Romana Gold Band 35

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  • Erscheinungstag 14.10.2016
  • Bandnummer 35
  • ISBN / Artikelnummer 9783733743628
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Penny Jordan, Margaret Barker, Rosalie Ash

ROMANA GOLD BAND 35

1. KAPITEL

Sienna erhaschte einen Blick auf ihn, als er an ihrem Büro vorbeiging, und obwohl sie durch die Milchglasscheibe nur seine Silhouette erahnen konnte, war ihr Interesse sofort geweckt. Sie drehte sich etwas mit ihrem Schreibtischstuhl und öffnete eine Schublade, sodass sie mit dem Gesicht zur Tür sitzen würde, sollte er sich entschließen hereinzukommen. Er blieb einen Moment draußen stehen, vermutlich, um das Türschild zu lesen, und Gillian, der die Agentur gehörte, flüsterte Sienna zu: „Hoffentlich!“

Ihr Wunsch wurde erhört. Die Tür wurde geöffnet, und Sienna blickte in das markante Gesicht eines aufregend attraktiven Mannes. Er ließ den Blick seiner grauen Augen kurz in ihre Richtung schweifen und registrierte amüsiert ihren gebannten Gesichtsausdruck, ehe er sich an Gillian wandte.

„Miss Forbes?“

Gillian nickte und bedeutete ihm mit einem strahlenden Lächeln, in dem Sessel gegenüber ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen. Sienna nutzte den Moment, bevor er sich setzte, um unbeobachtet seine ansehnliche, breitschultrige Figur zu bewundern, die der dunkle maßgeschneiderte Anzug wirkungsvoll zur Geltung brachte.

„Ihre Agentur ist mir empfohlen worden.“ Der Besucher zog eine Visitenkarte hervor und reichte sie Gillian. „Ich bin geschäftlich in London. Leider musste meine Sekretärin nach New York zurück, weil ihre Mutter erkrankt ist. Da ich meine geplanten Geschäftsbesprechungen nicht absagen kann, hoffe ich, dass Sie mir qualifizierten Ersatz besorgen können. Wie ich gehört habe, ist Ihre Agentur auf die Zeitvermittlung von mehrsprachigen Sekretärinnen mit ausgezeichneten Kenntnissen in der Textverarbeitung spezialisiert. Natürlich ist dies sehr kurzfristig, aber …“

Sienna wandte sich wieder ihrem Computer zu. Seit sechs Monaten arbeitete sie für Gillian. Davor hatte sie zu Hause für ihren Vater gearbeitet, seine Bücher übersetzt, für ihn recherchiert, seine Manuskripte getippt. Der Tod ihres Vaters hatte sie tief getroffen, wenngleich er nicht wirklich unerwartet gekommen war. Gerald King war schon über siebzig gewesen und hatte schon seit Jahren ein schwaches Herz gehabt. Ihr Bruder Rob hatte sie auf der Beerdigung zu Recht darauf hingewiesen, dass man für einen so schnellen, schmerzlosen Tod dankbar sein sollte.

Trotzdem vermisste sie ihren Vater immer noch. Seit ihrem Universitätsabschluss hatte sie mit ihm zusammengearbeitet und bei ihm in dem kleinen, verschlafenen Dorf in den Cotswolds gewohnt, wo sie auch aufgewachsen war. Ihr Vater war ein Experte für mittelalterliche Geschichte gewesen und hatte vor dem Ruhestand an der nahe gelegenen Universität gelehrt. Seine Bücher wurden in akademischen Kreisen geschätzt.

Ihr Vater hatte ihr genug hinterlassen. So hätte sie nach seinem Tod in dem kleinen Haus in Waterford-on-the-Hill, das sie und ihr Bruder gemeinsam geerbt hatten, bleiben können. Aber Rob hatte gemeint, dass sie mit Anfang zwanzig viel zu jung sei, um sich in dem verschlafenen Nest zu vergraben. Auf seinen Vorschlag hin hatte sie angefangen, für Gillians Agentur als Zeitarbeitskraft zu arbeiten. Insgeheim war sie überzeugt, dass Rob und Gillian sich liebten, obwohl beide es nicht zugeben wollten.

Rob war achtundzwanzig, vier Jahre älter als Sienna, und arbeitete als viel beschäftigter Auslandskorrespondent für eine große Tageszeitung. Sie standen sich sehr nahe, und obwohl ihr Bruder es nicht wahrhaben wollte, war er nach Siennas Ansicht ihrem Vater dem Wesen nach sehr ähnlich. Gerald King war ein Gentleman der alten Schule gewesen, vor allem in Bezug auf Taktgefühl und Empfindsamkeit im Umgang mit anderen Menschen, und Rob zeichnete sich ebenfalls dadurch aus, auch wenn er sich stets den Anschein eines hart gesottenen Reporters zu geben versuchte.

Erst gestern Abend hatte sie ihm bestätigt, wie richtig es von ihm gewesen sei, darauf zu bestehen, dass sie nach London gekommen war. Er war wieder einmal auf dem Sprung zu seiner nächsten Auslandsreise gewesen, und sie hatten sich nur kurz in seiner Wohnung getroffen, wo Sienna wohnte, bis sie etwas Eigenes gefunden haben würde.

Sienna schreckte aus ihren Tagträumen auf und stellte fest, dass zwei Leute sie ansahen: Gillian leicht verwundert, ihr Besucher deutlich amüsiert. In seine Belustigung mischte sich allerdings noch etwas ganz anderes, das bei Sienna ein heftiges Kribbeln hervorrief und ihr Herz schneller schlagen ließ. Noch nie hatte sie eine derart starke erotische Anziehung empfunden. Überwältigend und gefährlich.

„Mr. Stefanides braucht für die Dauer seines Aufenthalts in London eine Sekretärin mit umfassenden Fremdsprachenkenntnissen, Sienna“, wiederholte Gillian nun. „Ich habe ihm gerade erklärt, dass du im Moment als Einzige frei bist.“

„Sie wollen mich?“ In dem Moment, als es heraus war, wurde Sienna entsetzt bewusst, wie mehrdeutig es klingen musste.

„Wenn Sie meinen Wünschen entgegenkommen“, erwiderte er, wobei seine Augen in unmissverständlicher Weise aufleuchteten.

Siennas Herz pochte. Unwillkürlich spielte sie mit der Goldkette, die sie immer trug, und erstarrte, als Mr. Stefanides eine Hand ausstreckte, das goldene Medaillon an der Kette berührte und prüfend betrachtete. Sienna erschauerte, als er mit den Fingern dabei kurz ihre Haut streifte.

„Apollo, der Sonnengott. Haben Sie es in Griechenland gekauft?“

Es war eine harmlose, nahe liegende Frage, denn sicher brachten viele Touristen derartigen Schmuck als Andenken an ihre Ferien in Griechenland mit. Sienna schluckte, als er das Medaillon wieder losließ, und schüttelte den Kopf. „Nein, es war ein Geschenk“, antwortete sie heiser. „Mein Bruder hat es mir letztes Jahr mitgebracht.“

Mr. Stefanides stand auf und wich zurück. Sienna hatte plötzlich das seltsame Gefühl, als würde sie ein eisiger Hauch streifen, obwohl die Aprilsonne unverändert strahlend durch das Fenster hereinschien.

„Mr. Stefanides möchte, dass du ihn sofort begleitest“, sagte Gillian, wurde aber höflich unterbrochen.

„Nennen Sie mich bitte Alexis. Ich habe vorher noch kurz etwas zu erledigen, was aber nur wenige Minuten in Anspruch nehmen wird …“ Er sah prüfend auf seine goldene Armbanduhr, ein superflaches, exklusives Modell. Sienna folgte seiner Bewegung und richtete den Blick wie gebannt auf sein sonnengebräuntes Handgelenk. Mit einem Mal verspürte sie ein überwältigendes Verlangen, mehr von seinem zweifellos beeindruckenden Körper zu sehen. Um Himmels willen, was war nur in sie gefahren?

Fast hätte sie über ihre unerwartete Reaktion gelacht. Du liebe Güte, sie hätte es nie für möglich gehalten, ein derart heftiges sexuelles Verlangen für einen Mann zu empfinden, der ihr völlig fremd war! Es kribbelte ihr förmlich in den Fingern, ihn zu berühren und sich an ihn zu schmiegen. Ja, während sie seinen Ausführungen lauschte, zog sie ihn in Gedanken aus und schwelgte in seiner männlichen Schönheit!

Alexis Stefanides verabschiedete sich mit dem Vorschlag, sie in fünf Minuten abzuholen, und Sienna besaß gerade genug Geistesgegenwart, um ihr Einverständnis mit einem Nicken kundzutun. Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich matt und überwältigt in ihrem Sessel zurück.

„Wow!“ Gillian verdrehte lächelnd die Augen. „Das nenne ich einen Mann! Dir ist doch klar, wer er ist?“ Sie war zu aufgeregt, um Siennas Geistesabwesenheit zu registrieren. „Alexis Stefanides gehört der internationale Konzern Hellas Holidays! Mach deinen Job gut, Sienna, und die Zukunft meiner Agentur ist gesichert. Du hast doch gehört, wir sind ihm empfohlen worden. Stell dir vor, wir könnten ihn dazu bringen, uns an seine millionenschweren Freunde weiterzuempfehlen! Dann arbeitest du demnächst an Bord einer Luxusyacht, fliegst mal schnell zum Diktat nach Athen … He, du Träumerin“, tadelte sie sanft. „Wach auf! Wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken?“

Sienna errötete heftig. Wie hätte ihre Freundin und Chefin wohl reagiert, wenn sie ihr gestanden hätte, dass sie soeben davon geträumt hatte, mit Alexis Stefanides im Bett zu liegen? Sie hatte bislang noch keine ernsthafte Beziehung mit einem Mann gehabt und hätte sich nie träumen lassen, einmal derartige Sehnsüchte zu verspüren, wie sie dieser große, attraktive Grieche auf Anhieb in ihr geweckt hatte.

„Reiß dich zusammen. Er wird in wenigen Minuten wieder zurück sein und möchte, dass du ihn sofort ins Savoy begleitest, wo er anscheinend eine Suite bewohnt. Und er bezahlt gut. Der Auftrag kommt auch genau zum richtigen Zeitpunkt, denn ich hätte für den Rest der Woche nichts mehr für dich zu tun gehabt. Hoffentlich halten ihn seine Geschäfte wenigstens noch einige Tage in London fest“, meinte Gillian. „Wir könnten das Geld brauchen.“

Einige Tage mit Alexis Stefanides! Sienna erschauerte unwillkürlich. Ihre braunen Augen leuchteten erregt in ihrem schmalen Gesicht, das von schulterlangem blondem Haar umrahmt wurde, dem einzigen äußeren Vermächtnis ihrer skandinavischen Mutter. Ihr zierlicher Körper – sie war nur gut einen Meter sechzig groß – bebte sichtlich, während sie versuchte, ihre widerstreitenden Gefühle zu kontrollieren. Es war etwas mit ihr geschehen, das sie nie erwartet hätte: Sie hatte sich auf den ersten Blick verliebt.

Vergeblich versuchte sie, sich einzureden, dass sie völlig überzogen reagierte. Sie war kein Teenager mehr, sondern eine erwachsene Frau! Trotzdem, sie spürte gegen alle Vorsicht und Vernunft, dass dieses Gefühl, das sie so ungebeten übermannt hatte, unausweichlich und gewissermaßen vom Schicksal für sie vorherbestimmt gewesen war. Nemesis, durchzuckte es sie, und sie gab den hoffnungslosen Versuch auf, sich dagegen zu wehren. Zu verlockend war die Vorstellung, von Alexis Stefanides geküsst und geliebt zu werden. Sienna erschauerte allein bei der Erinnerung daran, wie er flüchtig ihre Haut berührt hatte. Sie, die sich bislang für keinen ihrer Verehrer hatte wirklich erwärmen können, wurde plötzlich von einer Leidenschaft verzehrt, die sie allen Stolz vergessen lassen würde, sollte Alexis nur andeuten, dass er sie wollte.

„Ist er verheiratet?“, fragte sie, ohne zu überlegen.

Gillian betrachtete sie nachdenklich. „Wo bist du denn mit deinen Gedanken gewesen? Liest du keine Zeitung?“ Sie seufzte, als sie Siennas Gesicht sah. „Nein, er ist nicht verheiratet. Aber, Darling, wenn du denkst, was ich glaube, dass du denkst … vergiss es! Er mag zwar wie ein griechischer Gott aussehen, ist aber leider nur allzu menschlich. Überdies steht er in dem Ruf, rücksichtslos und arrogant zu sein. Er gilt als Herzensbrecher, Sienna; aber wenn er einmal heiratet, wird es ziemlich sicher eine pflichtbewusste griechische Jungfrau sein.“ Sie hob abwehrend die Hände. „Schön, ich vermute, dass du zumindest in einem Punkt diesen Anforderungen gerecht wirst, und ich kann auch verstehen, dass er dich beeindruckt hat, aber du bist Robs Schwester und in manchen Dingen noch etwas naiv …“

„Ich bin vierundzwanzig, nur zwei Jahre jünger als du“, protestierte Sienna und verstummte, weil sie Alexis Stefanides zurückkommen sah. Rasch griff sie nach ihrem Mantel und ihrer Handtasche und bereitete sich innerlich darauf vor, sein höfliches Lächeln zu erwidern. Doch als Alexis die Tür öffnete, lächelte er nicht, sondern sah sie mit einem so unmissverständlichen, glühenden Verlangen an, dass ihr die Knie weich wurden. „Ich will dich“, sprach aus seinem Blick, und die Signale, die ihr Körper aussendete, bedeuteten ihm: „Ich will dich auch.“

„Sind Sie bereit?“ Alexis wandte sich nun lächelnd an Gillian. „Ich weiß nicht genau, wie lange ich in London sein werde, aber Sie können die Rechnung an diese Adresse schicken, wenn ich Sienna nicht mehr brauche.“ Er reichte ihr einen Zettel mit der Adresse und hielt die Tür auf, um Sienna den Vortritt zu lassen.

Sienna spürte seine Hand warm in ihrem Rücken durch den feinen Wollstoff ihres cremefarbenen Kostüms. Es gehörte zu der eleganten, geschäftsmäßigen Garderobe, die sie sich auf Robs Drängen hin für ihre Arbeit zugelegt hatte. Zu Hause hatte sie meist Pullover und dazu passende Röcke getragen. Genau wie ihre Mutter.

Kristal King war gestorben, als Sienna vierzehn gewesen war, und sie hatte ihre Mutter zuerst schrecklich vermisst. Zu der Zeit war sie allerdings schon im Internat gewesen und hatte mit der Zeit gelernt, mit diesem Verlust zu leben. Nun aber, als sie zusammen mit Alexis Stefanides in die strahlende Frühlingssonne hinaustrat, wünschte sie sich plötzlich sehr, ihre Mutter würde noch leben, denn sie sehnte sich nach einem Menschen, dem sie ihre völlig unerwarteten Gefühle hätte anvertrauen können.

Erging es allen Frauen so, die glaubten, ‚den Richtigen‘ getroffen zu haben, den Mann, der ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen könnte? Sienna jedenfalls war tief verwundert, eine derart unvermutete, leidenschaftliche Seite bei sich zu entdecken. Allein der Anblick von Alexis’ dichtem schwarzem Haar weckte in ihr den unbändigen Wunsch, es zu berühren und zwischen ihren Fingern zu spüren …

„Bitte, steigen Sie ein.“

Sienna schreckte aus ihren Tagträumen auf. Sie waren am Wagen angekommen, und Alexis hatte ihr die Beifahrertür geöffnet. Seine Stimme klang höflich unterkühlt, doch sein glühender Blick sprach eine ganz andere Sprache. Sienna fühlte ein Kribbeln in sich hochsteigen wie damals, an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, als sie zwei Gläser Champagner getrunken hatte. Wortlos folgte sie der Aufforderung und setzte sich in die Luxuslimousine, immer noch in dem unwirklichen Gefühl, dass alles nur ein Traum sein konnte.

Doch dieser Eindruck verflog sofort, als sich Alexis hinter das Steuer setzte und sich ihr mit einem Lächeln zuwandte, das ihr Herz schneller schlagen ließ. „Die Gurte funktionieren automatisch. Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“

Er nahm ihr die Gurtschnalle aus den bebenden Fingern und steckte sie mit geübter Hand in die Halterung. Dazu musste er sich halb über Sienna beugen. Sie fühlte die Wärme seines Körpers und blickte unverwandt in sein markantes Gesicht. Es war ihr so nahe, dass sie den männlich herben Duft seines After Shave einatmete, und sie konnte sich kaum zurückhalten, sein kraftvolles, energisches Kinn zu berühren.

Rein äußerlich besaß Alexis alle Attribute eines Mannes, der an Reichtum, Luxus und Macht gewöhnt war. Doch es war der Mann an sich, der Sienna anzog. Vermutlich gab es kaum eine Frau, die seiner erotischen Anziehungskraft hätte widerstehen können. Sienna verspürte plötzlich den heftigen Wunsch, alles über ihn zu erfahren. All die Jahre, die sie ihn nicht gekannt hatte, kamen ihr wie eine schreckliche Vergeudung vor.

Er zog die Hand zurück und richtete sich auf, wobei er versehentlich ihre Brüste streifte. Obwohl er sie nur ganz flüchtig berührte, fühlte Sienna sofort die unmissverständliche Reaktion ihres Körpers, und danach zu urteilen, wie Alexis erstarrte und den Atem anhielt, erging es ihm genauso. Er richtete den Blick auf die sanfte Rundung ihrer Brüste, bevor er ihn langsam zu ihrem Gesicht schweifen ließ. In seinen Augen leuchtete das gleiche verzehrende Verlangen, das Sienna in sich wachsen fühlte.

Sie wagte kaum zu atmen. Wenn Alexis es gewollt hätte, hätte sie sich ihm jetzt und auf der Stelle hingegeben! Wortlos wandte er sich ab, schnallte sich an, drehte den Zündschlüssel und fuhr los. In diesem Moment wusste Sienna, dass all ihre Gedanken und Empfindungen vom ersten Augenblick an wie ein offenes Buch für ihn gewesen sein mussten.

Angesichts dieser überwältigenden Erkenntnis hing sie schweigend ihren Gedanken nach, während Alexis den Wagen durch den dichten Mittagsverkehr von London lenkte. Insgeheim dankte sie dem Schicksal, das ihr diese berauschende Erfahrung ermöglicht hatte. War es nicht erstaunlich, von welchen Zufällen das Glück der Menschen manchmal abhing? Wenn Gillians Agentur Alexis nicht empfohlen worden wäre, wenn sie, Sienna, nicht zum richtigen Zeitpunkt verfügbar gewesen wäre …

„Da wären wir.“

Der kühle Klang von Alexis’ Stimme riss Sienna aus ihren Träumereien. Sie waren vor dem Savoy angekommen. Ein Türsteher öffnete den Wagenschlag, und sie stieg aus. Nachdem Alexis dem Mann ein großzügiges Trinkgeld in die Hand gedrückt hatte, führte er Sienna ins Foyer des Hotels und zu den Aufzügen.

Im Wohnraum der geräumigen Suite, die Alexis bewohnte, waren zwei Schreibtische aufgestellt und somit ein provisorisches Büro eingerichtet worden. Mit einem raschen Blick erfasste Sienna mehrere Telefone, Faxgeräte, Ablagekörbe und einen Computer samt Drucker. Diese Dinge waren ihr, abgesehen von dem luxuriösen Ambiente, vertraut und bereiteten ihr kein Kopfzerbrechen.

Anders als der Mann, mit dem sie hier zusammenarbeiten würde. Als Alexis ihr aus dem Mantel half und sein Atem warm ihren Nacken streifte, erschauerte sie unwillkürlich. Es erschreckte sie, dass sie, obwohl sie ihn doch erst so kurz kannte, in diesem Moment bereit war, sich umzudrehen und in seine Arme zu schmiegen. Die Frau in ihr drängte sie wider alle gesellschaftlichen Konventionen, allein auf das zu hören, was das Herz ihr riet.

Diesem Mann und ihm allein wollte sie gehören. Sienna war plötzlich sehr froh, dass es bis dahin noch keinen anderen in ihrem Leben gegeben hatte. Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie Alexis ihren Mantel an die Garderobe neben der Tür hängte.

Er wandte sich wieder um, nahm sie ganz selbstverständlich in die Arme und sah ihr tief in die Augen. Wie gebannt hielt Sienna seinem Blick stand. Sie machte keinen Versuch mehr zu verbergen, was sie für ihn empfand.

„Sag mir, dass es wahr ist, was ich in deinen schönen Augen lese. Sag mir, dass du noch nie für einen anderen Mann das gefühlt hast, was du für mich fühlst.“

Bevor sie etwas erwidern konnte, küsste Alexis sie auf den Mund. Sobald er spürte, wie sie sehnsüchtig seinem zunächst sachten Drängen nachgab, wurde sein Kuss leidenschaftlich und innig. Sienna war wie berauscht vor Glück. Mit geschlossenen Augen genoss sie es, wie Alexis nun ihre Lider, die Wangen, das zierliche Kinn mit zarten Küssen bedeckte. Als er ihr zärtlich das seidige Haar zurückstrich und die Zunge verführerisch über ihren schlanken Hals gleiten ließ, schmiegte sie sich hemmungslos an ihn.

Schließlich suchte er erneut ihren Mund, küsste sie leidenschaftlich und besitzergreifend. Sienna schob die Hände unter sein Sakko und genoss es, durch den feinen Stoff des Hemds seinen muskulösen Körper zu fühlen. Seine spürbare Anspannung und die Art, wie er sie an sich presste, verrieten deutlich, wie sehr er sie begehrte.

Sie wollte protestieren, als er sich von ihr löste und zurückwich. Doch er blickte lächelnd in ihr Gesicht, ließ sacht den Daumen über ihre sinnlichen Lippen gleiten, die er gerade so verlangend geküsst hatte, und flüsterte: „Es hat also begonnen …“

„Du … hast es auch gefühlt?“, fragte sie zögernd. Wie sollte sie in Worte fassen, was sie für ihn empfand? Noch vor zwei Stunden hatte sie nicht einmal von seiner Existenz gewusst, und nun … nun war sie so unsterblich in ihn verliebt, dass nichts anderes mehr wichtig schien.

„Ja, ich habe es auch gefühlt“, bestätigte er. „Gemeinsam werden wir die Welt aus den Angeln heben und die Zeit stillstehen lassen, meine kleine Unschuld. Wenn ich dich liebe und du schließlich ganz mir gehören wirst, werden wir zusammen ein Reich ungeahnter Lust erkunden. Noch hat kein anderer Mann dir gezeigt, was ich dir zeigen werde. Ich werde der Erste sein.“

Die Zuversicht, mit der er dies sagte, raubte ihr den Atem. Es war, als hätte er sie immer schon gekannt, als wüsste er alles über sie. „Und der Letzte“, fügte sie versonnen hinzu und wurde von einem überwältigenden Glücksgefühl erfasst, als sie das Aufleuchten in seinen Augen sah.

Alexis lachte leise. „Ja, du und ich, wir werden uns lieben“, versprach er. „Aber nicht heute, nicht sofort. Vorher wollen wir noch eine Weile die Vorfreude auskosten, und ich werde versuchen, mich damit zu begnügen, dich zu umwerben. Überdies ist einiges an Arbeit zu erledigen, denn ich brauche tatsächlich eine Sekretärin.“

Arbeit? Nach allem, was zwischen ihnen geschehen war? Sienna konnte es sich im ersten Moment gar nicht vorstellen, musste jedoch sehr rasch feststellen, dass Alexis es ernst meinte. Mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit wechselte er vom leidenschaftlichen Liebhaber zum Arbeitgeber und begann, in sachlichem, geschäftsmäßigem Ton die anstehende Korrespondenz zu diktieren. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, als ihre aufgewühlten Gefühle zu verdrängen, wenn sie seinem Tempo folgen wollte.

Im Lauf dieses arbeitsreichen Nachmittags bekam Sienna eine Ahnung von der Vielfältigkeit seiner geschäftlichen Interessen. Alexis war nicht nur Vorstandsvorsitzender von Hellas Holidays, sondern besaß auch beträchtliche Anteile an einer internationalen Fluggesellschaft, an Ferienvillen auf den griechischen Inseln, an Olivenplantagen und sogar einen Weinberg im Nappa Valley in Kalifornien. Letzterer war ein Erbe seiner Mutter, die offenbar halb italienischer, halb amerikanischer Abstammung gewesen war, was seine stattliche Körpergröße und die grauen Augen erklärte, die einen so faszinierenden Kontrast zu seinen klassisch-griechischen Gesichtszügen darstellten.

Sie arbeiteten ohne Unterbrechung bis sechs Uhr. Alexis diktierte in Englisch und bat Sienna, die erforderlichen Übersetzungen ins Französische und Deutsche am folgenden Morgen zu erledigen.

„Ich werde den größten Teil des Vormittags Besprechungen haben“, erklärte er und lächelte, als er ihren enttäuschten Gesichtsausdruck sah.

Für einen Moment meinte Sienna in der Art, wie er sie ansah, einen gewissen Zynismus, ja, eine Kälte zu entdecken, die ihr Angst machte. Doch sie verdrängte es sofort als Einbildung, als er aufstand, sie zu sich hochzog und zärtlich ihr Gesicht umfasste.

„Morgen muss ich arbeiten, aber uns bleibt der heutige Abend. Erlaubst du, dass ich dich zum Essen ausführe?“

Sie brachte kein Wort heraus, von sehnsüchtigen Hoffnungen überwältigt.

Alexis, der ihre Gedanken zu lesen schien, schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, heute Nacht werde ich noch nicht das Bett mit dir teilen. Aber die Nacht wird kommen, in naher Zukunft, sobald du bereit für mich bist.“

Ich bin jetzt schon bereit! wollte Sienna erwidern, ein wenig erschrocken über ihre ungewohnte Hemmungslosigkeit.

Doch Alexis schob sie sacht von sich fort und fragte höflich: „Ist dir halb neun recht? Ich lasse für neun einen Tisch reservieren. Aristoteles, mein Chauffeur, wird dich jetzt nach Hause fahren. Leider erwarte ich noch einen wichtigen Anruf aus New York, sonst würde ich dich begleiten. Wohnst du allein?“

Sienna wurde sich bewusst, dass dies die erste persönliche Frage war, die er ihr stellte. Angesichts der Macht ihrer Gefühle war ihr alles andere irgendwie unwichtig erschienen. „Nein, ich wohne bei meinem Bruder, aber er ist im Moment im Ausland. Als Journalist ist er häufig unterwegs. Unsere Eltern sind beide tot. Weißt du, ich habe für meinen Vater gearbeitet, bis er starb, und wusste nach seinem Tod nicht so recht, was ich anfangen sollte. Rob war so lieb, mich bei sich aufzunehmen.“

„Du stehst deinem Bruder sehr nahe?“

Sie glaubte, einen eisigen Unterton herauszuhören. War Alexis etwa eifersüchtig auf Rob? „Ja“, antwortete sie. „Jeder mag ihn. Er ist ein wundervoller Mensch, großherzig und rücksichtsvoll.“

„Und gibt es auch eine Frau im Leben dieses großherzigen und rücksichtsvollen Bruders?“

Der zynische Ton war nun wirklich unverkennbar. Sienna zögerte verunsichert. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie schließlich, denn es wäre ihr indiskret vorgekommen, ihre Vermutungen bezüglich Rob und Gillian mit einem Außenstehenden zu diskutieren.

„Er hat also dir gegenüber nie angedeutet, dass es vielleicht eine besondere Frau in seinem Leben gibt, dein bewundernswerter, angebeteter Bruder?“

Es muss Eifersucht sein, dachte Sienna. Welchen Grund sollte es sonst für diese Abneigung, ja Feindseligkeit geben, die in seinen Worten schwang? „Nein“, erwiderte sie entschieden.

„Du solltest jetzt besser gehen. Aristoteles wird schon auf dich warten“, brach Alexis das Gespräch unvermittelt ab.

Widerspruchslos ging Sienna zur Tür und nahm ihren Mantel und ihre Tasche. Später, beim Essen, würde sie genug Zeit haben, auch Alexis einige persönliche Fragen zu stellen.

„Ach, Sienna …“

„Ja?“ Erwartungsvoll drehte sie sich zu ihm um. Hatte er vielleicht doch seine Ansicht geändert und würde sie bitten zu bleiben? Sein zärtliches Lächeln weckte in ihr jedenfalls den Wunsch, sich sofort in seine Arme zu schmiegen.

„Zieh heute Abend etwas an, das mir mehr von deiner reizvollen Figur enthüllt als dieses Kostüm. Dann habe ich wenigstens etwas, wovon ich träumen kann, wenn ich heute Nacht einsam im Bett liege.“ Er schüttelte den Kopf, als er ihren sehnsüchtigen Blick sah. „Nein, Sienna, dies wird keine flüchtige Affäre, deshalb will ich nichts überstürzen. Wenn man gefunden hat, wovon man für den Rest seines Lebens zehren will, sollte man sich nicht mit unnötiger Gier darauf stürzen. Geh jetzt“, bat er sanft. „Bevor ich meine noblen Vorsätze vergesse und nur noch daran denke, wie sehr ich dich begehre.“

Während des ganzen Heimwegs schwebte Sienna wie auf Wolken. Alexis wollte sie nicht nur für den Augenblick, sondern für immer. Nichts anderes hatten seine Abschiedsworte bedeutet. Die unglaubliche Aussicht, seine Frau zu werden, die Mutter seiner Kinder, machte Sienna überglücklich.

2. KAPITEL

Während Sienna sich für das Abendessen mit Alexis zurechtmachte, kreisten ihre Gedanken unablässig um das, was in der kurzen Zeit, seit sie sich kennen gelernt hatten, schon zwischen ihnen passiert war. Alexis hatte sie wahrlich im Sturm erobert!

Seine Bitte im Ohr, sich für ihn besonders reizvoll anzuziehen, wählte sie aus ihrer kleinen Garderobe ein mattschwarzes hochgeschlossenes Jerseykleid, dessen Schnitt und lange, schmale Ärmel nur auf den ersten Blick darüber hinwegtäuschen konnten, wie aufreizend sich der weiche Stoff an die aufregend sinnlichen Rundungen ihres Körpers schmiegte.

Würde Alexis sie darin attraktiv finden? Es überraschte sie, wie sehr sie sich wünschte, in seinen Augen begehrenswert zu sein, denn bislang hatte sie meist bewusst darauf verzichtet, ihre weiblichen Reize zu betonen. Wie war es möglich, sich so schnell und so heftig zu verlieben? Es war eine atemberaubende Erfahrung, die ihr Angst machte. Und wenn Alexis nicht so deutlich zum Ausdruck gebracht hätte, dass er ihre Gefühle erwiderte, hätte sie sicher größtmöglichen Abstand gewahrt. Doch die Erinnerung an seine verheißungsvollen Abschiedsworte erfüllte sie mit warmer Zuversicht.

Pünktlich um halb neun stand Alexis in einem eleganten Abendanzug bei ihr vor der Tür, und sein Anblick überwältigte Sienna im ersten Moment so, dass sie ihn nur stumm anblickte.

„Dein Herz flattert wie ein verängstigter Vogel. Wovor hast du Angst? Doch nicht vor mir?“ Er nahm sie beim Handgelenk und tastete sacht nach ihrem hämmernden Puls.

Wie sollte sie ihm erklären, dass sie die Heftigkeit und Macht ihrer Gefühle tatsächlich ein wenig ängstigten, weil sie sich noch nie in ihrem Leben so verletzlich vorgekommen war? Gestern noch hatte sie nichts von seiner Existenz gewusst, und heute konnte sie sich das Leben nicht mehr ohne ihn vorstellen.

Alexis schien ihre Gedanken zu ahnen, denn er hob ihre Hand an seine Lippen und ließ den Blick verlangend über sie gleiten. „Es ist beängstigend. Mir geht es nicht anders“, tröstete er sie. „Die Erfahrung, in seinem Glück, ja, in seiner ganzen Existenz derart von einem anderen Menschen abhängig zu sein.“

„Und du hast das noch nie gefühlt?“, fragte Sienna ein wenig ungläubig. Sie wusste von ihm, dass er dreiunddreißig war, und Gillian hatte angedeutet, dass sein Name mit vielen schönen Frauen in Zusammenhang gebracht wurde.

„Ich habe noch für keine Frau das empfunden, was ich für dich empfinde.“ Es klang aufrichtig. Ein heißes Glücksgefühl durchflutete Sienna, und Alexis schüttelte sanft lächelnd den Kopf. „Ah, Sienna, du darfst mich nicht so ansehen. Wie kannst du mich so anschauen und trotzdem immer noch Jungfrau sein? Dein Blick verrät es mir: Du willst, dass ich dich liebe.“

„Ich will es“, flüsterte sie scheu, immer noch erstaunt, dass sie zu so einer überwältigenden Leidenschaft fähig war. „Und ich bin immer noch Jungfrau, weil ich noch nie zuvor einen Mann so angesehen habe. Ich habe noch nie einen Mann so geliebt wie dich …“

„Und du wirst nach mir keinen anderen so lieben. Ich werde deinem Herzen und deinem Körper meinen Stempel aufdrücken, sodass du mich nie vergessen wirst. Noch haben wir uns nicht geliebt, und doch weiß ich schon genau, wie du dich in meinen Armen anfühlen wirst, wie du meinen Namen seufzen und dich mir ganz hingeben wirst.“

Er beugte sich herab, fasste ihr sacht ins Haar und küsste sie innig, bis sie vor sehnsüchtigem Verlangen zitterte. Dann löste er sich von ihr und betrachtete sie lächelnd.

„So zurückhaltend und englisch“, flüsterte er, wobei er den Daumen über ihre bebenden Lippen gleiten ließ. „Aber ich verspreche dir, ich werde dich alle Zurückhaltung und höflichen Manieren vergessen lassen. In meinen Armen wirst du nur noch daran denken, dass du eine Frau bist.“ Sein glühender Blick ließ ihr Herz schneller schlagen. „Ich kann dir nicht versprechen, dass ich ein sanfter Liebhaber sein werde, Sienna, denn mein Verlangen nach dir lässt das kaum zu. Wenn du es dir anders überlegen und einen Rückzieher machen willst, tu es jetzt, solange ich noch in der Lage bin, dich gehen zu lassen.“

Sienna begriff, dass er ihre Angst spürte, sich ihm blindlings restlos auszuliefern, und er bot ihr die Möglichkeit zum Rückzug. Gerührt erwiderte sie scheu sein Lächeln, wobei ihr nicht bewusst war, wie verletzlich sie in diesem Moment wirkte. „Ich will keinen Rückzieher machen, Alexis“, sagte sie heiser. „Ich habe mich in dem Moment in dich verliebt, als du Gills Büro betreten hast.“

„Und was, wenn ich mich nicht auch in dich verliebt hätte?“

Sie schauderte sichtlich. „Ich weiß nicht …“ Sie war nicht der Typ Frau, der selbstbewusst genug war, um die Initiative zu ergreifen. Wenn sie durch das Verlangen in Alexis’ Blicken nicht ermutigt worden wäre, hätte sie ihre Gefühle wohl für immer in sich vergraben.

„Dein Schweigen ist Antwort genug“, sagte Alexis. „Ohne die Sicherheit, die dir das Eingeständnis meiner Liebe gegeben hat, hättest du dich nie dazu überwunden, mir deine Gefühle zu gestehen. Du hättest vorübergehend für mich als Sekretärin gearbeitet und deine Träume in dir verschlossen, stimmt’s?“

Erstaunt blickte Sienna ihn an. Genau so hätte sie reagiert! Wie gut er sie schon kannte!

„Mach nicht so ein bestürztes Gesicht.“ Alexis fasste ihr sacht unters Kinn und sah ihr in die Augen. „Von dem Moment an, als ich die Agentur betrat, wusste ich, wie es zwischen uns sein würde. Und gerade weil du das bist, was du bist, werde ich dich heute Abend nur auf der Tanzfläche in den Armen halten. Ich möchte, dass du bereitwillig zu mir kommst, Sienna“, flüsterte er. „Ja, nicht nur bereitwillig, sondern wissend, begehrend, so verrückt nach mir wie ich nach dir.“

Sienna hätte Alexis gern geantwortet, dass sie genau das für ihn empfand. Doch es gelang ihr noch nicht, ihre Scheu, die er so treffend erkannt hatte, zu überwinden.

Eine halbe Stunde später saßen sie an dem für sie reservierten Tisch in einem exklusiven Nachtclub, den Sienna bislang nur aus den Klatschspalten der Zeitungen kannte. Ihr Erscheinen an Alexis’ Seite hatte einiges Aufsehen erregt, wobei sich Sienna bewusst war, dass die interessierten und neugierigen Blicke der übrigen Gäste und vor allem der Frauen nicht ihr galten. Wie viele der Frauen, die hier mit anderen Männern am Tisch saßen, kannten Alexis persönlich? Und nicht nur hier in London, sondern überall auf der Welt, wo er geschäftliche Niederlassungen unterhielt? Ihre Eifersucht machte sie noch verletzlicher und ärgerte sie überdies. Immerhin war Alexis neun Jahre älter als sie, und seine Vergangenheit ging sie nichts an.

„Bedrückt dich etwas?“ Alexis beugte sich besorgt vor.

Sofort verdrängte Sienna ihre düsteren Gedanken und schüttelte lächelnd den Kopf. Als der Ober an ihrem Tisch erschien, bat sie Alexis, für sie mitzubestellen, denn das luxuriöse Ambiente des Lokals verunsicherte sie ein wenig. Die meisten der übrigen Frauen trugen kostbaren Schmuck und teure Modellkleider. Sienna war es nicht gewohnt, sich in diesen Kreisen zu bewegen.

Obwohl das Essen zweifellos köstlich war, aß sie mit wenig Appetit. Unentwegt kreisten ihre Gedanken um den atemberaubenden Mann, der ihr gegenübersaß. Immer wieder durchzuckte es sie heiß, wenn sie sich ausmalte, wie es sein würde, in seinen Armen zu liegen.

Alexis verstummte plötzlich mitten im Satz und sah sie fragend an. „Ist alles in Ordnung, Sienna?“

Sie schreckte aus ihren erotischen Tagträumen. „Ja“, antwortete sie heiser. „Es ist sehr warm hier, nicht wahr?“

„Tatsächlich?“ Seine Augen blitzten amüsiert. „Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Möchtest du tanzen?“

Sie blickte kurz zu der kleinen, gedämpft beleuchteten Tanzfläche und dann wieder in sein markantes Gesicht. Nach nichts sehnte sie sich mehr, als in seinen Armen zu sein. Ihr Blick musste sie verraten haben, denn Alexis atmete erregt ein und stellte sein Weinglas auf den Tisch.

„Ja, ich weiß“, sagte er mit gedämpfter Stimme. „Aber ich will dich nicht in gierigem Verlangen nehmen, auch wenn wir beide uns in diesem Moment nichts anderes wünschen. Und da ich dich auf der Tanzfläche nicht lieben kann, ist es dort für uns sicherer, als hier zu sitzen, wo ich in jedem deiner Blicke deine Wünsche lese und der Reaktion meines Körpers machtlos ausgeliefert bin.“

Alexis’ Behauptung, er könne sie auf der Tanzfläche nicht lieben, entsprach nicht ganz der Wahrheit, wie Sienna Minuten später feststellte. Eng umschlungen bewegten sie sich wie im Traum zu der langsamen, einschmeichelnden Musik. Sienna hatte eine Hand unter Alexis’ Sakko gleiten lassen und fühlte, wie sein Herz pochte. Er hielt sie fest in den Armen, streichelte ihr verführerisch den Rücken und hauchte ihr zarte Küsse auf die Schläfe.

„Ich spüre, wie du zitterst“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Hast du eine Ahnung, wie sehr das meine Leidenschaft entfacht?“ Wie zum Beweis presste er sie an sich, sodass sie seine Erregung fühlen konnte. „Nein, noch weißt du nicht, was du mir antust, welches Feuer, welches Verlangen du in mir entflammst, aber ich werde es dich lehren, Sienna.“

Lehre es mich jetzt! wollte sie ihn anflehen, doch die Musik wechselte zu einem schnelleren Tempo, und der erotische Zauber verflog. Noch ganz benommen ließ Sienna sich von Alexis zum Tisch zurückführen.

Später, als sie in Robs Wohnung allein im Bett lag, konnte sie sich nicht mehr erinnern, worüber sie und Alexis sich an diesem Abend noch unterhalten hatten. Ihre Gedanken kreisten darum, wie sehr Alexis sie begehrt hatte und dass er sich um ihretwillen die Erfüllung seiner Wünsche versagt hatte, weil er ihr Zeit lassen wollte. Doch ihr Verlangen stand seinem in nichts nach, wie sie sich ehrlich eingestand, während sie sich schlaflos von einer Seite auf die andere drehte. Nie hätte sie vermutet, dass eine derart leidenschaftliche, sinnliche Seite in ihr schlummerte. Es war eine überraschende Entdeckung, die sie immer noch ein wenig erschreckte, sodass sie sich angstvoll fragte, ob diese Seite nicht besser unentdeckt geblieben wäre.

Am Morgen waren die Ängste und Zweifel der Nacht vergessen. Sienna machte sich in aller Eile fertig, um so schnell wie möglich zu Alexis zu gelangen. Eine veränderte Sienna blickte ihr aus dem Spiegel entgegen: Die Wangen waren gerötet, die Augen strahlten. Vor Aufregung brachte sie außer eine Tasse Kaffee nichts hinunter, bevor sie sich auf den Weg machte.

Alexis saß am Schreibtisch und studierte einige Papiere, als sie seine Suite betrat. Er blickte auf, machte jedoch keine Anstalten, sich ihr zu nähern. „Ich muss sofort los.“ Er lächelte, als er ihr enttäuschtes Gesicht sah, und fügte viel sagend hinzu: „Nein, ich darf dich jetzt nicht küssen, sonst würde ich es nie schaffen, zu meinen Besprechungen zu kommen. Aber morgen ist Samstag. Was hältst du von einem Ausflug? Wir könnten irgendwo zu Mittag essen und abends ins Theater oder ins Kino gehen.“

Sienna hatte eigentlich nur den einen Wunsch, mit ihm zusammen zu sein. Da er aber offensichtlich fest entschlossen war, die Sache langsam anzugehen, willigte sie in seine Pläne ein und machte sich, sobald er fort war, an die Übersetzung der Korrespondenz, die er ihr tags zuvor diktiert hatte.

Ihre Geduld wurde in der folgenden Zeit auf eine harte Probe gestellt, denn Alexis schien nicht so bald gewillt, von seinem Vorsatz abzuweichen. Tagsüber arbeiteten sie effektiv zusammen, und wenn er mit ihr ausging, wählte er die Orte so, dass sie nie miteinander allein waren. Sienna gewann tiefere Einblicke in sein Imperium und lernte, seine unternehmerischen Fähigkeiten zu bewundern, wenngleich ihr die Härte und Entschlusskraft, mit der er seine Ziele verfolgte, gelegentlich etwas Angst machten. Schaudernd stellte sie sich dann vor, wie es wohl sein würde, sollte sich diese Seite seines Wesens einmal gegen sie richten. Doch in solchen Momenten blickte Alexis dann von seinen Papieren auf und lächelte sie an, als hätte er ihre Gedanken erraten und wollte sie beruhigen, dass ihre Befürchtungen grundlos seien.

Er fragte sie oft über Rob aus, und Sienna spürte dann jedes Mal diese unerklärliche Ablehnung, ja Feindseligkeit gegenüber ihrem Bruder, den er doch noch gar nicht kannte. Wenn sie im Gegenzug versuchte, Alexis nach seiner Familie zu fragen, wich er unweigerlich aus.

So vergingen die nächsten acht Tage. Als Sienna am Freitagmorgen die Hotelsuite betrat, telefonierte Alexis gerade.

„New York“, erklärte er, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. „Ich muss rüberfliegen. Es gibt Probleme bei der Fusion.“

Sienna wusste, dass eine seiner Firmen im Begriff stand, einen amerikanischen Konkurrenten zu übernehmen. Sie sah ihn enttäuscht an. „Wie lange wirst du fortbleiben?“ Wie lange wirst du von mir fort sein? wollte sie eigentlich wissen. Aber wie lange würde er überhaupt noch in London bleiben? Sein Zuhause war in Griechenland, auf der kleinen Insel Micros. Alexis hatte ihr voller Stolz davon erzählt, und sie hatte die Zuversicht gespürt, dieses Zuhause bald mit ihm zu teilen.

„Ich weiß es nicht. Drei Wochen, vielleicht einen Monat. So lange wird es wohl dauern, die juristischen Fragen zu klären.“ Er sah ihre bestürzte Miene und fügte rau hinzu: „Nicht, Sienna, bitte. Ich will auch nicht von dir fort, aber uns bleibt ja noch dieses Wochenende. Sollen wir vielleicht irgendwohin fahren, nur wir beide?“

„Oh Alexis!“ Ihre Stimme und ihr Blick verrieten, was sie fühlte.

Alexis, der sich sonst immer zurückhielt, wenn sie arbeiteten, stand auf, kam zu ihr, nahm sie in die Arme und küsste sie verlangend. „Heißt das ja? Du weißt genau, wenn das deine Antwort ist, werde ich mich nicht mit einem braven Gutenachtkuss begnügen, Sienna. Dir ist doch klar, dass dein Ja bedeutet, dass du bereit bist, mit mir zu schlafen, oder?“, fragte er heiser. „Sagst du immer noch ja?“

Sienna schüttelte benommen den Kopf. Sie spürte, wie er erstarrte, sah das leidenschaftliche Aufleuchten in seinen Augen und wusste, dass er trotz aller Beteuerungen gewillt war, sie zu überreden, falls sie sich nicht freiwillig einverstanden erklärte. Doch sie begehrte ihn ja selbst so sehr, dass es sie immer noch ein wenig erschreckte. Ein kleines, sinnliches Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie leise antwortete: „Ich sage nicht ja, Alexis, sondern ja, bitte.“

Sofort fiel alle Anspannung von ihm ab. Ein triumphierender Ausdruck huschte über sein Gesicht, als er sich herabbeugte, um sie erneut zu küssen. Diesmal drückte er sie an sich, fasste sacht in ihr Haar und ließ die Lippen verführerisch über ihren Hals gleiten. Sienna spürte, wie er nach den Knöpfen ihrer Bluse tastete, und drängte sich ihm sehnsüchtig entgegen, als sie seine Hand auf ihrer nackten Haut fühlte.

Es war das erste Mal, dass Alexis sie in dieser erregenden Weise liebkoste. Sienna erschauerte, sobald er die Hand über den Spitzen-BH gleiten ließ, der ihre vollen Brüste kaum verhüllte, und stöhnte lustvoll auf, als Alexis im nächsten Moment eine der harten Spitzen durch das zarte Material mit dem Mund umschloss und sacht daran saugte. Erregt presste Sienna sich an ihn, nur von dem einen Wunsch beseelt, endlich nackt in seinen Armen zu liegen.

Das Läuten des Telefons riss sie gnadenlos aus ihren Träumen. Sienna war noch zu überwältigt, um zu reagieren. Alexis aber nahm den Hörer ab, und seine konzentrierte Miene ließ Sienna bewusst werden, wo sie sich befanden. Rasch knöpfte sie sich die Bluse wieder zu, immer noch benommen von der Heftigkeit ihrer Reaktion. Wie würde es erst sein, wenn sie ihm endlich ganz gehören würde?

Inzwischen hatte Alexis das Telefonat beendet, kam zu ihr zurück und betrachtete sie zärtlich lächelnd. „Du siehst aus wie ein Kind beim Anblick des festlich geschmückten Christbaums. Was für Überraschungen hältst du noch für mich bereit? Äußerlich so kühl und gelassen, und doch innerlich so überaus sinnlich und leidenschaftlich! Ich brauche dir nur in die Augen zu blicken und weiß, wie es sein wird, dich zu lieben. Gibt es wirklich bislang keinen Mann, der diese Gefühle in dir geweckt hat, Sienna?“

Sie schüttelte den Kopf und bemerkte, wie seine Augen erleichtert aufleuchteten. Ahnte Alexis, wie glücklich sie war, dass er der Erste sein würde, dass sie auf ihn gewartet hatte, um mit ihm den Zauber der ersten Leidenschaft zu teilen?

„Wir werden irgendwo hinfahren, wo wir ganz allein sein werden, wo ich dich küssen und lieben kann in der Gewissheit, dass uns keiner stört.“ Er küsste sie innig, bis sie erneut vor Verlangen zitterte. „Du liebst mich doch, Sienna?“

„So sehr!“, flüsterte sie heiser.

Zu Hause fand Sienna einen Brief von Rob vor, in dem er ihr schrieb, dass er vermutlich noch mehrere Wochen fortbleiben würde. Sie war enttäuscht, denn sie hatte gehofft, Alexis noch vor seiner Abreise nach New York ihren Bruder vorstellen zu können. Es war ihr wichtig, Alexis begreiflich zu machen, warum sie Rob liebte und dass diese Liebe keinerlei Bedrohung für ihre Beziehung darstellte. Doch sie verdrängte ihre Enttäuschung, denn sie wollte sich das gemeinsame Wochenende mit Alexis nicht verderben lassen, und konzentrierte sich darauf, zu packen.

Alexis hatte ihr nur verraten, dass sie irgendwo aufs Land fahren und ganz für sich sein würden. Entsprechend packte sie Jeans und Pullover ein, ein schlichtes, elegantes Kleid für den Fall, dass Alexis sie zum Essen ausführen würde, und die hauchzarten, exklusiven Dessous, die sie sich spontan auf dem Heimweg gekauft hatte. Zwar hatte sie immer noch ein schlechtes Gewissen, wenn sie daran dachte, wie viel Geld sie dafür ausgegeben hatte, aber sie malte sich aufgeregt aus, wie es sein würde, wenn Alexis sie in diesen überaus weiblichen Kreationen aus Seide und zarter Spitze sehen würde. Einem Mann wie ihm würde die Vorstellung bestimmt gefallen, dass sie so etwas nur für ihn trug.

Unter dem Kostüm für die Fahrt trug sie einen Body aus cremefarbenem Seidensatin, der sich herrlich kühl auf der Haut anfühlte. Sienna war schon eine halbe Stunde, bevor Alexis sie abholen wollte, fertig, zu aufgeregt, um richtig zu frühstücken. Kaum zu glauben, dass sie heute Abend in Alexis’ Armen liegen würde! Wie stets durchzuckte sie allein bei dem Gedanken daran heiße Erregung, und sie verbot es sich streng, über dieses Wochenende hinaus an die einsamen Wochen danach zu denken, in denen Alexis in New York sein würde.

Pünktlich auf die Minute fuhr Alexis mit dem Wagen vor, und auf der Fahrt verriet er Sienna, dass ihr Ziel der New Forest sei. Dort hatte er ein kleines Cottage gemietet, aber vorher würden sie noch in einem Hotel, das ihm besonders empfohlen worden war, zu Mittag essen.

„Wir sind gleich da. Hast du schon Hunger?“

Nur nach dir, dachte Sienna nervös, schüttelte aber lächelnd den Kopf.

„Dieses kleine Hotel war ursprünglich ein Privathaus“, erklärte Alexis, wobei er in die Zufahrt einbog. „Man hat sich hier auf Nouvelle Cuisine spezialisiert.“

Doch Sienna wusste die Köstlichkeiten dieser exklusiven Küche an dem Tag nicht wirklich zu würdigen, wie sie sich eineinhalb Stunden später schuldbewusst eingestand. Alexis schnitt sich gerade ein Stück Stiltonkäse ab, und sie konnte wieder einmal nicht den Blick von ihm lassen. Sie selbst hatte auf ein Dessert verzichtet, weil ihre Anspannung von Minute zu Minute wuchs. Du benimmst dich wie ein unerfahrener Teenager, für den Sex noch ein Buch mit sieben Siegeln ist, dachte sie ärgerlich. Aber obwohl es doch das war, was sie sich mehr als alles wünschte, und sie zutiefst enttäuscht gewesen wäre, wenn Alexis es sich anders überlegt hätte, wurde sie von einer seltsamen Unruhe gequält.

Verstohlen blickte sie in Alexis’ Gesicht. Seine Miene wirkte gelassen und entspannt, und dennoch glaubte sie eine nicht greifbare Gefahr zu spüren, die ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Lag es allein an ihrer Unerfahrenheit oder vielleicht auch an seiner so starken männlichen Ausstrahlung, die es unmöglich machte, zu vergessen, dass hinter seinem zivilisierten, eleganten Äußeren der gnadenlose Jäger lauerte? Alexis war Grieche, stammte aus einem Land, wo die Tugend einer Frau immer noch sehr hoch eingeschätzt wurde und ein Mann immer noch erwartete und erwarten konnte, eine Jungfrau zu heiraten. Würde sie, Sienna, sich in Alexis Augen erniedrigen, wenn sie sich ihm an diesem Wochenende hingab? Würde er sie trotz seiner Liebesbeteuerungen danach verachten?

Energisch verdrängte Sienna diese düsteren Gedanken. Sie liebte Alexis, und er liebte sie, das hatte er ihr gesagt. Wahrscheinlich war sie nur verunsichert, weil sie wusste, dass er sie für einige Wochen verlassen musste. Aber er würde zurückkommen, das hatte er ihr versprochen, und er hatte auch über eine gemeinsame Zukunft gesprochen …

„Hast du doch Zweifel?“

Seine Frage schreckte sie aus ihren Gedanken. Wie leicht er sie doch durchschaute! „Ein wenig.“ Sie sah ihn bittend an.

„Und du möchtest, dass ich dich überrede, mit mir zu schlafen?“ Er stand auf, schüttelte den Kopf und beugte sich zu ihr. „Nein, Sienna, das werde ich nicht tun. Du musst freiwillig zu mir kommen oder gar nicht.“

Er richtete sich auf und blickte ihr tief in die Augen. Sienna schluckte gerührt. Wie hatte sie nur an ihm zweifeln können? Wie hatte sie die Beweggründe eines Mannes in Frage stellen können, der es so strikt ablehnte, sie in irgendeiner Weise unter Druck zu setzen?

„Nun?“ Alexis führte sie aus dem Hotel zum Wagen zurück. „Hast du es dir anders überlegt? Möchtest du nach London zurück?“

Er hatte ihr den Arm um die Taille gelegt. Es war ein so gutes Gefühl. Sienna schmiegte sich an seine Schulter und blickte zu ihm hoch. „Nein“, flüsterte sie bewegt. „Nein, Alexis, ich will, dass du weiterfährst.“

Aus seinem Lächeln sprach Triumph, den sie ihm jedoch nicht verübelte. Als er ihr die Wagentür öffnete, beugte er sich herab und küsste sie zart auf den Mund. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel mir das bedeutet, Sienna. Später, heute Nacht werde ich es dir zeigen.“

Das Cottage war ein perfektes Liebesnest, abgeschieden inmitten des Waldes und so gemütlich eingerichtet, dass Sienna sich auf Anhieb wohl fühlte.

In der mit rustikalen Eichenmöbeln ausgestatteten Küche stand ein Essen für sie bereit, das sie nur aufwärmen mussten, und obwohl es nicht wirklich kühl war, konnte Sienna Alexis’ Vorschlag nicht widerstehen, in dem offenen Kamin im Wohnzimmer ein Feuer zu machen.

„Während ich mich um das Feuer kümmere, kannst du ja schon auspacken.“ Alexis wandte ihr den Rücken zu und kniete vor dem Kamin nieder.

Dankbar folgte sie seinem einfühlsamen Wink. Alexis hatte offenbar gespürt, welche Panik sie plötzlich bei der Vorstellung befallen hatte, dass er sofort mit ihr zusammen die schmale Treppe ins Dachgeschoss hinaufgehen würde.

Das Cottage besaß nur ein Schlafzimmer mit angrenzendem Bad. Der Raum war geschmackvoll und hübsch in zarten Pastelltönen eingerichtet und wirkte auf Anhieb warm und gemütlich. Der ideale Ort für Flitterwochen, überlegte Sienna sehnsüchtig und rief sich dann energisch zur Ordnung. Sie war keineswegs das Opfer einer Verführungskampagne, die darauf abzielte, sie moralisch zu verderben! Sogar jetzt stand es ihr immer noch frei, zu gehen. Sie war hier mit Alexis, weil sie es so wollte.

Sienna war gerade mit dem Auspacken fertig, als sie Alexis von unten rufen hörte. „Das Feuer ist an. Möchtest du einen Drink?“

Sie ging zum Treppenabsatz, um seine Frage zu bejahen. Alexis stand unten und blickte zu ihr hoch. „Ach ja, wenn du schon dabei bist, könntest du auch für mich auspacken?“, bat er ruhig.

Es war geradezu lächerlich, welche Scheu sie dabei empfand, seine Kleidungsstücke zu berühren. Unzählige Male hatte sie schon für Rob oder ihren Vater gepackt, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Doch dies war etwas anderes. Diese Sachen gehörten dem Mann, der schon bald ihr Geliebter sein würde. Sienna stellte fest, dass er keinen Schlafanzug eingepackt hatte, und errötete bei der Vorstellung, dass sie schon bald in seinen Armen liegen und sich an seinen nackten Körper schmiegen würde. Plötzlich hatte sie es sehr eilig. Sie wollte nach unten zu Alexis und sich vergewissern, dass alles nicht nur ein Traum war.

„Müde?“

Die letzten Takte der Beethoven-Symphonie waren verklungen, das Feuer war heruntergebrannt, die Gläser waren leer, es gab wirklich keinen Grund mehr, noch länger unten zu bleiben.

„Mm, ein bisschen …“ Sienna, deren Kopf an Alexis’ Brust ruhte, fühlte, wie er leise lachte, und erstarrte gekränkt. Er hatte so etwas sicherlich schon unzählige Male getan, wohingegen sie …

„Nein, du irrst dich.“ Wieder einmal hatte er ihre Gedanken erraten. Im verlöschenden Schein des Kaminfeuers wandte er sich ihr zu und umfasste ihr Gesicht. Seine Augen blickten ernst, fast feierlich. „Natürlich hat es in meinem Leben andere Frauen gegeben, aber keine, die sich mit dir vergleichen ließe, keine, die mir so viel bedeutet hätte. Ich frage dich noch einmal, Sienna, kommst du freiwillig zu mir?“

„Ja, ja!“, antwortete sie entschieden und verdrängte mit aller Macht ihre Zweifel und Ängste.

Alexis küsste sie zart auf den Mund und ließ dann den Daumen über ihre weichen Lippen gleiten, bis sie sich öffneten. Als er nun mit der Zunge der Spur seines Fingers folgte, hielt Sienna den Atem an und seufzte leise. Mehr Ermutigung brauchte Alexis nicht. Er fasste in ihr seidiges Haar, presste sie an sich und küsste sie mit wachsender Leidenschaft.

Sienna war wie Wachs in seinen Händen. Unter seinen heißen Küssen schmolz sie dahin und vergaß alles andere.

„Sag mir, dass du mich liebst, Sienna. Du liebst mich doch, oder?“, flüsterte er zwischen den Küssen. Dabei ließ er eine Hand in ihre Bluse gleiten und streichelte ihre nackte Haut, bis Sienna vor Verlangen zitterte.

„Über die Maßen“, erwiderte sie atemlos.

„Und ich glaube, nicht einmal das hast du schon oft getan, oder?“ Er strich ihr liebkosend über den Hals, wo er ihren pochenden Puls spüren konnte.

„Noch nie“, gestand Sienna.

„Noch nie?“ Seine Augen glühten erregt. „Wie arglos du diese Worte aussprichst, ohne zu ahnen, dass du damit die größte Versuchung für mich darstellst, die ich je ertragen musste! Weißt du wirklich nicht, was es für mich bedeutet, der Erste zu sein, der dich die Bedeutung von Leidenschaft lehrt?“

„Du hast sie mich schon gelehrt“, flüsterte Sienna.

Doch Alexis lachte leise. „Glaubst du wirklich, dass dies Lust ist? Du hast noch viel zu lernen, und ich habe es plötzlich sehr eilig, es dir beizubringen.“

Er hob sie hoch und trug sie mühelos die schmale Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Sienna schmiegte den Kopf an seine Schulter und genoss es, ihm so nahe zu sein.

Behutsam legte Alexis sie auf das Bett, beugte sich über sie und lächelte. „Wie du in meinen Armen zitterst … ist es Bereitschaft oder Furcht, meine kleine Unschuld?“

„Beides“, gestand Sienna ehrlich. „Aber die Bereitschaft ist größer als die Furcht.“

„Und die Leidenschaft wird beide übertreffen“, versprach er ihr. „Ich will kein Opfer von dir, sondern ich will dich als willige Partnerin, als Frau, die mich als Mann begehrt. Du zitterst immer noch …“ Er barg das Gesicht zwischen ihren vollen Brüsten und knöpfte die restlichen Knöpfe ihrer Bluse auf. „Aber du hast nichts zu befürchten. Es ist eine grenzenlose, unvergleichliche Lust und Freude, zu lieben und geliebt zu werden.“

Alexis streichelte die harten Spitzen ihrer Brüste, die sich unter ihrem feinen Body deutlich abzeichneten, bevor er ihr langsam die zarte Wäsche herunterstreifte. Dann beugte er sich erneut über sie und begann, die dunklen Knospen mit Zunge und Lippen zu liebkosen, bis Sienna ihn, von wilder Erregung gepackt, an sich presste und immer wieder atemlos seinen Namen flüsterte.

Sie hatte jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren, wusste nur, dass sie irgendwann nackt in seinen Armen lag und Alexis ihre Hand an seinen Körper führte und lächelnd die scheue Bewunderung in ihren Augen las. Als er nun seinerseits Hände und Lippen in erregender Weise über ihren Körper gleiten ließ, hatte Sienna bald alle Angst vor dem Unbekannten verloren. Dies war der Mann, den sie liebte, und es war ein himmlisches Gefühl, ihm ganz nahe zu sein und zu spüren, wie sehr ihre Liebkosungen auch ihn erregten.

Schließlich umfasste Alexis ihr Gesicht, küsste sie heiß und leidenschaftlich und glitt auf sie. Der letzte Rest von Scheu und Anspannung fiel von ihr ab, verdrängt von einem übermächtigen Verlangen. Längst brauchte Alexis sie nicht mehr zu ermuntern, seine Zärtlichkeiten zu erwidern. Lustvoll stöhnend drängte sie sich ihm entgegen in der Zuversicht, nur bei ihm Erfüllung zu finden.

„Liebst du mich?“ Er flüsterte diese Worte zwischen heißen Küssen, wobei er ihre Hüften umfasste und sich verlangend an sie presste.

„Ja, ja!“, stöhnte Sienna atemlos.

Alexis küsste sie erneut, drängte sich zwischen ihre Beine und erschauerte spürbar. „Dann gib dich mir hin“, forderte er rau. „Ganz … ich will dich ganz, Sienna!“

Das war es, wovon sie geträumt, was sie vom ersten Moment an gewollt hatte. Sehnsüchtig kam Sienna ihm entgegen und schrie leise auf, als sie unerwartet der Schmerz durchzuckte. Wie aus weiter Ferne hörte sie Alexis fluchen, und das wunderbare Verlangen, mit ihm eins zu sein, wurde plötzlich von einem Gefühl der Fremdheit und Furcht verdrängt.

Sienna lag reglos und zitternd da. Vergeblich versuchte sie sich zu erinnern, wie sehr sie Alexis begehrt hatte. Vergeblich versuchte sie, Schmerz, Enttäuschung und ihre Angst zu unterdrücken, dass sie eben doch eine Frau gewesen war, der es nie vergönnt sein würde, große sexuelle Lust zu erleben.

„Habe ich dir wehgetan?“

Alexis’ Stimme klang kalt, fast zornig. Sienna hielt den Atem an, als er sich von ihr löste und aufrichtete. Hatte sie ihn enttäuscht? Es musste so sein nach den Erfahrungen mit all den Frauen, die er schon gehabt hatte …

„Ein wenig“, flüsterte sie. „Aber es wird schöner … beim nächsten Mal …“ Sie sah ihn flehentlich an, wartete auf ein ermutigendes, liebevolles Wort, das ihre Ängste beschwichtigen würde. Doch stattdessen wandte Alexis sich plötzlich von ihr ab und stand auf.

„Zweifellos“, antwortete er unerwartet zynisch. „Aber nicht mit mir. Du wirst dir einen anderen Liebhaber suchen müssen, der dich in die Kunst der Liebe einführt.“

Sie blickte ihn verwirrt an, während sie versuchte, seine Worte zu begreifen. „Du meinst …?“

„Ich meine, dass ich erreicht habe, was ich wollte“, fiel er ihr grob ins Wort. „Ich habe dir deine Unschuld geraubt, so wie dein Bruder es bei meiner Schwester getan hat. Nur ein wenig zivilisierter, denn sie wurde brutal vergewaltigt!“

„Vergewaltigt?“ Sienna verstand überhaupt nichts mehr. Wo war der Mann, von dem sie geglaubt hatte, dass er sie liebte? Wer war dieser Fremde, der seinen Platz eingenommen hatte? „Aber du hast doch gesagt, dass du mich liebst, dass du mit mir …“

„Wie naiv du doch bist! Hat deine Mutter dich nicht gewarnt, dass das alle Männer sagen, um dich ins Bett zu bekommen?“ Er lachte spöttisch. „Du warst so leicht zu täuschen, fast schon zu leicht.“

Sienna blickte ihn fassungslos und unverwandt an. Ein Gefühl von Übelkeit und Selbstverachtung stieg in ihr hoch. Wie dumm sie doch gewesen war! Er hatte recht, sie hatte es ihm leicht gemacht, ihr Herz zu erobern und mit seinen verlogenen Liebesbeteuerungen ihre Träume zu zerstören.

„Du solltest dankbar sein, dass ich dich nicht so genommen habe wie dein Bruder meine Schwester … brutal und entwürdigend“, stieß Alexis nun hervor.

„Rob würde das niemals tun! Ich kenne ihn und weiß es. Ich … ich hasse dich!“, entgegnete sie leidenschaftlich.

„Du hasst mich?“, wiederholte er höhnisch. „Noch vor wenigen Minuten hast du mir zugeflüsterte, wie sehr du mich liebst und nur mich allein! Schlaf jetzt. Morgen …“

Morgen? Erwartete er ernsthaft, dass sie jetzt noch hier bei ihm bleiben würde? Noch betäubte der Schock ihre Gefühle, aber wenn der Schmerz über das, was geschehen war, einsetzte, wollte sie allein sein. Sie hatte ihn geliebt, und er hatte sie nur benutzt, kalt und skrupellos. Er war nicht der Mann, für den sie ihn gehalten hatte. Sie musste sich zwingen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.

„Ich gehe auf der Stelle“, sagte sie fest. „Ich werde mir ein Taxi rufen.“ Sie bemerkte seinen überraschten Gesichtsausdruck und fügte hinzu: „Was hast du erwartet? Dass ich zusammenbrechen und dich auf Knien anflehen würde, mich zu lieben? Nein, danke, ich habe mich heute Abend schon genug zur Närrin gemacht!“

„Sienna.“ Er wagte es tatsächlich, sie am Arm zu berühren, zog die Hand aber zurück, als Sienna erstarrte. „Versteh doch, ich wollte dich nicht persönlich verletzen …“

„Oh nein, ich war nur das Mittel für deine Rache“, unterbrach sie ihn verbittert. „Was hättest du eigentlich getan, wenn Rob keine Schwester gehabt hätte? Wenn ich zufällig keine Jungfrau mehr gewesen wäre? Wie hättest du dann den Rachegott gespielt?“

Alexis hatte sichtlich Mühe, seinen Zorn zu beherrschen. „Ich habe mich bemüht, so viel wie möglich über deinen Bruder und seine Familie herauszubekommen. Hättest du nicht existiert, hätte ich einen anderen Weg der Vergeltung gefunden. Doch dies schien mir der angemessenste.“

„Auge um Auge“, bekräftigte Sienna zynisch. Sie hatte immer noch das Gefühl, in einem schrecklichen Albtraum gefangen zu sein. Allein die Tatsache, dass sie auf keinen Fall vor diesem Mann, der jetzt ihr Feind war, zusammenbrechen wollte, gab ihr die Kraft, Fassung zu wahren.

„Wo willst du hin?“, fragte Alexis, als sie nach einem Morgenmantel griff – seinem Morgenmantel, wie ihr zerstreut bewusst wurde – und vom Bett aufstand.

„Ich rufe mir ein Taxi.“

„Wir fahren morgen nach London zurück“, wiederholte er unwirsch. „Du brauchst keine Sorge zu haben, dass ich …“

„Dass du mit mir schlafen könntest?“, fiel sie ihm heftig ins Wort. „Die Sorge habe ich nicht. Schließlich hast du ja erreicht, was du wolltest. Andererseits hast du vermutlich das Cottage für das ganze Wochenende bezahlt und willst vielleicht etwas für dein Geld bekommen. Aber ich bin sicher, es wird dir nicht allzu schwer fallen, einen Ersatz für mich im Bett zu finden … ein Mann mit so viel Vermögen und Talent …“ Zu ihrer Genugtuung sah sie ihm an, dass ihre spöttischen Worte ihn getroffen hatten.

„Kein Problem“, erwiderte er genauso zynisch. „Obwohl es nicht leicht sein wird, jemanden zu finden, der so willig ist wie du. Du wolltest schließlich, dass ich mit dir schlafe.“

„Ich wollte mit dem Mann schlafen, für den ich dich dummerweise gehalten habe!“, entgegnete Sienna kühl, zog seinen Morgenmantel an und ging zur Tür. Als Alexis Anstalten machte, ihr zu folgen, drehte sie sich um. Ihre braunen Augen funkelten in ihrem blassen Gesicht. „Wag es nicht, mich anzufassen! Komm mir nicht zu nahe! Ich kann den Gedanken nicht ertragen. Mir wird schon übel, wenn ich mit dir in einem Raum zusammen bin!“

Ungeachtet ihres heftigen Ausbruchs, packte Alexis sie bei den Armen und schüttelte sie unsanft. „Hör auf! Wenn du unbedingt jetzt fort willst, werde ich dich fahren.“

„Nein!“

„Doch. Meinst du, ich wollte das hier tun?“ Sein Blick war leer und finster. „Ich hatte keine Wahl, glaub mir. Als dein Bruder Sofia vergewaltigte, war sie mit einem entfernten Cousin verlobt, den sie seit ihrer Kindheit kannte. Wir mussten dem jungen Mann natürlich die Wahrheit sagen, und er löste die Verlobung. Kannst du dir vorstellen, was er meiner Schwester damit angetan hat? Lange Zeit waren wir in großer Sorge um sie. Sofia zuliebe musste ich Vergeltung üben. Wenn du jemand die Schuld, für das, was vorgefallen ist, geben willst, gib sie deinem Bruder …“

„Nein!“ Sienna machte keinen Versuch, ihre Verbitterung zu verbergen. „Nein, ich gebe mir die Schuld, dass ich dumm genug war zu glauben, ich könnte dir etwas bedeuten. Gill hatte mich gewarnt, wie skrupellos du seist, aber ich habe mir eingebildet, es besser zu wissen. Du hättest dir übrigens gar nicht so viel Mühe geben müssen … schon bei unserer ersten Begegnung wäre ich bereit gewesen, für dich durchs Feuer zu gehen!“ Sie lächelte spöttisch. „Rob hatte recht. Ich war dumm und naiv, aber das ist jetzt vorbei. Und bevor du es noch einmal wiederholst … Nichts, was du sagst, wird mich davon überzeugen, dass mein Bruder deiner Schwester Gewalt angetan hat. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass eine Frau ‚Vergewaltigung‘ schreit, wenn sie tatsächlich nur ihre Meinung geändert hat.“

Im ersten Moment glaubte sie, Alexis würde sie ohrfeigen. Doch stattdessen schob er sie nur beiseite und ging zur Tür. „Zieh dich an. Wir fahren nach London zurück.“

3. KAPITEL

Sienna war in einem dunklen Labyrinth gefangen, verfolgt von etwas Schrecklichem, das unaufhaltsam näher kam. Verzweifelt suchte sie nach einem Ausweg. Plötzlich öffnete sich vor ihr eine Tür, und sie sah einen Mann, der ihr den Rücken zukehrte. Freudig rannte sie auf ihn zu. Da drehte der Mann sich um. Sie begann zu schreien und konnte nicht mehr aufhören, denn sein Gesicht gehörte dem Mann, vor dem sie davongelaufen war!

Ihr eigenes Schreien riss Sienna aus dem Albtraum. Sie war schweißgebadet, ihr Herz pochte, das Bett war völlig zerwühlt. Halb zwei zeigte der Wecker. Seit jenem Abend in dem Cottage litt sie unter derartigen Albträumen, die ihr den Schlaf raubten. Sie hatte sichtbar abgenommen, was auch Gillian nicht entgangen war. Die Freundin hatte ihr vorgeschlagen, Urlaub zu nehmen und auszuspannen, aber das war das Letzte, was Sienna wollte. In der Arbeit fand sie Ablenkung von ihren quälenden Gedanken. Denn letztendlich hatte in den vergangenen zwei Wochen nur ihr Stolz verhindert, dass sie zusammengebrochen war.

Sie hatte an Alexis nicht nur ihre Unschuld verloren, damit hätte sie noch zurechtkommen können, sondern auch ihr Herz. Er hatte sie ermutigt zu glauben, dass er sie liebte, hatte sie auf die grausamste Weise getäuscht, wie ein Mann eine Frau nur täuschen konnte. Sie schwankte zwischen einem Gefühl unendlicher Demütigung und Selbstverachtung, fand keine Entschuldigung für ihre Dummheit, ihre Naivität, ihre Vertrauensseligkeit.

Äußerlich gelang es ihr einigermaßen, ihren Schmerz zu verbergen, aber sich selber konnte sie nichts vormachen. Deshalb war sie unendlich froh, dass Rob noch im Ausland weilte, denn so musste sie sich wenigstens nicht mehr verstellen, wenn sie abends nach Hause kam. Meist saß sie stundenlang einfach nur da, blickte ins Leere und versuchte, nichts zu denken, nichts zu fühlen. Dabei verbot sie es sich streng, in Selbstmitleid zu zerfließen. Sie verdiente es nicht anders, trug selber die Schuld. Wenn sie nicht so dumm gewesen wäre zu glauben, Alexis zu lieben, hätte das alles nicht geschehen können.

Es gab Zeiten, da sie am liebsten nur noch geweint hätte, Zeiten, da sie alles darum gegeben hätte, zu Alexis zu laufen und in seinen Armen Trost zu finden. Glücklicherweise war Alexis in New York, sodass ihr Stolz dieser Versuchung nicht widerstehen musste. Sie wagte es nicht einmal, am Savoy vorbeizugehen, um nicht schwach zu werden und das Hotel zu betreten. Und es gab auch Zeiten, da sie sich wünschte, Alexis genauso leiden zu sehen, wie sie litt.

Sienna wurde dünn und blass und still. Rob hatte sie gewarnt, dass die lange Zeit mit ihrem Vater sie für das wirkliche Leben blind gemacht habe. Nun aber war sie schlagartig erwachsen geworden. Manchmal hatte sie das Gefühl, als wäre sie zwei völlig verschiedene Personen: die Sienna, die lächelte, arbeitete und so vernünftig und gelassen reagierte, wie alle es von ihr erwarteten, und jene Sienna, die keinen Menschen mehr an sich heranlassen wollte, die vor jedem engeren Kontakt mit anderen zurückschreckte, die in einsamen Nächten jenen Namen schluchzte, den die andere Sienna ihr verboten hatte jemals wieder auszusprechen.

Nur in einem blieb sie standhaft. Nichts würde sie jemals davon überzeugen, dass Rob Alexis’ Schwester auch nur ein Haar gekrümmt hätte. Sie war so von der Unschuld ihres Bruders überzeugt, dass sie ihn erst gar nicht deswegen befragen würde. Dieser Gedanke bereitete ihr eine gewisse Genugtuung. Alexis rechnete sicher damit, dass sie bei der ersten Gelegenheit zu ihrem Bruder rennen und ihm berichten würde, wie sehr sie gedemütigt worden sei. Doch Sienna hatte sich entschlossen, keinem Menschen davon zu erzählen. Niemand sollte erfahren, was zwischen ihr und Alexis geschehen war. Zu gern hätte sie diesen Teil ihres Lebens restlos aus ihrem Gedächtnis gestrichen … wenn es nur möglich gewesen wäre.

Zweieinhalb Wochen nach jenem unseligen Abend kehrte Rob aus dem Ausland zurück, tief gebräunt, das Haar von der Sonne gebleicht. Sienna, die kurz vorher von der Arbeit nach Hause gekommen war, öffnete ihm die Tür und sah, wie er in Jeans und einem dünnen Hemd im kühlen Londoner Maiwetter fror.

„Das ist der Fluch des reisenden Reporters … Erkältungen und Jet-Lag“, klagte er und ließ sich müde in einen Sessel sinken. Dann erst betrachtete er seine kleine Schwester genauer und machte ein nachdenkliches Gesicht. „He, du siehst aber auch nicht besonders aus. Was ist los?“

„Nichts. Es ist wohl meine Art, Dads Tod zu verarbeiten.“ Diese Ausrede nannte sie jedem, der sie darauf ansprach, wie schmal sie geworden sei. „Erzähl mir von deiner Reise.“ Sie wollte unbedingt das Thema wechseln, und Rob ging zunächst darauf ein.

„Wir meinen ja, dass wir uns über vieles in unserem Land beklagen müssen, aber wenn man manche Länder sieht …“ Er schüttelte resigniert den Kopf. Diesmal war er in El Salvador gewesen, und obwohl er Sienna versichert hatte, dass es für ihn nicht gefährlich sein würde, hatte sie sich Sorgen um ihn gemacht. Als sie jetzt aufstand, um ihm einen Drink zu holen, fiel ihm erst richtig auf, wie viel sie abgenommen hatte. „Du siehst wirklich nicht gut aus“, wiederholte er beunruhigt. „Fast ausgezehrt. Was ist los, Sienna? Oder ist es zu persönlich, um mit deinem alten Bruder darüber zu sprechen?“

„Es ist nichts, wirklich“, versicherte sie ihm betont locker. „Vielleicht werde ich einfach erwachsen.“

„Ein bisschen spät mit vierundzwanzig, meinst du nicht? Dabei habe ich dich im Grunde immer für ziemlich reif gehalten.“

„Ach, na ja, du weißt doch, was man über Wachstumsschmerzen sagt? Je älter man ist, desto mehr tun sie weh.“

„Tatsächlich? Nun, ich weiß zumindest, wann man mich in die Schranken weist. Aber vergiss nicht, dass ich immer für dich da bin, solltest du mit mir reden wollen, okay?“

„Ja, großer Bruder.“ Sie rang sich ein Lächeln ab. Mit Erfolg, denn Robs Gesicht hellte sich sichtlich erleichtert auf. Und für Sienna war es ein gewisser Trost, zu wissen, dass Alexis sich um seine Rache betrogen fühlen würde, weil sie Rob verschwiegen hatte, was zwischen ihnen vorgefallen war.

Trotzdem war sie froh, als Rob verkündete, dass er schon am nächsten Tag wieder die Koffer packen müsse. „Und da du viel zu dünn geworden bist, kleine Schwester, werde ich dich heute Abend ganz groß zum Essen ausführen.“

„Ach, Rob, ich möchte eigentlich wirklich nicht …“

Er schüttelte energisch den Kopf. „Keine Ausflüchte, du kommst mit.“

„Wie lange wirst du diesmal fort sein?“

„Keine Ahnung. Es gibt Probleme unten in Beirut, und ich soll hin, um die Sache zu klären. Warum machst du nicht etwas Urlaub, Sienna? Gill hat mir erzählt, dass du in den letzten beiden Wochen für zwei gearbeitet hast. Nimm dir einige Tage frei, fahr nach Hause, und ruh dich aus.“

Ruhe war das Letzte, was sie sich wünschte, denn ihre Arbeit half ihr wenigstens vorübergehend, den Schmerz zu vergessen. Doch das konnte sie ihrem Bruder nicht sagen, denn er schien schon besorgt genug um sie. Deshalb rang sie sich erneut ein Lächeln ab. „Nun, vielleicht werde ich das wirklich tun. Es liegen immer noch Unmengen von Dads Papieren und Tagebüchern in den Schubladen, die ich noch nicht angerührt habe. Ich könnte anfangen, sie zu sichten. Professor Grange hat mich schon deswegen angesprochen. Er meint, dass das Material vielleicht für ein weiteres Buch ausreicht, und …“

„Ich sagte, dass du dich ausruhen sollst und nicht noch mehr arbeiten“, widersprach Rob sanft. „Lass die Tagebücher. Wenn ich zurück bin, werde ich versuchen, mich damit zu befassen. Ich bekomme noch einen Monat Urlaub.“

„Also, wenn einer von uns Urlaub nötig hat, dann doch wohl du“, meinte Sienna kopfschüttelnd. Sie hätte gern vorgeschlagen, doch Gill einzuladen, mit ihnen auszugehen, hatte aber das Gefühl, das dies für Rob ein heikles Thema sei. Gill hatte ihr gegenüber keinen Hehl daraus gemacht, dass sie sich wünschte, Rob würde seinen aufreibenden Korrespondentenjob aufgeben. Sie machte sich ständig Sorgen um ihn, wenn er wieder einmal in einem Krisengebiet weilte, und hatte Sienna anvertraut, dass sie sich einen Mann wünschte, der ihr Leben mit ihr teilte, und keinen ‚Besucher‘, den sie immer nur für einige wenige Tage im Monat sah. Und obwohl Sienna sie gut verstand, wusste sie auch, dass ihr Bruder mit Leib und Seele in seiner Arbeit aufging. In jedem Fall war es aber ein Problem, das nur Rob und Gill für sich lösen konnten, und es stand ihr, Sienna, nicht an, sich einzumischen.

„Wow! Wirklich hübsch!“

Robs Ausruf der Bewunderung entlockte Sienna ein Lächeln. Sie trug das schwarze Kleid mit der dazu passenden Jacke, das sie zu ihrer ersten Verabredung mit Alexis getragen hatte. In ihrer kleinen Garderobe gab es nur eine begrenzte Auswahl an eleganten Kleidern, und was hatte es für einen Sinn, kindisch sentimental zu sein? Was hatte es für einen Sinn, sich noch mehr zu belügen, als sie es schon getan hatte? Ihre Rendezvous mit Alexis waren nicht romantisch, sondern lediglich eine Reihe sorgfältig kalkulierter Schritte in seinem Plan gewesen, Mittel zum Zweck.

„Du siehst aber auch nicht schlecht aus“, lobte sie nun ihren Bruder. Rob war wirklich ein attraktiver Mann, besonders, wenn er wie an diesem Abend einen eleganten dunklen Anzug trug und dazu das helle Seidenhemd, das Sienna ihm einige Wochen zuvor zum Geburtstag geschenkt hatte.

Auf der Fahrt durch die regennassen Straßen Londons hing Sienna schweigend ihren Gedanken nach. Es hatte den ganzen Tag geregnet, und die graue, trübe Abenddämmerung passte zu ihrer gedrückten Stimmung. Erst als Rob vor dem Savoy vorfuhr, begriff Sienna, wo er den Tisch für sie reserviert hatte. Ihr entsetztes Aufstöhnen deutete er glücklicherweise als Überraschung.

„Ich dachte, wir machen heute Abend einmal richtig einen drauf“, erklärte er fröhlich, wobei er ihr aus dem Wagen half und sie zum Hoteleingang führte. „Es ist eine Ewigkeit her, seit ich zuletzt hier war. Mein gutbetuchter Patenonkel hatte mich damals zu einem besonderen Anlass hierher eingeladen.“

Als sie das hell erleuchtete Foyer betraten, blickte Rob prüfend in Siennas angespanntes Gesicht. „He, was ist los? Geht es dir nicht gut?“

„Doch, alles in Ordnung.“ Es wäre nicht fair gewesen, Rob den Abend zu verderben, indem sie ihn gebeten hätte, sie nach Hause zu fahren. Sie konnte nicht den Rest ihres Lebens damit verbringen, die Orte zu meiden, an denen sie mit Alexis gewesen war. Wie stets, wenn sie versucht war, sich an ihre Gefühle für ihn zu erinnern, zwang sie sich, an den Abend im Cottage zu denken, als sie die Wahrheit erfahren hatte. Sie strafte sich im Geist für ihre Schwäche, indem sie sich ins Gedächtnis rief, dass die Liebe, an die sie so naiv geglaubt hatte, nur in ihrer Einbildung existiert hatte.

Das Restaurant war schon ziemlich gut besucht, und Sienna ertappte sich trotz ihrer guten Vorsätze dabei, wie sie den Raum nach Alexis’ vertrautem Gesicht absuchte. Zu ihrer Erleichterung war er jedoch nicht da. Natürlich, warum auch? Sicher hatte er es nicht eilig, aus New York zurückzukommen. Das war für ihn doch die bequemste Lösung, möglichen peinlichen Szenen aus dem Weg zu gehen, die er vielleicht von ihr erwartete. Ein Mann wie Alexis war zweifellos sehr geübt darin, Frauen zu meiden, für die es in seinem Leben keine Verwendung mehr gab. Aber sie würde ihm nicht die Genugtuung geben, ihm noch einmal zu zeigen, wie tief und unwiederbringlich er sie verletzt hatte. Sie würde nicht um seine Liebe betteln, weil sie wusste, dass sie bestenfalls Mitleid zu erwarten hatte.

Rob und Sienna wurden an ihren Tisch geführt, und der elegante Ober brachte ihnen die Speisekarte. Sienna überflog sie lustlos. Ihr war jeglicher Appetit vergangen. Doch Rob freute sich so offensichtlich darüber, einmal ganz groß mit ihr auszugehen, dass sie sich verpflichtet fühlte, wenigstens etwas Begeisterung zu heucheln. Schließlich bat sie Rob, für sie mitzubestellen und sie zu überraschen. Ihr Bruder zog zwar fragend die Brauen hoch, bemerkte aber nichts dazu. Als Journalist hatte er die ganze Welt bereist und dabei einen Erfahrungsschatz angehäuft, um den ihn die meisten Menschen beneidet hätten. Es gab nicht mehr viel, was ihn aus der Ruhe bringen oder überraschen konnte, und er schien sich auch in diesem Luxushotel auf Anhieb wie zu Hause zu fühlen.

Der erste Gang wurde serviert. Rob, der die Vorliebe seiner Schwester für Meeresfrüchte kannte, hatte für sie ein Gericht aus Garnelen und gebackenen Avocados bestellt, und Sienna stellte zu ihrem Erstaunen fest, dass sie es wirklich genoss. Nichts ist für ewig, dachte sie spöttisch, und die Natur fordert irgendwann ihr Recht. Nach all den Tagen des Fastens hatte sie plötzlich ihren Appetit wieder entdeckt.

Sienna griff gerade nach ihrem Weinglas, als eine Gruppe Neuankömmlinge das Restaurant betrat. Im selben Moment wusste Sienna, dass sie sich getäuscht hatte, wenn sie sich eingebildet hatte, sie wäre mit Alexis schon fertig. Allein sein Anblick rief eine derartige Flut von Schmerz- und Hassgefühlen in ihr wach, dass sie glaubte, jedermann im Raum müsste es spüren. Er war in Begleitung eines Paars, einer jungen Frau, die ihn anlachte, und eines Mannes, der wesentlich kleiner als Alexis und untersetzt war und nichts von seiner Ausstrahlung besaß.

Noch hatte Alexis Sienna nicht bemerkt. All seine Aufmerksamkeit galt der schönen jungen Frau an seiner Seite. Eifersüchtig beobachtete Sienna, wie liebevoll er sie anlächelte, während er mit ihr sprach. Der Ober führte die drei an einen Tisch, nicht weit von Rob und Sienna entfernt, und als die junge Frau die Speisekarte entgegennahm, sah Sienna den großen Saphir, der an ihrer linken Hand funkelte. Von maßlosem Zorn gepackt, überlegte Sienna, ob diese junge Frau Alexis’ wahres Gesicht kannte. Wer mochte sie sein? Die Tochter eines befreundeten Industriemagnaten? Sie sah griechisch aus, mehr noch als Alexis.

„Sienna?“

Schlagartig wurde ihr bewusst, dass Rob etwas zu ihr gesagt haben musste, doch sie hatte kein Wort mitbekommen. Glücklicherweise wurde in diesem Moment der Hauptgang serviert, was ihr etwas Zeit gab, sich zu fassen, obwohl sie sich natürlich die ganze Zeit bewusst war, dass Alexis kaum drei Meter von ihr entfernt am Tisch saß, ohne von ihrer Anwesenheit Notiz zu nehmen. Warum sollte er auch? Sie spielte keine Rolle mehr in seinem Leben. Als Person war sie sowieso nie für ihn wichtig gewesen, sondern lediglich als Robs Schwester.

Sienna sah ihren Bruder verstohlen an und stellte überrascht fest, dass er interessiert zu Alexis’ Tisch hinüberblickte. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sie sich, ob Alexis vielleicht doch recht gehabt hatte und zwischen Rob und Alexis’ Schwester irgendetwas gewesen war. Doch sie verwarf diesen Gedanken sofort.

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