Romana Gold Band 41

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WENN ER MICH NUR ANSIEHT von MORTIMER, CAROLE
Interessiert lauscht Abbie den Bemerkungen ihres arroganten Tischnachbarn Jarrett Hunter über eine angebliche Erbschleicherin, die er so sehr verachtet. Wie gut, dass er nicht weiß, wer Abbie wirklich ist - bis er ihr am nächsten Morgen geschäftlich gegenüber steht.

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Als Shayne die hübsche Sydney am Flughafen von Anchorage abholt, muss er ihr eine schlechte Nachricht überbringen: Sein Bruder hat sich gegen sie entschieden! Sydney einfach allein am Flughafen stehenzulassen, bringt er nicht übers Herz und lädt sie ein, zu einem Weihnachtsfest vor seinem Kamin …

DAS GLÜCK IN DEINEN AUGEN von CHRISTENBERRY, JUDY
Bald ist Weihnachten! Und Jake hofft so sehr, Penny endlich seine Liebe gestehen zu können. Doch die eifersüchtige Angela tischt Penny eine gemeine Lüge auf. Zerbricht ihr Glück, bevor es beginnt?


  • Erscheinungstag 13.10.2017
  • Bandnummer 41
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744229
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Carole Mortimer, Marie Ferrarella, Judy Christenberry

ROMANA GOLD BAND 41

1. KAPITEL

„Es ist ja nicht so, dass ich den Vorschlag, euch beim Dinner Gesellschaft zu leisten, nicht zu schätzen wüsste, Stephen“, sagte der Mann gelangweilt. „Ich habe lediglich keine Lust, mich mit einer Fremden zu unterhalten, nur damit die Viererrunde komplett ist. Nach meiner Erfahrung ist jede Frau, die abends allein unterwegs ist, entweder auf der Jagd nach einem reichen Mann oder – noch schlimmer – ein Mauerblümchen!“

Die Frau, der unterstellt wurde, „entweder auf der Jagd nach einem reichen Mann oder – noch schlimmer – ein Mauerblümchen zu sein“, hatte die Hotelbar erst vor wenigen Sekunden betreten und nach ihren Gastgebern Ausschau gehalten – ihrer Freundin Alison und deren frisch angetrautem Ehemann Stephen –, als sie zufällig die beleidigende Bemerkung des Mannes hörte.

Sie hatte Alison und Stephen entdeckt – sie waren nicht allein. Abbie konnte sie allerdings nicht sehen und war selbst durch eine üppige Grünpflanze, die den eleganten Raum teilte, ihrer Sicht entzogen. In Anbetracht der taktlosen Worte des Mannes war es vielleicht auch besser so.

„Ich finde das ein bisschen stark, Jarrett“, protestierte Alison empört. „Heutzutage können Frauen überall hingehen und alles tun, was ihnen behagt. Und das sogar ohne die männliche Begleitung.“

Nun, zumindest kannte Abbie jetzt seinen Namen. Jarrett … Er sagte ihr nichts.

„Heiraten diese ‚überallhingehenden‘ Frauen auch?“, erkundigte sich der Jarrett genannte Mann ironisch.

„Natürlich, wenn sie den Wunsch dazu haben – so wie ich“, konterte Alison hitzig. „Ich wollte lediglich zum Ausdruck bringen, dass wir zum Leben nicht unbedingt einen Mann brauchen, so wie unsere Großmütter und vielleicht auch unsere Mütter. Wir machen selbst Karriere, verdienen unser eigenes Geld, und daher ist eine Ehe keine solche Notwendigkeit mehr wie früher …“

Stephens leises Lachen unterbrach sie. „Ich habe das Gefühl, dass man dich absichtlich auf die Palme bringen will, Liebes.“

Der andere Mann lachte ebenfalls. „Du hast mich erwischt. Entschuldige, Alison, das war nicht nett von mir, zumal ihr noch in den Flitterwochen seid. Ich finde es fabelhaft, dass ihr beide geheiratet habt. Es tut mir nur leid, eure Hochzeit verpasst zu haben. Umso mehr freut es mich, dass ich euch hier begegnet bin. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ihr zum Skilaufen nach Kanada wolltet!“

Auch Abbie hatte die Hochzeit der beiden verpasst, deshalb hatte sie – nach langem Zögern – eingewilligt, den Abend mit ihnen zu verbringen. Dieser Jarrett hingegen hatte das junge Paar offenbar zufällig getroffen.

Hätte Abbie den Verdacht gehabt, ihre Freunde wollten sie mit diesem Mann verkuppeln, hätte sie auf der Stelle kehrtgemacht, unbemerkt das Hotel verlassen und sich später telefonisch für ihr Ausbleiben entschuldigt. Sie glaubte jedoch nicht an ein Komplott, denn Alison kannte ihre Gefühle in Bezug auf Beziehungen ganz genau. Was Abbie betraf, so existierten sie einfach nicht.

Ehrlicherweise musste sie zugeben, dass Jarretts anfängliche Bemerkung sie gekränkt hatte. Unwillkürlich betrachtete sie sich in einem der hohen Spiegel, die hinter der Bar hingen. Ihre Beine waren lang und wohlgeformt, sie trug ein schwarzes Etuikleid, das ihre makellose Figur betonte und kurz über dem Knie endete. Dazu hatte sie einen dünnen Seidenblazer gewählt, der genau den gleichen violetten Farbton hatte wie ihre Augen und dessen lockerer Schnitt von dem weichen, anschmiegsamen Material ihres Kleides ablenkte. Das lange dunkle Haar hatte sie im Nacken zu einem strengen Chignon zusammengefasst, und auch ihr Make-up verriet äußerste Zurückhaltung.

Sie versuchte, sich mit Jarretts Augen zu sehen, und gelangte zu dem Schluss, dass er sie als kühl und reserviert einschätzen würde – kein „Mauerblümchen“, aber auch keine strahlende Schönheit.

„Nichtsdestotrotz“, fuhr Jarrett lässig fort, „muss ich eure Einladung ablehnen. Eure Freundin hat vielleicht nichts dagegen, den Anstandswauwau zu spielen, Alison, aber ich schon.“

Abbie spürte, wie ihr heiße Röte in die Wangen schoss. Auch sie hatte lange gezögert, als Alison sie gebeten hatte, sich mit ihr und Stephen zu treffen – immerhin befanden die beiden sich noch in den Flitterwochen. Alison hatte jedoch Abbies Einwand, sie wolle nicht stören, ignoriert und sie daran erinnert, dass sie und Stephen vor ihrer Hochzeit vor zwei Wochen bereits ein Jahr zusammengelebt hatten. Der erste Zauber von romantischer Zweisamkeit sei also bereits dahin!

Abbie entfernte sich von der Gruppe hinter der Pflanze ebenso unbemerkt, wie sie sich ihr genähert hatte, und suchte den ans Foyer grenzenden Waschraum auf. Dort entledigte sie sich des Blazers, frischte ihr Make-up nicht nur auf, sondern benutzte nun wesentlich mehr Farbe, und änderte ihre Frisur grundlegend, indem sie alle Nadeln entfernte, die den Chignon zusammengehalten hatten. Das Ergebnis war umwerfend: Eine üppige Mähne schwarzer Zigeunerlocken fiel ihr fast bis zur Taille, die dunkle Fülle betonte ihre hohen Wangenknochen, das intensive Veilchenblau ihrer Augen und die sinnliche Form ihrer Lippen.

Ein Mauerblümchen – pah!

Sie ließ den Blazer in der Garderobe, wo sie zuvor bereits ihren Mantel abgegeben hatte, und durchquerte die Halle mit geschmeidigen Schritten. Nur das herausfordernde Funkeln in ihren Augen verriet, dass sie die bewundernden Männerblicke überhaupt bemerkte.

Die Reaktion der Männer auf ihr Äußeres sprach für sich selbst; Abbie war auch nicht „auf der Jagd nach einem reichen Mann“ – das bewiesen die glitzernden Diamanten an ihren Ohren und Handgelenken. Sie konnte nicht umhin, sich zu fragen – zugegeben, es war vielleicht ein bisschen boshaft –, in welche Kategorie Jarrett sie nun einordnen würde.

Diesmal steuerte sie schnurstracks auf den Tisch zu, an dem Alison und Stephen mit dem anderen Mann saßen. Sie lächelte ihre Freundin strahlend an, als Alison aufschaute und sie bemerkte.

„Abbie!“ Alison stand auf und umarmte sie herzlich. „Du siehst toll aus“, erklärte sie bewundernd und zugleich ein wenig erstaunt.

Zusammen mit allen Freunden und Bekannten hatte Alison Abbie in den vergangenen Jahren immer wieder liebevoll vorgeworfen, ihr Aussehen, das einst das Interesse der mächtigsten Männer der Welt erregt hatte, herunterzuspielen. Vergeblich.

„Das stimmt.“ Stephen erhob sich ebenfalls und küsste sie leicht auf die Wange.

Die frisch Vermählten gaben ein schönes Paar ab; Alison war groß und rothaarig, Stephen groß und blond. Abbie kannte die beiden schon seit Jahren und hatte sich in ihrer Gesellschaft stets wohlgefühlt. Allerdings waren sie heute Abend nicht allein …

Sie wandte sich kühl zu dem Mann mit der tiefen Stimme um, dem Mann, den sie nur als „Jarrett“ kannte, und verspürte so etwas wie einen leichten elektrischen Schlag, als sie ihn zum ersten Mal sah. Er war einer der Männer, die man nie vergisst: teuflisch attraktiv!

Da er ungefähr zehn Jahre älter war als sie mit ihren siebenundzwanzig, wies sein Gesicht jene feinen Linien auf, die man nur durch Reife und Lebenserfahrung erwarb. Es waren wahrscheinlich diese Fältchen – und das zynische Funkeln in seinen faszinierenden braunen Augen –, die ihn davor bewahrten, einfach zu schön zu sein.

Als er höflich aufstand, erkannte Abbie, dass er groß und muskulös gebaut war. Das marineblaue Jackett, das hellgraue Hemd und die graue Hose verrieten, dass er nicht ein Gramm Fett zu viel mit sich herumtrug. Sein dunkles Haar war eine Spur zu lang und ringelte sich im Nacken. Sein Gesicht war perfekt geschnitten, das Kinn markant, aber am auffallendsten waren die bernsteinfarbenen Augen. Die Augen eines Tigers …

„Abbie, dies ist ein Freund von mir aus London“, stellte Stephen ihn vor. „Jarrett Hunter.“

Hunter – der Jäger. Das passt zu ihm, entschied Abbie. „Und ich bin Abbie.“ Sie reichte ihm die schmale, ringlose Hand mit den unlackierten, kurz geschnittenen Nägeln.

Er umschloss ihre Finger mit einem warmen, festen Griff, der nicht zu stark und auch nicht zu schlaff war. Daniel hatte immer behauptet, der Händedruck eines Mannes verrate viel über dessen Charakter. Falls das zutraf, war Jarrett Hunter weder schüchtern noch übertrieben freundlich!

„Nur Abbie?“, erkundigte er sich sanft.

„Nur Abbie“, bestätigte sie, bevor Stephen etwas sagen konnte.

„Unter diesem Namen ist sie auf dem Laufsteg berühmt geworden“, erklärte Alison, als alle wieder Platz nahmen.

Abbie saß nun neben ihrer Freundin und Jarrett Hunter ihr gegenüber. Mit neu erwachtem Interesse widmete er ihr seine ganze Aufmerksamkeit. „Sie sind demnach auch Model“, meinte er bewundernd.

„Ich war es“, entgegnete sie ruhig und bestellte ein Mineralwasser beim Kellner.

„Und nun nicht mehr?“, fragte Jarrett erstaunt.

„Nein, nun nicht mehr.“ Während sie sich ihren Freunden zuwandte, spürte sie, dass er sie noch immer prüfend betrachtete.

Er hat einige Probleme, mich in eine Schublade zu tun, dachte sie amüsiert. Solange er geglaubt hatte, sie würde wie Alison noch immer als Model arbeiten, hatte er sie insgeheim mit einem Etikett versehen und eingeordnet. Da sie aber kein Mannequin mehr war, aber dennoch selbstbewusst und halbwegs wohlhabend wirkte, fragte er sich offensichtlich, womit sie sich jetzt beschäftigen mochte. Sie bezweifelte, dass er es je erraten würde!

„Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr wir uns freuen, dich bei uns zu haben, Abbie.“ Alison tätschelte ihren Arm. „Wir sehen uns viel zu selten“, fügte sie bedauernd hinzu.

Obgleich er scheinbar völlig entspannt und gelangweilt auf seinem Stuhl saß, spürte Abbie, dass Jarrett Hunter interessiert der Unterhaltung lauschte. Offenbar war er ein Mann, der Geheimnisse nicht mochte – und allmählich wurde sie eines für ihn.

„Ich weiß auch nicht, wo die Zeit bleibt“, erwiderte sie reumütig. „An einem Tag bin ich in London, am nächsten in Hongkong, und heute bin ich in Kanada.“

„Sie reisen gern, Abbie?“ Jarrett Hunter betrachtete sie ziemlich geringschätzig. Vielleicht hielt er sie für eine oberflächliche Jetset-Schönheit.

Abbie hielt seinem verächtlichen Blick unbeeindruckt stand. „Eigentlich nicht, Mr. Hunter“, sagte sie ausweichend.

Unverhohlene Ratlosigkeit spiegelte sich in den bernsteinfarbenen Augen wider. „Aber warum …“

„Ich glaube, unser Tisch ist gerichtet“, unterbrach ihn Stephen, als der Kellner sich ihnen erneut näherte. An Jarrett gewandt, sagte er betont unschuldig: „Ich weiß, du sagtest zwar, du seist heute Abend beschäftigt, Jarrett, aber willst du uns wirklich nicht Gesellschaft leisten?“

Ein leichtes Lächeln umspielte Abbies Lippen. Sie hätte wetten mögen, Stephen ahnte, dass sie vorhin die taktlosen Bemerkungen seines Freundes mit angehört hatte. Oder fand er einfach nur Jarretts Reaktion auf die Frau amüsant, die er noch vor wenigen Minuten unwissentlich beleidigt hatte? Wie auch immer, Stephen genoss die Situation maßlos!

„Ich …“

„Sie müssen meinetwegen Ihre Pläne wirklich nicht ändern“, beteuerte Abbie. „Die Zeiten, da eine Frau einen männlichen Begleiter brauchte, um auszugehen, sind längst vorbei. Zum Glück!“

Alison warf ihr einen scharfen Blick zu, bevor sie zum Eingang der Bar hinüberschaute. Als sie die hohe Kübelpflanze bemerkte, trat ein wissender Ausdruck in ihre Augen. Abbie verriet sich jedoch mit keinem Wimpernzucken.

Jarrett Hunter sah sie ebenfalls misstrauisch an, allerdings aus einem völlig anderen Grund. Er bemühte sich noch immer, eine passende Nische für sie zu finden – und scheiterte kläglich. „Eigentlich habe ich heute Abend nichts weiter vor“, verkündete er. „Ich wollte nur nicht …“

„Das ist ganz reizend von Ihnen“, unterbrach Abbie ihn zuckersüß. „Alison und ich haben uns so viel zu erzählen.“

„… dass Alison und Stephen auf ihrer Hochzeitsreise gestört werden“, beendete Jarrett Hunter den Satz mit einem herausfordernden Funkeln in den bernsteinfarbenen Augen.

Er hatte das Blatt geschickt zu seinen Gunsten gewendet und Abbie in die Defensive gedrängt. Aber die Rettung war nah.

Stephen eilte ihr zu Hilfe. „Alison und ich sind jetzt fast zwei Wochen verheiratet und wollen übermorgen ohnehin abreisen. Die Flitterwochen sind also vorbei.“

Besitzergreifend hakte Alison sich bei ihm ein. „Nur dem Namen nach“, warnte sie.

Stephen stöhnte auf. „Hör auf meinen Rat, Jarrett: Heirate niemals eine jüngere Frau!“

Abbie und Alison waren siebenundzwanzig, während die Männer sich den Enddreißigern näherten. In Anbetracht der unübersehbaren Fitness der beiden Freunde war sowohl Abbie als auch Alison klar, dass Stephen nur gescherzt hatte.

Jarrett Hunter hingegen schien die Worte bitterernst zu nehmen. „Ich habe nicht die Absicht, überhaupt jemals zu heiraten“, erklärte er herablassend.

Abbie musterte ihn interessiert. Sie beide hatten also doch etwas gemeinsam. Auch sie wollte nicht heiraten. Allerdings hatte sie ihre Gründe für diese Entscheidung. Unwillkürlich fragte sie sich, was wohl Jarrett Hunter dazu bewogen haben mochte …

Noch während sie darüber nachdachte, fuhr er fort: „Warum soll ich mich für den Rest meines Lebens auf ein köstliches Dessert festlegen, wenn mir doch so viele schmecken?“

Abbies Abneigung gegen ihn – und seine boshafte Ader – wuchs in rasantem Tempo.

„Ich habe festgestellt, dass ich eine Vorliebe für Erdbeertörtchen habe“, erwiderte Stephen mit einem liebevollen Seitenblick auf Alisons rotes Haar.

„Mag sein“, räumte Jarrett gelangweilt ein, „doch als ständige Diät können auch die lästig werden.“

„Sie haben eine Schwäche für Süßigkeiten, Mr. Hunter?“, erkundigte Abbie sich rasch. Sie hatte gemerkt, dass Alison kurz davor war, wegen dieser doppeldeutigen Äußerungen die Beherrschung zu verlieren. Unter den gegebenen Umständen war das nicht weiter verwunderlich.

Jarrett wandte sich ihr zu. „Nicht mehr als jeder andere Mann auch … Abbie.“

Sie bezweifelte nicht eine Sekunde, dass aufgrund seines guten Aussehens zahlreiche Frauen sich trotz seiner arroganten Art zu ihm hingezogen fühlten. „Ist das tatsächlich so? Da ich mir nichts aus Süßigkeiten mache, kann ich das nur schwer nachvollziehen.“ Sie provozierte ihn absichtlich, um seine Attacken von der wesentlich temperamentvolleren Alison abzulenken.

Das rote Haar der Freundin war ein Gradmesser ihres aufbrausenden Wesens, und wenn Jarrett Hunter nicht aufpasste, würde er gleich einen von Alisons denkwürdigen Wutausbrüchen erleben. Und das wäre schade, da das junge Paar bislang so viel Freude an den Flitterwochen gehabt hatte.

Der Blick der goldbraunen Augen glitt aufreizend langsam von Abbies wohlgeformten Beinen über das schmale schwarze Kleid hinauf zu ihrem schönen, von einer dunklen Lockenmähne umrahmten Gesicht. „Sie erstaunen mich, Abbie“, sagte er leise.

„So?“ Sie lächelte kühl.

„Nun ja, vielleicht auch nicht“, meinte er einschränkend. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Schokoladeneclairs zwar köstlich aussehen, aber mehr oder weniger nach nichts schmecken.“ Er sah ihr unverwandt in die Augen.

Abbie spürte, wie die Zornesröte ihr in die Wangen stieg. Neben ihr schnappte Alison hörbar nach Luft. Er legte es gezielt darauf an, sie zu beleidigen! Andererseits hatte sie ihn zu diesem Wortwechsel herausgefordert, weil sie die vorhin belauschten Bemerkungen dazu aufgestachelt hatten.

„Zum Glück bleiben mir derartige Enttäuschungen erspart“, verkündete sie betont fröhlich. „Und nun lasst uns essen!“

„Jarrett?“, fragte Stephen, der den verbalen Schlagabtausch amüsiert verfolgt hatte.

Erneut unterzog Jarrett Abbies verführerische Figur einer ausführlichen Musterung, sein Blick verweilte kurz auf ihren schmalen Hüften und den festen Brüsten, bevor er sich wieder ihren ebenmäßigen Gesichtszügen widmete. „Wenn Abbie nichts dagegen hat“, erwiderte er herausfordernd. „Schließlich werde ich ihr ja mehr oder minder aufgezwungen.“

Ein Abend in Jarrett Hunters nervenaufreibender Gesellschaft war das Letzte, was sie sich wünschte. Und da er das genau wusste, hatte er ihr den schwarzen Peter zugeschoben. „Sie sind Alisons und Stephens Gast, nicht meiner“, stellte sie unmissverständlich klar.

„In diesem Fall nehme ich die Einladung natürlich gern an.“

Sie hatte mit dieser Antwort gerechnet und geahnt, dass er der Versuchung nicht würde widerstehen können, mehr über sie herauszufinden. Er hielt sie also nicht länger für ein fades Schokolandeneclair oder ein Mauerblümchen!

„Du hast ihn vorhin reden hören, oder?“, flüsterte Alison ihr zu, als sie Seite an Seite ins Hotelrestaurant vorausgingen. „Du bist in die Bar gekommen und hast zufällig …“

„Wer, um alles in der Welt, ist er?“, fragte Abbie ebenso leise. „Mir ist noch nie ein so arroganter, unerträglicher, taktloser …“

„Du hast ihn gehört!“ Alison kicherte schadenfroh. „Ist er nicht einfach unglaublich?“ Sie warf einen verstohlenen Blick auf die beiden Männer, die ihnen in einigem Abstand plaudernd folgten.

„Dieser Mann ist ein Dinosaurier!“, erklärte Abbie verächtlich. Sie spürte förmlich seinen Blick in ihrem Rücken. Dank der langen Jahre auf dem Laufsteg besaß sie jedoch das nötige Selbstvertrauen, um nicht zu stolpern.

„Der nichts von der Ehe hält“, ergänzte ihre Freundin fröhlich. „Ihr beide seid verwandte Seelen.“

„Mach dich nicht lächerlich, Alison“, protestierte Abbie empört. „Du hast ihn selbst gehört: Er liebt es, überall herumzunaschen, während ich …“

„… nichts für Süßigkeiten übrig hast“, beendete Alison lächelnd den Satz für sie. „Es war wirklich eine faszinierende Unterhaltung.“

„Als er sich über Stephens Schwäche für Erdbeertörtchen mokiert hat, fandest du das gar nicht lustig“, erinnerte Abbie sie stirnrunzelnd.

„Mir ist auch noch nie zuvor ein solcher Weiberfeind begegnet.“

„Er ist kein Frauenfeind, Alison, er verschlingt die Frauen ja geradezu!“, erklärte Abbie angewidert. „Und was ihm nicht schmeckt, spuckt er wieder aus!“

Alison schaute erneut zu den beiden Männern. „Wenn ich nicht so verliebt in Stephen wäre, könnte ich glattweg in Versuchung geraten, Jarrett zu beweisen, dass er sich irrt.“

„Auf diese Idee sind vor dir schon etliche Hundert andere Frauen gekommen“, erwiderte Abbie. „Das ist sein Trick, Alison. Auf diese Weise kann er von jedem Dessert kosten, weil jede Frau meint, sie könnte ihn länger als nur einen Monat für sich interessieren.“

„Trotzdem musst du zugeben, dass man ihn nur schwer ignorieren kann.“

Insgeheim musste Abbie ihrer Freundin zustimmen, doch laut würde sie das nie sagen. „Dir ist hoffentlich klar, dass ich mir als Entschädigung das teuerste Menü auf der Karte aussuchen werde“, warnte sie trocken. Es ärgerte sie maßlos, dass sie auch nur einen einzigen Gedanken an Jarrett Hunter verschwendete.

„Das ist okay“, versicherte Alison. „Wir wären schließlich nicht hier, wenn du uns diese wundervollen Flitterwochen nicht zur Hochzeit geschenkt hättest. Eine Einladung zum Dinner ist das Mindeste, was wir tun können, um uns zu bedanken.“

Diesem „Dankeschön“ hatte Abbie mit allen nur erdenklichen Ausreden aus dem Weg gehen wollen. Es war reiner Zufall, dass sie sich zum gleichen Zeitpunkt in Kanada aufhielt wie die beiden.

„Das wäre wirklich nicht nötig gewesen, Alison …“

„Ich glaube, wir sind da, meine Damen“, unterbrach Jarrett Hunter das Gespräch der Freundinnen. Er und Stephen rückten ihnen die Stühle zurecht, nachdem für Jarrett ein viertes Gedeck auf den runden Tisch gelegt worden war.

Abbie saß zwischen Stephen und Jarrett. Das konnte ja nett werden!

Stephen und Alison schienen den Abend allerdings zu genießen. Abbie bemerkte, wie Stephen seiner Frau über den Rand der Menükarte hinweg verschwörerisch zuzwinkerte. Ihr selbst fiel es schwer, sich auf die angebotenen Gerichte zu konzentrieren, denn sie war sich des arroganten Mannes zu ihrer Linken überdeutlich bewusst.

Wer war Jarrett Hunter? Was tat er hier? Er schien nicht zu den Männern zu gehören, die allein verreisten. Eher würde er sich ein paar Wochen lang mit einer etwas eintönigen Diät aus einem einzigen Dessert begnügen, statt gänzlich auf Süßigkeiten verzichten zu müssen.

Nichtsdestotrotz war er offenbar allein hier, denn sonst würde er den Abend mit seiner Partnerin verbringen. Was also wollte er mitten im Januar ohne Begleitung in einem kanadischen Skiort? Ein verstohlener Blick auf seine undurchdringliche Miene zeigte Abbie, dass er nicht die Absicht hatte, dieses Geheimnis zu lüften.

„Was wäre denn nach Ihrem Geschmack, Abbie?“

Der Klang seiner tiefen, sinnlichen Stimme ließ sie zusammenzucken. Bildete sie es sich nur ein, oder hatte da tatsächlich ein anzüglicher Unterton mitgeschwungen? Das spöttische Funkeln in seinen Augen verriet, dass sie sich nicht getäuscht hatte.

Sie klappte die Karte zu. „Ein grüner Salat und danach gegrillter Lachs.“

Verwundert zog er die Brauen hoch. „Ich dachte, Sie wären kein Model mehr.“

„Bin ich auch nicht“, erwiderte sie. „Aber alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen.“ Sie betrachtete ihn abschätzend. „Lassen Sie mich raten, was Sie bestellen werden: Austern und anschließend ein T-bone-Steak. Blutig!“

„Was das Steak betrifft, haben Sie recht. Allerdings bevorzuge ich es medium. Und Austern …“ Er schnitt ein Gesicht. „Ich bin allergisch gegen Schalentiere.“

„Ach ja?“, warf Alison interessiert ein. „Was passiert denn dann mit dir?“

„Achte nicht auf meinen kleinen Plagegeist, Jarrett“, riet Stephen mit einem vorwurfsvollen Kopfschütteln in Richtung seiner Frau. „Wir müssen das wirklich nicht wissen.“

„Du bist überempfindlich, Stephen“, neckte ihn Alison liebevoll. „Er muss nämlich schon fast ins Krankenhaus, wenn er sich beim Rasieren schneidet“, vertraute sie Abbie und Jarrett an.

„Nicht gerade der ideale Geburtshelfer für dich, wenn es so weit ist“, meinte Jarrett.

„Geburtshelfer?“, wiederholte Alison verwirrt. „Aber ich bin doch gar nicht schwanger, Jarrett! Wie, um alles in der Welt, kommst du denn auf die Idee?“ Sie klang gekränkt.

Erstaunt registrierte Abbie, dass Jarrett aufrichtig betroffen wirkte. Und dazu hatte er auch allen Grund. Zynismus war eine Sache, dieses Thema jedoch eine ganz andere!

„Tut mir leid.“ Jarretts Entschuldigung schloss auch Stephen mit ein. „Ich hatte angenommen … Nun ja, mir fiel kein anderer Grund ein, weshalb ihr beide …“

„Sei ein guter Junge, und halt den Mund, Jarrett“, unterbrach Stephen ihn ruhig und drückte besänftigend die Hand seiner Frau. „Ich habe Alison nur deshalb gebeten, mich zu heiraten, weil ich sie liebe und …“

„Sie hat deinen Antrag nur deshalb akzeptiert, weil sie dich liebt“, schloss Abbie lächelnd. „Der bestmögliche Grund für eine Ehe.“ Sie warf Jarrett Hunter einen vernichtenden Blick zu.

Diesen Mann konnte man wirklich keine fünf Minuten sich selbst überlassen! Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch Freunde hatte, die er beleidigen konnte. Zugegeben, sie war selbst ein wenig überrascht gewesen, als Alison und Stephen nach so langem Zusammenleben ihre Heiratspläne bekannt gegeben hatten, aber im Gegensatz zu Jarrett Hunter hatte sie keine voreiligen Schlüsse daraus gezogen.

„Der allerbeste“, bestätigte Jarrett und lächelte Abbie dankbar an. „Um noch einmal auf deine Frage zurückzukommen, Alison – wenn ich Schalentiere esse, schwillt meine Kehle zu, und ich kann nicht mehr atmen.“

„Hast du nicht Lust, ein Dutzend Austern für ihn zu bestellen, Alison?“, erkundigte Abbie sich scherzhaft.

„Besser zwei.“ Alison entspannte sich wieder.

„Wir sollten nicht zu grausam sein“, befand Stephen. „Anderthalb Dutzend dürften reichen.“

„Okay, okay.“ Jarrett hob in komischer Verzweiflung die Hände. „Ich habe mich doch schon dafür entschuldigt, dass ich …“ Er verstummte, als er Abbies warnende Miene sah. „Na ja, jedenfalls habe ich mich entschuldigt. Und nun lasst uns das Essen bestellen – für mich ohne Austern –, und ich verspreche, dass ich mir alle Mühe geben werde, für den Rest des Abends meinen Zynismus zu zügeln.“

Ein ziemlich leichtfertiges Versprechen, dachte Abbie, während sie dem wartenden Kellner ihre Wünsche mitteilten, immerhin hat bislang jede von Jarretts Bemerkungen einen spöttischen oder gar bitteren Unterton gehabt. Nun, es könnte recht interessant werden, ihn dabei zu beobachten, wie er sich bemühte, Wort zu halten.

„Danke für Ihre Hilfe“, flüsterte Jarrett ihr zu, als die beiden frisch Vermählten sich miteinander unterhielten.

Abbie sah ihn kalt an. „Ich habe es nicht getan, um Ihnen zu helfen“, entgegnete sie ebenso leise. „Sie wissen offenbar nicht, dass Alison vor sechs Monaten eine Fehlgeburt erlitten hat. Die beiden waren darüber zutiefst verzweifelt. Und ihre Hochzeit vor zwei Wochen hatte damit überhaupt nichts zu tun, warum auch.“

Jarrett erbleichte. „Sie haben recht. Ich hatte keine Ahnung …“

„Vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee, wenn Sie Ihren Zynismus mal für einen Abend vergessen“, schlug Abbie vor. Sie wusste, dass sie kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte, denn Alison und Stephen hatten nie ein Geheimnis aus der Fehlgeburt gemacht. Und da dieser Mann die seltene Gabe besaß, genau zum falschen Zeitpunkt das Falsche zu äußern, musste er über die Hintergründe informiert werden, bevor er womöglich noch größeren Schaden anrichtete. „Hat Ihr frauenfeindliches Weltbild schon ein paar Kratzer bekommen?“

Er seufzte. „Ich sagte doch bereits, dass ich mir Mühe geben werde.“

Es würde schon ein bisschen mehr als nur Mühe erforderlich sein, wenn er unter dem Tisch keinen wohlgezielten Tritt mit der Spitze ihrer hohen Absätze abbekommen wollte!

„Ich schlage vor, wir fangen noch einmal ganz von vorne an, Mr. Hunter.“

„Jarrett“, korrigierte er sie liebenswürdig.

Zu liebenswürdig. Abbie hatte mit ihrem Vorschlag nicht andeuten wollen, dass sie dem Verhältnis zu Jarrett Hunter eine neue Richtung geben wollte – sie machte sich noch immer nichts aus Süßigkeiten! „Mr. Hunter“, wiederholte sie nachdrücklich. „Wacht auf, ihr beiden“, ermahnte sie die Flitterwöchner, die einander tief in die Augen sahen. „Jarrett will uns haarklein erzählen, was er in Kanada macht.“

„Will ich das?“

Obwohl er sich nicht bewegt hatte und völlig entspannt wirkte, spürte Abbie bei ihm eine gewisse Nervosität. Sie fragte sich, warum …?

„Jawohl“, bestätigte sie lächelnd und hielt seinem Blick tapfer stand.

„Mit meinem Besuch ist kein Geheimnis verbunden“, erklärte er ruhig. „Ich bin hier, um jemanden zu treffen.“

„Ah ja.“ Stephen hob interessiert den Kopf. „Ist sie eine Creme caramel oder ein Eisbecher mit Früchten?“

„Fängst du etwa schon wieder damit an, Liebling?“, neckte ihn Alison.

„Letzteres, Stephen“, sagte Jarrett. „Allerdings ist es nicht das, was du vermutest. Es handelt sich um ein reines Geschäftstreffen.“

„Weiß die betreffende Dame das auch?“, stichelte sein Freund.

„Die Dame ahnt noch nicht einmal, dass wir uns begegnen werden.“

„Das wird ja immer mysteriöser.“ Alison beugte sich gespannt vor. „Wer ist sie?“

„Jetzt hast du ein Problem, Jarrett“, warnte ihn sein Freund. „Alison wird nicht aufgeben, bis sie die ganze Geschichte kennt.“

„Da ist keine Geschichte“, versicherte Jarrett. „Wie ich schon sagte, ich bin der Frau noch nie begegnet. Meinen Informanten zufolge ist sie allerdings so kalt wie der von dir erwähnte Eisbecher, Stephen. Ich versuche schon seit Monaten, ein Treffen mit ihr zu arrangieren.“

„So leicht kommst du uns nicht davon, Jarrett“, hakte Alison nach. „Wir wollen ganz genau wissen, wer diese sonderbare Frau ist und was du von ihr willst.“

Versonnen nippte Abbie an ihrem Weinglas. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass es einer Frau tatsächlich gelungen war, das Interesse dieses Mannes lange genug zu fesseln, um ihr monatelang nachzulaufen. Immerhin waren Desserts leicht verderblich und hatten allesamt ein Verfallsdatum – sogar Eiskrem!

Jarrett lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Ihr Name ist Sabina Sutherland“, verkündete er. „Sie ist Daniel Sutherlands Witwe. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass sie sich hier mit ihrer Tochter zum Skilaufen aufhält. Was, zum Teufel …?“ Er verstummte abrupt, als Abbie sich an ihrem Wein verschluckte. Vorsichtig klopfte er ihr auf den Rücken. „Was ist los, Abbie?“, fragte er lächelnd, während sie sich die Tränen aus den Augen wischte. „Ich habe doch gar nicht behauptet, dass ich mit Mutter oder Tochter etwas Unanständiges vorhätte.“

Und selbst wenn das seine Absicht gewesen wäre, hätte sein Plan keinen Erfolg gehabt – denn sie war Sabina Sutherland, und ihre Tochter Charlie war erst vier Jahre alt!

2. KAPITEL

Jarrett beobachtete, wie Alison und Abbie das Restaurant verließen, damit Abbie ihr Make-up nach dem Hustenanfall auffrischen konnte. Seiner Meinung nach ließ sich etwas Vollkommenes nicht verbessern, und Abbie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte!

Als sie vorhin in die Bar gekommen war, hatte es ihm buchstäblich den Atem verschlagen. Er hatte sich selbst dabei ertappt, sie wie ein unbedarfter Schuljunge anzustarren. Ihr Gesicht war hinreißend, ihr Teint makellos zart, die Nase schmal – ein perfektes Gesicht, das von veilchenblauen Augen und einem sinnlichen Mund beherrscht wurde, dessen volle Lippen zum Küssen einluden. Und erst ihr Haar! Die schimmernde nachtschwarze Mähne reichte ihr fast bis zur Taille. Und was ihren Körper betraf …

Der bloße Gedanke an Abbies verführerische Figur weckte brennendes Verlangen in Jarrett. Genug! Er wandte sich zu seinem Freund um, der ihn amüsiert anschaute. „Sieh mich bloß nicht so verdammt selbstzufrieden an“, beschwerte er sich.

Stephen grinste. „Ich habe mich lediglich gefragt, was du jetzt von dem ‚Mauerblümchen‘ hältst.“

„Sehr komisch!“ Es behagte Jarrett überhaupt nicht, an diese Bemerkung erinnert zu werden. „Wer, zum Teufel, ist sie?“

Die beiden Männer waren seit ihrer Schulzeit befreundet, und obwohl sie einander manchmal monatelang nicht sahen – einmal sogar über mehrere Jahre nicht –, war der Kontakt nie ganz abgebrochen.

„Wie wir schon sagten: Sie ist eine Freundin aus Alisons Mannequinzeit“, erwiderte Stephen.

Jarrett schüttelte den Kopf. „Wenn diese Frau jemals über den Laufsteg gegangen wäre, hätte sie die Welt im Sturm erobert!“ Abbie bewegte sich mit natürlicher Anmut und würde in allem hinreißend aussehen – oder ohne alles.

Gütiger Himmel, er war schon wieder ins Träumen geraten! Wenn das so weiterging, würde er nicht aufstehen können, wenn die Damen an den Tisch zurückkehrten. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so stark auf den Anblick einer Frau reagiert hatte – außer in seiner Teenagerzeit, und die lag zwanzig Jahre zurück.

„Sie war Model, Jarrett“, beteuerte sein Freund spöttisch. „Zwei Jahre lang war sie das gefragteste Gesicht Europas. Du hast das vielleicht nicht mitbekommen, weil du damals gerade damit beschäftigt warst, in Australien Millionen zu scheffeln.“

„Soweit ich weiß, gehört Australien noch immer zu dieser Welt“, bemerkte er trocken.

„Es geht hier doch gar nicht um den Ort, Jarrett.“

Stephen hatte recht. Zwanzig Jahre lang hatte Jarrett sich ganz darauf konzentriert, ein Vermögen zu machen, und sich nur mit einflussreichen Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft umgeben. Models – selbst so schöne wie Abbie – waren für ihn nicht von Interesse gewesen. Bislang … Denn an Abbie war er durchaus interessiert.

„Und was ist nach diesen zwei Jahren im Rampenlicht mit ihr passiert?“, erkundigte er sich scheinbar gelangweilt.

„Sie hat den Job an den Nagel gehängt.“

Jarrett fand, dass Stephen ihm in diesem Punkt keine große Hilfe war. Schon seit Jahren war er nicht mehr so fasziniert von einer Frau gewesen, und dass alle sich so verdammt diskret verhielten … Plötzlich kam ihm ein Verdacht. „Sie ist doch nicht verheiratet, oder?“ Falls sie es war, hatte er noch einmal Glück gehabt, denn verheiratete Frauen waren für ihn absolut tabu.

Der flatterhafte Lebenswandel seiner Mutter und der Kummer, den sein Vater dadurch gehabt hatte, waren der Grund, weshalb Jarrett bereits vor langer Zeit beschlossen hatte, sich niemals in die Beziehung eines anderen Paares einzumischen. Die turbulente Ehe seiner Eltern war überdies schuld daran, dass er sich nie verlieben und heiraten wollte. Er wusste, dass er niemals so friedfertig reagieren würde wie sein Vater, falls jemals ein anderer Mann versuchen sollte, sich in seine Ehe zu drängen …

Wieso, um alles in der Welt, dachte er plötzlich an Ehe? Die bloße Vorstellung war ihm zutiefst verhasst, wie er schon zu Beginn der Konversation bewiesen hatte.

Voller Vergnügen erinnerte er sich daran, wie Abbie seine bissigen Kommentare elegant pariert hatte. Abbie … Verdammt, er träumte schon wieder von ihr! Wenn sie doch nur nicht so geheimnisvoll wäre …

„Würde es dich stören, wenn sie verheiratet wäre?“ Stephen schaute ihn mit einer wahren Unschuldsmiene an.

„Absolut nicht“, entgegnete Jarrett wütend. Es ärgerte ihn maßlos, dass er nicht gut genug aufgepasst und dadurch Stephen verraten hatte, wie stark er sich zu der bezaubernden Abbie hingezogen fühlte. Er hatte ganz vergessen, wie hartnäckig Stephen sein konnte, wenn er sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Und das Letzte, was er momentan gebrauchen konnte, war ein Freund, der unbedingt eine Ehe stiften wollte! „Nur weil du frisch verheiratet bist, bedeutet das noch lange nicht, dass alle anderen deinem Beispiel folgen müssen.“

Stephen schmunzelte über Jarretts aggressiven Tonfall. Er ließ sich nicht eine Sekunde lang dadurch täuschen. „Ah, die Damen kommen zurück“, stellte er bewundernd fest. „Sind sie nicht ein umwerfendes Gespann? Nur zu deiner Information, Jarrett …“ Er beugte sich ein wenig vor, als er von seinem Gegenüber keine Antwort erhielt. „Abbie ist nicht verheiratet.“

„Ich sagte doch schon, es …“ Jarrett verstummte, als die beiden Frauen den Tisch erreichten. Sein anfänglich leichtes Stirnrunzeln vertiefte sich, während er aufstand und ein paar Tische weiter einen Mann bemerkte, der sich offenbar nicht von Abbies Anblick losreißen konnte.

Verdammt, diese Frau lenkte die Aufmerksamkeit jedes männlichen Gastes hier im Saal auf sich! Jeder Mann, der so dumm war, etwas mit ihr anzufangen, würde sie mit einer schweren Eisenkette um den Fuß fesseln müssen, wenn er vermeiden wollte, dass … Teufel, er tat es schon wieder! Schließlich hatte er nicht vor, sich mit ihr einzulassen, warum also sollte er auch nur einen einzigen Gedanken an den armen Trottel verschwenden, der dieses Wagnis einging?

„Perfektes Timing“, lobte Stephen. Kaum hatten alle wieder Platz genommen, wurde auch schon der erste Gang serviert.

Jarrett schaute Abbie über den Tisch hinweg an – und gleich wieder weg. Es sollte Frauen verboten werden, einen so sinnlichen Mund zu haben wie Abbie! Das pfirsichfarbene Lipgloss, mit dem sie diese vollen, weichen Lippen geschminkt hatte, weckte in ihm den Wunsch, sie zu küssen.

Und wie er sie küssen würde!

Genau genommen wollte er sogar noch viel mehr als sie nur küssen …! Zum Glück hatte er die gestärkte weiße Leinenserviette vor sich halten können, als Stephen und er bei der Rückkehr der beiden Frauen aufgestanden waren, ansonsten wäre das gesamte Restaurant Zeuge des Verrats geworden, den sein Körper an ihm verübte. Er benahm sich wie ein Schuljunge bei seiner ersten Flamme!

Der Mann zwei Tische weiter tat zwar so, als würde er sich den Speisen auf seinem Teller widmen, doch stattdessen verschlang er Abbie förmlich mit seinen Blicken. Und Jarrett verspürte einmal mehr das kindische Bedürfnis, dem lüsternen Gaffer eins auf die Nase zu geben.

„Sind die Rippchen nicht nach Ihrem Geschmack, Jarrett?“

Benommen sah er Abbie an. Selbst ihr Flüstern klang unendlich aufreizend. Nein, keiner Frau sollte es erlaubt sein, eine derart erotische Ausstrahlung zu besitzen! „Was?“, fragte er unhöflich.

Das kurze Aufflackern in den veilchenblauen Augen war der einzige Hinweis darauf, dass sie sich über seine schlechten Manieren wunderte. „Ich habe mich lediglich erkundigt, ob mit Ihrem Essen etwas nicht stimmt. Sie haben es noch nicht angerührt“, erklärte sie ihm geduldig.

Jarrett blickte zuerst auf die unangetastete Vorspeise vor sich, dann auf die drei anderen bereits halb geleerten Teller. Er schalt sich im Stillen wegen seiner Unachtsamkeit und zwang sich zur Ruhe. Je schneller er diese Mahlzeit hinter sich brachte, desto eher würde er von hier fortkommen. Fort von Abbie.

„Ich bin sicher, die Rippchen sind exzellent“, antwortete er. „Schließlich ist dies ein Sutherland-Hotel, oder? Obwohl“, fügte er spöttisch hinzu, „es kein gutes Zeichen ist, wenn die Mitbesitzerin nicht einmal in ihrem eigenen Hotel absteigt.“ Er probierte ein Stück Fleisch, und, wie bereits vermutet, es war ausgezeichnet.

Die Sutherland-Hotels waren weltweit für ihren freundlichen Service und ihre hervorragende Küche berühmt. Alles an diesem Hotel verriet Exklusivität, angefangen bei der Rezeption bis hin zu den geschmackvoll möblierten Suiten. Aber die Frau, die im Aufsichtsrat das Sagen hatte, Daniel Sutherlands Witwe nämlich, wohnte nie in einem der Häuser.

Sutherlands Tochter Cathy zufolge, dem ältesten von zwei Kindern aus erster Ehe, war Sabinas Vater einer von Daniels Angestellten gewesen. Nach der Hochzeit mit Daniel Sutherland hatte sie sehr bald die Vorteile schätzen gelernt, die ihr ein so reicher Ehemann bieten konnte. Seit seinem Tod vor zwei Jahren hatte sie sich nie mehr dazu herabgelassen, eines der konzerneigenen Hotels zu besuchen. Stattdessen hatte sie stets Privatunterkünfte bevorzugt – bei wohlhabenden Bekannten wohlgemerkt! –, wenn sie in ihrer Funktion als Vormund der Hauptanteilseignerin eine ihrer regelmäßigen Inspektionsreisen unternahm. Sabinas kleine Tochter Charlotte war die eigentliche Sutherland-Erbin. Sabina selbst verwaltete lediglich das Vermögen bis zum einundzwanzigsten Geburtstag des Mädchens. Aber bis zu diesem Zeitpunkt beabsichtigte die Frau offenbar, für sich selbst den größtmöglichen Profit herauszuholen!

Cathy und ihrem jüngeren Bruder Danny passte es logischerweise überhaupt nicht, dass ihre Stiefmutter durch die Aktien ihrer eigenen Tochter einen solchen Einfluss auf das Familienunternehmen ausüben konnte. Daniel Sutherland musste völlig vernarrt in seine zweite Frau gewesen sein, sonst hätte er sein Testament anders abgefasst …

„Sie sprechen von Sabina Sutherland?“, fragte Abbie kühl.

„Natürlich. Sie wohnt irgendwo auf dem Berg in einer privaten Skihütte.“

„Und woher wissen Sie das?“ Sie runzelte die Stirn.

„Ich habe mich umgehört.“

„Und jemand aus dem Hotel hat Ihnen erzählt, wo sie sich aufhält?“

„Nicht aus dem Hotel, Abbie.“ Er lächelte nachsichtig. „Ich schätze, kein Angestellter riskiert für diese Information seinen Job. Nein, ich habe in London diskrete Nachforschungen angestellt, bevor ich nach Whistler kam.“

Er hatte etliche langweilige Abende über sich ergehen lassen, sich Cathy Sutherlands erbitterte Klangen über ihre Stiefmutter angehört und ihren mehr als eindeutigen Bemühungen widerstanden, ihrer Beziehung eine etwas intimere Note zu verleihen – er mischte niemals Geschäft mit Privatleben. Erst nachdem er ihre Annäherungsversuche geschickt und taktvoll zurückgewiesen hatte, war es ihm gelungen, ihr die Information zu entlocken, dass die Schwarze Witwe, wie Cathy ihre Stiefmutter nannte, in der zweiten Januarwoche mit ihrer Tochter Charlotte einen Skiurlaub in Kanada plane.

Zwischen Cathy und Charlotte schien ebenfalls keine allzu große Liebe zu herrschen. Cathy bezeichnete ihre Halbschwester als „das Balg“. Altersmäßig lag zwischen den beiden eine ganze Generation, und mit dreißig hatte Cathy bereits die Blüte ihrer Jugend hinter sich. Jahrelanger Kummer hatte die Züge der einst attraktiven Blondine geprägt, die Existenz einer jüngeren und wahrscheinlich hübschen Stiefschwester war in diesem Punkt gewiss kein Trost. Abgesehen davon – nach einer behüteten Kindheit im Luxus, von einer nachweislich geldgierigen Mutter erzogen, musste Charlotte Sutherland unweigerlich ein „Balg“ sein.

„Du hast also Erkundigungen über diese Frau eingeholt, Jarrett?“, hakte Alison nach.

Er zuckte kurz die Schultern. „Ich bin nur an ihrem geschäftlichen Leben interessiert, nicht an ihrem privaten.“

Cathy hätte ihm allerdings mit Freuden mehr über die Frau berichtet, die Daniel Sutherland nach dem Tod seiner ersten Frau vor zwanzig Jahren geheiratet hatte, doch das hatte Jarrett in letzter Minute zu verhindern gewusst. Das bis dahin Gehörte hatte ihn nur in seiner Überzeugung bestärkt, dass die Ehe nichts für ihn war. Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als nur wegen seines Geldes geheiratet zu werden. Daniel Sutherland war ein intelligenter Mann gewesen, und dennoch hatte man ihn getäuscht. Zumindest ein paar Jahre lang, wie es schien.

„Sie haben uns noch nicht erzählt, was Sie von ihr wollen“, erinnerte ihn Abbie.

Kopfschüttelnd lehnte er sich zurück. „Ich glaube, ich habe schon zu viel zu diesem Thema gesagt“, erwiderte er nachdrücklich. „Das muss der Champagner gewesen sein, mit dem wir vorhin auf eure Hochzeit angestoßen haben“, fügte er an das junge Paar gewandt hinzu.

„Apropos …“ Stephen winkte den Kellner herbei und bestellte eine weitere Flasche Champagner.

Jarrett nutzte die Gelegenheit, um seine angeschlagene Selbstbeherrschung wiederzufinden. Er hatte bereits mehr als genug über sich und die Hintergründe für seine Reise nach Kanada verraten. Normalerweise war er sehr verschlossen, bis hin zur Unhöflichkeit – selbst Cathy Sutherland hatte nicht geahnt, warum er sich tatsächlich für sie interessierte –, und die Erkenntnis, dass ihn diese drei Menschen hier am Tisch zu solchen Enthüllungen veranlasst hatten, erfüllte ihn mit Unbehagen.

Das alles war natürlich nur Abbies Schuld. Obgleich sie sich den Anschein gab, offen zu sein, hatte sie nicht ein einziges Detail über sich verraten. Stattdessen hatte sie Jarrett, wie ihm allmählich dämmerte, dazu provoziert, über sich selbst zu reden, um auf diese Weise eventuell mehr über sie zu erfahren.

Was wusste er überhaupt von ihr? Sie war vor Jahren Model gewesen, zu einem Zeitpunkt, da er sich vermutlich in Australien aufgehalten hatte. Sie reiste viel, aber nicht aus eigenem Antrieb, falls man ihren Missfallensäußerungen darüber Glauben schenken durfte. Wenn es ihr so wenig behagte, warum tat sie es dann? Sie …

Verärgert stellte er fest, dass er immer besessener von dieser Frau wurde. Für einen Mann, der Frauen bestenfalls mit ironischer Nachsicht und schlimmstenfalls mit kalter Verachtung betrachtete, war dies kein sonderlich angenehmes Gefühl!

„Ich glaube, Sie haben einen Verehrer, Abbie“, wechselte er lässig das Thema.

Sie sah ihn kühl an. „Aber wir kennen einander doch kaum, Jarrett“, gab sie ebenso lässig zurück.

Er stutzte. Machte sie sich etwa über ihn lustig? „Ich meinte damit nicht mich selbst“, konterte er schroffer als beabsichtigt.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie die Bedeutung seiner Worte begriff. Dann jedoch sah sie sich besorgt um.

Mit einem Mal wurde Jarrett klar, dass diese Frau vor irgendetwas davonlief. Oder vor irgendjemandem …

Gleichzeitig mit dieser Erkenntnis verspürte Jarrett einen ihm bislang fremden Beschützerinstinkt. Für Abbie. Eine Frau, die er, wie sie soeben sehr richtig festgestellt hatte, kaum kannte! Aber hinter ihrer kühlen Selbstsicherheit verbarg sich eine Verletzlichkeit, eine tiefe Unsicherheit, die sich in dem Moment zeigte, als sie nervös die Gesichter der anderen Restaurantgäste musterte.

Jarrett beugte sich zu ihr vor. „Er sitzt zwei Tische weiter, auf der linken Seite“, flüsterte er. „Und er scheint sich nicht von Ihrem Anblick losreißen zu können. Ich kann ihm das nicht verübeln“, fügte er hinzu. „Es passiert schließlich nicht jeden Tag, dass man Kleopatra und Delila nebeneinander sieht.“

Sie ist wirklich kaltblütig, dachte er bewundernd. Der Mann, der sie so intensiv anstarrte, besaß das Aussehen eines Filmstars. Die meisten anderen Frauen wären über sein unverhohlenes Interesse in Verzückung geraten, doch Abbie schenkte ihm nicht die geringste Beachtung. Seelenruhig wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Hauptgericht zu, das soeben serviert wurde.

Stephen beteiligte sich nun auch wieder an der Unterhaltung. „Kleopatra und Delila waren beide gefährliche Intrigantinnen …“

Jarrett lächelte. „Aber schön, wenn man der Geschichtsschreibung glauben darf – sehr schön sogar.“

„Wenn ihr mich bitte für ein paar Minuten entschuldigen würdet.“ Abbie schien die versteckte Spitze in Jarretts Bemerkung nicht gehört zu haben. „Ich muss telefonieren.“ Sie erhob sich, griff nach ihrer schmalen Abendtasche und verließ das Restaurant in Richtung der im Foyer aufgestellten Telefonzellen.

„Habe ich irgendetwas Falsches gesagt?“, fragte Jarrett erstaunt.

„Ich glaube nicht“, entgegnete Stephen. „Abbie muss vermutlich wirklich nur einen Anruf erledigen.“

Mag sein, dachte Jarrett. Der Mann jedoch, der Abbie während der gesamten Mahlzeit angestarrt hatte, schien nunmehr die Gelegenheit nutzen zu wollen, sie persönlich kennenzulernen. Hastig schob er sein Essen beiseite, das er ohnehin kaum angerührt hatte, stand auf und folgte ihr aus dem Speisesaal.

Jarrett kniff die Augen zusammen, als er den überstürzten Aufbruch des Mannes beobachtete – so kurz nach Abbies Abgang konnte es sich unmöglich um einen Zufall handeln. Die Verwundbarkeit, die sie mit ihrem selbstbewussten Auftreten überspielte, und ihre Zerbrechlichkeit bereiteten Jarrett Sorge. Der Mann, der ihr so zielstrebig nacheilte, war groß und so muskulös, als würde er viel Zeit in einem Fitnesscenter verbringen.

Entschlossen legte Jarrett seine Serviette neben Abbies auf den Tisch. „Ich bin gleich wieder da“, sagte er kurz angebunden, bevor er den beiden nachging. Es war ihm herzlich gleichgültig, was Stephen und Alison von ihm denken mochten.

Er brauchte nicht lange, um Abbie zu entdecken. Und den blonden Adonis.

Sie standen zusammen in der Halle. Die öffentlichen Telefonzellen befanden sich auf der anderen Seite des weitläufigen, mit Marmor verkleideten Foyers. Und noch während Jarrett sich den beiden näherte, um den aufdringlichen Blonden in seine Schranken zu verweisen, legte Abbie dem Fremden die Hand mit einer intimen Geste auf den Arm und lächelte ihn entspannt an.

Jarrett blieb wie angewurzelt stehen. Sein Magen krampfte sich zusammen, als er das in eine angeregte Unterhaltung vertiefte Paar beobachtete. Abbie kannte den blonden Riesen, obwohl sie es vorhin mit keinem Wimpernzucken verraten hatte! Die Vertrautheit zwischen den beiden verriet eine lange Bekanntschaft, Abbie wirkte jetzt sogar regelrecht aufgekratzt!

Die Art und Weise, wie sie mit dem anderen Mann umging, machte Jarrett wütend. Die beiden hatten sich doch im Restaurant benommen, als würden sie einander nicht kennen. Was, zum Teufel, war hier los?

Was immer es sein mochte, Jarrett hatte nicht die Absicht, sich dabei erwischen zu lassen, wie er den beiden nachspionierte.

Trotz aller guten Vorsätze war er außerstande, sich von der Stelle zu rühren. Der Mann redete leise, aber ein bisschen aggressiv auf Abbie ein, die immer wieder den Kopf schüttelte. Plötzlich verstummte der Mann, und nun sprach Abbie, wobei sie ihm erneut besänftigend die Hand auf den Arm legte. Der Mann schien resigniert zu seufzen und etwas Zustimmendes zu murmeln, und Abbie nickte lächelnd.

Die Frau war ein Mysterium, aber Jarrett war momentan mit anderen Dingen viel zu beschäftigt, um diesem Rätsel auf den Grund zu gehen. Vielleicht war Abbie, obwohl sie schon lange mit Alison befreundet war, ein hochklassiges Callgirl – das würde nicht nur ihre Weigerung, etwas über sich preiszugeben, sondern auch ihre zahlreichen Reisen erklären, an denen sie angeblich keine Freude hatte. Es wäre auch ein Grund, weshalb sie nur ihren Vornamen benutzte …

Alles passte perfekt zusammen. Eine Frau von Abbies Schönheit war zweifellos gefragt und konnte jeden Preis für ihren makellosen Körper verlangen.

Verdammt, und er hatte den größten Teil des Abends damit zugebracht, von einer Frau zu träumen, die das verkaufte, was er sich von ihr wünschte! Bislang hatte er jedoch noch nie für eine Frau bezahlt – jedenfalls nicht in klingender Münze. Allerdings lief kostbarer Schmuck am Ende einer kurzen Affäre vermutlich auf das Gleiche hinaus.

Ach, was soll’s, dachte er. Wenn sie tatsächlich das war, wofür er sie hielt, konnte er sie sich genauso gut für eine Nacht leisten und sich, nachdem er sie besessen hatte, wieder auf den eigentlichen Grund seines Aufenthalts konzentrieren.

Kaum hatte er diese Entscheidung getroffen, drehte er sich um und kehrte ins Restaurant zurück. Egal, zu welcher Einigung Abbie mit dem blonden Adonis auch gekommen sein mochte – sie konnte sie gleich wieder vergessen. Der einzige Mann, mit dem sie heute Abend nach Hause gehen würde, war er, Jarrett. Und er würde dafür sorgen, dass sie beide sich noch lange an diese Nacht erinnern würden!

Er beobachtete sie eindringlich, als sie an den Tisch zurückkam, weil er hoffte, sein Verlangen nach ihr möge durch das Wissen um ihr Geheimnis abgekühlt sein. Leider war dies nicht der Fall. Die sanft geschwungenen Hüften und festen, hohen Brüste, die sich unter dem dünnen Material ihres Kleides abzeichneten, lenkten seine Gedanken erneut in gefährliche Bahnen. Verdammt, nie zuvor hatte er eine Frau so begehrt wie Abbie – gleichgültig, was sie war!

„Sie hätten nicht auf mich zu warten brauchen“, bemerkte sie mit einem vielsagenden Blick auf Jarretts unberührtes Steak.

Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich bin selbst gerade erst zurückgekommen.“ Zufrieden registrierte er, dass sie ihn prüfend anschaute.

„Oh.“

Sollte sie sich ruhig fragen, ob er sie zusammen mit dem blonden Adonis gesehen hatte! „War der Anruf erfolgreich?“, erkundigte er sich, bevor er das perfekt gegrillte Fleisch zerteilte.

„Äh … ja.“ Ihr Unbehagen war unverkennbar.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Alison sanft.

Lächelnd wandte Abbie sich zu ihrer Freundin um. „In bester Ordnung“, bestätigte sie.

Mit einer gewissen Befriedigung stellte Jarrett fest, dass der blonde Adonis nicht mehr an seinen Tisch zurückkehrte. Da der Mann glaubte, alles geregelt zu haben, hielt er es offenbar nicht für nötig, seine Mahlzeit zu beenden. Nun, später würde er noch bereuen, das Essen ausgelassen zu haben, denn auf Abbie würde er ebenfalls verzichten müssen. Was sie betraf, so hatte Jarrett seine eigenen Pläne. Und es passierte nur höchst selten, dass er nicht bekam, was er wollte.

Für Jarrett schleppte sich der Abend endlos dahin, er fand keinen Geschmack an dem exquisit zubereiteten Menü und beteiligte sich auch nicht an der Unterhaltung, was ihm mehrfach einen verstohlenen Seitenblick aus veilchenblauen Augen einbrachte. Er war mit sich rundum zufrieden. Er schien für sie auf einmal ein ähnliches Rätsel zu sein, wie sie es für ihn war.

Der Gedanke an die vor ihm liegende Nacht beschäftigte ihn unablässig. Er hatte keine Ahnung, wie er eine Frau bezahlen sollte, mit der er ins Bett gehen wollte.

Aber da der blonde Adonis offenbar keine Schwierigkeiten gehabt hatte, ein entsprechendes Arrangement zu treffen, würde ihm das auch gelingen!

3. KAPITEL

Abbie war sich des brütenden Schweigens des Mannes zu ihrer Linken und seiner wachsenden Anspannung überdeutlich bewusst.

Allerdings hatte sie keine logische Erklärung für sein Verhalten.

Gewiss, sie war ein wenig besorgt gewesen, als er erwähnte, dass er den Tisch zur gleichen Zeit verlassen habe wie sie. Sie hatte sich gefragt, ob er sie draußen in der Lobby beim Gespräch mit Tony beobachtet hatte. Dann war sie jedoch zu dem Schluss gelangt, dass er, selbst wenn er Zeuge der Unterhaltung geworden wäre, annehmen musste, der Mann, der „sich nicht von Ihrem Anblick losreißen“ konnte, habe bei der erstbesten Gelegenheit ihre Bekanntschaft gesucht. Und da Tony nicht zu seinem Tisch zurückgekehrt war, musste es den Anschein erwecken, als hätte sie ihm eine gründliche Abfuhr erteilt.

Nein, daran konnte Jarretts Stimmungsumschwung kaum liegen. Oder versuchte er durch sein hartnäckiges Schweigen nur, sein Versprechen einzulösen und auf zynische Bemerkungen zu verzichten? Sie hatte sich ohnehin gewundert, wie er es anstellen wollte, seine Vorurteile so lange zu unterdrücken. Vielleicht hatte er festgestellt, dass es am vernünftigsten war, gar nichts zu sagen.

Es störte sie nicht im Mindesten, dass er sich kaum noch äußerte. Sie war vorhin völlig perplex gewesen, als er erklärte hatte, dass sie – nun ja, eigentlich Sabina Sutherland – der Grund für seinen Aufenthalt in Whistler sei. Später im Waschraum hatte Alison ihr versichert, weder sie noch Stephen hätten etwas von Jarretts Motiven geahnt und wüssten auch nicht, was er von Sabina Sutherland wolle.

Jarrett war Unternehmer – für Abbie war das gleichbedeutend mit einem Spekulanten –, der sein Geld in die unterschiedlichsten Branchen investierte. Da Sutherland jedoch ebenfalls eine weit verzweigte Firma war, hatte Abbie damit wenig anfangen können. Wie auch immer, wenn sie nachher in ihre Skihütte auf dem Berg zurückkehrte, würde sie alle erforderlichen Informationen über Jarrett Hunter erhalten, die sie brauchte, um zu entscheiden, ob sie ihn als Sabina Sutherland wiedersehen sollte oder nicht.

Sie hoffte inständig, die Antwort möge „nein“ lauten. Jarrett Hunter war kein Mann, bei dem sie sich wohlfühlte, und sich mit ihm auf geschäftlicher Ebene zu treffen behagte ihr ebenso wenig wie der Blick, mit dem er sie während der letzten Stunde betrachtet hatte. Er hatte jedes ihrer weiblichen Attribute genau studiert, und sie war sicher, dass er sie in Gedanken ausgezogen hatte.

„Darf ich Sie zu Ihrer Suite bringen?“, fragte er, als sie später gemeinsam das Restaurant verließen. „Alison und Stephen werden sich nach dieser Unterbrechung ihrer Flitterwochen bestimmt sofort zurückziehen wollen.“

Abbie wartete mit ihrer Antwort, bis sie ihren Blazer und Mantel in Empfang genommen hatte. Bei Letzterem handelte es sich um ein teures Zobelimitat – echten Pelz verabscheute sie aus tiefstem Herzen, aber im eisigen kanadischen Winter war warme Kleidung unabdingbar. Sie hüllte sich in den knöchellangen Mantel und wandte sich dann mit einem kühlen Lächeln an Jarrett. „Wie Sie sehen, bin ich kein Gast dieses Hauses.“ Demonstrativ schlug sie den Kragen hoch.

Diese Wendung der Ereignisse verwirrte ihn sichtlich. „Dann werde ich Sie zu dem Hotel begleiten, in dem Sie abgestiegen sind“, beharrte er.

„Das ist nicht nötig.“ Sie umarmte zuerst Alison, dann Stephen. „Es war schön, euch beide wiederzusehen. Und das Essen war auch gut. Ich werde mich dafür revanchieren, wenn wir alle wieder in London sind“, fügte sie hinzu, bevor sie sich zu Jarrett Hunter umdrehte und ihm die Hand reichte. „Es war nett, Sie kennenzulernen, Mr. Hunter.“

Ein skeptischer Ausdruck trat in seine bernsteinfarbenen Augen. „War es das?“ Mit einem spöttischen Lächeln ergriff er ihre Hand.

„Es ist immer interessant, auf Reisen einem Landsmann zu begegnen, Mr. Hunter.“ Sie warf einen vielsagenden Blick auf ihre Hand, die er noch immer fest umschlossen hielt.

„Wenn Sie die Heimat so sehr vermissen, sollten Sie vielleicht nicht so viel … reisen.“

Da sie nicht wusste, wie sie diese Bemerkung auffassen sollte, erwiderte sie ausweichend: „Ich fahre dorthin, wo man mich braucht. Und nun muss ich wirklich gehen.“

„Ich sagte bereits, dass ich Sie gern nach Hause bringen würde“, erklärte Jarrett nachdrücklich. „Es ist schon spät, und Sie sollten nicht allein …“

„Ich bin nicht allein, Mr. Hunter. Auf mich wartet draußen ein Wagen.“ Gütiger Himmel, war er tatsächlich so begriffsstutzig? Sie wollte seine Begleitung nicht!

Ein Muskel zuckte in seinem Kinn. „Wenn das so ist, komme ich noch mit bis zum Auto.“ Ohne ihre Erlaubnis abzuwarten, packte er sie beim Arm und zerrte sie förmlich durch die Halle.

Abbie hatte kaum noch Zeit, sich kurz umzudrehen und ihren Freunden zuzuwinken. Alison sah ihr und Jarrett verwundert nach, Stephen runzelte die Stirn.

Draußen vor dem Eingang blieb Abbie abrupt stehen, ihr Wagen stand bereit zur Abfahrt. „Sie benehmen sich höchst sonderbar, Mr. Hunter.“ Energisch befreite sie sich aus seinem Griff.

„Ich benehme mich sonderbar?“, wiederholte er ungläubig. Im warmen Schein der Hotelbeleuchtung schimmerten seine Augen fast golden.

Whistler war eine kleine Gemeinde, die ihre Existenz hauptsächlich den idealen Wintersportbedingungen verdankte, die der Whistler Mountain und der benachbarte Blackcomb boten. Die Ortschaft glich einem idyllischen Schweizer Dörfchen mit zweistöckigen Chalets. Die Hotels in der Gegend hatten sich architektonisch dem Stil anpassen müssen, und momentan hingen überall noch die Weihnachtsdekorationen. Es war eine beinahe märchenhafte Kulisse – nur Abbie hatte das Gefühl, in einem Albtraum gefangen zu sein!

„Ich finde schon“, erwiderte sie vorsichtig. Glücklicherweise war Tim, ihr dunkelhaariger Chauffeur, ganz in der Nähe. Sie hoffte inständig, dass sie ihn nicht zu Hilfe rufen musste. „Ich muss gehen …“

„Das sagten Sie bereits.“ Jarrett blickte an ihr vorbei auf die Limousine, hinter deren Lenkrad ein livrierter Chauffeur saß. „Er scheint eine Menge Geld zu haben“, stellte er verächtlich fest.

Dieser Kommentar trug nicht dazu bei, Abbies Verwirrung zu beseitigen. Allmählich fragte sie sich, ob Jarrett vielleicht der Champagner nicht bekommen war, denn bevor er ihn getrunken hatte, war er ihr halbwegs vernünftig erschienen – abgesehen von seiner Meinung über Frauen. „Wer?“, wollte sie wissen.

„Der blonde Adonis. Was immer er hat, Abbie, ich bin sicher, ich habe mehr!“

„Davon bin ich überzeugt“, versicherte sie rasch. Welcher blonde Adonis? „Es ist schon spät …“

„Und für Sie wird es noch viel später werden, oder?“ Er sah sie vorwurfsvoll an. „Warum tun Sie das, Abbie? Erzählen Sie mir nicht, dass es Ihnen Spaß macht“, fügte er angewidert hinzu.

Der Champagner war tatsächlich zu viel gewesen – seine Worte ergaben inzwischen überhaupt keinen Sinn mehr. Unauffällig gab sie Tim ein Zeichen, auszusteigen und die Tür für sie zu öffnen. „Einer von uns beiden hat morgen früh einen schweren Kopf“, sagte sie lächelnd. „Und ich werde es nicht sein.“ Aufatmend nahm sie auf dem Rücksitz der weißen Limousine Platz.

Jarrett trat vor und hinderte Tim daran, den Schlag zu schließen. „Wollen Sie etwa andeuten, ich wäre betrunken, Abbie?“

„Meiner Meinung nach muss einer von uns beiden erst wieder nüchtern werden – aber nicht ich.“ Sie bedeutete Tim, die Tür zu schließen, und lehnte sich erleichtert in die Polster zurück.

Nach einem letzten vernichtenden Blick in ihre Richtung machte Jarrett auf dem Absatz kehrt und stürmte zurück ins Hotel. Und zwar geradewegs an die Bar, daran bestand für Abbie nicht der geringste Zweifel!

Sie seufzte leise auf. Es war ein langer Abend gewesen, und er war noch nicht vorüber …

Im Chalet, das sie für die Zeit ihres Aufenthaltes in Whistler gemietet hatte, brannte Licht. Zum Glück nicht im rückwärtigen Teil, wo ihre Tochter Charlie schlief. Abbie nickte Tom zerstreut zu, als sie aus dem Wagen stieg, eilte leichtfüßig die Stufen zur Hütte hinauf und öffnete die Tür. Tony wartete im Wohnzimmer auf sie.

Er saß am Tisch und arbeitete einige Unterlagen durch. Der flackernde Schein des Kaminfeuers verlieh seinem Haar einen silbrigen Schimmer. „Ist alles in Ordnung?“, erkundigte er sich besorgt, als Abbie auf der Schwelle stehen blieb und ihn versonnen anschaute.

„Alles bestens“, erwiderte sie. „Und Charlie?“

Lächelnd erhob er sich. „Schläft – und freut sich aufs Skilaufen morgen“, fügte er warnend hinzu.

Abbie lächelte ebenfalls. Ihre Tochter hatte gleich nach den ersten Gehversuchen Skilaufen gelernt, und Abbie hatte mittlerweile Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Charlie schien nie müde zu werden und absolvierte eine Abfahrt nach der anderen.

Dennoch galt Abbies Aufmerksamkeit einem ganz anderen Problem. Tony war blond und athletisch … War er etwa der blonde Adonis, über den Jarrett Hunter gelästert hatte? Jarrett hatte den Tisch verlassen, kurz nachdem sie unter dem Vorwand, telefonieren zu müssen, hinausgegangen war. Er war nur wenige Sekunden vor ihr zurückgekehrt. Offensichtlich hatte er sie mit Tony in der Lobby gesehen.

Sie versuchte, sich die sonderbare Unterhaltung vor dem Hotel ins Gedächtnis zu rufen. Irgendetwas über „er scheint eine Menge Geld zu haben“ … dass er, Jarrett, sicher sei, „mehr“ zu haben … dass es für sie „noch viel später“ werden würde und sie ihm nicht erzählen solle, es mache ihr „Spaß“ …

Gütiger Himmel, Jarrett Hunter glaubte, sie wäre eine … Abbie brach in schallendes Gelächter aus. Er glaubte tatsächlich, sie hätte mit Tony eine Verabredung getroffen, für die sie später bezahlt werden würde!

Tony blickte sie erstaunt an. Er hatte natürlich keine Ahnung, warum sie sich so amüsierte, und sie hatte nicht vor, ihm den Grund für ihre Heiterkeit zu verraten.

Tony arbeitete für sie als Leibwächter – in dieser Funktion hatte er sich im Restaurant aufgehalten – und persönlicher Assistent. Er war inzwischen seit zwei Jahren für sie tätig und hatte noch nie versucht, die Grenzen ihres Arbeitgeber-Angestellten-Verhältnisses zu überschreiten.

Abbie hätte es auch gar nicht gewollt. Gewiss, Tony war attraktiv und würde mit seinen dreißig Jahren altersmäßig zu ihr passen, aber, wie sie bereits vorhin festgestellt hatte, sie machte sich nichts aus Süßigkeiten.

Seit dem Tod ihres Ehemannes vor zwei Jahren hatte es keinen Mann in ihrem Leben gegeben – auch keine unverbindliche Verabredung zum Dinner wie heute Abend. So gefiel es ihr, und so sollte es bleiben.

Und trotzdem hatte Jarrett Hunter gedacht, sie wäre eine …

Sie wurde wieder ernst und schüttelte abwehrend den Kopf, als Tony sie fragend ansah. „Ich musste gerade an etwas denken, was vorhin passiert ist“, erklärte sie, zog ihren Mantel aus und warf ihn über einen Stuhl. „Haben Sie die Informationen, um die ich Sie gebeten habe?“

„Hier sind sie.“ Er nahm eine Akte vom Tisch. „Sie ist noch nicht vollständig, den Rest dürften wir erst morgen bekommen. Aber auch so ist das Material schon interessant genug.“

Abbie griff nach dem schmalen Ordner. „Ich werde es im Bett lesen.“

Tony lächelte. „Ich bewundere immer wieder, wie Sie die halbe Nacht durcharbeiten und dennoch am nächsten Morgen frisch und ausgeruht sein können.“

„Erinnern Sie mich morgen Abend daran, nachdem ich den ganzen Tag mit Charlie Ski gelaufen bin.“ Sie hörte hinter sich Tony leise Lachen, als sie den Flur entlangging, um noch einmal nach Charlie zu sehen, bevor sie ihr eigenes Zimmer aufsuchte.

Charlie schlief tief und fest. Sie war ein Miniaturabbild ihrer Mutter. Ihr langes dunkles Haar breitete sich wie ein Fächer über dem Kopfkissen aus, das kleine Gesicht wirkte im Mondlicht beinahe engelhaft. Sie hatte den Arm fest um ihren Teddybär geschlungen, ohne den sie niemals ins Bett ging.

Abbie küsste ihre Tochter leicht auf die Stirn. Charlie bedeutete ihr mehr als alles andere auf der Welt, aber bald würde für ihre kleine Tochter der Ernst des Lebens beginnen. Bislang waren sie unzertrennlich gewesen, und es würde ihnen beiden das Herz zerreißen, wenn Charlie an fünf Tagen in der Woche in der Schule wäre. Seufzend wandte Abbie sich ab. Charlie zuliebe musste sie die Einschulung als etwas Positives betrachten, obwohl sie wünschte, es möge nie September werden!

Nachdem sie geduscht und ihr Make-up entfernt hatte, machte Abbie es sich mit der Akte, die Tony ihr zuvor gegeben hatte, im Bett gemütlich. Und Jarrett Hunter, der Gegenstand dieses Berichtes, glaubte, sie beschäftige sich momentan mit etwas weitaus Anstrengenderem als Lesen – und würde dafür auch noch Geld bekommen. Man musste schon ein erstaunlicher Zyniker sein, um aufgrund weniger Hinweise zu diesem Urteil über sie zu gelangen.

Zehn Minuten später hatte sie die Lektüre beendet. Der Begriff „erstaunlich“ schien auch in anderer Hinsicht auf Jarrett zuzutreffen. Er war der älteste von drei Brüdern, die Ehe seiner Eltern war offenbar ziemlich stürmisch verlaufen. Nachdem sein Vater mit vierzig Bankrott gemacht hatte, war ihm die Frau davongelaufen und hatte es ihm überlassen, sowohl die Scherben seines geschäftlichen wie privaten Lebens zu kitten und die drei Jungen, so gut es ging, allein aufzuziehen.

Glücklicherweise hatte Jarrett zu diesem Zeitpunkt die Oberstufe auf einem privaten Internat abgeschlossen gehabt, seine beiden jüngeren Brüder, damals vierzehn und sechzehn, hatten ihre Ausbildung auf einer staatlichen Schule beenden müssen. Jarrett hatte ein Stipendium abgelehnt und stattdessen gearbeitet, um zum Familienunterhalt beizutragen. Hier klaffte eine Lücke in seinem Lebenslauf, bis er acht Jahre später wieder in der Geschäftswelt auftauchte, und zwar als Besitzer einer Kette von Hotels und Erholungsparks in ganz England. Anschließend hatte er sich dem australischen Kontinent zugewandt und dort ähnliche Freizeitzentren gegründet.

Tony hatte recht, das Dossier war nicht vollständig – die fünf Jahre seit Jarrett Hunters Rückkehr nach England fehlten. Und in genau diesem Zeitraum verbarg sich die Antwort auf die Frage, warum er unbedingt Sabina Sutherland sehen wollte, davon war Abbie überzeugt. Angesichts Jarretts Interesse für Hotelanlagen konnte sie sich fast denken, was dahintersteckte …

Sie klappte die Akte zu und lehnte den Kopf in die Kissen. Der Mann besaß wirklich eine erstaunliche Lebensgeschichte. Er hatte praktisch aus dem Nichts ein Millionenimperium geschaffen. Seine beiden Brüder arbeiteten für ihn, sein Vater hatte sich inzwischen zurückgezogen und lebte mit seiner zweiten Frau in Australien – diese Ehe schien wesentlich glücklicher zu sein als die erste.

Abbie wusste nun, warum Jarrett Hunter für Frauen nichts als Verachtung übrig hatte und eine derart ausgeprägte Abneigung gegen die Ehe hegte. Bei einer solchen Mutter war das nicht weiter verwunderlich.

Nichtsdestotrotz war Abbie neugierig, was diese fünf Jahre seit seiner Rückkehr nach England betraf …

„Ist das nicht toll, Mummy?“ Charlie strahlte ihre Mutter an, als sie zum Skilift gingen, um die erste Abfahrt des Tages auf dem Blackcomb zu absolvieren.

Um neun Uhr früh waren die Lifte noch leer, da die meisten Skiläufer erst am späten Vormittag auf die Piste kamen. Abbie hingegen zog es vor, zeitig hinaufzufahren, um das Gedränge zu meiden. Tony saß derweil in einem Café am Fuß des Berges – immer wachsam, trotz seiner scheinbar gelangweilten Haltung. Wäre Charlie nicht gewesen, hätte Abbie einen großen Bogen um solche Touristenzentren gemacht, doch sie wollte ihrer Tochter eine unbeschwerte Kindheit ermöglichen.

Mutter und Tochter trugen die gleiche Kleidung: weiße Schneeanzüge und Stiefel. Das dichte schwarze Haar hatten sie unter pelzgefütterten Kappen verborgen und wirkten auf den ersten Blick eher wie Schwestern.

Sie wollten gerade ihre Plätze auf dem Lift einnehmen, als eine fröhliche Stimme fragte: „Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten, meine Damen?“ Und schon glitt eine schwarz gekleidete Gestalt auf den Sitz neben Charlie.

Abbie hatte gar nicht gemerkt, dass Jarrett Hunter in der Nähe war. Erst als sie sein triumphierendes Lächeln sah, erkannte sie, dass er seinen Auftritt sorgfältig geplant hatte. Sie schaute zum Café hinüber. Tony kam mit besorgt gefurchter Stirn herausgeeilt, doch auf Abbies leichtes Kopfschütteln hin hob er erleichtert die Hand. Nun wandte sie sich wieder Jarrett Hunter zu.

Was wollte er hier? Bei ihrem Abschied am vergangenen Abend hatte er nicht den Eindruck erweckt, als wäre er sonderlich versessen darauf, sie wiederzusehen. Es sei denn, er hatte inzwischen ihre wahre Identität herausgefunden!

Er reichte Charlie die Hand. „Hallo, ich bin Jarrett.“

Ihre Tochter lächelte ihn strahlend an. „Ich bin Charlie“, erklärte sie. „Und das ist meine Mummy!“

Über den Kopf der Kleinen hinweg lächelte er sie spöttisch an. „Hallo, Mummy.“

Sie nickte kühl. Wegen Charlie konnte sie jetzt keine Szene machen. „Jarrett.“

Obwohl sie noch nicht alle Informationen über ihn hatte, wusste sie bereits genug über ihn, um zu erkennen, dass er immer das bekam, was er wollte – und momentan wollte er mit ihr und Charlie auf dem Skilift sitzen!

Charlie kicherte. „Sie heißt doch gar nicht Mummy. Nur ich nenne sie so.“

Jarrett zog scheinbar verwundert die Brauen hoch. „Hast du denn keine Brüder oder Schwestern?“

Abbie wartete mit angehaltenem Atem auf Charlies Antwort. Cathy und Danny, Daniels Kinder aus erster Ehe, benahmen sich abscheulich genug, wann immer sie Charlie sahen, doch das bedeutete noch lange nicht, dass ihre Tochter sie als ihre Geschwister betrachtete …

Charlie schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht wirkte für eine Vierjährige auf einmal sehr ernst. „Ich bin Mummys ganz besonderes kleines Mädchen“, wiederholte sie die Worte, die Abbie ihr seit der Geburt immer wieder gesagt hatte.

Denn Charlie war wirklich etwas Besonderes. Sie war ebenso klug wie hübsch, von liebevollem Charakter und ohne jede Arglist – was ihr später, wenn sie alt genug war, um ihr Erbe anzutreten, sicherlich helfen würde. Bis dahin wollte Abbie sie jedoch so gut wie möglich beschützen.

„Das kann ich gut verstehen“, sagte Jarrett zu Charlie. „Du bist sehr hübsch – genau wie deine Mummy.“

Abbie sah ihn prüfend an, als Charlie entzückt lachte. Wusste er bereits, dass sie Sabina Sutherland war? Mit Unschuldsmiene hielt er ihrem Blick stand, doch der sonderbare Ausdruck in seinen Augen verriet, dass er etwas plante. Aber was? Falls er sich einbildete, er könnte über ihre Tochter an sie herankommen, täuschte er sich gewaltig. Bevor sie nicht mehr über ihn herausgefunden hatte, würde sie sich nicht als Sabina Sutherland mit ihm unterhalten.

„Gleich sind wir dran“, warnte Jarrett, als sie sich dem Ziel näherten. „Kommt sie allein zurecht?“, fragte er Abbie leise, während Charlie sich aufrichtete und die Stöcke fester packte.

Abbie lächelte reumütig. „Vermutlich besser als wir.“

Charlie bestätigte die Behauptung ihrer Mutter, indem sie geschickt vom Sitz glitt und sich in die richtige Abfahrtsposition stellte.

„Ich sehe, was Sie meinen.“ Jarrett nickte, als Abbie und er weitaus weniger elegant heruntersprangen. Bewundernd blickte er zu Charlie hinüber. „Kinder kennen keine Angst, oder?“

Ein Schatten huschte über Abbies Gesicht. „Mit vier Jahren sollte sie noch nicht einmal ahnen, was Angst ist, Mr. Hunter.“

„Gestern haben Sie mich Jarrett genannt“, erinnerte er sie leise. „Zumindest später am Abend …“

Sie atmete tief durch. „Wie geht es Ihrem Kopf heute?“

„Völlig klar“, versicherte er spöttisch. „Und Ihrer?“

„Ebenso. Ich habe ausgezeichnet geschlafen“, fügte sie herausfordernd hinzu.

Sofort wurde er wieder ernst. „Sie …“

„Können wir endlich losfahren, Mummy?“, rief Charlie aufgeregt.

Abbie lächelte Jarrett entschuldigend an. „Kinder kennen auch keine Geduld“, sagte sie. Dann zog sie die Schlaufen der Skistöcke fester, setzte die Sonnenbrille auf und war startbereit.

Jarrett schaute noch immer zu Charlie hinüber. „Ich wusste nicht, dass Sie ein Kind haben“, begann er zögernd.

Offenbar glaubte er, ein Kind würde für sie alles komplizierter machen – in ihrem Beruf! „Es gibt eine Menge, was Sie nicht über mich wissen, Jarrett“, konterte sie trocken. „Und manches, was Sie über mich zu wissen glauben, ist überhaupt nicht wahr.“

„Zum Beispiel?“

Sie ignorierte seine Frage. „Charlie wartet.“

„Ich treffe Sie dann unten!“ Er stieß sich ab und ließ sie beide stehen. Seine geschmeidigen Bewegungen verrieten, dass er schon seit vielen Jahren Wintersport betrieb.

„Er ist gut, Mummy“, stellte Charlie anerkennend fest.

Abbie bezweifelte, dass der Begriff „gut“ sehr oft auf Jarrett angewendet wurde, außer vielleicht von den unzähligen Frauen, mit denen er im Verlauf seines Lebens zusammen gewesen war. Sie selbst jedoch war nicht im Mindesten an seinen sexuellen Vorzügen interessiert!

Ungeachtet dessen musste Abbie zugeben, dass er ein exzellenter Skiläufer war. Sie folgte ihm mit Charlie in einem gemäßigteren Tempo – schließlich lag noch ein langer Tag vor ihr, und daher wollte sie sich nicht überanstrengen, nur um Jarrett Hunter zu beweisen, dass sie auf Skiern ebenso geschickt war wie er.

Am Fuß der Piste entdeckte sie Tony, der ihre Abfahrt aufmerksam verfolgte. Dank seiner blauen Jacke war er leicht auszumachen.

Charlie hatte Jarrett inzwischen eingeholt, und nun sausten die beiden gemeinsam den Hang hinunter, bis Charlie voller Selbstvertrauen die Führung übernahm. Abbie ahnte, dass Jarrett ihrer Tochter absichtlich einen kleinen Vorsprung ließ.

Weit abgeschlagen kam Abbie unten an und steuerte in elegantem Bogen auf die beiden zu. Gerührt beobachtete sie, wie Charlie Jarrett fröhlich anstrahlte. Dieser vertrauensvolle, glückliche Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Tochter war all die Mühe der vergangenen Jahre wert!

Tony näherte sich ihnen mit großen Schritten. Er schien keineswegs begeistert über Jarretts Aufdringlichkeit zu sein. „Alles in Ordnung, Mrs. Sutherland?“, fragte er schroff.

Auch ohne es zu sehen, spürte Abbie, dass Jarrett Hunter zusammenzuckte. Bis zu diesem Moment hatte er ihre wahre Identität nicht gekannt! Und nach seinen zusammengepressten Lippen und dem kalten Funkeln in seinen Augen zu urteilen, war er weit davon entfernt, sich über diese Neuigkeit zu freuen!

Autor

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