und sie konnte es ihm nicht einmal verübeln. Er war privilegiert aufgewachsen und lebte das Leben der oberen Zehntausend. Dass ein Mensch unter solchen Umständen die Bodenhaftung verlor, war nicht wirklich verwunderlich.

Eine gehörige Portion Realität war vielleicht genau das Richtige für ihn. Nicht, dass sie sich dafür noch irgendwie verantwortlich fühlte. Wenn sie erst einmal seinen Bruder gefunden hatten, brauchte sie sich über so etwas endgültig keine Gedanken mehr zu machen. Dann fiel so etwas nicht mehr in ihren Aufgabenbereich. Und sie konnte es gar nicht mehr erwarten, dass es endlich so weit war.

Warum nur fühlte sie sich trotzdem kein bisschen enthusiastisch?

Sie stieß die Tür auf und trat in die kühle Dunkelheit der Pension. Der Korridor war schmal, die Tapeten vom Alter leicht vergilbt, aber alles wirkte sauber und ordentlich.

Eine ältere Dame mit grau meliertem Haar, das streng zurückgekämmt und am Hinterkopf zusammengebunden war, trat hinter einem Vorhang hervor und begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln.

„Sie müssen die beiden sein, die mein Neffe Alberto zu mir geschickt hat. Ich bin Grazia Valentini. Herzlich willkommen in meinem Haus. Das Zimmer ist schlicht und einfach und vermutlich nicht ganz das, was Sie gewohnt sind, aber …“

Lydia winkte ab. „Das ist überhaupt kein Problem. Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie uns so kurzfristig bei sich aufnehmen. Wirklich, Sie waren unsere letzte Rettung. Durch diese Konferenz hier in Rom lässt sich nur schwer ein freies Hotelzimmer auftreiben.“

Signora Valentini nickte. „Ich weiß. Und dann findet zeitgleich noch eine Messe statt. Sogar meine Pension ist ausgebucht. Sie hatten Glück, dass eine Reservierung aus gesundheitlichen Gründen storniert werden musste. So war gerade ein Zimmer frei geworden, als mein Neffe anrief.“

Lydia stutzte. „Sagten Sie ein Zimmer?“

Sì. Es ist ganz oben unter dem Dach. Von dort aus können Sie sogar die Kuppeln des Petersdoms sehen und …“

„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, aber es handelt sich doch sicher um ein Doppelzimmer mit getrennten Betten, richtig?“

„Nein, tut mir leid“, entgegnete die Pensionsbesitzerin und zuckte bedauernd mit den Schultern.

„Was ist denn los?“, wollte Stefanos wissen, der von der Unterhaltung auf Italienisch sicher nur Bruchstücke verstanden hatte. „Gibt es ein Problem?“

Um ein Haar hätte Lydia laut aufgelacht. Was sollte sie denn jetzt bloß tun? Sie konnte sich kein Zimmer mit Stefanos teilen. Nein, das kam überhaupt nicht infrage. Ihre Gefühle waren bereits verwirrend genug.

Sie atmete tief durch und wandte sich zu ihm um. „Es gibt nur ein einziges freies Zimmer.“

Er lachte auf. „Das ist alles? Und ich habe mir schon Sorgen gemacht …“

„Ich finde das überhaupt nicht lustig“, entgegnete sie fest. „Ich werde nicht mit Ihnen in einem Doppelbett schlafen, Stefanos.“

„Seit wann sind Sie denn so furchtbar prüde? Es ist ja nicht so, als würde irgendetwas geschehen. Es geht nur darum, eine Nacht in einem Bett zu schlafen. Vielleicht auch zwei Nächte.“ Er hob eine Augenbraue. „Schlafen, Lydia, nichts sonst.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Sie müssen mit der Couch vorliebnehmen“, erklärte sie energisch. „Oder von mir aus mit der Badewanne.“

„Wenn Sie unbedingt darauf bestehen …“

„Ich bestehe darauf.“

Doch als die Pensionswirtin kurz darauf die Tür ihres Zimmers öffnete und zur Seite trat, um sie durchzulassen, musste Lydia feststellen, dass es keine Couch gab. Die hätte in dem kleinen Raum gar keinen Platz gefunden. Und in dem winzigen Bad befand sich auch keine Wanne, sondern lediglich eine Dusche.

Sie schloss die Augen und zählte im Stillen bis zehn, in der Hoffnung, dass es sie ein wenig beruhigen würde. Doch es half alles nichts.

„Und nun?“ Stefanos schaute sie mit einem amüsierten Funkeln in seinen dunklen Augen an, und sogleich schlug ihr Herz wieder schneller. „Falls Sie mich auf den Balkon ausquartieren wollen, muss ich Sie leider enttäuschen. Es gibt keinen.“

Ja, was nun? Sie konnte ihn natürlich bitten, auf dem Boden zu schlafen, aber … War das nicht irgendwie tatsächlich reichlich albern? Sie waren zwei erwachsene Menschen, und es ging lediglich darum, in einem Bett zu schlafen. Nebeneinander, aber nicht miteinander.

Immerhin war das Bett relativ breit. Breit genug auf jeden Fall, dass sie darin liegen konnten, ohne sich zu berühren. Es nahm beinahe den ganzen Raum ein, dessen Einrichtung ansonsten lediglich aus einem Kleiderschrank, einem kleinen Schreibtisch unter dem Fenster sowie einem Nachttisch bestand. Wie schon unten im Eingangsbereich war alles sauber und ordentlich, aber auch ein wenig altmodisch. An der Wand über dem Bett hing ein großer Kunstdruck des Vier-Ströme-Brunnens und über dem Schreibtisch einige kleinere gerahmte Bilder, die weitere Sehenswürdigkeiten Roms zeigten. Kaum ein Ambiente, das dazu einlud, sich erotischen Fantasien hinzugeben.

„Also schön“, sagte sie schließlich mit einem tiefen Seufzen. „Wir können uns das Bett teilen. Aber Sie bleiben auf Ihrer Hälfte der Matratze, verstanden?“

Nicht, dass irgendeine Gefahr bestand, er könnte sich darüber hinwegsetzen. Er interessierte sich nicht für sie – und das war Segen und Fluch zugleich.

Im Augenblick aber vor allem ein Segen.

„Da wir diese Angelegenheit nun geklärt haben, würde ich endlich gern erfahren, welcher Spur genau wir hierher nach Rom gefolgt sind. Wurde Ihr Bruder gesehen? Hat er unter seinem echten Namen irgendwo ein Zimmer reserviert?“

„Nicht ganz, nein. Kommen Sie, es ist am besten, ich zeige Ihnen, was ich meine.“

Lydia sah ihn skeptisch an, nickte dann aber. „Na, da bin ich ja mal gespannt …“

Grazia Valentini, die Pensionswirtin, hatte ihnen freundlicherweise ihren Wagen geliehen, und dank Stefanos’ Handy hatten sie auch keine Probleme, sich in der für sie fremden Großstadt zurechtzufinden.

Lydia schaute zum Beifahrerfenster hinaus und sah zu, wie die Stadt an ihr vorüberzog. Rom war einfach fantastisch. Die engen Gassen, die weiten Plätze, die fantastischen Brunnen und imposanten Fassaden. Das alles war wirklich mehr als beeindruckend, und sie konnte sich gar nicht sattsehen daran.

Das Auto – ein klappriger alter Fiat Uno – besaß keine Klimaanlage. Doch bei heruntergelassener Seitenscheibe und mit dem Fahrtwind, der durch ihr Haar wehte, ließ es sich gut aushalten.

Stefanos schien das ein wenig anders zu sehen, denn er schimpfte und fluchte beinahe ununterbrochen. Über den Wagen und über das Radio, das sich nicht abstellen ließ und nur auf einen Radiosender eingestellt werden konnte, auf dem die ganze Zeit über italienische Schlager liefen. Über den Verkehr und all die Mopeds und Motorroller, die vollkommen furchtlos zwischen den fahrenden Autos ein- und ausscherten, und die Horden von Touristen, die häufig, ohne auf den Verkehr zu achten, auf die Straße liefen, um das perfekte Selfie mit einer Sehenswürdigkeit im Hintergrund zu machen.

„Sie fahren wohl nicht gern“, stellte Lydia fest, und ihre Mundwinkel zuckten amüsiert.

„Ich fahre sogar sehr gern“, widersprach er und fügte leise brummend hinzu: „In einer Stadt, in der nicht jeder Lebensmüde ans Steuer eines Fahrzeugs gelassen wird.“

Sie konnte ein Schmunzeln nicht mehr unterdrücken und wandte hastig das Gesicht ab, um es vor ihm zu verbergen. Dabei erhaschte sie einen kurzen Blick auf etwas, das sie bisher nur von Ansichtskarten oder aus dem Fernsehen kannte.

„Anhalten“, sagte sie. Das Wort kam einfach aus ihrem Mund, ohne dass sie darüber nachdachte, wem sie hier eigentlich ein Kommando gab.

Entsprechend überrascht wirkte Stefanos, als sie sich ihm zuwandte. „Was?“

„Könnten Sie bitte irgendwo in der Nähe parken?“, versuchte sie es noch einmal. „Wir sind in Rom, und ich weiß nicht, ob und wann ich im Leben noch einmal hier sein werde. Da muss ich wenigstens ein paar der bedeutendsten Sehenswürdigkeiten gesehen haben.“

Er runzelte die Stirn. „Und?“

„Und? Das fragen Sie wirklich noch? Wir sind gerade am Petersplatz vorbeigefahren!“

Er lachte leise auf. „Ach, so ist das. Aber gut, Sie sollen Ihre Stadtrundfahrt bekommen. Allerdings erst, wenn wir erledigt haben, weswegen wir hergekommen sind. Wie heißt es so schön? Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Offenbar konnte sie ihre Enttäuschung längst nicht so gut überspielen wie angenommen, denn er sprach weiter: „Keine Sorge, es ist auch nicht mehr weit.“ Er warf einen prüfenden Blick auf sein Smartphone, das er auf der Mittelkonsole abgelegt hatte, und nickte. „Ja, wusste ich’s doch.“

Schwungvoll lenkte er den Fiat durch eine winzige Lücke zwischen zwei Autos auf der rechten Spur hindurch, was ein empörtes Hupkonzert nach sich zog.

Stefanos wirkte jedoch völlig unbekümmert, bog in eine kleine Seitenstraße ein und stellte den Wagen dann mit einem zufriedenen Nicken am Straßenrand ab.

So viel zum Thema verantwortungsvolles Steuern eines Fahrzeugs …

„Und wo sind wir?“, fragte Lydia und sah sich um. „Hier wurde Ihr Bruder gesehen?“

„Nicht unmittelbar hier, nein“, entgegnete er. „Aber in einem der Häuser hier befindet sich eine …“ Er runzelte die Stirn. „Wenn ich es richtig verstanden habe, handelt es sich um eine Art Suppenküche, an die sich Bedürftige wenden, die selbst nicht in der Lage sind, sich zu versorgen …“

„Dann ist er arm?“ Obwohl sie Ioannis Papadakis nie kennengelernt hatte, verspürte sie einen heftigen Anflug von Mitgefühl.

„Ich weiß es nicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Alles, was ich habe, ist das hier.“ Er zog ein zusammengelegtes Stück Papier aus seiner hinteren Hosentasche und reichte es ihr.

Neugierig faltete sie es auseinander. Es handelte sich um eine grobkörnige Fotografie oder die Vergrößerung des Ausschnitts eines Fotos. Zu sehen war ein Mann, dessen Züge auf der grobpixeligen Aufnahme nur verschwommen zu erkennen waren. Er blickte geradewegs in die Kamera, so als hätte er sie eben erst bemerkt.

Lydia sah fragend zu Stefanos auf. „Das ist alles? Mehr haben Sie nicht?“

Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. „Ich weiß, es ist nicht viel …“

„Nicht viel?“ Sie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber das hier ist gar nichts. Hätten Sie mir vor unserer Abreise gesagt, dass Sie nur das unscharfe Foto einer Überwachungskamera haben …“

„Was dann? Hätten Sie versucht, mir die Sache auszureden? Nun, das hätte ohnehin nicht funktioniert. Ich bin sicher, dass das hier mein Bruder ist.“ Er stach förmlich mit dem Zeigefinger auf die Fotografie. „Ich kann es nicht erklären, okay? Ich weiß es einfach.“

„Soso“, sagte Lydia. „Na, das nenne ich doch mal einen hieb- und stichfesten Beweis. Aber egal, jetzt sind wir hier, da können wir diesem Hinweis auch nachgehen, so schwach er auch sein mag.“ Sie öffnete die Beifahrertür und stieg aus. „Was ist, kommen Sie?“

4. KAPITEL

Die Essensausgabe lag noch ein wenig weiter abseits der Hauptstraße. Stefanos musste mehrfach die Karte auf seinem Smartphone zurate ziehen, bis sie ihr Ziel schließlich erreicht hatten.

Ein paar Leute waren gerade dabei, Lebensmittel von der Ladefläche eines Kastenwagens ins Gebäude zu schleppen.

„Und an wen wenden wir uns? Sie haben doch einen Termin mit dem Verantwortlichen hier gemacht, oder?“

Stefanos presste die Lippen zusammen. Nein, hatte er nicht. So weit hatte er nicht einmal gedacht. Nachdem er zuerst den Anruf und dann die E-Mail mit dem Bild der Überwachungskamera erhalten hatte, hatte er keinen Moment innegehalten, um nachzudenken. Er hatte einfach gehandelt, was eigentlich nicht seine Art war. Für gewöhnlich nahm er sich Zeit, Pro und Kontra gegeneinander abzuwägen.

Und Lydia wusste das. Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, ehe sie zu den Männern hinüberging, die die letzten Kisten und Körbe aus dem Wagen luden.

Er war kein Experte, doch ihr Italienisch klang eindrucksvoll, und die Männer schienen sie zu verstehen. Sie wechselte ein paar Worte mit ihnen, dann deuteten sie zum Eingang des Gebäudes.

„Kommen Sie“, sagte sie dann, und ging voran ins Innere des Hauses.

Der Eingangsflur war dunkel und nach der Hitze draußen angenehm kühl. Durch eine weitere Tür gelangten sie in einen großen Speisesaal, mit langen Reihen von Tischen und Sitzbänken. Lydia hielt geradewegs auf die Ausgabetheke zu, hinter der, wie Stefanos jetzt bemerkte, eine ältere Dame stand.

Ihr Lächeln war freundlich, aber auch ein wenig wachsam, als Stefanos an Lydia vorbeitrat und fragte: „Sprechen Sie Englisch, Signora?“

Sie nickte. „Wie kann ich Ihnen helfen?“ Trotz ihres starken Akzents war ihre Aussprache gut verständlich.

„Wir sind auf der Suche nach jemandem“, entgegnete er. „Nach einem Mann, der vor einiger Zeit hier gesehen worden ist. Darf ich Ihnen ein Foto zeigen?“

„Naturalmente“, antwortete sie. „Aber ich sage Ihnen gleich: Die meisten unserer Schützlinge verkehren hier nicht unter ihrem richtigen Namen. Und dass ich Ihnen eine Adresse nennen kann, ist leider auch nicht sonderlich wahrscheinlich. Nur wenige, die uns hier aufsuchen, haben einen festen Wohnsitz.“

Stefanos schluckte. Er war schon lange von zu Hause fort gewesen, als Ioannis verschwand. Er hatte keinem seiner Brüder wirklich besonders nahegestanden. Dafür hatte ihr Vater gesorgt. Trotzdem hatte er immer mal wieder an Ioannis gedacht. Er hatte sich gefragt, was wohl aus ihm geworden sein mochte, und auch mehr oder weniger halbherzig nach ihm gesucht.

Die ganze Zeit war er jedoch davon ausgegangen, dass es Ioannis gut ging. Er hatte geglaubt, dass er wissen würde, wenn seinem kleinen Bruder etwas zugestoßen wäre.

Aber das hier …

Das hier hatte er nicht erwartet. Und auch wenn es nichts gab, was er hätte tun können, so versetzte es ihm doch einen Stich, dass es seinem Bruder in den vergangenen Jahren möglicherweise schlecht ergangen war.

„In Ordnung“, sagte er und holte das Foto aus seiner Tasche. „Es wäre uns trotzdem eine große Hilfe, wenn Sie uns sagen könnten, ob Sie den Mann kennen.“

Sie nickte. „Aber ja, zeigen Sie es mir ruhig.“

Stefanos reichte der Frau das Foto. Sie musterte es einen Augenblick lang mit gerunzelter Stirn, ehe sich ihre Miene plötzlich aufhellte.

„Aber ja, natürlich! Ich habe ihn nicht gleich erkannt, weil ich dachte, es würde sich um einen unserer Schützlinge handeln.“ Sie lachte leise. „Aber natürlich kenne ich diesen Mann. Er ist einer unserer Unterstützer!“

„Einer Ihrer … Sie meinen, der Mann spendet an Ihre Einrichtung?“

Sie nickte enthusiastisch. „Er kommt etwa alle drei bis sechs Monate mit einem Scheck vorbei. Wenn er es selbst nicht einrichten kann, dann schickt er einen Vertreter.“

Bei ihren Worten ergriff Stefanos eine große Erleichterung. Seinem Bruder ging es gut. Ioannis lebte nicht am Rande des Existenzminimums. Er besaß sogar genug, um andere an seinem eigenen Wohlstand teilhaben zu lassen.

„Wie können wir mit ihm in Kontakt treten?“, fragte Lydia und zückte ihr Handy. „Er hat doch sicherlich eine Nummer oder etwas Ähnliches für Sie hinterlassen.“

Die alte Dame schüttelte den Kopf. „Nein, bedaure. Und ich fürchte, ich kann Ihnen auch sonst nicht weiterhelfen.“ Sie wirkte plötzlich regelrecht abweisend. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden …“

Sie wandte sich ab, aber Stefanos war nicht bereit, sich einfach so abfertigen zu lassen. „Aber einen Namen können Sie uns doch sicherlich nennen.“

Die ältere Dame schaute über ihre Schulter zurück. „Nein, kann ich nicht. Er hat es zur Bedingung seiner Spende gemacht, dass seine Privatsphäre gewahrt wird. Wir haben daher nie Nachforschungen angestellt, und das werden wir auch weiter so halten.“ Sie bedachte ihn mit einem strengen Blick. „Wir sind auf Gelder wie diese angewiesen, das verstehen Sie sicherlich …“

„Natürlich“, sagte Stefanos und zückte nun seinerseits das Scheckbuch. „Wie viel?“

Die Miene der Frau verfinsterte sich. „Wie bitte?“

„Sie haben mich schon verstanden: Wie viel wollen Sie dafür, dass Sie mich mal einen Blick in Ihre Bücher werfen lassen?“

„Stefanos“, raunte Lydia ihm warnend zu, doch er wischte ihren Einwand mit einer unwilligen Handbewegung beiseite.

Ein Fehler, wie er im nächsten Moment feststellen musste.

„Bitte gehen Sie“, sagte die ältere Dame. „Gehen Sie und kommen Sie nicht wieder. Menschen wie Sie sind hier nicht erwünscht.“

Stefanos blinzelte überrascht. Mit solch einer heftigen Reaktion hatte er nicht gerechnet. Er wollte etwas sagen, doch Lydia legte ihm eine Hand auf den Arm, und irgendetwas an der Berührung ließ ihn innehalten.

„Bitte verzeihen Sie“, sagte Lydia dann. „Es lag nicht in unserer Absicht, Sie vor den Kopf zu stoßen. Es ist nur einfach unglaublich wichtig, dass wir diesen Mann finden.“ Sie beugte sich vor, und als sie sprach, senkte sie die Stimme, so als würde sie ein großes Geheimnis verraten. „Wir vermuten, dass es sich um den Bruder meines Begleiters hier handeln könnte.“

Stefanos verstand plötzlich, warum Lydia so gut darin war, Menschen aufzutreiben, die nicht gefunden werden wollten. Es beeindruckte ihn, wie sie es mit ein paar Worten schaffte, den Schaden auszumerzen, den er angerichtet hatte.

Die alte Dame zögerte sichtlich, ihr Blick wanderte zwischen Stefanos und Lydia hin und her, so als wollte sie sich darüber klar werden, wessen Worten sie mehr Bedeutung beimaß, seinen oder Lydias. Und er konnte nur hoffen, dass es am Ende Lydias waren, die den Ausschlag geben würden.

Schließlich schien sie sich einen Ruck zu geben. „Er nennt sich Signor Melas, wenn er uns einen Besuch abstattet, aber von mir haben Sie das nicht. Ich bin auch nicht sicher, ob das sein richtiger Name ist, aber die Schecks laufen alle auf eine Firma.“

„Können Sie uns sagen, wie die Firma heißt?“, fragte Lydia, und die ältere Frau wollte gerade antworten, als einer der Männer von draußen mit einer Kiste voller Lebensmittel in den Speisesaal trat.

„Ich habe schon mehr gesagt, als ich sollte“, entgegnete sie leise, ehe sie sich abwandte und sich um den Neuankömmling kümmerte.

„Kommen Sie“, sagte Lydia und berührte Stefanos wieder am Arm. „Hier kommen wir nicht weiter.“

Er konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals so auffallend die Nähe zu ihm gesucht hätte, doch er schob den Gedanken beiseite. Das war vollkommen unbedeutend, und es gehörte hier auch nicht her.

Schweigend kehrten sie zum alten Fiat ihrer Pensionswirtin zurück. Stefano brach die Stille schließlich als Erster.

„Das war ein ziemlicher Reinfall.“ Er schloss den Wagen auf und schüttelte den Kopf. „Wir sind keinen Schritt weitergekommen, und ich weiß immer noch nicht sicher, ob es sich bei dem Mann auf dem Foto wirklich um meinen Bruder handelt.“

„Nun“, entgegnete Lydia, öffnete die Beifahrertür und setzte sich. „Wir haben immerhin einen Namen.“

Stefanos rutschte hinters Steuer. „Ja, einen, der mit ziemlicher Sicherheit falsch ist.“ Frustriert fuhr er sich durch sein kurzes schwarzbraunes Haar.

„Wir wussten ja bereits, dass er nicht unter seinem richtigen Namen lebt“, erklärte Lydia gelassen. „Um ehrlich zu sein, habe ich nicht erwartet, dass diese Spur uns überhaupt zu etwas führen würde. Nicht, nachdem ich das Foto gesehen habe. Aber das hier könnte tatsächlich etwas sein.“

„Glauben Sie?“ Neue Hoffnung stieg in ihm auf. Wenn Lydia daran glaubte, dass sie Ioannis finden konnten, dann gab es keinen Grund, sich entmutigt zu fühlen.

„Ich glaube, dass es zumindest einen Versuch wert ist.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Was haben wir schon zu verlieren? Da wir ohnehin schon in Rom sind, können wir auch gleich weitere Nachforschungen anstellen.“ Sie zückte ihr Handy und fing an, eifrig zu tippen.

„Was tun Sie?“

Sie blickte kurz vom Display des Geräts auf. „Ich versuche, mehr über den Namen herauszufinden, den er in der Suppenküche verwendet hat. Melas. Das klingt für meine Ohren ziemlich griechisch.“

Stefanos nickte. „Melas war einer der Söhne von Poseidon, dem altgriechischen Meeresgott. Außerdem ist es ein gängiger griechischer Familienname, das stimmt.“

Nachdenklich legte sie die Stirn in Falten. „Nun, das heißt zwar noch nicht wirklich etwas, aber ich halte es durchaus für ein positives Zeichen, dass er einen griechischen Namen benutzt.“ Sie wandte die Aufmerksamkeit wieder ihrem Smartphone zu. „Volltreffer!“, rief sie schließlich.

„Haben Sie etwas gefunden?“, fragte er und versuchte einen Blick auf den Bildschirm des Handys zu erhaschen.

„Schon möglich. Wir wissen ja inzwischen, dass zurzeit in der Stadt ein Charity-Kongress stattfindet, bei dem es um die Bekämpfung von Armut und Elend in der modernen Welt geht.“

„Ja“, brummte er. „Immerhin ist das der Grund, warum wir kein ordentliches Hotelzimmer bekommen konnten.“

„Wie auch immer – jedenfalls tritt bei einer Veranstaltung im Waldorf Astoria Rome Cavalieri heute Abend ein gewisser Signor Melas als Gastredner auf.“

Der Signor Melas?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ein Bild ist nicht dabei. Somit gibt es nur eine Möglichkeit, das in Erfahrung zu bringen: Wir müssen heute Abend zu der Konferenz und uns die Redner ansehen.“ Sie steckte das Handy zurück in ihre Handtasche. „Eines kann ich aber schon sagen: Der Mann meidet die Presse. Es gibt kein einziges Foto von ihm online – und das ist in der heutigen Zeit wirklich außergewöhnlich. Dass er bei der Konferenz auftritt, ist eine kleine Sensation. Er hält einen Vortrag über Kinderarmut – wahrscheinlich liegt ihm das Thema sehr am Herzen.“

Stefanos spürte, wie Begeisterung in ihm aufstieg. „Er ist es“, sagte er aufgeregt. „Sie denken es doch auch, oder, Lydia? Alles spricht dafür, dass wir den richtigen Mann gefunden haben.“

„Seien Sie nicht zu voreilig“, bremste sie ihn. „Ich sage es ja nur ungern, aber es könnte sich auch um einen Zufall handeln. Vielleicht ist Melas einfach nur öffentlichkeitsscheu. Solche Menschen gibt es, und sie sind nicht alle Ihr Bruder.“

Er nickte langsam und drehte den Zündschlüssel. „Nun, wir werden es heute Abend ja sehen. Und in der Zwischenzeit schlage ich vor, dass wir uns an unsere Vereinbarung halten und eine kleine Stadtrundfahrt unternehmen. Immerhin bleiben uns ja noch ein paar Stunden Zeit, die sollten wir nicht ungenutzt verstreichen lassen.“

Lydias Augen glänzten, als sie zu ihm herüberblickte. Und es war merkwürdig, was dieses Leuchten auf ihrem Gesicht mit ihm anstellte. Dieses Flattern im Bauch … Warum verspürte er plötzlich den übermächtigen Drang, Lydia eine Freude zu bereiten?

Er schüttelte andeutungsweise den Kopf und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein. Vermutlich waren es einfach die ungewöhnlichen Umstände. Rom besaß einen gewissen Flair, der anscheinend auch an ihm nicht spurlos vorüberging. Wenn sie erst einmal wieder zurück in Athen waren, würde schon bald wieder alles beim Alten sein.

Aber nein, das würde es ganz und gar nicht. Wenn sie Ioannis gefunden hatten und wieder zurück in Athen waren, würde Lydia aus seinem Leben verschwinden. Er würde sich eine neue Assistentin suchen müssen, die all die Dinge für ihn erledigte, für die er zu beschäftigt war.

Doch das würde nicht dasselbe sein.

Seufzend fuhr er sich durchs Haar. Er wusste, dass Lydia weit mehr für ihn getan hatte, als es ihr Arbeitsvertrag vorsah. Und ihm war auch klar, dass er sich über Grenzen hinweggesetzt hatte, die zwischen Arbeitnehmerin und Arbeitgeber eigentlich nicht überschritten werden sollten.

Aber war Lydia das für ihn? Eine Arbeitnehmerin? Eine bloße Angestellte, die er einfach so im Handumdrehen gegen eine andere austauschen konnte?

Wenn er ehrlich zu sich war, dann hatte er sie nicht des Öfteren mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt, weil er ihren Rat in irgendeiner Angelegenheit benötigte. Manchmal hatte er nach einem harten Tag einfach ihre freundliche Stimme hören wollen.

Auch wenn man nicht unbedingt behaupten konnte, dass Lydia bei solchen Gelegenheiten sonderlich freundlich gewesen wäre.

Bei dem Gedanken umspielte ein versonnenes Lächeln seine Lippen.

Vielleicht war genau das einer der Gründe, weshalb er seine PA so schätzte. Sie gehörte zu den wenigen Menschen, die ihm nicht nach dem Mund redeten. Wenn sie anderer Meinung war als er, dann sagte sie das auch. Und das respektierte Stefanos. In seinem Umfeld gab es zu viele Leute, die ihm immer nur das erzählten, was er hören wollte. Und seine persönliche Assistentin war die Person, die ihm am allernächsten stand. In der Position konnte er keinen Jasager gebrauchen.

Sie erreichten die belebtere Hauptstraße, und schon bald konnte man die imposante Kuppel des Petersdoms erkennen, die alle anderen Gebäude in der Umgebung überragte.

Sie fuhren den Borgo Santo Spirito entlang, der geradewegs am Petersplatz vorbeiführte. Vor einem kleinen Restaurant stellte er den Fiat schließlich ab, stieg aus und ging um den Wagen herum, um Lydia die Tür zu öffnen.

Autor

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