Romana Extra Band 99

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SCHICKSALSTAGE AUF MAURITIUS von CATHY BELL

Der Liebe hat Unternehmer Noah Chevalier für immer abgeschworen, seit seine Traumhochzeit auf Mauritius geplatzt ist. Nur die bezaubernde Lea kann ihm helfen herauszufinden, wer damals hinter der Intrige steckte. Doch dabei bringt Lea seinen Entschluss gefährlich ins Wanken …

NOCH EINMAL FÜR IMMER von MICHELLE DOUGLAS

Eve hat ihn geliebt! Bis Damon Macy sie hintergangen und ihr das Herz gebrochen hat. Jetzt ist er zurück, und er ist der Einzige, der Eves idyllischen Heimatort am Meer vor dem Niedergang retten kann. Aber auf keinen Fall darf sie wieder ihr Herz an Damon verlieren!

IN DEN ARMEN DES ARGENTINIERS von SUSAN STEPHENS

Dem argentinischen Polochampion Nero Caracas liegen die Frauen zu Füßen. Doch er begehrt nur eine: die hinreißende, aber kühle Engländerin Amanda Wheeler. In Windsor ist sie ihm begegnet - in seiner wildromantischen Heimat Argentinien will er sie verführen …

DER PLAYBOY UND DIE KÖNIGIN von MAISEY YATES

Ein Kind wird ihren Anspruch auf den Thron endgültig sichern. Inkognito verbringt Königin Astrid deshalb eine sinnliche Nacht mit Clubbesitzer Mauro Bianchi - mit Erfolg! Nur dass sie sich leidenschaftlich in Mauro verliebt, damit hat die schöne Monarchin nicht gerechnet …


  • Erscheinungstag 29.09.2020
  • Bandnummer 99
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748012
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cathy Bell, Michelle Douglas, Susan Stephens, Maisey Yates

ROMANA EXTRA BAND 99

CATHY BELL

Schicksalstage auf Mauritius

Noah Chevalier hat ihren Ruf und ihre Karriere zerstört – und jetzt will der Unternehmer ihre Hilfe? Alles in Lea sträubt sich dagegen, aber der attraktive Franzose zieht sie in seinen Bann …

MICHELLE DOUGLAS

Noch einmal für immer

Schon lange bereut Geschäftsmann Damon Macy, dass er Eve damals hintergangen hat. Zurück in ihrer Heimatstadt hofft er, dass Eve ihm verzeiht. Denn er hat nie aufgehört, sich nach ihren Küssen zu sehnen!

SUSAN STEPHENS

In den Armen des Argentiniers

Zu Nero Caracas sagt man niemals Nein! Doch genau dieses Wort will Amanda dem Polochampion wütend entgegenschleudern. Schließlich verlangt der sexy Argentinier von ihr etwas Unerhörtes …

MAISEY YATES

Der Playboy und die Königin

Sie hat ihn hintergangen – das kann Clubbesitzer Mauro Bianchi der betörenden Astrid niemals verzeihen. Denn er ist kein Mann, der sich benutzen lässt. Auch nicht von einer sexy Königin wie Astrid!

PROLOG

Lea versuchte, die aufsteigende Panik wegzuatmen. Einatmen. Ausatmen. Runterkommen. Doch so sehr sie sich auch bemühte – es wollte einfach nicht funktionieren. Die Sonne brannte heiß vom wolkenlosen Himmel über Mauritius, und der weiße Marmor der Hotelterrasse blendete Lea. Mit zitternden Händen strich sie sich durchs Haar. Ihr Job stand auf dem Spiel. Diese Hochzeit. Ihr ganzes Leben! Sie spürte, wie sich die Panik immer weiter ihren Weg bahnte. In ihrem Kopf gab es nur noch einen einzigen Gedanken.

Was sollte sie denn jetzt tun? Sie war die Hochzeitsplanerin. Sie war für alles verantwortlich. Und wie es aussah, hielt sie im Moment die Fäden in der Hand: Würde die Hochzeit von Noah Chevalier und Tessa Goldwin stattfinden, oder ließ sie sie platzen?

Denk nach, befahl sie sich verzweifelt. Es gibt immer einen Ausweg!

Ein Kellner kam um die Ecke und prallte fast mit ihr zusammen. In letzter Sekunde schaffte er es, das Tablett auszubalancieren, auf dem Champagnergläser dicht an dicht standen. Sie klirrten bedrohlich gegeneinander.

„Pardon“, entschuldigte sich der Kellner auf Französisch. Die meisten Leute der Hochzeitsgesellschaft kamen aus Frankreich, genau wie Braut und Bräutigam. Daher hatte Lea nur Personal eingestellt, das die Sprache beherrschte. Der Mann warf ihr einen gehetzten Blick zu, dann war er auch schon wieder verschwunden.

Der Beinahezusammenstoß hatte Lea aus ihrer Trance gerissen und erinnerte sie daran, wo sie war. Was sie hier machte. Und vor allem: dass die Zeit drängte.

Rasch sah sie auf die Uhr. Viertel vor vier. Das war nicht gut. Überhaupt nicht gut! Um vier Uhr sollte die Trauung stattfinden. War es wirklich erst zehn Minuten her, dass ihre Welt Kopf stand?

Wieso hatte sie auch ausgerechnet diesen Weg wählen müssen? Wäre sie den längeren Pfad vom Haupthaus des riesigen Hotelkomplexes zur Villa gegangen, hätte sie das Gespräch nicht mit angehört. Dann hätte sie jetzt nicht das Problem, das sie schier um den Verstand brachte. Natürlich konnte sie auch so tun, als sei nichts passiert. Was ging sie das überhaupt an?

Sie wusste aber, dass sie damit nicht leben könnte. Sie würde die Wahrheit nicht verschweigen. Auf keinen Fall. Also rannte sie los. Sie ließ die Terrasse des Fünfsternehotels hinter sich, hastete über den frisch geschnittenen Rasen und lief im Schatten der Palmen Richtung Strand. Die ordentlich aufgereihten Stühle für die Hochzeitsgesellschaft kamen in ihr Blickfeld und erinnerten sie auf erschreckende Weise daran, was sie im Begriff war zu tun.

Sie erreichte den Sand und sank darin auf ihren hohen Pumps ein. Für die Hochzeitsgesellschaft waren Stege ausgelegt worden, auf denen sie leichter hätte rennen können. Doch diesen Umweg konnte sie jetzt nicht nehmen. Das würde zu viel Zeit kosten und zu viel Aufmerksamkeit erregen. Also zog sie sich die Schuhe aus und lief barfuß weiter.

Sie musste zum Bräutigam. Sie musste es Noah Chevalier sagen. Selbst wenn das alles aufs Spiel setzte, was sie sich aufgebaut hatte.

„Lea, wo läufst du denn hin?“, hörte sie Chloe hinter sich rufen. Sie war ihre beste Freundin und ihre Geschäftspartnerin. Gemeinsam hatten sie ihre Agentur „Love Inc.“ auf Mauritius aufgebaut. Chloe würde nicht gerne hören, was sie zu sagen hatte.

Entgegen ihres Bauchgefühls wechselte Lea die Richtung. Sie hielt nicht länger auf den Pavillon zu, wo sich Noah ganz sicher mit seinem Trauzeugen aufhielt. Stattdessen lief sie zurück über den Strand zu ihrer Freundin.

Chloe musterte sie besorgt. „Was ist passiert?“

Sie anzulügen wäre zwecklos. Chloe kannte sie schon seit dem Kindergarten. „Wir müssen die Hochzeit stoppen“, brachte Lea mühsam hervor.

Was immer ihre Freundin erwartet hatte: das ganz gewiss nicht. Die blonde junge Frau wurde eine Spur blasser und machte einen Schritt zurück. Dabei schwang ihr dunkelgrünes Seidenkleid elegant um ihre Beine. Im nächsten Moment packte sie Lea und zog sie hinter eine Palme.

„Was redest du denn da?“, fragte sie entsetzt.

„Ich habe etwas gehört, das ich nicht hätte hören dürfen“, erklärte Lea gehetzt. Sie sah sich um. Die ersten Gäste liefen bereits über den Steg zu den Stühlen. Das Orchester am Rand der Traufläche begrüßte sie mit einem sanften Liebeslied. Ein Fiasko, dachte Lea. Das wird ein Fiasko!

Chloe schüttelte an ihrer Schulter, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. „Lea! Konzentrier dich! Was genau hast du gehört?“

„Der Bräutigam ist reingelegt worden. Die Braut ist nicht die, für die sie sich ausgibt. Sie ist eine Heiratsschwindlerin!“ Lea hätte es Chloe gerne vorsichtiger gesagt, doch dazu blieb ihr keine Zeit.

Chloe wurde noch blasser. „Das … sicher? Das muss ein Irrtum sein!“

„Kein Irrtum. Ich habe mitbekommen, wie die Braut mit einer anderen Frau gesprochen hat. Ihre Worte waren eindeutig: ‚Ich ziehe diese Hochzeit durch, solange ich das versprochene Geld bekomme. Danach verschwinde ich.‘ Deutlicher geht es nicht, oder?“

Chloe musste sich gegen den Stamm der Palme lehnen. Ihr schien schwindelig vor Schreck zu sein. Doch anders als Lea berappelte sie sich schnell wieder. „Das ist nicht von Belang“, sagte sie.

Lea glaubte, sich verhört zu haben. „Natürlich ist das von Belang“, protestierte sie. „Noah Chevalier muss es wissen!“

„Lea! Das hier ist unsere Chance, uns bekannter zu machen, unser Image zu pflegen. Wenn wir diese Hochzeit gut über die Bühne bringen, werden wir uns vor Aufträgen kaum retten können. Die Mutter von Noah ist hochzufrieden mit uns und will uns weiterempfehlen. Davon haben wir immer geträumt! Aber wenn du jetzt diese Hochzeit platzen lässt, dann verlieren wir alles! Alles!“

„Aber wir können Noah doch nicht sehenden Auges in sein Verderben laufen lassen!“

„Doch, genau das müssen wir. Wir sollen eine Hochzeit ausrichten und nicht verhindern. Das ist unser Auftrag, dafür wurden wir angestellt. Alles Weitere geht uns nichts an!“

„Wir haben aber die Verantwortung für diese Hochzeit übernommen. Und das heißt auch, dass wir den Bräutigam schützen müssen.“

„Lea, wenn du die Hochzeit stoppst, wirst du uns ruinieren! Du kannst vielleicht zurück zu deinen Eltern nach England, ich aber nicht. Ich habe nur unsere Agentur. Da steckt alles drin. Mein Geld, meine Hoffnung, meine Träume. Ich fühle mich auf Mauritius wohl. Die Insel ist meine Heimat geworden. Mach das bitte nicht kaputt! Und wer weiß? Vielleicht hatte der Satz ja auch eine ganz andere Bedeutung!“

Lea traten die Tränen in die Augen. Sie war verzweifelt und hin- und hergerissen. Alles, was Chloe gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Sie liebten ihre Agentur. Sie hatten eine Marktlücke entdeckt: Hochzeiten auf der Trauminsel Mauritius zu organisieren. Da sie beide fließend Französisch, Englisch und Spanisch sprachen, hatten sie sich schnell etabliert. Chloe hatte fast drei Jahre auf Mauritius gelebt und kannte die Insel gut, Lea besaß das nötige Organisationstalent und hatte ihre Kontakte in England und Frankreich mit in das Geschäft gebracht.

Sie waren ein gutes Team. Das beste.

„Lea, reiß dich zusammen. Bitte! Ich sehe jetzt nach der Braut. Die wartet bestimmt schon auf uns. Und du … du setzt dich einfach dort drüben an die Bar und atmest tief durch. Aber wehe, du gehst zu Noah! Es ist ohnehin schon zu spät. Schau! Er steht bereits vor dem Altar.“

Tatsächlich. Leas Mut sank, als sie den Bräutigam erblickte. Er umarmte gerade seine freudestrahlende Mutter und begrüßte seine kleine Nichte. Das Mädchen warf sich stürmisch in seine Arme und zerdrückte beinahe die Ansteckblüten an seinem Jackett, doch das schien ihn nicht zu kümmern. Er lachte und wirkte unglaublich … glücklich.

Konnte sie ihm das nehmen? Vielleicht hatte sie sich ja wirklich geirrt. Vielleicht war alles anders, als sie dachte. Und dennoch. Sollte sie nicht zumindest versuchen, mit ihm zu sprechen? Dann konnte er selbst entscheiden, was er mit der Information anfing.

„Du kannst nicht mehr unter vier Augen mit ihm reden“, erriet Chloe ihre Gedanken. „Es wird jemand mitbekommen, und dann haben wir einen Skandal. Lass es einfach, Lea! Ich gehe jetzt und bitte – mach keine Dummheiten!“

Ihre Freundin berührte sie kurz am Oberarm und lief dann in Richtung der Villa davon, in der sich die Braut zurechtmachte. Lea sah ihr wie betäubt nach, noch verzweifelter als zuvor. Sie musste sich entscheiden: für ihr Unternehmen oder für das moralisch Richtige. Wollte sie wirklich einen Skandal riskieren?

Sie schaute zu Noah hinüber und musterte seine hochgewachsene Gestalt. Er schien ihren Blick gespürt zu haben, denn er drehte sich um. Als er sie bemerkte, winkte er und lächelte.

Sein Lächeln ging Lea unter die Haut. Sie hatte selten einen so charismatischen, freundlichen und ehrlichen Mann kennengelernt. Er war mitreißend. Ein echter Gentleman. Wenn er nicht ihr Klient gewesen wäre, hätte sie sich geradewegs in ihn verlieben können.

Hätte.

Doch sie war professionell bei ihrer Arbeit. Gefühle dieser Art für einen Kunden zu entwickeln war absolut tabu. So etwas ließ sie gar nicht erst zu. Dennoch mochte sie Noah Chevalier. Er war der netteste Mann, dem sie seit Langem begegnet war.

Und ihn sollte sie ins offene Messer rennen lassen, obwohl sie es hätte verhindern können? Das war … einfach falsch! Wie sollte sie sich jemals selbst verzeihen, so etwas getan zu haben?

Sie hatte geschworen, Liebenden zu helfen. Noah war ihr Klient. Er vertraute ihr. Wenn sie ihm verschwieg, was sie wusste, machte sie sich damit zu einer Mitwisserin. Zur Komplizin einer Betrügerin.

Das konnte Lea unmöglich akzeptieren. Sie war kurz davor, ihren womöglich folgenschweren Entschluss in die Tat umzusetzen, da sprach sie jemand von der Seite an: „Miss Jameson? Ich brauche Ihre Hilfe. Der Tontechniker fragt nach Ihnen.“ Ein Kellner lächelte sie entschuldigend an.

Sie starrte ihn einige Sekunden an, zu aufgewühlt, um klar zu denken. Sie wollte noch immer loslaufen und Noah alles erzählen. Doch dann wurde ihr wahrhaft bewusst, was das für ihre Agentur bedeuten würde. Wieder dachte sie an Chloe. Sie hatte recht. Diese Sache konnte sie ruinieren. Nein, das durfte sie nicht zulassen. Sie musste diese Hochzeit über die Bühne bringen.

Lea verließ ihren Beobachtungsposten und hastete hinter dem Kellner her zum Tontechniker. Der wirkte erleichtert, sobald er sie sah, und nahm sie sofort in Beschlag. Sein Problem war schnell gelöst, doch sofort fragte sie jemand anderes um Rat. Ehe sie sichs versah, waren zehn Minuten um. Laut Zeitplan stand die Trauung kurz bevor. Die Hochzeitsgesellschaft hatte bereits ihre Plätze eingenommen, die Band spielte leise Hintergrundmusik. Der Bräutigam wartete nun ganz allein neben seinem Trauzeugen am Altar.

Jetzt ist es ohnehin zu spät, dachte Lea. Nun kannst du es nicht mehr verhindern.

Als die Musiker die ersten Takte des Hochzeitsmarsches spielten, seufzten die ersten Anwesenden leise auf. Die Braut musste jeden Augenblick kommen.

Da war sie! Tessa Goldwin trug ein Brautkleid, das Lea, obwohl sie es schon bei der Anprobe gesehen hatte, noch immer die Sprache verschlug. Es saß perfekt. An der Taille war es eng geschnürt und bauschte sich unten in einem breiten Rock. Der war mit Stickereien und Tausenden von Perlen verziert. Ein sich sanft wellender Schleier verdeckte das Gesicht der Braut, ließ sie geheimnisvoll und unnahbar erscheinen. Vor ihr liefen zwei strahlende Blumenmädchen und streuten rote Rosenblüten auf den Steg.

Die Szene sah wunderschön aus. Der perfekte Auftritt. Nur leider war diese Braut keine Braut. Sie war eine Betrügerin.

Nein! Es geht einfach nicht, dachte Lea. Du kannst nicht schweigen. Das ist falsch! Ohne weiter nachzudenken, lief sie los. Sie mied den Weg über den Steg zwischen den Stuhlreihen und lief stattdessen barfuß über den Sand am äußeren Rand der Traufläche entlang, ihr Ziel fest vor Augen. Für einen winzigen Moment sah sie die weit aufgerissenen Augen von Chloe. Sie stand seitlich hinter der Braut, vor Schreck wie gelähmt. Sie wusste genau, wohin Lea wollte. Und was das für sie beide bedeutete.

Doch Lea konnte nicht mehr umkehren. Ihr Gewissen ließ das nicht zu.

Die ersten Hochzeitsgäste hatten sie entdeckt und tuschelten miteinander. Lea blendete sie aus, starrte nur auf ihr Ziel. Weiter. Weiter. Endlich erreichte sie die vorderste Stuhlreihe. Auch Noah hatte sie gesehen. Er kam ihr ein kleines Stück entgegen, die Augen fragend auf sie gerichtet.

Braun. Sie waren unfassbar braun, wie Schokolade. Lea war sich sicher, dass sie diesen Anblick niemals wieder vergessen würde.

Sie blieb dicht vor ihm stehen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und ihr war unendlich heiß vor Angst und Aufregung. Doch sie hatte keine Wahl!

„Wir müssen die Hochzeit absagen“, sagte sie leise zu Noah.

Er blinzelte irritiert und schien genauer nachfragen zu wollen, da war seine Mutter bei ihnen, packte Lea am Ellbogen und zog sie zu sich rum. „Was ist los?“, verlangte sie herrisch zu wissen.

Lea hätte Noah die Wahrheit lieber unter vier Augen gesagt, doch das ging nicht mehr. Seine Mutter stand zu nah. Sie ignorierte Madame Chevalier und die anderen Gäste und sah stattdessen Noah an. Nur er war wichtig. Sie nahm all ihren Mut zusammen und sagte: „Die Braut ist eine Betrügerin. Sie dürfen sie nicht heiraten.“

1. KAPITEL

„Es tut mir wirklich leid, aber meine Freundin hat mir von dem Debakel vor einem Jahr auf Mauritius erzählt. Mir war nicht klar, dass das Ihre Agentur war. In Anbetracht dessen habe ich mich für eine andere Hochzeitsplanerin entschieden. Ich bin sicher, Sie verstehen das. Nicht wahr?“

Nur mit Mühe unterdrückte Lea ein Seufzen. Das war das dritte Telefonat dieser Art in diesem Monat. Selbst ein Jahr nach ihrem dramatischen Auftritt hatte sie mit den Folgen zu kämpfen. „Natürlich“, brachte Lea mühsam hervor. „Falls Sie es sich doch noch anders überlegen, melden Sie sich bitte bei uns. Wir würden Ihre Hochzeit sehr gerne organisieren.“

Sie und die Braut verabschiedeten sich recht steif voneinander. Kaum hatte Lea das Gespräch beendet, bekam sie Kopfweh. Wie immer in den letzten Monaten. Die Sorgen erdrückten sie allmählich, was sich auch körperlich bemerkbar machte. Hinzu kam das ständig schlechte Gewissen gegenüber Chloe. Ihrer Agentur ging es schlecht. Sehr schlecht. Wenn die Auftragslage so blieb, mussten sie Ende des Jahres aufgeben. Ein Gedanke, der Lea schlaflose Nächte bereitete.

Die Lage war hoffnungslos. Die beste Zeit für Hochzeiten war von November bis März, wenn es nicht zu warm und nicht zu kalt auf der Insel war. Momentan war es Juli. Wenn sie bis November keine Aufträge ergattern konnten, waren sie geliefert.

Lea kämpfte die Tränen nieder und straffte die Schultern. Chloe war momentan noch mit einer anderen Hochzeit beschäftigt. Die rentierte sich zwar kaum, deckte aber zumindest die Kosten. Sie würde erst am Abend ins Büro zurückkommen. Bis dahin hatte Lea noch Zeit, sich ihre Worte zurechtzulegen.

Momentan hielten sie sich mit kleineren Aufträgen ganz knapp über Wasser. Von der neuen Anfrage hatten sie sich mehr erhofft. Es war ein weiterer Tiefschlag, dass auch daraus nichts wurde.

Und du bist schuld, dachte Lea traurig. Nur, weil du das Richtige tun wolltest. Das hatte in einer einzigen Katastrophe geendet. Bis heute fragte sie sich immer wieder, wie sie sich dermaßen hatte irren können. Tessa war keine Betrügerin gewesen. Zumindest wurde Noahs Mutter nicht müde, das überall zu erzählen. Und dabei ging Madame Chevalier äußerst gründlich vor. In der High Society standen Leas und Chloes Namen mittlerweile auf der schwarzen Liste. Wer wollte schon Hochzeitsplanerinnen engagieren, die eine Hochzeit sprengten?

Das Ganze hatte derartige Ausmaße angenommen, dass Lea selbst nicht mehr genau wusste, was sie wirklich gesehen und gehört hatte. Konnte es sein, dass sie wirklich eine Hochzeit zerstört und sich dermaßen geirrt hatte?

Ein Klopfen an der Tür riss Lea aus ihren trüben Gedanken. In der Agentur schauten nur selten unangemeldete Besucher vorbei. Oder war Chloe schon wieder zurück?

Da sie keine Laufkundschaft erwartet hatte, hatte Lea die Tür abgeschlossen. „Einen Moment!“, rief sie und stand auf. Das Büro von „Love Inc.“ war recht klein. Den Schreibtisch samt Computer teilte sie sich mit Chloe. Dahinter stand ein großer Schrank mit ihren Aktenordnern. An den Wänden hatten sie zahlreiche Fotos aufgehängt. Sie zeigten glückliche Brautpaare, denen Chloe und Lea zu ihrer Traumhochzeit verholfen hatten. Damals hatten sie sich vor Aufträgen kaum retten können. Bis …

Lea schüttelte genervt den Kopf. Schluss damit. Sie konnte die Zeit ohnehin nicht zurückdrehen. Energisch schloss sie die Tür auf und öffnete sie. Bestimmt hatte Chloe wieder ihren Schlüssel verges –

Sie erstarrte mitten in der Bewegung. Es war nicht Chloe und auch kein potenzieller Kunde. Nicht ihre Mutter, die vor drei Monaten zu einem Überraschungsbesuch nach Mauritius gekommen war. Und auch nicht der Postbote.

Es war Noah Chevalier. Jener Mann, den sie verzweifelt vergessen wollte. Der ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte – und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Seinetwegen kämpften sie derzeit um ihre Agentur. Seinetwegen hatte Lea beinahe ihre beste Freundin verloren. Seinetwegen plagten sie all die Zukunftsängste …

Und jetzt stand er vor ihr.

Sie blinzelte ihn erstaunt an, unfähig, auch nur einen Muskel zu rühren. Ihr Herz rebellierte bei seinem Anblick. Es schlug schneller und setzte vor Schock immer wieder aus. Ihr Puls flatterte wie ein aufgeregter Vogel. Sie war nicht in der Lage, seinem Blick auszuweichen. Seine Augen erinnerten sie noch immer an Schokolade, doch anders als noch vor einem Jahr wirkten sie nun nicht mehr sanft und sprühten auch nicht mehr voller Lebensfreude. Sein Blick war müde und abgekämpft.

Der Gedanke brachte Lea zur Besinnung. Sie trat einen Schritt zurück. „Monsieur Chevalier“, begrüßte sie ihn steif.

„Miss Jameson“, sagte er und benutzte dabei die englische Anrede. Das hatte er schon immer getan. Aus Höflichkeit. Immerhin war er Franzose und sie Engländerin. „Darf ich hereinkommen?“

Nein! schrie Lea im Geiste. Auf keinen Fall! Doch ihr Körper machte sich selbstständig. Wie in Trance ging sie einen Schritt zur Seite, um Noah Platz zu machen. Er trat an ihr vorbei in das Büro und kam ihr dabei so nah, dass sie ihn beinahe berührte. Abermals fiel ihr auf, wie groß er war. Schlank und gleichzeitig stark. Gefährlich attraktiv. Er schien regelmäßig Sport zu machen, und doch wirkte sein Körper insgesamt weniger vital als bei ihrer letzten Begegnung. Kein Wunder.

Lea hatte gehört, dass er und Tessa sich getrennt hatten. Tessa hatte ihm die abgesagte Hochzeit nicht verzeihen können und ihn verlassen. Somit hatte Lea nicht nur seinen und ihren Ruf auf dem Gewissen, sondern auch sein Liebesglück.

Sie schluckte schwer. Was wollte er hier? Schadenersatz fordern? Davor fürchteten sich Chloe und sie schon die ganze Zeit. Wenn das geschah, konnten sie den Laden sofort schließen.

Bislang hatten sie sich nur mit Noahs Mutter gestritten. Mischte sich jetzt auch Noah in die Angelegenheit ein? Eine Auseinandersetzung mit ihm verkrafte ich nicht, dachte Lea verzweifelt. Dann ermahnte sie sich. Bleib ruhig. Entspann dich. Zuerst einmal musste sie herausfinden, was er wollte.

Noah Chevalier blieb mitten im Raum stehen und musterte seine Umgebung kurz, aber gründlich. Da sie noch immer an der Tür stand, drehte er sich zu ihr um und sah sie einfach nur an.

Merkwürdig. Er wirkte überhaupt nicht verärgert. Eher unsicher. Als überfordere ihn die Situation ebenso sehr wie sie. Seine Lässigkeit war verschwunden. Genau wie sein selbstbewusstes Auftreten. Er wirkte nicht wie jemand, der Streit suchte. Eher wie jemand, der einen Streit schlichten wollte.

Was war hier los?

Eigentlich hätte Lea ihm einen Platz anbieten müssen, doch das brachte sie nicht über sich. Ihr kleines Büro wirkte durch seine Anwesenheit noch winziger als zuvor. Es schien geschrumpft zu sein, sodass sie kaum atmen konnte. Sie fühlte sich eingeengt. Ohne Ausweg. Ohne Fluchtmöglichkeit.

Dann kam ihr ein anderer Gedanke. Was geschah, wenn Chloe zurückkam und Noah hier sah? Unvorstellbar! Noah musste gehen! So schnell wie möglich. Ihre Freundin hatte ihr mit viel Mühe verziehen. Monatelang hatten sie sich immer wieder gestritten. Mal mit lautstarken Auseinandersetzungen. Mal nur mit Körpersprache. Chloe hatte es schließlich geschafft, Leas Entschuldigung anzunehmen. Allerdings gab es eine Bedingung: Lea hatte Chloe versichern müssen, die Familie Chevalier unter allen Umständen zu meiden. Sie sollte nie wieder auch nur ein Wort mit dem Bräutigam oder seiner Mutter sprechen. Und jetzt stand Noah in ihrem Büro. Sein Besuch gefährdete den fragilen Frieden zwischen Lea und ihrer besten Freundin. Er konnte alles zusammenbrechen lassen.

„Es tut mir leid, dass ich Sie einfach so überfalle“, begann Noah, weil sie nichts sagte. „Aber ich muss dringend mit Ihnen sprechen. Wollen wir uns setzen?“ Er deutete auf die beiden Stühle vor und hinter dem Schreibtisch.

Das geht nicht, dachte Lea panisch. Daher schüttelte sie vehement den Kopf. „Es wäre wohl besser, wenn Sie wieder gehen.“

Noah seufzte leise. Der Laut zog Lea das Herz zusammen. Er klang so traurig. So müde. So resigniert.

„Das hatte ich befürchtet. Mir ist bewusst, was meine Familie Ihnen angetan hat. Ich bin hierhergekommen, um mich zu entschuldigen. Und ich möchte mir Ihre Seite der Geschichte anhören.“

Das hatte Lea nicht erwartet. Wofür wollte er sich denn entschuldigen? Sie war es gewesen, die alles zerstört hatte. Niemand hatte ihr geglaubt. Mittlerweile glaubte sie sich sogar selbst nicht mehr.

Oder hatte sie sich doch nicht geirrt? Das wäre ja unglaublich. Auf der anderen Seite ging sie das alles nichts mehr an. Es war besser, Abstand zu wahren. Auch wenn sie unbedingt wissen wollte, warum Noah bei ihr aufgetaucht war – sie musste ihn so schnell wie möglich loswerden.

„Meine Seite hat Sie bislang wenig interessiert“, sagte sie vorsichtig. Noch immer witterte sie eine Falle. Sammelte Noah etwa Beweise gegen sie? „Was hat sich geändert?“

Noah wirkte mit einem Schlag zerknirscht. Er strich sich gedankenverloren über seine kurzen blonden Haare. Ein Zeichen der Unsicherheit? Gleich darauf straffte er sich. „Unser Familienunternehmen ist in Gefahr. Ich muss das Verlagshaus meines Vaters retten. Bitte, Miss Jameson. Sie müssen mir helfen!“

Das wurde ja immer seltsamer! Lea riss erstaunt die Augen auf, und für einen winzigen Moment war sie versucht, ihm entgegenzukommen. Nachzufragen. Sich seine Seite der Geschichte anzuhören. Doch dann erinnerte sie sich an das letzte Jahr und all den Schmerz. Und an Chloe.

„Ich denke, Sie sollten jetzt gehen“, sagte Lea steif. Sie öffnete die Tür und deutete nach draußen. „Wir haben einander nichts zu sagen. Ihre Familie hat mich als Lügnerin und Hochstaplerin hingestellt, die Ihre Verlobte fälschlicherweise verdächtigt. Ich habe Ihre Hochzeit ruiniert, Ihre Familie hingegen mein Geschäft. Ich denke, wir sind quitt. Also verstehen Sie sicherlich, dass ich die ganze Geschichte einfach nur vergessen und mich auf die Zukunft konzentrieren will. Die sieht übel aus, denn niemand will mich mehr engagieren. Auf gar keinen Fall will ich erneut in Ihre Familienprobleme verstrickt werden. Bitte, Monsieur Chevalier. Gehen Sie!“

„Aber das ist es ja, Miss Jameson. Sie hatten recht. Mit allem. Und Sie müssen mir helfen, das zu beweisen.“

Lea fühlte sich, als würde ihr der Boden unter den Füßen fortgerissen. Sie hatte recht? Oh, wie sehr hatte sie sich gewünscht, das zu hören. All die Monate, in denen sie sich den Kopf zerbrochen hatte. All die Momente, in denen sie an ihrem Verstand gezweifelt und sich das Gehörte wieder und wieder ins Gedächtnis gerufen hatte.

Und jetzt stand er vor ihr. Der Mann, der diesen Kummer ausgelöst hatte. Er sagte die erlösenden Worte. Er glaubte ihr. Doch es war zu spät. Ihr Ruf war zerstört, genau wie ihr Geschäft. Das Letzte, was sie noch hatte, war Chloe. Und wenn ihre Freundin von ihrem Termin zurückkam und Noah Chevalier in ihrem Büro sah, würde Lea auch sie verlieren.

Ihr blieb nichts anderes übrig. Sie holte Luft und sagte möglichst fest: „Was immer Sie zu sagen haben: Es interessiert mich nicht mehr. Sie müssen gehen. Und zwar sofort!“

Noah entglitt die Situation. Er hatte bereits befürchtet, dass Lea ihn fortschicken würde. Dennoch hatte er es versuchen müssen. Es war seine einzige Chance, die Wahrheit zu erfahren. Wenn er keine Beweise für seine Vermutung fand, schwebte sein Familienunternehmen in ernster Gefahr. Theoretisch hätte ihm das egal sein können, immerhin hatte man ihn als Firmenchef durch seinen Onkel ersetzt. Aber es war ihm nicht egal. Er liebte seine Familie und würde für sein Recht kämpfen.

Dafür hatte er sogar den langen Flug von Frankreich nach Mauritius auf sich genommen. Hier hatte alles angefangen. Hier war alles aus den Fugen geraten. Es erschien nur logisch, an diesem Ort nach Hinweisen zu suchen.

„Bitte“, sagte er mit möglichst ruhiger Stimme zu Lea. „Sie sind die Einzige, die mir helfen kann!“

Alle anderen Spuren, denen er gefolgt war, waren im Sande verlaufen.

Daher hatte er sich selbst auf den Weg gemacht. Das war natürlich gefährlich. Die geplatzte Hochzeit saß noch immer wie ein Stachel in seinem Herzen. Sie hatte alles verändert. Alles zerstört. Seit einem Jahr versuchte er verzweifelt, wieder Fuß zu fassen. Ohne Erfolg. Wie gerne hätte er die Erinnerungen an dieses Debakel ein für alle Mal gelöscht.

Genau wie die Erinnerung an sie. An Lea Jameson. Durch sie hatte er den Glauben an die Liebe verloren. Durch sie war alles anders gekommen als gedacht. Statt Lachen und Freude hatten düstere Gedanken und Kummer jede Minute des letzten Jahres bestimmt. Aus dem schönsten Tag seines Lebens war der schlimmste geworden.

Natürlich war ihm klar, dass sie nichts dafür konnte. Es war Tessa gewesen, die ihn betrogen hatte. Dennoch war Lea auf untrennbare Weise mit diesem schrecklichen Moment verbunden. Sie war die Unglücksbotin gewesen. Noah hätte alles dafür getan, ihr niemals wieder über den Weg zu laufen. Doch das ging leider nicht. Er brauchte sie. Dringend.

Konzentrier dich, ermahnte er sich. Wenn sie dich jetzt fortschickt, ist alles vorbei. Das Gespräch mit ihr ist deine einzige Chance, die Sache aufzuklären.

„Bitte, Miss Jameson. Bitte sprechen Sie mit mir. Ich bin mir sicher, wir finden eine Lösung. Wenn ich herausgefunden habe, was damals wirklich geschehen ist, kann ich Ihren Namen reinwaschen.“ Das war eine gewagte Behauptung. Allerdings blieben ihm kaum noch alternative Argumente, um Lea zu überzeugen.

Erleichtert registrierte er, wie die junge Frau mit sich rang. Ihre Abwehr bröckelte. Das bemerkte er an ihrer gesamten Körperhaltung und der Art, wie sie ihn ansah. Die Wut in ihrem Blick verschwand und machte dem Platz, was er seit Monaten fühlte: Resignation.

„In Ordnung“, sagte sie leise. „Aber hier können wir uns nicht unterhalten. Wir sollten woanders hingehen.“

„Ich lade Sie gerne auf einen Kaffee ein“, bot Noah hastig an. Als sie nickte, entspannte er sich zum ersten Mal seit Wochen. Damit war ein großer Schritt getan. Vielleicht könnte er sie bei dem Gespräch überzeugen, ihm zu helfen.

Wieder fiel ihm auf, wie hübsch Lea war. Auf der Hochzeit hatte er es bereits bemerkt, doch damals hatte er nur Augen für Tessa gehabt. Tessa. Sobald er auch nur an sie dachte, ging ein Stich durch sein Herz. Sie hatte sein Herz zermalmt. Wegen ihr vertraute er niemandem mehr und hielt Frauen gezielt auf Abstand. Instinktiv wollte er auch Lea so behandeln, aber das durfte er nicht. Er musste mit ihr sprechen.

Heimlich musterte er sie eingehend. Lea wirkte noch immer zart und sanft. Freundlich. Obwohl ihr das Leben übel mitgespielt hatte, hatte sich an dieser Ausstrahlung nichts geändert. Sie trug ihre braunen Locken jetzt etwas kürzer, sodass sie auf ihrer Schulter auflagen. Die Frisur stand ihr noch besser als die langen Haare. Sie wirkte frischer, verlockender. Insgesamt hatte sie etwas abgenommen, was sie zerbrechlicher machte. Sie war hübsch. Sogar sehr hübsch.

Vergiss dich nicht, ermahnte er sich. Tessa war auch hübsch gewesen und hatte zart und zerbrechlich ausgesehen. Allerdings hatten ihre Augen nicht so traurig geschaut wie die von Lea. Den Ausdruck in ihrem Blick hatte er vor einem Jahr noch nicht bemerkt. Er erinnerte ihn an seinen eigenen Schmerz und an den Grund, weshalb er hier war.

Zuvorkommend hielt er Lea die Tür auf. Als er hinter ihr hinaustrat, empfing ihn die warme Sonne von Mauritius und der typisch böige Wind der See. Der Westen der Insel lag zwar auf der windabgewandten Seite, doch im Juni war es stets stürmischer.

Lea schloss das Büro ab und deutete dann in Richtung Meer. „Ich kenne ein gutes Café, in dem wir ungestört miteinander sprechen können. Folgen Sie mir bitte“, sagte sie förmlich. Allein an ihrer Körpersprache konnte Noah erkennen, wie unwohl sie sich fühlte. Das konnte er gut nachempfinden. Auch ihm gefiel die Situation nicht. Aber es half alles nichts. Sie beide mussten das Gespräch hinter sich bringen.

Nebeneinander gingen sie Richtung Meer. Der Strand der kleinen Ortschaft Flic en Flac war durch die sogenannten Filoas von der Straße abgeschottet, jene Bäume, die sich am ehesten gegen den starken Wind behaupten konnten. Die Luft roch nach Meer und nach Urlaub. Noah atmete tief ein, um sich zu beruhigen.

Sie folgten dem schmalen Pfad am Wasser entlang, bis sie zum belebten Strandabschnitt gelangten.

Lea führte ihn schweigend zu einem gemütlichen Café zwischen zwei größeren Restaurants. Hier waren Topfpalmen aufgestellt, um für die Besucher ein paradiesisches Urlaubsgefühl zu verbreiten. Der Blick auf die nahe Bucht der Westküste und das Meer war atemberaubend. Sie suchten sich einen Platz und ließen sich nieder. Noch immer schweigend.

Normalerweise hielt Noah ein Gespräch mühelos am Laufen. Doch in diesem Fall spürte er, dass Lea die Zeit brauchte, um ihre Gedanken zu sortieren. Sich zu fangen. Wenn er ihre Sicht der Geschichte hören wollte, musste sie erst den Schock über seine Ankunft verkraften. Also hielt er sich zurück und hoffte, dass sie sein Schweigen nicht falsch verstand.

Erst nachdem sie ihren Kaffee bestellt hatten, brach er das Schweigen. „Wie geht es Ihnen denn inzwischen?“, fragte er vorsichtig. Egal, wie er dieses Gespräch begann – es gab keine unverfängliche Eingangsfrage. Ihm war nur allzu bewusst, wie schrecklich sich alles entwickelt hatte. Für sie und für ihn.

Lea senkte den Blick und ließ sich Zeit mit der Antwort. Dann seufzte sie. „Schlecht. Schrecklich. Grauenhaft. Suchen Sie sich was aus. Ihre Familie hat sich alle Mühe gegeben, meinen Ruf zu ruinieren.“

„Das tut mir sehr leid. Wirklich. Ich habe lange Zeit gar nicht mitbekommen, was mit Ihnen geschehen ist … wie meine Mutter ihr Geschäft geschädigt hat. Und als ich es erfuhr, war es bereits zu spät.“

Jetzt sah Lea überrascht auf. „Sie wussten davon nichts? Ihre Mutter war sehr deutlich in ihren Aussagen. Sie hat mich als Betrügerin beschimpft. Und das war noch eine der netteren Bezeichnungen.“

„Nein, das habe ich nicht mitbekommen. Nachdem Sie die Hochzeit aufgehalten haben, ging alles drunter und drüber. Zunächst hat Tessa alles abgestritten. Ich habe ihr eine Weile geglaubt. Aber dann ist sie verschwunden. Spurlos.“

„Was?“, rief Lea empört und bekam zum ersten Mal wieder etwas Farbe. „Sie ist verschwunden? Aber das ist doch der Beweis, dass ich recht hatte! Wieso hat Ihre Mutter mich trotzdem überall in Verruf gebracht? Sie tut es sogar noch immer!“

„Weil sie mich schützen wollte“, erklärte er ruhig. „Sie fand es besser, Ihnen die Schuld zuzuschieben. Sie brauchte einen Sündenbock, um von der peinlichen Lage abzulenken. Es besteht aber kein Zweifel: Ich bin auf eine Heiratsschwindlerin hereingefallen. Das weiß nur niemand. Die Welt glaubt noch immer, dass Tessa mich nach der geplatzten Hochzeit vor Enttäuschung verlassen hat. In Wirklichkeit ist sie einfach … verschwunden.“

Lea wurde blass. Er sah den Schock über die Erkenntnis ganz deutlich in ihrem Gesicht. Sie setzte gerade alle Puzzleteile zusammen. Und je länger sie nachdachte, desto fassungsloser wurde sie. Energisch schob sie den Kaffee von sich und beugte sich zu ihm vor. „Sie wollen mir jetzt nicht allen Ernstes sagen, dass Ihre Familie die ganze Zeit die Wahrheit wusste?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

„Offenbar schon. Ich jedenfalls wusste es eine Woche nach der abgesagten Hochzeit ganz sicher. Wir haben Tessa überall gesucht und nicht gefunden. Zunächst dachte ich, sie sei aus verletztem Stolz verschwunden. Das konnte ich ihr kaum verdenken. Es muss schrecklich für sie gewesen sein, als Sie zum Traualtar gestürmt sind und sie als Betrügerin bezeichnet haben. Uns blieb gar nichts anderes übrig, als die Hochzeit abzubrechen. Zu diesem Zeitpunkt war ich mir aber noch sicher, dass Sie sich verhört haben mussten. Tessa war am Boden zerstört und hat viel geweint. Daraufhin habe ich Sie ja des Geländes verwiesen. Im Nachhinein tut mir das sehr leid, aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Wahl. Deshalb haben Sie das Folgende auch nicht mitbekommen.“

„Und das wäre?“

Noah atmete tief durch, dann sagte er bedächtig: „Tessa bat mich, sie allein zu lassen. Sie müsse nachdenken, sagte sie. Sie sei sehr enttäuscht von mir. Dass ich ihr misstraute, konnte sie nicht verstehen. Sie weinte bitterlich, aber genau das hat mich stutzig gemacht. Es fühlte sich … falsch an. Ich kann es nicht genau benennen, aber ihre Reaktion wirkte so einstudiert. Als ob sie schauspielerte. Als ich am nächsten Tag in ihr Zimmer ging, um mit ihr zu sprechen, war sie verschwunden. Meine Mutter machte deswegen einen riesigen Aufstand. Sie glaubte noch immer, dass Sie sich das alles ausgedacht hatten, und erzählte es überall herum. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich die Sache nur am Rande registriert habe. Ich wollte mich später darum kümmern. Zunächst war ich mit anderen Dingen beschäftigt. Ich musste meine Braut finden. Die Polizei konnten wir nicht einschalten. Wir waren uns sicher, dass Tessa aus freiwilligen Stücken gegangen war. Also habe ich mehrere Privatdetektive auf sie angesetzt. Ich wollte sie finden, um mich bei ihr zu entschuldigen und alles ins Reine zu bringen. Doch was die Detektive stattdessen über sie herausfanden, war schockierend. Es gab keine Tessa Goldwin. Es hat sie noch nie gegeben. Sie war tatsächlich eine Betrügerin, die komplett unerkannt untertauchen konnte.“

„Aber … aber …“ Lea hatte es eindeutig die Sprache verschlagen. „In all der Zeit hat man mir immer deutlich zu verstehen gegeben, dass ich mich geirrt habe! Ich dachte immer, Tessa sei wegen meiner angeblich falschen Anschuldigungen verschwunden!“

Noah schüttelte den Kopf. „Dieses Gerücht muss meine Mutter gestreut haben. Hinter meinem Rücken, das versichere ich Ihnen. Hätte ich gewusst, was sie Ihnen angetan hat, hätte ich sie umgehend aufgehalten. Doch leider hatte die ganze Affäre ein sehr unangenehmes Nachspiel für mich.“

Lea zog eine Augenbraue in die Höhe. „Inwiefern?“, hakte sie nach, weil er schwieg.

Er sprach nicht gerne über die Zeit nach der geplatzten Hochzeit. Doch wenn Lea ihm helfen sollte, musste er ehrlich sein. Selbst wenn es wehtat. „Sie wissen doch, dass ich eine sehr hohe Position im Familienunternehmen hatte? Ich habe ein international agierendes Verlagshaus geleitet. Ich war Konzernchef.“

„Natürlich weiß ich das. Und ich habe auch mitbekommen, dass Sie Ihren Posten aus gesundheitlichen Gründen niederlegen mussten.“

„Das ist es ja gerade. Die gesundheitlichen Gründe gab es nie. Der Vorstand bekam Wind von der ganzen Angelegenheit. Ich bin mir sicher, dass es einer der Privatdetektive gewesen sein muss, der geplaudert hat. Jedenfalls erfuhren die Vorstandsmitglieder, dass ich einer Betrügerin zum Opfer gefallen bin. Sie waren entsetzt. ‚Wer nicht einmal bemerkt, dass seine Geliebte eine Schwindlerin ist, kann keinen Konzern führen‘, erklärten sie. Sie müssen wissen, dass der Verlag sich auf Wirtschaftsthemen spezialisiert hat. Wir geben Sachbücher, Autobiografien von bekannten Firmenbossen und Schulbücher heraus. Um das Unternehmen zu schützen, wollte der Vorstand schweigen. Allerdings unter einer Bedingung: Ich musste meinen Posten an meinen Onkel abtreten.“

„Das ist … unfassbar! Monsieur Chevalier, ich hatte ja keine Ahnung“, stieß Lea erschrocken hervor. „Ich nahm immer an, dass Sie die Trennung von Ihrer Verlobten nicht gut verkraftet hatten.“

Nathan schauderte unwillkürlich, als er an diese Zeit zurückdachte. Er war tatsächlich am Boden zerstört gewesen. Seine Braut war verschwunden. Die Frau, die er liebte! Die Erkenntnis, dass sie diese Liebe niemals wirklich erwidert hatte, schmerzte doppelt. Sie hatte alles nur geschauspielert. Ihn hintergangen. Belogen.

Das hatte ihm beinahe den Rest gegeben. Aber nur beinahe. Aus seiner Trauer war Wut geworden. Er hatte Tessa für das verachtet, was sie ihm angetan hatte. Und er hatte sich geschworen, die Hintergründe aufzudecken. Er wollte nicht kampflos aufgeben. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich.

Genau aus diesem Grund war er jetzt hier. Obwohl er niemals wieder an den Ort seiner schlimmsten Niederlage hatte zurückkehren wollen.

Wie schwer ihm das alles fiel, durfte Lea niemals erfahren. Auch sie hatte viel Leid ertragen müssen. Doch sie war es gewesen, die all die Dinge ins Rollen gebracht hatte.

Wenn er sie auf seine Seite ziehen wollte, musste er sich auf sie einlassen. Sie musste wissen, was los war.

„Es war schrecklich für mich, den Posten abzugeben“, sagte er leise. „Mein Vater hat ihn mir vererbt. Die Verlagsleitung zu verlieren fühlte sich wie eine schreckliche Niederlage an. Und dann auch noch wegen einer Betrügerin. Ich fühlte mich verraten, vorgeführt und von so ziemlich allen Menschen in meinem Leben hintergangen. Der Vorstand hat mich einfach fallen gelassen. Selbst mein Onkel hat sich nicht schützend vor mich gestellt, sondern den Posten angenommen. Das war hart. Zumindest meine Mutter hielt zu mir, allerdings habe ich erst viel zu spät mitbekommen, auf welche Weise. Dass sie Sie zum Sündenbock gemacht hat, tut mir ehrlich leid. Bitte verzeihen Sie mir.“

Seine Worte waren aufrichtig gemeint. Tief in seinem Herzen mochte er noch ärgerlich auf Lea sein. Dennoch billigte er das Verhalten seiner Mutter nicht.

Lea nahm einen Schluck Kaffee, dann brachte sie ein schwaches Lächeln zustande. „Ich nehme Ihre Entschuldigung an. Leider bringt mir das nicht viel. Ihre Mutter müsste zugeben, dass sie all die Zeit gelogen hat. Nur sie könnte meinen Namen wirklich reinwaschen.“

„Und das wird sie, fürchte ich, so schnell nicht tun. Wenn Sie es wünschen, werde ich alles richtigstellen.“ Noah hatte bereits geahnt, dass es darauf hinauslaufen würde. Wenn er an Leas Stelle gewesen wäre, hätte er das Gleiche verlangt. Es war nur fair. Dennoch hoffte er, eine andere Lösung zu finden. Eine, die nicht bedeutete, dass seine Mutter für immer böse auf ihn sein würde.

Lea ahnte wohl, was er dachte. „Deshalb sind Sie aber nicht hierhergekommen“, stellte sie fest. „Sie wollten sich zwar entschuldigen, aber es gibt noch einen anderen Grund. Weshalb sind Sie wirklich hier?“

Noah holte tief Luft und setzte alles auf eine Karte. „Ich bin mir mittlerweile sicher, dass ich einer Intrige zum Opfer gefallen bin. Jemand wollte, dass ich meinen Posten räumen muss. Deshalb will ich die Frau finden, mit der Tessa kurz vor der Hochzeit gesprochen hat. Sie sagten einmal zu meiner Mutter, dass sie das Gespräch vor ihrer Hotelsuite belauscht hätten. Nur die Familienmitglieder hatten Zugang zu der Villa. Das bedeutet, es muss jemand aus meinem engsten Familienkreis gewesen sein. Dieser Gedanke bereitet mir große Sorgen. Sie sind die Einzige, die diese Frau identifizieren und überführen kann. Die Zeit drängt. Mein Onkel will eine teure Investition tätigen, die das gesamte Familienunternehmen ruinieren kann. Die Verlagsbranche ist ein heißes Pflaster. Ein einziger falscher Schritt, schon gerät alles in Schieflage. Ich will die Investition verhindern – und nur Sie können mir dabei helfen!“

2. KAPITEL

Lea starrte Noah sprachlos an, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Sie war noch immer mit der ungeheuerlichen Nachricht beschäftigt, dass sie die ganze Zeit recht gehabt hatte. Tessa war eine Betrügerin. All die Monate, in denen sie sich selbst gequält und an ihrem Verstand gezweifelt hatte. All die Monate, in denen sie sich hatte rechtfertigen müssen. All das war eigentlich unnötig gewesen.

Wenn Madame Chevalier, Noahs Mutter, die Wahrheit gesagt hätte.

Und jetzt brachte Noah diese Bitte vor. Eigentlich hätte sie umgehend aufstehen und gehen müssen. Sie war ihm nichts schuldig. Im Gegenteil: Er musste ihr helfen und ihren Namen reinwaschen. Das war das Mindeste nach dem Schaden, den seine Familie angerichtet hatte. Doch stattdessen setzte er noch einen drauf.

Sie sollte ihm helfen? Niemals! Genau das wollte sie ihm auch sagen, doch stattdessen formten ihre Lippen ganz andere Worte. „Wie genau soll ich Ihnen helfen?“

„Kommen Sie mit mir nach Frankreich, mischen Sie sich unter meine Freunde, Bekannten und Familienangehörigen. Wir müssen die Frau finden!“

„Unmöglich! Ich habe lediglich ihre Stimme gehört und sie nicht gesehen. Es ist bereits ein Jahr her! Ich bezweifle, dass ich sie identifizieren könnte.“

„Aber wir könnten es versuchen. Es ist nur eine kleine Chance, aber ich ergreife momentan jeden Strohhalm, den ich finden kann.“ Noah beugte sich ebenfalls vor, sodass ihr sein Duft in die Nase stieg. Dieser Mann roch verboten gut.

Verboten gut, dachte sie finster. Genau das bringt es auf den Punkt. Den freundlichen jungen Bräutigam gab es nicht mehr. Er war einer dunkleren Version gewichen. Und der neue Noah brachte nichts als Ärger!

„Es tut mir wirklich leid“, sagte sie langsam und lehnte sich dabei zurück. Sie brauchte Abstand, um klarer denken zu können. Solange er sie derart intensiv aus seinen dunkelbraunen Augen anstarrte, konnte sie kaum einen Gedanken beenden. „Ich kann unmöglich mit Ihnen nach Frankreich fliegen. Sie müssen zugeben: Allein die Idee ist schon ziemlich verrückt.“

„Das stimmt. Es mag im ersten Moment merkwürdig klingen. Aber ich bin wirklich verzweifelt! In einem Monat findet ein großer Ball statt. Den richtet meine Mutter jedes Jahr aus – am Geburtstag meines verstorbenen Vaters. Es werden fast alle Gäste kommen, die auch zu meiner Hochzeit geladen waren. Das ist die Chance, um die unbekannte Frau zu finden!“

Lea atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Sein Vorschlag war lächerlich. Absurd. Wieso sollte sie so etwas tun? „Ich habe mir geschworen, niemals wieder etwas mit Ihrer Familie zu tun zu haben, Monsieur Chevalier“, sagte sie deutlich. „Ich hoffe aber, dass Sie trotz meiner Absage zu Ihren Worten stehen. Sie müssen meinen Ruf retten und alles richtigstellen!“

Noahs Körperhaltung verriet ihr, dass ihre Antwort ihn enttäuschte. Dennoch nickte er. „Natürlich. Darauf können Sie sich verlassen. Allerdings wird es schwieriger sein. Mein Wort ist nicht mehr so gewichtig wie früher. Ohne Beweise werden meine Erklärungen wenig ausrichten. Die Leute glauben lieber Skandale als die Wahrheit. Wenn Sie jedoch die fremde Frau finden und überführen, wird das reichlich Gesprächsstoff bieten und für Sie sehr viel positive Publicity bedeuten. Alle Welt wird darüber sprechen und Ihnen Glauben schenken.“

Sie musterten einander schweigend. Intensiv. Nicht zum ersten Mal fragte sich Lea, wie sie unter normalen Umständen auf Noah reagiert hätte. Aus dem freundlichen, lebensfrohen Mann war zwar ein in sich gekehrter, eher düsterer Zeitgenosse geworden, aber dennoch war er unbestreitbar attraktiv mit seinen dunklen Augen und dem athletischen Körperbau. Genau das machte ihn so gefährlich. Immerhin hatte er ihr Leben ruiniert. Gerade wollte sie etwas Entsprechendes sagen und sich verabschieden, als sie ihren Namen hörte.

„Lea? Ich bin so froh, dich hier zu sehen.“

Leas Herz setzte vor Schreck einen Schlag aus. Nein! Bitte nicht! Langsam blickte sie auf und sah ihre Geschäftspartnerin und beste Freundin lächelnd auf sich zukommen. Obwohl sie an einem Tisch saßen, der vom Gehweg abgewandt war, und Richtung Meer schauten, hatte Chloe sie entdeckt.

Ihrem Lächeln nach zu urteilen, hatte sie Noah noch nicht erkannt.

Lea überlegte hastig. Sollte sie Chloe entgegengehen? Ihr den Weg abschneiden? Doch bevor sie aufstehen konnte, war ihre Freundin bereits bei ihnen angekommen.

„Entschuldigen Sie die Störung“, sagte sie zu Noah. „Aber ich habe meine Schlüssel fürs Büro mal wieder verlegt. Lea, könntest du mir deine leihen?“

Ihre Freundin lächelte wie immer freundlich und zuvorkommend auf eine professionelle, distanzierte Art. Vermutlich hielt sie Noah für einen neuen Kunden. Es war kein Wunder, dass sie ihn nicht erkannte. Er wirkte deutlich abgekämpfter und blasser als noch vor einem Jahr.

„Ist dein Termin gut gelaufen?“, fragte Lea, um ihre Freundin abzulenken, und zog hastig ihre Schlüssel hervor. Vielleicht war ja doch noch nicht alles zu spät, und sie kam mit dem Schrecken davon.

„Der Termin war ganz in Ordnung. Die Braut ist sehr nervös, aber das bekommen wir schon hin“, antwortete Chloe und nahm die Schlüssel entgegen. Für einen winzigen Moment hatte Lea die Hoffnung, dass sie sich verabschiedete. Doch dann wandte sie sich Noah zu und musterte ihn eingehend.

Ihre Gesichtszüge entglitten ihr. Sie hatte ihn erkannt. Irritiert blickte sie Lea an, dann starrte sie erneut zu Noah.

„Monsieur Chevalier?“, fragte sie schließlich unsicher.

Er bemühte sich um Lässigkeit. Vermutlich hatte auch er verstanden, wie ernst die Situation war. Höflich stand er auf und reichte Chloe die Hand. „Miss Dowell. Es ist mir eine Freude, Sie wiederzusehen. Wie geht es Ihnen?“

Chloe erwiderte den Händedruck mechanisch, sah dabei aber Lea mit versteinerter Miene an. Ihre Freundin wusste offenbar nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Lea betete, dass sie keine Szene machen würde. Chloe war stets freundlich und ruhte in sich selbst. Doch seitdem ihre Agentur in Gefahr war, waren auch ihre Nerven zum Zerreißen gespannt.

„Monsieur Chevalier“, sagte sie gefährlich leise. „Darf ich fragen, was Sie hier machen? Falls es um Ihre geplatzte Hochzeit geht: Bei uns ist nichts mehr zu holen. Sie haben unser Geschäft bereits ruiniert. Und zwar gründlich. Es tut mir sehr leid, was geschehen ist. Aber wir sind bereits am Boden. Sie müssen nicht mehr nachtreten.“

Noah lächelte sie beschwichtigend an. „Wie wäre es, wenn Sie sich kurz zu uns setzen? Dann erkläre ich Ihnen gerne den Grund für meinen Besuch.“

Chloe bewegte sich nicht. Einige Sekunden lang fixierte sie Noah mit ihrem Blick. Schließlich wandte sie sich an Lea. „Wir sollten gehen“, sagte sie. Dann drehte sie sich um und lief ein paar Schritte fort vom Strand und dem Restaurant. Als sie bemerkte, dass Lea ihr nicht folgte, wurde sie deutlicher: „Lea! Es gibt hier nichts mehr zu bereden. Lass uns verschwinden.“

Lea war hin- und hergerissen. Auch sie hatte das Gespräch beenden wollen. Noah und sie hatten eigentlich alles geklärt. Sie würde nicht mit ihm nach Frankreich gehen. Das wäre Wahnsinn. Oder konnte es doch eine Chance sein? Ihre Chance, die Agentur zu retten und alles wieder ins Lot zu bringen?

Sie bezweifelte, dass ihre Freundin das genauso sehen würde. Als sie in Chloes Gesicht blickte, wusste sie eins ganz klar: Wenn sie blieb, riskierte sie ihre Freundschaft. Und ihre Agentur. Endgültig.

Hastig stand sie auf. „Monsieur Chevalier, ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrem Vorhaben. Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann. Wären Sie dennoch so freundlich, alles richtigzustellen? Es mag sein, dass dadurch unser Name nicht vollständig reingewaschen werden kann. Aber einen Versuch ist es wert.“

Sie reichte Noah zum Abschied die Hand, die er einen Moment länger als nötig in seiner hielt. „Natürlich werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um Ihnen zu helfen“, entgegnete er mit resignierter Stimme. „Sollten Sie es sich jedoch anders überlegen, dann rufen Sie mich bitte an. Ich fliege erst übermorgen zurück nach Frankreich.“

Er zog eine Visitenkarte aus seiner Hosentasche und reichte sie ihr beinahe feierlich. Lea nahm sie entgegen. „Rufen Sie an“, wiederholte er eindringlich. „Bitte!“

„Jetzt komm“, ging Chloe verärgert dazwischen.

„Leben Sie wohl, Monsieur Chevalier“, sagte Lea leise. Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, einen Fehler zu begehen. Vielleicht lehnte sie gerade die einzige Chance ab, ihre Agentur zu retten.

Doch sie hatte keine Wahl. Sie musste gehen. Chloe zuliebe. Die lief dicht neben ihr, und ihre ganze Haltung sagte, dass es keine gute Idee wäre, sie jetzt anzusprechen. Sie war unverkennbar wütend. Auf Lea? Auf Noah? So ganz klar war Lea das nicht. Da aber keine von ihnen eine Szene in der Öffentlichkeit riskieren wollte, schwiegen sie.

Sie verließen den Strandbereich und folgten der kleinen Promenade, an der es jede Menge Streetfood-Stände gab. Ein Markenzeichen der Ortschaft Flic en Flac. Einige Einheimische hatten sich auf einem kleinen Platz versammelt und spielten gemeinsam auf Trommeln und tanzten dazu. Normalerweise wäre Lea sofort zu der traditionellen Séga-Aufführung geeilt, denn so häufig kamen sie nicht mehr vor. Heute jedoch hatte sie etwas Wichtiges zu tun, und konnte nicht wie sonst stehen bleiben, um den farbenfrohen Tänzerinnen zuzujubeln oder den fröhlichen Gesang zu bewundern.

„Chloe“, begann sie vorsichtig, sobald sie die Menschenmenge hinter sich gelassen hatten und die ruhigeren Viertel des Ortes erreichten. „Es ist nicht so, wie du denkst!“

„Ach ja? Was denke ich denn?“, fragte Chloe gereizt.

„Monsieur Chevalier war hier, um sich bei mir zu entschuldigen. Ich hatte recht. Mit allem. Tessa Goldwin ist eine Heiratsschwindlerin.“

Während sie den restlichen Weg zum Agenturbüro gingen, erzählte Lea ihrer Freundin all das, was sie von Noah erfahren hatte. Ihr Herz schlug schneller, je näher sie Noahs Angebot kam. Was würde Chloe dazu sagen?

Diese schwieg zunächst, bis sie im Büro waren. Dann seufzte sie leise. „Monsieur Chevalier hat recht. Die High Society wird die Wahrheit wenig interessieren. Ein Skandal ist aufregend. Die Richtigstellung hingegen nicht. Wir werden wohl mit unserem schlechten Image leben müssen.“

„Es sei denn, ich nehme sein Angebot an und fahre mit ihm nach Frankreich. Wir könnten die unbekannte Frau finden und überführen.“

Das hätte sie besser nicht gesagt. Chloe hatte sich gerade beruhigt und an den Schreibtisch gesetzt. Bei Leas Vorschlag sprang sie sofort wieder vom Stuhl. „Auf gar keinen Fall fährst du nach Frankreich! Wie kannst du so etwas überhaupt in Betracht ziehen? Du hast mir versprochen, die Finger von der Familie Chevalier zu lassen. Die hat uns genug Schwierigkeiten eingebrockt. Was immer Noah plant: Es ist garantiert zu seinem Besten und weniger zu unserem. Du hast geschworen, alle Kontakte in diese Richtung abzubrechen. Lea! Er ist gefährlich. Wenn er sich wieder bei dir meldet, dann musst du das sofort unterbinden. Sonst laufen wir Gefahr, dass alles noch viel schlimmer wird. Ich habe beim letzten Mal zu dir gehalten. Weil du meine beste Freundin bist. Meine kleine Familie. Aber noch mal darfst du mir das nicht antun. Denk daran, was passiert ist, als du nicht auf mich gehört hast! Deshalb beschwöre ich dich: Vergiss Noah. Vergiss die Familie Chevalier. Vergiss die Intrige und die fremde Frau. In einem Jahr ist Gras über die Sache gewachsen. Dann können wir neu durchstarten. Aber wenn du dich wieder mit Noah einlässt, wird das niemals geschehen. Du setzt alles aufs Spiel. Und das ist er garantiert nicht wert!“

Lea hätte gerne widersprochen, doch sie sparte es sich. Im Laufe der letzten Monate war die Familie Chevalier in Chloes Augen zum Inbegriff des Bösen geworden. Und Lea konnte es ihr nicht einmal verdenken. Noahs Mutter hatte sie gnadenlos ruiniert. Dabei hatte sie die Wahrheit all die Zeit über gekannt.

Unter diesen Umständen half es auch nicht viel, dass ihr Sohn ganz anders war. Außerdem hatte Lea Chloe geschworen, der Familie Chevalier den Rücken zu kehren. Und was sie versprach, hielt sie.

Selbst wenn das bedeutete, ihre letzte Hoffnung auf die schnelle Rettung ihrer Agentur aufzugeben.

Er hatte es verbockt! Aber so richtig, wurde Noah bewusst. Lea war regelrecht vor ihm geflohen, von Chloe ganz zu schweigen. Die junge Frau hatte ihn aus so wütenden, verletzten Augen angesehen, dass ihm ganz anders wurde.

Seine Familie hatte den beiden wirklich übel mitgespielt. Das musste er zugeben. Allerdings würde es ohne Leas Mithilfe schwierig werden, alles richtigzustellen. Wie sollte er nur die Frau finden, mit der seine Ex-Verlobte gesprochen hatte?

Es gab so wenige Anhaltspunkte. So wenige Beweise. Wer hatte einen Nutzen aus dem Skandal ziehen können? In erster Linie war das sein Onkel Gernot, doch mit dem verstand sich Noah eigentlich gut. Und schließlich hatte er keine andere Wahl gehabt, als Noahs Posten zu übernehmen. Er war zwar ein knallharter Geschäftsmann, aber ein Familienmensch. Außerdem war er ehrlich.

Seine Mutter schied ebenfalls aus. Sie liebte ihn zu sehr. Es sähe ihr keineswegs ähnlich, seine Reputation zu zerstören.

Wer steckte aber dann dahinter?

Sein Handy klingelte. Er brauchte einen Moment, um es aus der Hosentasche zu ziehen. Er saß im Schneidersitz am Strand, hatte die letzten Sonnenstrahlen genossen und auf das Meer gestarrt. Eigentlich die perfekte Kulisse, um sich zu entspannen. Sobald er den Anrufer erkannte, verschlechterte sich jedoch seine ohnehin düstere Stimmung.

„Maman“, begrüßte er seine Mutter auf Französisch.

„Noah! Wo bist du?“, fragte sie in vorwurfsvollem Tonfall.

„Auf Mauritius. Bei Lea Jameson.“ Seine Mutter wusste, was das bedeutete. Das Schweigen in der Leitung war Bestätigung genug. Aber jetzt war es an der Zeit, sie mit seinen Vorwürfen zu konfrontieren. „Ich habe herausgefunden, was du getan hast. Maman. Das war nicht in Ordnung. Wir müssen deine Aussagen widerrufen! Was du da betrieben hast, ist Rufmord.“

Noah hörte, wie seine Mutter angestrengter atmete. Das war nicht gut. Sie hatte große Probleme mit ihrem Herzen und durfte sich nicht aufregen. Normalerweise hielt er sich auch an diesen Grundsatz, doch heute konnte er nicht anders. Er musste sie zur Rede stellen. Wahrscheinlich dachte sie gerade fieberhaft über eine gute Ausrede nach. Michelle Chevalier entschuldigte sich grundsätzlich nicht. Sie machte keine Fehler. Punkt.

„Ich hatte keine Wahl“, sagte sie nach einer langen Pause. Zumindest gab sie es zu. „Du standest dermaßen in der Schusslinie. Wenn unsere Freunde und Geschäftspartner erfahren hätten, dass du wirklich auf eine Betrügerin reingefallen bist, wäre alles noch viel schlimmer geworden. Die geplatzte Hochzeit war peinlich genug.“

„Und um von uns abzulenken, zerstörst du die Lebensgrundlage von zwei jungen Frauen? Das ist derart grausam, dass mir die Worte fehlen!“ Erst jetzt bemerkte er, wie böse er seiner Mutter wirklich war. Bislang hatten sie noch keine Gelegenheit gehabt, darüber zu streiten. Nun war der Moment gekommen.

„Lea Jameson war einfach ungeschickt. Eine Hochzeitsplanerin hätte anders vorgehen müssen. Und in einer Sache bin ich mir auch weiterhin ganz sicher: Sie hat sich in dich verguckt! Sie wollte, dass die Hochzeit platzt. Es war pures Glück für sie, dass Tessa sich als Heiratsschwindlerin entpuppt hat.“

Maman, das ist völliger Blödsinn, und das weißt du auch! Lea hat sich nicht in mich verliebt. Sie hatte keine Wahl, anders zu handeln. Ich stand schon am Altar. Was hätte sie denn sonst tun sollen?“

„Sie hätte diskreter vorgehen müssen, Noah! Ja, ich gebe zu, ich habe ihr unrecht getan, aber bitte, mon cher, lass die Sache einfach ruhen. Gerade ist Gras über den Skandal gewachsen. Wärm ihn doch nicht wieder auf!“

„Aber ich muss!“ Aufgebracht stand Noah auf und lief barfuß durch den Sand bis zum Wasser. Die Wellen leckten an seinen nackten Füßen. Der Strand von Flic en Flac war mit sechs Kilometern der längste von ganz Mauritius und mündete in einer wunderschönen Lagune. Normalerweise hätte Noah den Anblick sehr genossen und sich über seine Umgebung gefreut, doch gerade nahm er sie nur am Rande wahr, denn das Gespräch war zu wichtig. „Erstens können wir nicht zulassen, dass Lea wegen deiner Lügen ihre Agentur verliert. Und zweitens muss ich den Drahtzieher der ganzen Sache finden. Jemand hat Tessa beauftragt. Und dieser Jemand wollte mich bloßstellen.“

„Wie kommst du denn auf diese Idee? Noah! Red dir so etwas doch nicht ein. Wer immer diese Frau war: Sie ist Vergangenheit. Lass sie ruhen.“

„Ich kann das nicht ruhen lassen. Nicht, solange Onkel Gernot weiter die Millioneninvestition plant. Das muss ich verhindern.“ So gut sie sich sonst verstanden, in dieser Sache waren Noah und sein Onkel unterschiedlicher Meinung. Gernot Chevalier wollte Anteile an einen Großkonzern verkaufen. Die Verlagsbranche war in den letzten Jahren härter geworden. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, brauchte das Familienunternehmen starke Partner und mehr Marktanteile. Das sah Noah genauso. Doch der Großkonzern, mit dem sein Onkel sich einlassen wollte, war gefährlich. Er hatte schon so manche Firma komplett übernommen. Noah war sich sicher, dass sein verstorbener Vater solch ein Wagnis niemals abgesegnet hätte.

„Was hat dein Onkel denn mit der Heiratsschwindlerin zu tun?“, fragte seine Mutter gereizt.

„Wenn ich beweisen kann, dass ich einer Intrige zum Opfer gefallen bin, setzt mich der Vorstand bestimmt wieder ein. Ich bin der rechtmäßige Erbe.“

„Ich freue mich über dein Engagement, aber deine eigene Firma läuft doch bestens! Konzentrier dich lieber weiter auf die Flugzeugbranche. Du folgst endlich deinem Traum und verwirklichst dich selbst. Das finde ich ganz fantastisch. Vergiss das Familienunternehmen. Onkel Gernot kommt schon klar.“

Noah blieb abrupt stehen. Ein ungutes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Ihm kam ein ungeheuerlicher Verdacht. Steckte etwa doch seine Mutter hinter der Intrige? Sie hatte immer missbilligt, dass sein Vater ihn in die Firma gezwungen hatte. Ja, gezwungen war das richtige Wort. Er hatte niemals in die Verlagsbranche gehen wollen. Schon seit Kindertagen war er ein Tüftler und Bastler. Ein Ingenieur mit Leib und Seele. Also hatte er Luft- und Raumfahrttechnik studiert und direkt nach seinem Studium in einem kleinen Unternehmen für Flugzeugwartungen angefangen. Noah hatte die Arbeit geliebt.

Doch dann war sein Vater krank geworden und hatte ihn gebeten, sich in die Firma einzuarbeiten. Schweren Herzens war er der Bitte gefolgt und hatte seine Liebe fürs Basteln hintangestellt. Bis zu seinem Rauswurf aus dem Familienunternehmen.

In seiner Not hatte er sich selbstständig gemacht und glücklicherweise im richtigen Moment die richtigen Leute gekannt. Sein kleines Unternehmen stellte ein spezielles Material für Flugzeuge her – und genau so etwas wurde gerade gesucht. Der Umsatz wuchs beständig.

Dennoch tat ihm das unrühmliche Ende in seinem Familienunternehmen in der Seele weh. Er konnte die Sache nicht so stehen lassen. Und auf keinen Fall würde er einfach die Augen vor den riskanten Plänen seines Onkels verschließen. Das war er seinem Vater schuldig.

„Papa wäre entsetzt über die Entwicklung der letzten Monate. Ich werde nicht zusehen, wie Onkel Gernot einen großen Fehler begeht. Ich muss ihn aufhalten.“ Noah hob den Blick und sah hinauf zum höchsten Berg der Insel. Le Morne Brabant. Erhaben und stolz ragte er in der Abendsonne empor. Unerschütterlich. Der vollkommene Kontrast zu seinem aktuellen Leben. In dieser Sekunde beschloss er, dort hinaufzuklettern. Morgen. Um einen klaren Kopf zu bekommen. Um nachzudenken. Vielleicht kam ihm dabei auch eine Idee, wie er den Verlag seiner Familie retten konnte.

Seine Mutter seufzte tief und erinnerte ihn daran, dass sie noch immer miteinander telefonierten. „Dein Vater hat sein Leben lang für die Firma geschuftet. Er war die Firma. Dabei hat er seine Familie komplett von sich geschoben. Du und ich – wir schulden diesem Unternehmen nichts. Sei froh, dass du auf Abstand gehen konntest. Lass Gernot die Dinge regeln und konzentriere dich auf deinen eigenen Weg.“

Noah wusste, wie tief verwurzelt die Abneigung seiner Mutter gegenüber dem Verlagshaus war. Sie war schon immer neidisch darauf gewesen. Nein. Neid war das falsche Wort. Michelle Chevalier verdankte dem Unternehmen zwar ihren Reichtum, aber es hatte ihr auch den Ehemann gestohlen. Sein Vater war an einem Herzinfarkt gestorben, und seine Mutter war sich sicher, dass der Arbeitsstress daran schuld gewesen war. Ihrer Meinung nach hatte die Firma ihren Mann auf dem Gewissen.

Schon seit Noah denken konnte, hatte sie ihn darin bestärkt, seinen eigenen Weg zu gehen. Das hatte zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen seinen Eltern geführt. Noah hatte dabei stets zwischen den Stühlen gesessen. Ein schreckliches Gefühl.

„Lass uns reden, sobald ich wieder in Frankreich bin“, sagte er müde zu seiner Mutter. Die vielen Überlegungen bereiteten ihm langsam Kopfschmerzen.

„Das ist eine gute Idee. Noah? Ich liebe dich, mon cher. Alles, was ich getan habe, habe ich aus Liebe zu dir getan.“

„Ja, Maman. Das verstehe ich. Aber das entschuldigt es nicht. Ich … ich muss jetzt Schluss machen. Ich melde mich, sobald ich zurück bin. Bis bald!“ Er legte auf und blieb reglos in der Brandung stehen. Das Wasser schwappte in ruhigen Wellen gegen seine Beine, und der Sand kitzelte unter seinen Füßen. Dazu noch die Meeresluft und das leise Rascheln der Palmen am Strand. Ein perfekter Moment.

Und dennoch fühlte er sich leer und verzweifelt. Seine Überlegungen verliefen in eine beängstigende Richtung. War der Hass seiner Mutter auf den Verlag der Familie so groß, dass sie eine derartige Intrige spinnen konnte? Gegen ihn? Ihren eigenen Sohn?

Er war sich nicht sicher. Und es gab nur eine einzige Frau, die Licht ins Dunkel bringen konnte. Eine Frau, die mit ihm nichts mehr zu tun haben wollte. Er steckte in der Klemme. Und zwar so richtig.

3. KAPITEL

Lea konnte nicht schlafen. Der Streit mit Chloe ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Ein wenig hatte ihre Freundin ja recht. Noah in ihr Leben zu lassen war gefährlich. Und doch spürte sie, dass da etwas zwischen ihnen war. Ihr Verstand warnte sie, doch ihr Herz sprach eine andere Sprache: Es signalisierte ihr, dass Noah ihr helfen konnte. Aber wie? Sein Plan, mit ihm nach Frankreich zu gehen, war jedenfalls vollkommen absurd.

Genervt rollte sie sich in ihrem Bett zu einer Kugel zusammen und zog sich das Kissen über den Kopf. Schlaf, dachte sie verzweifelt. Morgen wird ein langer Tag mit einer schlecht gelaunten Chloe.

Die Reaktion ihrer Freundin war durchaus verständlich. Anders als Lea hatte Chloe keine liebevollen Eltern mehr, die sie jederzeit auffangen konnten. Sie war Vollwaise, seit sie neunzehn war. Lea konnte sich kaum vorstellen, wie sie ohne die Rückendeckung ihrer Familie zurechtgekommen war. Kein Wunder, dass Chloe so nervös war. Sie fühlte sich in ihrer Lebensgrundlage bedroht.

Der Gedanke machte Lea noch kribbeliger. Sie hielt es im Bett nicht länger aus. Also stand sie auf und zog sich an. Ein nächtlicher Spaziergang am Strand würde ihr guttun. Das Meer beruhigte sie. Es erdete sie. Vielleicht konnte sie dann klarer sehen.

Sie zog sich rasch ihr Lieblingskleid über, nahm eine lockere Strickjacke von der Garderobe und verließ die Wohnung. Das Tapsen ihrer Flip-Flops hallte leise über den Flur. Ihre Nachbarn waren ruhige, freundliche Leute, die sie nur selten zu Gesicht bekam. Sie mochte ihre Dachgeschosswohnung, obwohl sie sehr klein war. Dennoch war das Apartment nie zu ihrem Zuhause geworden. In manchen Momenten fühlte Lea sich einfach einsam dort. Wenigstens wohnte sie direkt am Meer.

Wie immer wehte draußen ein scharfer Wind. Lea registrierte ihn mittlerweile kaum noch. Sie huschte über die Hauptstraße und atmete tief den Duft der Filao-Bäume ein, die den Küstenstreifen säumten. Kurz darauf erreichte sie den Strand, und ihre Füße sanken in den weichen Sand. Rasch zog sie sich die Schuhe aus und genoss das Gefühl. Sofort wurde sie ruhiger. Es gab für alles eine Lösung. Auch für dieses Drama.

Sie war nicht die Einzige, die um kurz nach Mitternacht noch unterwegs war. Im hellen Mondschein erkannte sie ein Liebespaar, das eng umschlungen am Meer saß und auf die schäumenden Wellen schaute. Das leise Kichern der Frau stimmte Lea traurig.

Wie gern hätte auch sie jemanden zum Anlehnen. Um gemeinsam zu lachen. Die Ruhe zu genießen. Aufs Meer zu blicken. Leider musste sie der unrühmlichen Wahrheit ins Auge blicken: Sie war vermutlich die einzige Hochzeitsplanerin dieser Welt, die kein Glück mit der Liebe hatte. Ihr letzter Freund war ein Choleriker gewesen. Ein falsches Wort, schon hatte der eigentlich romantische Abend in einem Streit geendet. Bei ihm hatte sie auch nie ein Prickeln gespürt. Kein Knistern. Vielleicht war ihr das einfach nicht vergönnt.

Die wahre Liebe. Allmählich hatte Lea den Eindruck, dass sie ihrer nicht würdig war. Ärgerlicherweise musste sie ausgerechnet jetzt an Noah Chevalier denken. Natürlich, er sah gut aus und wirkte trotz oder gerade wegen seiner düsteren Aura beinahe so anziehend wie zu der Zeit, als er vor freudiger Energie gesprüht hatte. Er war ein anderer Mann geworden. Ein attraktiver Mann. Noch attraktiver als zuvor …

Vergiss das lieber schnell wieder, ermahnte Lea sich streng. Es war ihr wohlbehütetes Geheimnis, dass sie während der Hochzeitsvorbereitungen ein wenig für Noah geschwärmt hatte. Wenn Chloe jemals davon erfuhr, würde sie ausflippen. Zu Recht.

Auch jetzt war es unpassend, überhaupt an ihn zu denken. Sie musste ihn sich für immer aus dem Kopf schlagen. Seltsamerweise sah sie Noah neuerdings überall, beziehungsweise bildete sie es sich ein. Wenn ihr ein Mann auf der Straße oder im Supermarkt begegnete, der eine ähnliche Frisur wie er trug. Genau wie der Mann, der jetzt gerade einsam am Strand entlanglief.

Lea blieb abrupt stehen. Schaute noch einmal genauer hin. Das konnte nicht sein! Oder … doch? Er hatte eine ähnliche Statur und eine ähnliche Körperhaltung. Fast instinktiv ging Lea auf ihn zu. In dieser Sekunde blickte der Fremde auf und bemerkte sie. Er hob leicht die Hand. Kein Zweifel.

Er war es tatsächlich. Noah. Am liebsten wäre Lea umgedreht und in die entgegengesetzte Richtung geflohen, doch das wäre unhöflich gewesen. Und albern. Außerdem kam Noah ihr bereits ein paar Schritte entgegen. Genau wie sie wirkte er hin- und hergerissen.

„Miss Jameson. Was für eine Überraschung“, begrüßte er sie mit ruhiger Stimme. Er kam noch näher, blieb kurz vor ihr stehen und sah sie einen Moment lang an. „Ich versichere Ihnen: Dieses Treffen ist reiner Zufall. Ich habe Sie hier nicht zu nächtlicher Stunde abgepasst, um doch noch einmal mit Ihnen zu sprechen. Anscheinend hatten wir nur dieselbe Idee.“

Eigentlich hätte Lea schnellstmöglich den Rückzug antreten müssen. So hatte sie es Chloe schließlich versprochen. Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Freundin: Ich habe beim letzten Mal zu dir gehalten. Weil du meine beste Freundin bist. Meine kleine Familie. Aber noch mal darfst du mir das nicht antun.

Abrupt drehte sie um und ging jetzt doch in die entgegengesetzte Richtung. Ein, zwei Schritte schaffte sie. Dann hörte sie Noahs Stimme hinter sich.

„Bitte, Lea! Laufen Sie nicht weg. Lassen Sie uns einfach noch mal miteinander reden. Vielleicht finden wir eine Lösung.“

Sie wollte weitergehen, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. Also blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. „Ich wüsste nicht, was wir bereden sollten“, sagte sie.

Er stand noch immer an der gleichen Stelle und starrte sie an. „Es gibt eine neue Entwicklung, die Sie interessieren dürfte. Geben Sie mir fünf Minuten, Ihnen alles zu erklären. Wenn Sie dann gehen möchten, können Sie das gerne tun. Wir werden niemals wieder miteinander sprechen. Das garantiere ich.“

Noch nie im Leben hatte sich Lea so zerrissen gefühlt. Was sollte sie tun? Wenn sie jetzt zu Noah ging, verriet sie Chloe. Schon wieder. Aber wenn sie ihn dort stehen ließ, würde sie sich immer fragen, was er ihr hatte sagen wollen.

Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie sie aussah. Sie trug nur ihr leichtes Sommerkleid und die weite Strickjacke. Kein Outfit, um ein derart ernstes Gespräch zu führen. Sie fühlte sich unwohl und zog die Strickjacke enger um sich. Noah schien ihr Aussehen überhaupt nicht zu interessieren. Er blickte ihr weiter unverwandt in die Augen und wirkte dabei gehetzt.

Was war hier los?

„Wollen wir ein Stück zusammen am Strand entlanggehen?“, fragte er unvermittelt und machte eine einladende Handbewegung Richtung Meer. „Im Gehen lässt es sich oft besser sprechen.“

Lea nickte schweigend. Seite an Seite schlenderten sie durch den Sand. Dabei warf sie ihm immer wieder kurze Blicke zu. Er wirkte angespannt. Noch angespannter als bei ihrer letzten Begegnung. Falls das überhaupt möglich war.

„Was ist los?“, fragte sie. Ihr Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich. Sie ahnte, dass ihr die Antwort nicht gefallen würde.

Noah atmete tief ein. „Ich habe den Verdacht, dass meine Mutter hinter der Intrige stecken könnte“, sagte er leise.

Damit hatte Lea ganz bestimmt nicht gerechnet. Sie sah ihn überrascht an. Dann schüttelte sie vehement den Kopf. „Ich kenne Ihre Mutter. Ihre Stimme ist viel tiefer als die der Frau, nach der wir suchen. Glauben Sie mir, Ihre Mutter ist es nicht.“

Noah wirkte erleichtert, wenn auch nicht ganz überzeugt. „Sind Sie sicher?“

„Ja. Wie kommen Sie denn auf diese Idee? Ihre Mutter liebt Sie über alles. Das habe ich während der Hochzeitsvorbereitungen ganz deutlich gesehen. Sie würde Ihnen so etwas doch niemals antun.“

Noah seufzte. „Meine Mutter liebt mich, das stimmt. Aber gerade weil sie mich liebt, ist ihr solch eine Aktion zuzutrauen. Sie hasst die Vorstellung, dass ich weiter in unserem Familienunternehmen arbeiten muss. Es könnte also sein, dass sie einen Plan ausgeheckt hat, um mich bloßzustellen. Damit ich nicht länger in der Pflicht bin, den Verlag zu führen.“

„Aber warum will sie Sie denn aus dem Familienunternehmen drängen?“ Lea war fassungslos. „Welche Mutter würde so etwas tun?“

„Wie ich schon sagte: aus Liebe. Mein Vater hat den Verlag groß gemacht. Die Arbeit hat ihm alles abverlangt. Von seiner Familie hat er nicht viel mitbekommen. Geburtstagsfeiern, Schulaufführungen, Weihnachten – all die besonderen Momente hat er verpasst. Immer gab es irgendein Problem, das nur er lösen konnte. Selbst die meisten unserer Urlaube musste er abbrechen, oder er hing die ganze Zeit nur am Telefon. Meine Mutter fand das schrecklich und hat ihn ständig ermahnt, dass ihn seine Arbeit irgendwann umbringen würde. Und genau das ist passiert. Er starb an einem Herzinfarkt. Mitten in einem besonders brisanten Meeting.“

Lea hätte niemals gedacht, dass sie Verständnis für Madame Chevalier aufbringen konnte. In diesem Fall fühlte sie jedoch mit ihr. „Und nach dem Tod Ihres Vaters haben Sie die Firma übernehmen müssen, nicht wahr?“

„Ja. Und mit einem Schlag hatte ich für nichts anderes mehr Zeit, und mein Privatleben lag völlig auf Eis. Ich musste meine Freunde ständig vertrösten. An eine Beziehung war nicht zu denken. Meine Mutter hatte so ein Leben nie für mich gewollt. Sie hat mich immer darin bestärkt, meinen eigenen Weg zu gehen. Dass ich ihn verlassen habe, fand sie schrecklich.“

„Was war denn Ihr eigener Weg?“

„Ich bin eigentlich Ingenieur für Luft- und Raumfahrttechnik. In meinem Studium habe ich einen speziellen Materialmix für die Leichtbauweise entwickelt. Der kam in der Flugzeugindustrie gut an. Mein neues Unternehmen ist daher ziemlich durchgestartet. Anders als die Arbeit im Familienunternehmen empfinde ich das aber nicht als Belastung. Es macht mir Spaß.“ Während er das erzählte, hatte er zu lächeln begonnen.

Lea war überrascht, wie befreit er mit einem Mal wirkte. Die Schwere, die auf seinen Schultern lastete, war verschwunden. Stattdessen stand da wieder der junge Mann, den sie vor der Hochzeit kennengelernt hatte. Der vor Energie sprühte und spielend leicht mit jedem ins Gespräch kam.

„Ich ahne, warum Ihre Mutter gegen Ihren Eintritt in die Verlagsbranche war. Ihre Leidenschaft für Ihre Arbeit ist offensichtlich. Aber warum wollen Sie dann unbedingt zurück ins Familienunternehmen? Ihnen scheint es jetzt doch viel besser zu gehen!“

„Ich kann unmöglich dabei zusehen, wie mein Erbe zugrunde gerichtet wird. Mein Vater hat sein ganzes Leben geschuftet, um den Verlag an die Spitze zu bringen. Er hat sogar mit seinem Leben dafür gezahlt. Wenn ich jetzt zulasse, dass die Firma untergeht, dann ist sein Tod sinnlos gewesen. Das tut mir in der Seele weh. Ich könnte damit nicht leben. Meine Mutter sieht das allerdings anders. Sie will verhindern, dass es mir wie Vater geht. Das Erbe ist ihr egal. Sie möchte nur, dass ich glücklich bin.“

„Dann hat sie auch niemals eine Intrige gegen Sie gesponnen.“ Lea sah ihn ernst an. „Noah“, sagte sie und sprach ihn damit zum ersten Mal mit seinem Vornamen an. Es fühlte sich richtig und falsch zugleich an. Aber er musste verstehen, was sie ihm sagen wollte. „So etwas würde sie Ihnen niemals antun.“

Er schüttelte den Kopf und blieb stehen. Diesmal drehte er sich Richtung Meer und starrte auf die Wellen. „Das habe ich bis vor Kurzem auch gedacht, doch dann habe ich erfahren, was sie Ihnen angetan hat. Seitdem sehe ich sie mit anderen Augen. Sie scheut vor nichts zurück, um ihre Lieben zu beschützen. Vielleicht war die Sache von Anfang an ihr Plan. Sie hat eine Heiratsschwindlerin bezahlt, damit ich meinen Vorstandsposten verliere.“

„Ganz bestimmt nicht.“ Lea kannte Michelle Chevalier zwar nicht gut, aber dessen war sie sich absolut sicher. „Eine Mutter will stets das Beste für ihren Sohn. Ihn vor allen bloßzustellen, gehört ganz sicher nicht dazu. Es muss jemand anderes sein!“

Noah drehte sich abrupt zu ihr um. „Dann hilf mir herauszufinden, wer es ist“, sagte er eindringlich. Die vertrauliche Anrede ließ seine Bitte noch verzweifelter wirken. Noch eindringlicher. Instinktiv trat Lea einen Schritt zurück, um einen größeren Abstand zwischen sich und ihn zu bringen.

Wieder fühlte sie sich unwohl. Sie wollte ihm gerne helfen und gleichzeitig am liebsten wegrennen. Dieser Mann verkörperte alles, was sie in den letzten Monaten gefürchtet hatte – die Familie Chevalier.

Noah wartete, bis er wieder ihre volle Aufmerksamkeit hatte. Dann trat er einen kleinen Schritt auf sie zu. „Du bist die Einzige, die mir helfen kann. Ich verspreche dir, dass es dir auch etwas bringen wird. Wenn ich wieder erfolgreich bin, hat mein Wort mehr Gewicht. Ich werde dir so viele Klienten besorgen, dass du dich vor Arbeit gar nicht retten kannst.“

Lea starrte ihn an. Seine Worte waren so verlockend. Sie klangen so logisch. Doch Chloe würde ausrasten. Sie würde niemals verstehen, warum Lea solch einen Schritt wagte. Der Bruch zwischen ihnen könnte so groß sein, dass er unüberbrückbar wurde. Wollte sie das riskieren?

Noah registrierte ihre Zerrissenheit. Er trat dicht an sie heran und legte seine Hand auf ihren Arm. Nur ganz leicht, doch es reichte. Die Berührung ging ihr durch Mark und Bein. Erschütterte sie zutiefst. Ein Kribbeln breitete sich von der Stelle aus. So heftig, so brennend. So unerwartet.

Erschrocken machte Lea sich los, sprang regelrecht zurück. „Ich kann nicht und will es gleichzeitig. Dein Plan könnte uns retten“, flüsterte sie, „aber ich habe Angst. Angst vor deiner Mutter, Angst vor Chloe, Angst vor der Zukunft.“

„Ich beschütze dich.“

„So wie direkt nach der Hochzeit? Da hätte ich dich als Beschützer gebraucht. Jetzt ist es zu spät dafür. Mein Ruf ist bereits ruiniert.“

„Damals war ich völlig durcheinander. Nicht ich selbst. Diesmal sehe ich jedoch klar und habe ein Ziel. Lass uns diese Sache aus der Welt schaffen. Wenn wir es nicht tun, wird es uns ein Leben lang verfolgen. Willst du das etwa?“

Nein. Das wollte sie nicht. Allerdings wollte sie auch auf keinen Fall einen Bruch mit Chloe riskieren. Das ging einfach nicht. Sie war ihre Familie. Und Lea hatte sie schon einmal verraten.

„Es tut mir leid“, sagte sie leise. „Ich kann dir wirklich nicht helfen. Du musst die Frau ohne mich finden. Bitte lass mich in Ruhe. Flieg am besten schon morgen zurück. Das ist wirklich das Einzige, das wir noch füreinander tun können. Dass wir uns niemals wiedersehen.“

Er war zu weit gegangen. Das wusste er mittlerweile. Wann immer er an das Gespräch mit Lea in der vergangenen Nacht am Strand dachte, ärgerte Noah sich über sich selbst. Wieso nur hatte er sie dermaßen in die Enge gedrängt? Sie war regelrecht vor ihm geflohen!

Die Art und Weise, wie sie ihn angesehen hatte, hatte ihm zugesetzt. Es beschäftigte ihn mehr, als es sollte. Eigentlich konnte ihm doch egal sein, was sie dachte oder fühlte! Mit den Frauen hatte er abgeschlossen. Er wollte sich niemals wieder verlieben. Niemals wieder sein Herz riskieren. Stattdessen ging es hier ums Geschäft. Er musste einzig und allein sein Unternehmen retten.

Warum kreisten seine Gedanken nur trotzdem ständig um Lea?

Um einen freien Kopf zu bekommen, hatte er sein Vorhaben in die Tat umgesetzt und war wandern gegangen. Vielleicht fiel ihm dabei ja noch ein, wie er die Situation retten konnte. Und – das war das Wichtigste von allem – vielleicht bekam er Leas traurige Augen endlich aus dem Sinn.

Es kann dir egal sein, was mit ihr geschieht, dachte er genervt. Doch er wusste, dass er sich selbst belog. Es war ihm nicht egal. Er wollte Lea wirklich gerne helfen, aber ohne ihr Zutun würde das schwierig werden.

Frustriert über sich selbst schüttelte er den Kopf und konzentrierte sich lieber wieder auf die wunderschöne Umgebung. Er war zum Wandern in den Black River Gorges National Park gefahren. Im Südwesten von Mauritius gab es einen der seltensten Regenwälder der Welt.

Er folgte dem etwa zehn Kilometer langen Parakeet Trail, um zu dem eindrucksvollen Wasserfall in Plaine Champagne zu gelangen. Die Strecke brachte ihn ordentlich ins Schwitzen, denn es ging steil bergauf. Der Tropenwald und die Tierwelt um ihn herum entschädigten ihn jedoch für diese Anstrengung.

Er hatte bereits einen mauretanischen Flughund gesehen und mehrere der seltenen Mauritiusfalken. Seltsamerweise hatte ihn dieser Anblick nicht so glücklich gemacht wie sonst. Er fühlte sich einsam, was er nur ungern zugab.

Du bist allein besser dran, ermahnte er sich. Das war seit der Trennung von Tessa sein neues Mantra. Von Frauen hatte er den größtmöglichen Abstand gehalten. Er wollte sich niemals wieder verlieben und erst recht niemals wieder heiraten. Mit dem Thema war er durch.

Leider ignorierte sein Herz diese Grundeinstellung. Es fühlte sich noch immer gebrochen an und heilte nur langsam. Sobald es schmerzte, sagte es ihm deutlich, wie einsam er sich wirklich fühlte.

Er hatte sich so sehr auf eine Familie gefreut. Auf gemeinsame Abende vor dem Kamin. Auf Urlaube mit ihren Kindern. Auf Familienfeste. Stattdessen wanderte er allein über die Trauminsel Mauritius und bemühte sich, nicht an Lea Jameson zu denken. Warum er sie einfach nicht vergessen konnte, war ihm ein Rätsel. Vermutlich hing es damit zusammen, dass sie in die ganze Tessa-Angelegenheit verstrickt war.

Als der Klingelton seines Handys ertönte, zuckte er zusammen. Er brauchte einen Moment, um es in den vielen Taschen seiner Jacke zu finden. In diesem Bereich der Insel regnete es häufiger. Daher war er wärmer angezogen als sonst.

Die Nummer auf dem Display war ihm unbekannt. Aber es musste wichtig sein. Der Anruf kam aus Frankreich.

„Noah Chevalier“, meldete er sich.

„Noah? Hier ist deine Tante Aurelie. Gott sei Dank gehst du endlich ans Telefon. Wir versuchen schon den ganzen Morgen dich zu erreichen.“

Sofort erfasste ihn ein mulmiges Gefühl. Seine Tante rief ihn nie an. Höchstens zu Weihnachten. Wenn sie etwas zu besprechen hatten, dann lief das meist über seinen Onkel Gernot. „Was ist los?“, fragte er alarmiert.

„Du musst sofort nach Hause kommen. Deine Mutter hatte einen Herzinfarkt und liegt im Krankenhaus in Avignon. Etwas muss sie gestern Abend furchtbar aufgeregt haben. Sie rief mich an, um mir von diesem Telefonat zu erzählen, und plötzlich ist sie in Ohnmacht gefallen. Oh, Noah! Das ist alles so schrecklich. Die Presse hat davon auch schon Wind bekommen. Ich weiß nicht, woher. Du musst sofort heimkommen!“

Noah fühlte sich, als habe man ihm in den Magen geboxt. Während er durch tropische Wälder wanderte und Lea Jameson vergessen wollte, rang seine Mutter mit dem Tod. „Ich komme, so schnell es geht“, sagte er. „Aber ich bin mitten auf einer Wandertour auf Mauritius und muss erst mal zum Flughafen gelangen.“

„Was machst du denn auf Mauritius?“ Seine Tante Aurelie klang entsetzt.

„Das ist eine lange Geschichte. Ich muss jetzt auflegen und melde mich, sobald ich weiß, wann der Flieger in Frankreich landet.“ Damit beendete er das Gespräch einfach und zog hastig seine Wanderkarte hervor. Das sah nicht gut aus. Er war tief im Naturschutzgebiet. Es gab eine Straße nicht weit von seinem Standort entfernt. Sein Auto hatte er jedoch am anderen Ende des Reservats abgestellt. Ursprünglich hatte er dem Rundwanderweg folgen wollen. Wenn er umdrehte, würde das aber zu lange dauern. Er spürte mit einem Mal, wie dringend er nach Frankreich musste.

Wenn seine Mutter starb, ohne dass er sich mit ihr ausgesprochen hatte, würde er sich das niemals verzeihen.

Leider kannte er auf Mauritius nur eine einzige Person. Lea Jameson. Ob die ihm helfen würde, war fraglich. Sie schuldete seiner Familie nichts. Im Gegenteil. Sie waren ihr eher noch etwas schuldig. Doch er hatte keine Wahl und wählte die Nummer der „Love Inc.“-Agentur. Dabei betete er, dass nicht ausgerechnet Chloe ranging.

Er hatte Glück. Lea nahm ab, und sein Herz machte einen seltsamen Hüpfer beim Klang ihres Namens. Verärgert über diese merkwürdige Reaktion runzelte er die Stirn, vergaß dann aber den Gedanken. Es gab jetzt Wichtigeres, auf das er sich konzentrieren musste!

„Lea, bitte leg nicht auf! Ich bin es. Noah Chevalier. Ich brauche ganz dringend deine Hilfe, und diesmal geht es um Leben oder Tod.“

4. KAPITEL

Lea musste verrückt geworden sein. Genau. Das war die einzige Erklärung, warum sie sich nach Noahs Anruf direkt ins Auto gesetzt hatte und zu ihm fuhr. Chloe hatte zu allem Unglück mit im Büro gesessen und alles mitbekommen. Sie war natürlich dagegen gewesen, dass sie zu Noah eilte.

Lea war dennoch ins Auto gestiegen. Wenn ihre Mutter im Krankenhaus gelegen hätte, wäre sie froh um jede Hilfe gewesen. Sie konnte also gar nicht anders! Angesichts dieser Situation traten ihre persönlichen Probleme mit der Familie Chevalier in den Hintergrund.

Sie sah Noah bereits am Straßenrand stehen. Er trug feste Wanderschuhe und eine Regenjacke. Gerade telefonierte er, legte jedoch sofort auf, sobald er sie hinterm Steuer des Wagens erkannt hatte.

Bei seinem Anblick wurde Lea nervös, und ein seltsames Kribbeln erfasste ihren gesamten Körper. Sie bemühte sich, es niederzuringen. Doch das gelang ihr nur unzureichend. Noah Chevalier hatte etwas unbestreitbar Anziehendes an sich. Das lag nicht nur daran, dass er gut aussah. Nein. Er besaß eine geheimnisvolle, faszinierende Ausstrahlung.

Er öffnete die Beifahrertür und setzte sich. Seinen Rucksack nahm er auf den Schoß. „Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll“, sagte er.

„Schon gut. Wohin soll ich dich bringen?“ Lea war die ganze Situation unangenehm. Sie wirkte so surreal.

„Zum Flughafen bitte. Ich hab nachgesehen. Von hier aus brauchen wir etwa eine Stunde. Mein Flug geht in zwei Stunden. Das wird knapp, ist aber zu schaffen.“

Sie nickte lediglich und wendete den Wagen auf der schmalen Straße. Eigentlich durfte man hier gar nicht langfahren, immerhin befanden sie sich mitten im Naturschutzgebiet. Doch in diesem Fall mussten sie wohl eine Ausnahme machen und hoffen, dass sie niemand erwischte. Zum Glück war ihr kleiner Wagen robust und wendig.

„Wie geht es deiner Mutter?“, fragte Lea.

„Sie liegt noch auf der Intensivstation, scheint aber momentan stabil zu sein. Am Nachmittag wird sie operiert. Die Ärzte müssen das Risiko eingehen.“ Noah sah sie von der Seite an.

Das Kribbeln auf ihrer Haut verstärkte sich unter seinem Blick. Sie kämpfte dagegen an, doch plötzlich schien die Luft im Wagen aufgeladen zu sein. Elektrisierend. Du bist albern, schalt sich Lea. Das bildest du dir nur ein.

„Ich konnte noch nicht mit ihr sprechen“, sagte Noah leise. „Was schrecklich ist. Denn ich fürchte, ich bin schuld an ihrem Herzinfarkt.“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Ich habe ihr Vorwürfe gemacht. Weil sie so schlimme Gerüchte über dich in die Welt gesetzt hat. Es war ein hässliches Gespräch, wir waren beide sehr aufgewühlt. Danach hatte sie den Herzinfarkt. Ich hätte sie niemals derart aufregen dürfen.“ Noah seufzte tief. „Die Sache mit Tessa hat nicht nur dein und mein Leben ruiniert, sie hat jetzt sogar meine Mutter in Lebensgefahr gebracht. Sie schwebt wie ein Damoklesschwert über allem.“

„Du kannst nichts für die Entwicklung der Dinge“, protestierte Lea sanft. „Du bist genauso ein Opfer wie wir alle. Gib dir nicht die Schuld. Möglicherweise ist es auch an der Zeit, die Sache ruhen zu lassen. Hör auf, nach ihr zu suchen. Das macht alles nur noch schlimmer.“

Lea musste sich zusammenreißen, um nicht zu Noah zu sehen. Zu gerne hätte sie ihm jetzt in die Augen geschaut. Seine Reaktion beobachtet. Sie meinte jedes Wort so, wie sie es gesagt hatte. Und dennoch verstand ein Teil von ihr auch seinen Drang, alles aufklären zu wollen. Sie stand selbst zwischen den Stühlen. Einerseits wollte sie ihren Namen unbedingt reinwaschen. Andererseits wollte sie niemals wieder an den Skandal erinnert werden. Die Frage war, was besser für alle Beteiligten war.

„Vielleicht hast du recht“, sagte Noah nach einer Weile. „Möglicherweise hat mein Besuch auf Mauritius alles nur noch mehr aufgewühlt. Aber wie soll ich mein Unternehmen retten, wenn ich das Rätsel nicht löse?“

„Kannst du nicht noch mal mit deinem Onkel sprechen? Wegen der Investition?“

„Das habe ich schon mehrfach versucht. Er hört einfach nicht auf mich.“ Noah seufzte leise. „Doch ein Problem nach dem anderen. Jetzt muss ich mich erst einmal um meine Mutter kümmern. Danach überlege ich mir, was ich wegen der unbekannten Frau, mit der Tessa vor der Hochzeit gesprochen hat, unternehmen werde.“

Lea biss sich auf die Lippen, um nichts Falsches zu sagen. Sie wusste, dass sie nicht mit Noah nach Frankreich fliegen konnte. Das wäre Wahnsinn. Ein verrückter Plan. Doch ein winzig kleiner Teil von ihr wollte mit ihm gehen. Auch sie wollte das Rätsel lösen. Ihr Image retten. Der Welt zeigen, dass sie sich nicht geirrt hatte.

Und sie wollte Noah helfen. Das Gefühl war neu und fremd. Es wäre besser für sie, wenn sie ihn weiterhin als Teil der Familie Chevalier verachten könnte. Doch das ging nicht. Dafür war er viel zu nett und freundlich.

Unter anderen Umständen hätte sie ihn sehr gemocht. Im Moment taten sich jedoch zwischen ihnen Abgründe auf. So unüberbrückbar, dass ihr ganz schwindelig wurde. Sie sollte froh sein, wenn Noah mit dem nächsten Flieger aus ihrem Leben verschwand.

Warum war sie dann so niedergeschlagen? Sie brauchte eine Weile, um das Gefühl zu identifizieren. Sie war traurig. Ohne dass sie es gewollt hatte, war ihr Noah Chevalier wichtig geworden. Gefährlich wichtig.

Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Es war eine seltsame Stille. Nicht unangenehm, aber auch nicht entspannt. Lea war froh, als sie endlich am Flughafen angekommen waren. Noah stieg aus und beugte sich vor, um noch einmal mit ihr zu sprechen.

„Ich danke dir. Dass du mir geholfen hast, bedeutet mir viel. Und es tut mir leid. Sehr leid. Ich wünschte, wir könnten glücklicher auseinandergehen.“

„Mir tut es auch leid. Leb wohl, Noah!“

Autor

Susan Stephens
<p>Das erste Buch der britischen Schriftstellerin Susan Stephens erschien im Jahr 2002. Insgesamt wurden bisher 30 Bücher veröffentlicht, viele gehören zu einer Serie wie beispielsweise “Latin Lovers” oder “Foreign Affairs”. Als Kind las Susan Stephens gern die Märchen der Gebrüder Grimm. Ihr Studium beendete die Autorin mit einem MA in...
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