Romana Gold Band 44

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TRAUMTAGE IN ITALIEN von WINTERS, REBECCA
Herzog Gino di Montefalco ist der einzige, der Ally helfen kann, Licht in die Vergangenheit zu bringen. Doch als Ally sich unsterblich in den faszinierenden Adligen verliebt, scheint schon bald nicht mehr zu zählen, was einmal war. Doch dunkle Geheimnisse stehen zwischen ihnen ...

EROBERT VON EINEM ITALIENISCHEN GRAFEN von CRAVEN, SARA
Eigentlich sollte Laura sich als die Verlobte seines Cousins ausgeben. Doch als Conte Alessio Ramontella vor ihr steht, ist sie überwältigt von seiner unwiderstehlichen Anziehungskraft. Und doch ist sie sicher, dass sie nur eine weitere Perle in der Kette seiner Eroberungen sein wird.

UNTER DER GOLDENEN SONNE ROMS von GORDON, LUCY
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  • Erscheinungstag 13.04.2018
  • Bandnummer 44
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744625
  • Seitenanzahl 444
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Rebecca Winters, Sara Craven, Lucy Gordon

ROMANA GOLD BAND 44

1. KAPITEL

„Lieutenant Davis?“

Der Kriminalbeamte der Polizei von Portland sah von seinem Computer auf.

„Schön, dass Sie so schnell kommen konnten, Mrs. Parker.“

„Ihre Nachricht klang, als wäre es dringend.“

„Das ist es auch“, erwiderte er ernst. „Bitte treten Sie ein, und nehmen Sie Platz.“

Ally setzte sich ihm gegenüber an den Schreibtisch.

„Ich nehme an, es gibt Neuigkeiten?“

„Allerdings. Die Frau, die bei dem tödlichen Autounfall mit Ihrem Mann im Wagen saß, konnte endlich identifiziert werden.“

Obwohl Ally ihren Ehemann vor zwei Monaten beerdigt hatte, sehnte sie diesen Moment herbei, um endlich mit den Ereignissen abschließen zu können. Andererseits hatte sie sich davor gefürchtet. Jetzt musste sie sich den schmerzhaften Tatsachen stellen. Die Zeit der nutzlosen, aber hoffnungsvollen Vermutungen war vorüber.

„Wer war sie?“

„Eine vierunddreißigjährige, verheiratete Italienerin namens Donata di Montefalco.“

Endlich bekam die Frau einen Namen und ein Gesicht.

„Die italienischen Behörden haben uns mitgeteilt, dass sie die Frau des Duca di Montefalco war, eines sehr vermögenden, prominenten Adligen aus Montefalco. Das ist eine Stadt in der Nähe von Rom. Laut Aussagen der mit dem Fall betrauten Polizei hatte der Duca auch seine eigenen Leute nach ihr suchen lassen.“

„Natürlich“, flüsterte Ally. Hatte der Duca seine Frau geliebt? Oder war seine Ehe genauso in Auflösung begriffen gewesen wie ihre?

Obwohl der Polizist es nie ausgesprochen hatte, wusste Ally, dass er Jim der Untreue verdächtigte. Der Gedanke war Ally auch gekommen. Sie hatte schon länger gespürt, dass die Ehe kurz vor dem Aus stand. Nur wollte Ally es damals nicht wahrhaben.

Jim hatte sich so sehr verändert. Den hingebungsvollen Familienmenschen, den sie geheiratet hatte, sah sie mit der Zeit gar nicht mehr in ihm. Allmählich schwand die Liebe, auch wenn Ally im Nachhinein nicht mehr den genauen Zeitpunkt benennen konnte.

Zweieinhalb Jahre waren sie verheiratet gewesen, und in den letzten sechs Monaten hatte sie Anzeichen dafür bemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war. Jims Dienstreisen dauerten immer länger, sein Mangel an Leidenschaft fiel ihr auf, wenn sie sich nach seiner Rückkehr liebten. Außerdem schien er sich gar nicht mehr für ihr Leben zu interessieren, wenn er seine kurzen unbefriedigenden Anrufe zu Hause machte. Und er wollte erst dann Kinder haben, wenn er mehr Geld verdiente.

Auch wenn die Neuigkeit noch keinen endgültigen Beweis für eine Affäre lieferte, so untermauerte sie immerhin den Verdacht. Der Gedanke versetzte Ally einen schmerzhaften Stich. Sie musste aus diesem Büro verschwinden, um mit ihrem Kummer allein zu sein.

Schon seit zwei Monaten bemühte sie sich, die Tatsache zu verstehen, dass ihr Mann nicht allein gestorben war. Dennoch hatte Ally zum Teil immer gehofft, dass die andere Frau älter gewesen sei, jemand, den Jim aus Freundlichkeit mitgenommen hatte. Doch von dieser Illusion konnte Ally sich jetzt verabschieden. Sie kämpfte mit starken Gewissensbissen. Warum hatte sie ihn nicht genug geliebt, um ihn zur Rede zu stellen, bevor es zu spät gewesen war?

„Danke, dass Sie mich hergebeten haben, Lieutenant.“ Sie stand kurz davor, die Fassung zu verlieren. Es war ein großer Fehler gewesen, alles zu verdrängen. Sie fühlte sich schuldig, weil sie nicht stärker um die Ehe gekämpft hatte. Vielleicht hätten sie ihre Liebe wiederfinden können.

„Ich weiß Ihre Unterstützung sehr zu schätzen.“ Sie erhob sich, und der Beamte geleitete sie bis zur Tür.

„Es tut mir leid, dass ich Sie herbestellen und Sie erneut an Ihren Verlust erinnern musste. Aber ich hatte Ihnen versprochen, Sie zu benachrichtigen, wenn ich neue Informationen bekomme. Ich hoffe, dass es Ihnen gelingt, das alles hinter sich zu lassen. Das Leben geht weiter.“

Wie soll das Leben weitergehen, wenn der Ehemann gestorben ist, mitten in einer traurigen Krise? fragte sich Ally. Wie sollte man weiter funktionieren, wenn die eigenen Träume von einem glücklichen Leben endgültig zerplatzt waren?

Der Polizist sah sie voller Mitgefühl an. „Soll ich Sie noch zu Ihrem Wagen bringen?“

„Nein, vielen Dank“, murmelte sie. „Das ist nicht nötig.“

Eilig verließ sie das Büro und hastete den Gang entlang zum Haupteingang des Polizeireviers.

Mein Gott – wie ist es nur möglich, dass es so zu Ende ging? Nichts war geklärt. Eher gesellten sich noch neue Fragen zu den alten.

Sie musste an den Ehemann der Frau denken. Bestimmt hatte er gerade erst erfahren, dass der Leichnam seiner Frau gefunden und identifiziert war. Abgesehen von Monaten des Leids seit ihrem Verschwinden und seinem Verlust, musste er sich jetzt auch noch fragen, welche Rolle Jim in Donatas Leben gespielt hatte.

Wo auch immer der Duca di Montefalco sich gerade aufhielt – Ally wusste, dass er durch die Hölle ging.

Das konnte sie gut nachvollziehen …

„Onkel Gino? Wie kommt es, dass wir jetzt eine Weile auf deinem Gut leben?“

Rudolfo Giannino Fioretto di Montefalco, der nur von seiner Familie und ein paar sehr engen Freunden Gino genannt wurde, betrachtete seine elfjährige Nichte im Rückspiegel. Das Mädchen saß neben Marcello, Ginos älterem Bruder.

„Weil es Sommer ist. Ich dachte, du und dein Vater genießt es, hinaus in die Natur zu kommen, anstatt im palazzo eingesperrt zu sein.“

„Aber was ist, wenn Mama zurückkommt und wir sind nicht da?“

Gino stählte sich innerlich. Der Moment, vor dem ihm gegraut hatte, war gekommen.

Neben dem Landhaus schaltete er den Motor ab. In den letzten Sonnenstrahlen des Tages warfen die Zypressen Schatten auf die gelblichen Wände.

Um sich zu vergewissern, dass Sofia die Hand ihres Vaters hielt, drehte Gino sich nach hinten. Seit Marcello unter Alzheimer litt und nicht mehr sprechen konnte, war das eine Möglichkeit für seine Tochter, ihre Liebe zu ihm auszudrücken. Sofia hoffte, so auch seine Liebe für sie zu spüren.

„Ich muss dir etwas Wichtiges sagen, Liebes.“

Eine ganze Minute verging. In dieser Zeit war jegliche Farbe aus dem Gesicht seiner Nichte gewichen. „Und was?“, fragte sie schließlich mit zitternder Stimme. Die Anspannung, monatelang in der Ungewissheit zu leben, wo ihre Mutter war, hatte Sofia die ganze Lebensfreude genommen.

„Sofia, ich habe schlechte Nachrichten. Deine Mama war in einen Autounfall verwickelt, und … sie ist gestorben.“

Schon vor vier Monaten, aber Gino hatte die Information erst am Vorabend erhalten. Den heutigen Tag hatte er mit den Vorbereitungen für Sofias und Marcellos Umzug aufs Land verbracht.

Die Einzelheiten der Tragödie brauchten weder sie noch das vertrauenswürdige Personal im palazzo oder das im Landhaus zu erfahren.

Gino beobachtete Sofias schmerzerfüllten Gesichtsausdruck. Als die Nachricht zu ihr durchgedrungen war, hörte er das Schluchzen des todunglücklichen Mädchens, das den Kopf an die Schulter ihres Vaters drückte.

Marcello sah sie verständnislos an, unfähig, seine Tochter zu trösten.

Unbehaglich saß Gino auf dem Vordersitz und glaubte das Schluchzen des Kindes zu spüren. Tränen schnürten ihm die Kehle zu. Nachdem Donatas Leiche gefunden und identifiziert worden war, hatte der Albtraum ihres Verschwindens ein Ende. Aber gerade begann ein neuer …

Seine mutterlose, jetzt schon äußerst introvertierte Nichte würde mehr Liebe und Verständnis brauchen denn je.

Gino musste mit dem Pfarrer sprechen, um einen privaten Trauergottesdienst zu arrangieren, bei dem Sofia sich – unbeobachtet und vor neugierigen Blicken geschützt – von ihrer Mutter verabschieden konnte. Als Nächstes wollte Gino dann den Wachschutz verstärken, um seine Familie vor der Presse abzuschirmen.

Carlo Santi, der ranghöchste Polizeibeamte der Region und einer der besten Freunde der Familie, tat sein Bestes, um zu verhindern, dass interne Polizei-Informationen zu den Medien durchsickerten. Aber es gab immer tollwütige unersättliche Geier von der Regenbogenpresse, die gnadenlos in die Privatsphäre eindrangen. Stets lauerten diese Leute im Hintergrund, um etwas Pikantes über Gino und seine Familie aufzuschnappen. Das war der Preis, den sie für den Adelstitel und ihren Reichtum zahlen mussten.

Ohne Carlos ständiges Eingreifen in den vergangenen Monaten wäre die Situation vermutlich erheblich früher sehr unschön geworden.

Seit dem plötzlichen Eintreten von Marcellos Krankheit vor zwei Jahren hatte Donatas Selbstsucht die Ehe zerstört. Ihrer Tochter fügte sie damit irreparable Schäden zu. Donata muss wohl eine der gefühllosesten und pflichtvergessensten Ehefrauen und Mütter der Welt gewesen sein, dachte Gino wütend.

Er hatte getan, was in seinen Kräften stand, um Bruder und Nichte vor dem Schlimmsten zu schützen. Dadurch war Gino gezwungen, die Familiengeheimnisse mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit zu hüten. Donata hatte es genossen, sich öffentlich darüber zu beklagen. Ihre unüberlegten Äußerungen fanden zu der Zeit zu oft ihren Weg in die Medien, wodurch ihrer aller Leben überschattet wurde, besonders Ginos. Mit versteckten Andeutungen machte sie aus ihm den habgierigen neidischen Schwager, der sie und den Titel für sich selbst wollte.

Das Einzige, was Donata nie in Betracht gezogen hatte, war ihr eigener Tod.

Wenn die Medien erst einmal Wind von dem tödlichen Unfall bekämen – alles, was Gino getan hatte, um die Familienangelegenheiten unter Verschluss zu halten, würde ans Licht kommen und zu einem öffentlichen Skandal führen. Die Tatsache, dass ein amerikanischer Mann, der altersmäßig zu Donata passte, den Unfallwagen gelenkt hatte, würde den Paparazzi reichlich Stoff bieten. So eine Geschichte würde die Auflagen der Zeitungen in die Höhe treiben und hätte weitreichende Auswirkungen auf Sofia.

Schon die bisherigen Ereignisse könnten seine Nichte möglicherweise zerstören. Was die bösartigen Gerüchte zusätzlich anrichten konnten, wollte Gino sich lieber nicht ausmalen.

Aber er konnte nicht viel mehr tun. Die beiden auf dem Rücksitz brachte er aus der Schusslinie und an einen sicheren Ort. Hoffentlich genügt es, um skrupellose Journalisten daran zu hindern, alte Lügengeschichten über mich auszugraben, überlegte Gino grimmig. Mit den Storys würden sie den Verkauf ihrer schmierigen Blätter ankurbeln.

Seit seiner Jugend war er dazu verdammt, sich mit der Presse herumzuschlagen. Jetzt schien es Sofias Schicksal zu werden, aber nicht, wenn er es verhindern konnte.

Der Dirigent legte seinen Stock nieder. „Zehn Minuten Pause. Dann machen wir mit Brahms weiter.“

Dankbar für die Verschnaufpause, legte sie die Violine auf den Stuhl und folgte den anderen Streichern hinaus aus dem Konzertsaal. Ally ging den Korridor hinunter, bis sie allein war, und holte ihr Handy aus der Handtasche.

Sie erwartete einen Anruf von ihrem Hausarzt. Nach dem gestrigen Treffen mit dem Kriminalbeamten hatte sie eine heftige Migräne entwickelt, die immer noch nicht abklang. Per Fernabfrage hörte Ally die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter ab. Die Sprechstundenhilfe teilte mit, dass der Arzt ein Schmerzmittel verschrieben habe und Ally es abholen könne. Wenn ich nur etwas Erleichterung finden könnte …

Momentan erschien ihr alles ganz unwirklich. Der Schmerz über die missglückte Ehe und die näheren Umstände von Jims Tod, das alles war einfach zu viel für sie.

Jemand anderes hatte noch eine weitere Nachricht für Ally hinterlassen, aber das konnte warten, bis sie nach Hause kam. Das Pochen in ihrem Schädel ließ nicht nach.

„Ally?“ Carol rief nach ihr. „Alles in Ordnung mit dir?“

„Ich habe eine schreckliche Migräne. Tu mir einen Gefallen, und sag dem Maestro, dass ich nach Hause muss. Morgen früh zur Probe werde ich pünktlich wieder da sein.“

Übermorgen stand die Aufführung des traditionell Ende Mai stattfindenden Konzerts des Philharmonischen Orchesters von Portland auf dem Programm.

„Das tue ich. Und mach dir keine Sorgen wegen deiner Violine. Ich nehme sie mit nach Hause und bringe sie morgen wieder her.“

„Du bist ein Engel.“

Nach einem Zwischenstopp bei der Apotheke, wo Ally sofort eine ihrer Tabletten genommen hatte, fuhr sie direkt nach Hause und legte sich mit einem Eisbeutel auf der Stirn ins Bett. Nach einer Stunde fühlte Ally sich allmählich ein wenig besser. Nur gab es leider keine Pille gegen die Fragen, die ihr im Kopf herumschwirrten und keine Ruhe ließen.

Zum einen wollte sie den Ort sehen, an dem Jim verunglückt war. Ihre Mutter hielt das für keine gute Idee, sie meinte, es wäre zu schmerzhaft.

Aber Ally empfand jetzt schon so viel Schmerz – schlimmer konnte es eigentlich nicht werden. Es war ihr ein Bedürfnis, die Brücke zu sehen, auf der Jims Wagen bei Glatteis ins Schleudern geraten und in den Fluss gestürzt war. Während eines Schneesturms in der Schweiz, in der Nähe von Sankt Moritz, hatte Jim die Kontrolle über das Auto verloren.

Außerdem verspürte Ally auch den Wunsch, Donatas Heim zu sehen. Vielleicht würde sie sich sogar mit dem Duca, ihrem Leidensgenossen, telefonisch austauschen, wenn sie erst einmal in Montefalco angekommen war. Sicherlich quälten ihn auch viele offene Fragen. Möglicherweise konnte ein Gespräch ihnen beiden helfen, etwas besser mit der Tragödie fertig zu werden.

Zielbewusst wie schon seit Monaten nicht mehr, buchte sie für den nächsten Tag einen Flug von Portland in die Schweiz. Von dort aus wollte sie dann nach Italien weiterreisen.

Am späteren Nachmittag fühlte sie sich schon wieder fit genug, um zur Bank zu fahren und Reiseschecks zu besorgen. Die Entscheidung, etwas Konkretes zu unternehmen, wirkte offenbar heilsamer als alle Tabletten. Jetzt brachte Ally auch noch die Energie auf, zu packen und ihre Nachbarn darum zu bitten, die Post aus ihrem Briefkasten zu holen.

Dann nahm sie noch eine Tablette und ging zu Bett. Beim Aufwachen am nächsten Morgen ging es ihr erheblich besser.

Während Ally auf das Taxi zum Flughafen wartete, hörte sie die Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter ab, die sie am Abend vergessen hatte.

„Hallo, Jim! Hier ist Troy vom Sportstudio Goldener Arm. Da wir eine neue Geschäftsleitung bekommen, haben wir alle Schließfächer ausgeräumt. Ich habe etwas ziemlich Wertvolles von Ihnen gefunden. Leider habe ich weder Ihre Telefonnummer noch Adresse, weshalb ich jetzt alle J., Jim oder James Parkers in der Stadt durchprobiere, um Sie zu finden. Rufen Sie mich bitte auf jeden Fall zurück, sodass ich Sie gegebenenfalls von der Liste streichen kann. Wenn Sie der richtige Jim sind, kommen Sie bitte innerhalb von vierundzwanzig Stunden vorbei, sonst ist alles weg.“

Ally hatte ihren Mann vor zwei Monaten begraben. Jemanden heute am Telefon nach ihm fragen zu hören ließ sie erschauern. Dieser Anruf war wie ein Geist aus der Vergangenheit.

Da Jim nie Mitglied eines Sportstudios gewesen war, rief Ally sofort zurück, um das dort mitzuteilen.

„Sportstudio Goldener Arm.“

„Ich möchte mit Troy sprechen.“

„Am Apparat.“

„Sie haben gestern hier angerufen. Ich bin die Frau von James Parker, aber ich fürchte, dass Sie den falschen Jim Parker erwischt haben.“

„In Ordnung. Der Jim, nach dem ich suche, arbeitet häufig in Europa und ist nicht verheiratet. Danke, dass Sie Bescheid gesagt haben.“

Er legte auf, aber Allys Finger krampften sich um den Hörer. Es gelang ihr nicht, die Worte abzuschütteln. Im Laufe ihrer Ehe hatte sie zu oft kleine Hinweise ignoriert – weil sie nicht glauben wollte, dass etwas nicht stimmte.

Aber inzwischen hatte sich vieles geändert. Ally war nicht mehr die naive Träumerin, die Jim das Jawort gegeben hatte.

Ally ließ das Taxi auf dem Weg zum Flughafen bei dem Sportstudio vorbeifahren. Weil sie ohnehin wenig Zeit hatte, bat Ally den Fahrer zu warten.

Im Studio trainierten trotz der frühen Stunde schon einige Leute. Der Trainer am Empfangstresen warf ihr einen männlich-interessierten Blick zu. „Hi!“

„Hallo. Sind Sie Troy?“

„Der bin ich.“

„Ich bin Mrs. Parker – ich hatte Sie heute Morgen angerufen.“

Er blinzelte. „Hatten Sie nicht gesagt, dass ich bei Ihnen an der falschen Adresse bin?“

„Etwas, was Sie gesagt haben, lässt darauf schließen, dass es doch der richtige Jim war. Hat er Ihnen gesagt, was er in Europa macht?“

„Ja. Er verkauft Skibekleidung. Wir hatten eine Abmachung: Ich ließ ihn kostenlos trainieren und bekam im Austausch dafür von ihm seine beste Skiausrüstung.“

Sie atmete tief durch. „Dann war es mein Ehemann.“

Irritiert sah er sie an. „Was meinen Sie mit ‚war‘?“

„Jim ist vor vier Monaten gestorben.“

„Das kann doch nicht wahr sein … deshalb ist er nicht mehr hier aufgetaucht. Was ist geschehen?“

„Er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“

„Es tut mir leid, Mrs. Parker. Da habe ich vermutlich etwas missverstanden, als ich dachte, er sei nicht verheiratet.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Wann ist er denn diesem Club beigetreten?“

„Ungefähr vor einem Jahr.“

Ein ganzes Jahr?

Sie musste sich zusammenreißen, um nicht die Fassung zu verlieren. Entschlossen zog Ally das kleine Foto von Jim aus ihrem Portemonnaie.

Troy betrachtete es, dann nickte er. „Kleinen Moment, ich hole alles, was er hiergelassen hat.“

Eine halbe Minute später kam er mit einem silberfarbenen Laptop aus einem Büro. Ally hatte das Gerät noch nie gesehen. Verlegen bat Troy sie, eine Quittung zu unterschreiben.

„Vielen Dank für Ihren Anruf, Troy. Denn mir liegt natürlich sehr viel daran, alles aufzuheben, was meinem Mann gehört hat.“

„Natürlich. Ich bin froh, dass Sie jetzt gekommen sind, weil wir es sonst verkauft hätten. Das mit Ihrem Mann tut mir sehr leid.“

„Mir auch“, murmelte sie vor sich hin.

Von der Anschaffung dieses Laptops hatte sie nie etwas erfahren. Die Firma hatte Jim einen für die Arbeit unterwegs zur Verfügung gestellt. Die Existenz dieses Computers konnte nur bedeuten, dass er etwas zu verbergen hatte.

Sie musste ihn mit nach Europa nehmen, da sie jetzt nicht mehr nach Hause zurückfahren konnte. Erst auf der Rückreise in die Staaten wollte Ally hineinschauen. Wenn sie dann schmerzliche Geheimnisse entdeckte, würde sie hoffentlich in der Lage sein, besser damit umzugehen.

Wieder im Taxi packte sie den Laptop in ihren Koffer und bat den Fahrer, etwas Gas zu geben. Während der Fahrt schauderte sie bei der Erkenntnis, dass ihr Mann seit acht Monaten in einem Sportstudio trainiert hatte, ohne dass sie etwas davon wusste.

Es war schon traurig genug, zu erkennen, dass sie sich voneinander entfernt hatten. Aber zu entdecken, dass ihr Mann ein geheimes Leben geführt hatte, war schrecklich. Oh Jim. Was ist nur mit dem Mann geschehen, den ich geheiratet habe? Habe ich dich jemals wirklich gekannt?

Ally begann das ernstlich zu bezweifeln …

Mit Unterstützung des Personals half Gino der trauernden Sofia und ihrem Vater in die Limousine, die vor der kleinen Kirche auf sie wartete. Eben hatten sie Ginos Schwägerin auf dem Friedhof unter strengster Geheimhaltung beigesetzt. Zur gleichen Zeit war Donatas Tod auch der Presse bekannt gegeben worden.

„Ich komme in ein paar Minuten nach, Kleines.“

Sofia sah ihn mit verweinten Augen an. „Bleib nicht so lange.“

„Bestimmt nicht, das verspreche ich dir. Ich will mich nur von einigen Leuten verabschieden und beim Pfarrer bedanken.“

Sie nickte, bevor Paolo, Ginos Gutsverwalter, den Wagen startete.

Erleichtert darüber, dass die Beerdigung hinter ihm lag, wandte Gino sich Carlo zu, den er gebeten hatte zu warten, bis sie ungestört miteinander reden konnten.

„Jetzt geht der Ansturm ernstlich los, Carlo.“

„Warum? Was ist geschehen?“

„Einer der Sicherheitsbeamten im palazzo hat gerade gemeldet, dass eine Frau, die behauptet, Mrs. Parker zu sein, versuchte, sich Zutritt zu verschaffen, um Marcello zu treffen. Wieder ein neuer Trick der Paparazzi, die es auf meine Familie abgesehen haben.“

Der andere Mann schnalzte mit der Zunge. „Ich muss sagen, es überrascht mich, dass sie unverfroren genug sind, als Ehefrau des Verstorbenen aufzutreten.“

Gino verzog das Gesicht. „Mich erstaunt gar nichts mehr. Sie kam mit einem Taxi. Der Wächter war so umsichtig, sich das Autokennzeichen zu notieren.“

„Soll ich sie suchen und überprüfen lassen?“

Da hatte Gino eine bessere Idee. „Wenn du sie finden kannst, würde ich sie ausnahmsweise gern befragen.“

„Was hast du vor?“

„Wie lange könnte man sie festhalten?“

„Nur zwölf Stunden. Wenn du keine Beweise hast, müssen wir sie wieder laufen lassen.“

Ginos Augen funkelten. „Keine Sorge. Sie wird sich wünschen, mir nie ins Gehege gekommen zu sein.“

Ernst zog Carlo einen Notizblock aus der Tasche. „Gib mir die Autonummer, ich lasse nach der Frau fahnden.“

„Wie immer bin ich dir zu großem Dank verpflichtet.“

„Unsere Familien standen sich seit jeher sehr nahe. Ich werde nicht zulassen, dass man euch zerstört – dich und Sofia.“

Diese Worte bedeuteten Gino mehr, als sein Freund ahnte.

Grazie, Carlo.“

Jemand klopfte laut an die Zimmertür.

„Signora Parker?“

Erst seit einer Stunde lag Ally im Bett und stöhnte jetzt ungläubig auf. Die langen Flüge, erst von Oregon in die Schweiz und dann nach Rom, waren schon anstrengend genug gewesen. Aber die schreckliche Zugfahrt nach Montefalco in einem heißen überfüllten Zug hatte ihr den Rest gegeben.

Und damit waren die Probleme noch nicht zu Ende gewesen. Jedes Hotel in der Stadt war aufgrund eines Festivals ausgebucht. Wenn der Taxifahrer sich ihrer nicht erbarmt und Ally bei seiner Schwester untergebracht hätte, wäre sie gezwungen gewesen, für die Nacht nach Rom zurückzukehren. Ein grauenhafter Gedanke!

Das Pochen wurde lauter.

„Signora!“

Ally begriff nicht, was eigentlich los war.

„Kleinen Moment, bitte!“ Sie setzte sich auf und fuhr sich unbewusst mit der Hand durch die kurzen blonden Locken, die sie jünger aussehen ließen als achtundzwanzig.

Nachdem Ally sich einen Morgenmantel übergezogen hatte, eilte sie zur Tür.

Die ältere Frau sah müde aus und klang atemlos. „Schnell! Sie müssen sich anziehen! Ein Wagen vom palazzo di Montefalco wartet auf Sie.“

Allys grüne Augen weiteten sich vor Erstaunen. „Aber das ist unmöglich!“

Vorhin war sie doch von den bewaffneten Wachmännern an den Toren zum Palast abgewiesen worden. Niemand außer ihr konnte wissen, wohin das Taxi danach gefahren war.

„Sie müssen eine sehr wichtige Persönlichkeit sein, wenn der Duca di Montefalco selbst nach Ihnen schickt. Beeilen Sie sich! Sie können den Fahrer nicht warten lasen.“

„Ich werde so schnell wie möglich hinausgehen. Vielen Dank.“

Einer der Wachleute musste dem Taxi hierher gefolgt sein, alles andere stellte für Ally ein absolutes Rätsel dar. Wie sonst wäre es ihnen möglich gewesen, sie hier zu finden?

Aber das spielte jetzt keine Rolle. In ein paar Minuten würde Ally endlich den Mann treffen, dessentwegen sie Tausende von Kilometern geflogen war. Nach ihren vergeblichen Versuchen, ihn von Rom aus telefonisch zu erreichen, und dem Fiasko an der Palasteinfahrt hatte sie schon beinahe die Hoffnung aufgegeben.

Schnell zog sie eine saubere Jeans und eine grün gemusterte Bluse an. Um halb zwei Uhr morgens fühlte Ally sich nicht in der Stimmung für das mitgebrachte Kostüm.

Nachdem sie sich noch die Turnschuhe zugeschnürt hatte, packte sie ihre restlichen Sachen schnell in den Koffer. Anschließend vergewisserte sie sich, dass sie nichts liegen lassen hatte, und legte zweihundert Dollar auf die Kommode. Die andere Frau stand wartend in der Diele.

„Es tut mir leid“, sagte Ally zu ihr, „dass Sie meinetwegen zu dieser späten Stunde geweckt wurden. Besonders weil sie freundlich gewesen sind und mich aufgenommen haben. Ich habe etwas Geld für Sie und Ihren Bruder auf die Kommode gelegt. Vielen Dank noch einmal für alles, speziell für die köstliche Mahlzeit und die Möglichkeit zu duschen. Bitte danken Sie Ihrem Bruder auch von mir. Ich weiß nicht, was ich ohne Ihre Hilfe gemacht hätte.“

Ungeduldig nickte die Frau. „Ich richte es ihm aus. Aber jetzt beeilen Sie sich!“ Schon öffnete sie die Tür, die auf eine enge Gasse hinausging. Der Blick war jedoch von einer glänzenden schwarzen Limousine versperrt, die direkt vor der Tür wartete.

Das Licht aus der Diele beleuchtete den goldenen Falken des Montefalco-Wappens auf der Motorhaube. Als Ally über die Schwelle trat, stieß sich ein in Schwarz gekleideter Mann von der Wand ab, an der er offenbar gelehnt hatte.

Da sie nur einen Meter fünfundsechzig groß war, bemerkte Ally sofort, wie überlegen der kräftige Mann mit den nachtschwarzen Haaren vor ihr stand. Irgendetwas an seiner würdevollen Haltung und seinen beinahe raubvogelartigen Gesichtszügen, die ihn von den meisten anderen Italienern unterschieden, die sie heute gesehen hatte, erschreckte sie.

Mit einer sparsamen Bewegung hatte er sie von der Handtasche und ihrem Koffer befreit.

„Geben Sie das zurück“, schrie sie. Ally versuchte, ihm den Koffer zu entreißen, aber es war hoffnungslos. Sie konnte es nicht mit ihm aufnehmen. Außerdem hatte er inzwischen alles im Kofferraum verstaut.

Mit spöttischem Blick hielt er ihr die hintere Wagentür auf.

Das Licht der Innenbeleuchtung zeigte ihr einen breitschultrigen Mann, der ohne Zweifel sehr stark war. Die Sonne hatte seine von Natur aus eher dunkle Haut gebräunt. Er war mehr als nur das, was man üblicherweise als gut aussehend bezeichnete. Die Worte „prächtig“ und „verwegen“ kamen Ally in den Sinn, bevor sie auf dem Rücksitz Platz nahm.

Dann fragte sie sich, ob es nicht sehr leichtsinnig war, sich von einem vollkommen Fremden von ihrer einzigen Zuflucht in einem fremden Land weglotsen zu lassen. Außer dem Taxifahrer und seiner Schwester kannte Ally hier keine Menschenseele.

Noch schlimmer war, dass sie es auf der Bahnfahrt irgendwie geschafft hatte, das Handy zu verlieren. Jetzt verfügte Ally nicht einmal über die Möglichkeit, Hilfe herbeizurufen. Vermutlich hatte es jemand gestohlen.

Allys Gefühl, vielleicht auf Hilfe angewiesen zu sein, verstärkte sich, als der geheimnisvolle Italiener sich hinter das Lenkrad setzte und die Zentralverriegelung betätigte.

Nachdem er den Motor angelassen hatte, schossen sie die leere Gasse zur Hauptstraße hinunter. Kurz danach wusste Ally mit Sicherheit, dass sie in Schwierigkeiten steckte.

Anstatt den Hügel hinaufzufahren, lenkte der Fahrer den Wagen über gerade Straßen. Er schien ein Ziel anzupeilen, das keinesfalls in der Nähe des ockerfarbenen herzoglichen Palastes oben auf dem Berg lag.

Ach, ich hätte lieber auf meinen Instinkt hören und bis zum nächsten Morgen in dem Zimmer bleiben sollen, anstatt das schützende Bett in der Wohnung der alten Frau zu einer so ungewöhnlichen Uhrzeit zu verlassen.

Seufzend beugte Ally sich in dem Ledersitz nach vorn. „Das ist nicht der Weg zum Palast.“ Sie sprach mit bemüht fester Stimme. „Bringen Sie mich bitte wieder zum Haus der Frau zurück.“

Der rätselhafte Wachmann ignorierte die Aufforderung und fuhr ungerührt weiter, bis sie in eine andere Gasse einbogen. Ally sah verschiedene kommunale Gebäude vor sich aufragen.

„Wohin bringen Sie mich?“

„Das sage ich Ihnen, wenn es so weit ist, signora.“ Die ersten Worte, die aus seinem Mund kamen, wurden in tadellosem Englisch mit nur einer Andeutung eines leichten Akzents gesprochen.

Schließlich hielt er vor einer Stahltür, die nur von einer einzelnen Lampe beleuchtet wurde. Im nächsten Moment war er ausgestiegen und kam um den Wagen herum, um Ally die Tür zu öffnen.

„Bitte nach Ihnen, signora.“

Stolz hob sie das Kinn und weigerte sich auszusteigen. „Wohin haben Sie mich gebracht?“

Seine dicht bewimperten Augen ähnelten zwei glimmenden schwarzen Feuern.

„Zum Polizeirevier von Montefalco.“

Polizei? „Ich verstehe nicht.“

„Etwas früher am heutigen Abend haben Sie verlangt, mit dem Duca di Montefalco zu sprechen, nicht wahr?“

„Ja. Wollen Sie behaupten, dass ich nicht das Recht dazu hätte?“

„Sagen wir es so: Er gibt keine Interviews.“

„Ich wollte kein Interview. Ich bin von sehr weit hergekommen, um persönlich mit ihm zu sprechen.“

Er verlagerte sein Gewicht und lenkte damit ihre Aufmerksamkeit auf das Spiel seiner kräftigen Arm- und Brustmuskulatur.

„Jeder, der Kontakt zu ihm aufnehmen will, hat sich zuerst an mich zu wenden.“

Das erklärt, warum ich per Telefon und bei den Wachmännern vergeblich mein Glück versucht habe. Ally konnte den Blick nicht von seinen markanten maskulinen Gesichtszügen abwenden. Diese durchdringenden Augen wurden von aufsehenerregend schwarzen Augenbrauen eingefasst. Noch nie hatte sie in ein so faszinierendes Gesicht geblickt.

„Sind Sie ein Polizist, der gleichzeitig als Bodyguard des Fürsten arbeitet?“

Ein gefährliches Lächeln umspielte spöttisch seine Mundwinkel. „Das wäre eine Art, meine Aufgabe zu umschreiben.“

2. KAPITEL

Ein eisiger Hauch überzog Allys Haut. „Wie wussten Sie, wo Sie mich finden konnten?“

„Die Wachleute haben das Kennzeichen des Taxis notiert. Ein Anruf beim Fahrer verschaffte mir die notwendigen Informationen.“

So einfach war das gewesen.

„Ich habe den Wachen beim Palast erklärt, wer ich bin. Sie haben sich nicht einmal bemüht, mir zu helfen.“

Er verzog die Lippen zu einem unangenehmen Lächeln. „Jede Frau könnte behaupten, Mrs. James Parker zu sein.“

„Aber genau die bin ich! Ich kann es Ihnen mit meinem Pass beweisen.“

„Gefälschte Ausweise kann man sich mühelos beschaffen.“

Frustriert schüttelte sie den Kopf. „Warum sind Sie so unfreundlich zu mir? Ich bin extra nach Italien gekommen, um Mr. Montefalco aus sehr persönlichen Gründen zu treffen. Und Sie tun gerade so, als hätte ich ein Verbrechen begangen.“

„Unerlaubtes Betreten verstößt gegen das Gesetz“, murmelte er so leise, dass es ihr Angstgefühl verstärkte.

„Diese Behandlung ist unglaublich! Ich verlange, dass Sie die amerikanische Botschaft anrufen und mich mit einem Verantwortlichen dort sprechen lassen.“

Geringschätzig verzog er die Lippen. „Vor morgen früh werden Sie dort niemanden erreichen.“

„In Amerika gilt man so lange als unschuldig, bis einem eine Schuld nachgewiesen ist!“, schleuderte sie ihm ziemlich verzweifelt entgegen.

„Dann hätten Sie dort bleiben sollen oder wo immer Sie auch herkommen mögen, signora“, erwiderte er mit eisiger Stimme.

Übermüdet, wie sie war, und in dem Gefühl, in der Falle zu sitzen, beschloss Ally, sich nicht auf einen Kampf mit ihm einzulassen. Vor ihr stand ein furchterregender Gegner. Das alles war ein furchtbares Missverständnis. Später, wenn Ally zu Hause ihren Freundinnen davon erzählen würde, könnte sie vermutlich darüber lachen.

Wenn dieser Mann erst einmal ihr Gepäck gefilzt hatte, würde er herausfinden, dass sie die Wahrheit sagte. Eine Entschuldigung war von ihm sicherlich nicht zu erwarten. Trotzdem hoffte Ally auf eine schnelle Freilassung und die Chance, endlich mit Mr. Montefalco zu sprechen, bevor zu viel Zeit ins Land ging.

Sie umgab sich mit Würde wie mit einem schützenden Umhang, als sie aus dem Wagen stieg und darauf wartete, dass der große Mann die Stahltür öffnete.

Nachdem er einen in der Wand eingelassenen Klingelknopf betätigt hatte, wurde die Tür elektronisch geöffnet.

In dem kleinen Eingangsbereich befanden sich zwei bewaffnete Polizisten, von denen einer an einem Schreibtisch saß. Noch nie hatte Ally irgendein Gefängnis betreten. Beide nickten ihrem Begleiter zu.

Nach einem kurzen Gespräch auf Italienisch, von dem sie nichts verstand, ließ der attraktive Mann sie in der Obhut der Polizisten zurück und verschwand durch die Tür.

„Warten Sie …“, rief Ally ihm nach, doch vergebens.

Jetzt wurde sie fotografiert, ihr wurden Fingerabdrücke abgenommen. Anschließend brachte ein Polizist sie in einen winzigen Raum, in dem eine Pritsche und ein Stuhl aufgestellt waren.

Die Tür schloss sich, und damit wurde Ally nun sich selbst überlassen.

Die ganze Situation erschien ihr so unwirklich, dass sie sich fragte, ob sie aufgrund des Schmerzmittels halluzinierte, das sie vor dem Zubettgehen prophylaktisch eingenommen hatte. Ursprünglich sollte das Medikament einem möglichen neuen Migräneanfall vorbeugen.

Plötzlich hörte sie das Klicken des elektronischen Schlosses. Der Mann, der sie hierher entführt hatte, trat ein. Die Tür schloss sich hinter ihm, sodass Ally in dieser kleinen Zelle mit einem Mann eingesperrt war, der sie mühelos hätte überwältigen können. Er hielt ihre Handtasche unterm Arm.

„Während des Verhörs haben Sie die Wahl zwischen dem Stuhl und dem Bett, signora.“

Panik stieg in ihr auf. „Ich bleibe lieber stehen.“

„Wie Sie wollen.“

Er öffnete ihre Handtasche. Nachdem er den Inhalt überprüft hatte, unter anderem auch das Portemonnaie und das Fläschchen mit dem Schmerzmittel, zog er Allys Pass heraus.

Misstrauisch beobachtete sie ihn dabei, wie er ein Foto betrachtete, das vor drei Jahren aufgenommen worden war. Darauf sah er, wie sie damals als strahlende Braut mit langen blonden Haaren und funkelnden grünen Augen ihrem Ehemann zulächelte, voller Vorfreude auf die Flitterwochen mit Jim in den französischen Alpen.

Die Person auf dem Foto war Ally mittlerweile fremd geworden.

Der Fremde steckte den Pass in seine Tasche und warf die Handtasche auf das Feldbett, wo sie neben das klumpige Kopfkissen fiel.

Erst jetzt bemerkte Ally, dass ihr Gepäck noch immer im Wagen liegen musste.

„Ich hätte gern meinen Koffer. Es befinden sich Dinge darin, die ich brauche“, erklärte sie. „Ich muss meine Sachen haben, verstehen Sie? Ich brauche saubere Kleidung.“

„Immer der Reihe nach, signora. Bis ich die Antworten bekomme, die ich haben will, werden wir uns zur Not die ganze Nacht lang unterhalten. Da Sie schon jetzt recht wackelig auf den Beinen sind – vermutlich aus Furcht, weil Sie ertappt worden sind –, rate ich Ihnen, Platz zu nehmen, bevor Sie in Ohnmacht fallen.“

„Ertappt wobei?“ Ally war schockiert von seiner Überzeugung, dass sie etwas Unrechtes getan hätte.

„Wir beide wissen, dass Sie zu diesen skrupellosen Paparazzi gehören, die alles für eine exklusive Story tun würden. Aber ich warne Sie. Nachdem Sie unter einer falschen Identität aufgetreten sind, droht Ihnen möglicherweise eine Gefängnisstrafe, wenn Sie jetzt nicht bald sprechen.“

„Ich bin Mrs. James Parker.“

„Teilen Sie mir einfach mit, welche Boulevardzeitung Sie beauftragt hat.“

Hitze wallte in ihr auf und stieg Ally in die Wangen. „Sie sind verrückt!“, platzte es verzweifelt aus ihr heraus. „Mein Name ist Ally Cummings Parker. Ich bin amerikanische Staatsbürgerin und komme aus Portland, Oregon. Ich bin erst heute Nachmittag aus der Schweiz nach Rom geflogen. Ich bin die Witwe von James Parker. Er war Vertreter für Skibekleidung und arbeitete für eine amerikanische Firma. Bei einem Autounfall in St. Moritz ist er vor vier Monaten ums Leben gekommen, zusammen mit der Ehefrau von Mr. Montefalco.“

„Natürlich sind Sie das“, bemerkte er in einem ironischen Ton, bei dem sich ihr die Nackenhaare sträubten.

„Da Sie mich ja durch den Taxifahrer gefunden haben, fragen Sie ihn doch; er wird Ihnen bestätigen, dass ich am Bahnhof eingestiegen bin. Außerdem musste der Mann für mich übersetzen, als ich versuchte, ein Zimmer zu bekommen, weil ich kein Italienisch spreche.“

Er nickte. „Er gab zu, dass Sie eine überzeugende Vorstellung gegeben haben. Zumindest, bis Sie sich dadurch verrieten, dass Sie sich von ihm zum palazzo fahren ließen. Das war ein großer Fehler.“

Verzweifelt ballte sie die Hände zu Fäusten. „Wie sonst hätte ich mit Herrn Montefalco sprechen können? Er steht nicht im Telefonbuch. Als ich in Rom angekommen bin, habe ich mindestens eine halbe Stunde am Telefon vergeudet, ohne seine Nummer über die Auskunft herauszubekommen.“

„Er spricht nicht mit Fremden. Wenn Sie eine harmlose Touristin wären, die kein Zimmer für die Nacht findet, hätten Sie sich hauptsächlich darum Sorgen gemacht. Dann hätten Sie nicht so dreist versucht, sich Zutritt zum Palast zu verschaffen! Jeder weiß, dass er für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist.“

„Ich aber nicht!“

„Sie sind eine gute Lügnerin. Aber durch Ihre Geldgier, Ihren Ehrgeiz, an eine heiße Story zu kommen, indem Sie sich Zutritt zur Privatsphäre eines Menschen erzwingen wollten, haben Sie sich als die schmierige Journalistin erwiesen, die Sie sind – ohne Anstand und ohne Gewissen.“

Er verschränkte die Arme und sah sie mit eiskaltem drohendem Blick an.

„Aber Sie werden feststellen, dass auch ich genauso skrupellos sein kann. Entweder fangen Sie jetzt an zu reden, oder Sie können sich auf eine längere Haft gefasst machen.“

Allys Mund war ganz trocken geworden. „Es wird Ihnen noch leidtun, mich so behandelt zu haben“, warnte sie ihn. „Wenn Mr. Montefalco herausfindet, dass ich hier bin, um mit ihm zu sprechen, können Sie von Glück sagen, wenn Sie nichts weiter als Ihren Job verlieren.“

„Wer hat Sie geschickt, um die Schmutzarbeit für ihn zu erledigen?“, fragte er eindringlich, so als hätte sie nichts gesagt. „Reden Sie jetzt endlich, dann werde ich meinen Einfluss beim Richter geltend machen, damit er Sie mit einer leichten Strafe davonkommen lässt.“

Er meinte es offenbar todernst. Das machte die Situation für Ally noch unerträglicher.

Sie zeigte ihm die Handflächen. „Schauen Sie – hier scheint ein enormes Missverständnis vorzuliegen. Wenn Sie glauben, dass mein Pass und mein Führerschein gefälscht sind, dann sehen Sie sich mein Flugticket an. Es beweist, dass ich erst vor Kurzem aus Portland hergekommen bin und einen Zwischenstopp in der Schweiz gemacht habe. Ich wollte natürlich sehen, wo der Unfall meines Mannes passiert ist.“

Unnachgiebig musterte er sie. „Das nennen Sie einen Beweis? Ihr Revolverblatt kann Sie doch von Italien nach Oregon geschickt haben, um dort die Maskerade zu beginnen. Sie verschwenden meine Zeit.“

Er drückte auf einen Knopf über der Tür, zweifellos um das Signal zu geben, dass er gehen wollte. Das war ein Albtraum!

„Nein – bitte, gehen Sie noch nicht …“, bat Ally ihn, als die Tür aufsprang.

Abwartend blieb er in der Türöffnung stehen, die er mit seinem kraftvollen Körper beinahe ausfüllte.

„Bitte …“, flehte Ally ihn an. „Es gibt jemanden, den Sie anrufen können, der für mich bürgen kann. Sein Name ist L…“

Sie unterbrach sich plötzlich. Dass er mit Lieutenant Davis sprach, wollte sie lieber vermeiden. Es wäre zu beschämend, wenn der Polizeibeamte erfuhr, dass sie hierhergeflogen war, um ihre Neugier in Bezug auf Donata zu befriedigen. Das ist meine Privatangelegenheit, überlegte Ally, und ich will nicht, dass jemand davon weiß. Bis sie mit Mr. Montefalco gesprochen hatte, durfte niemand – einschließlich ihrer Mutter – erfahren, was sie vorhatte, noch, wo sie sich aufhielt. Mrs. Cummings nahm an, dass ihre Tochter das Wochenende mit Freunden aus dem Orchester verbrachte. Wenn sie die Wahrheit gewusst hätte, wäre es zu einer Auseinandersetzung gekommen, mit der Ally nicht hätte umgehen können.

„Ja?“, fragte der Fremde spöttisch. „Was wollten Sie sagen?“

Er stand so unbeweglich da wie eine Eiche. Aber inzwischen war Ally so außer sich, dass ihr ganz schwindelig wurde und es in ihren Ohren rauschte. Ihr Selbsterhaltungstrieb brachte sie dazu, sich auf ein Ende des Feldbettes sinken zu lassen und den Boden zu fixieren, damit sie nicht in Ohnmacht fiel.

„Möchten Sie ein Geständnis ablegen, bevor das Licht gelöscht wird, signora?“, fragte er, ohne auch nur ein Fünkchen Mitgefühl erkennen zu lassen.

Seine Stimme klang weit entfernt. Ally musste einen Moment warten, bis der Schwächeanfall etwas nachließ und sie wieder sprechen konnte.

Als sie den Blick hob, war der Mann schon verschwunden …

Gino raste unvernünftig schnell durch die dunklen Straßen zu seiner auf dem Hügel gelegenen Familienresidenz. Dass die Frau darauf beharrte, die Ehefrau von Donatas letztem Liebhaber zu sein, beunruhigte Gino vage. Er wollte ihr Gepäck an einem Ort durchsuchen, an dem er absolut ungestört sein würde. Auf dem Weg dorthin rief er Carlo an.

„Vielen Dank, dass du mir geholfen hast, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Die Verdächtige sitzt jetzt in ihrer Zelle, aber mir ist klar, dass wir sie nicht endlos festhalten können. Ich habe den diensthabenden Sergeanten gebeten, zu überprüfen, ob ihr Pass echt ist. Bitte lass mich wissen, was er herausfindet. Falls der Pass gefälscht ist, werde ich alles tun, um sie bloßzustellen, sodass sie in der Branche nie wieder eine Anstellung bekommt. Ich habe die Medien so satt.“

Im Palast angekommen, ging er in Marcellos Arbeitszimmer und legte den Koffer seiner Gefangenen auf einem Sofa ab. Beim Öffnen war Gino erstaunt, wie wenig sie mithatte. Das Innere des Koffers verströmte einen blumigen Duft. Er fand nur ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln, Unterwäsche, alles recht bescheiden und zum größten Teil amerikanische Marken.

Er runzelte die Stirn, weil er weder eine Kamera noch Filme fand. Doch etwas tiefer unten entdeckte er einen festen Gegenstand, der in ein Handtuch eingewickelt war.

„Ich wusste es!“, flüsterte er grimmig, als er einen silberfarbenen Laptop herauszog. Kein Wunder, dass sie ihr Gepäck nicht hatte hergeben wollen.

Sofort schloss er das Gerät an. „Du und deine Zeitung, ihr werdet entlarvt. Dafür werdet ihr zahlen …“ Er fuhr den Computer hoch und wartete, ob er etwas finden würde, das sie mit einer der Boulevardzeitungen in Verbindung brachte. Als Gino auf das Icon für eigene Bilder klickte, fand er sich kurz darauf mit Fotos von Donata konfrontiert.

Er fluchte leise. Insgesamt waren dreißig Bilder gespeichert, die seine Schwägerin in unterschiedlichen Stadien des An- bzw. Ausziehens zeigten. Wie in aller Welt konnte die grünäugige Betrügerin an diese Bilder gekommen sein?

Donata. Donata.

Ärgerlich biss er die Zähne zusammen. Wenn die Bilder jemals veröffentlicht würden … Wenn Sofia diese Fotos zu sehen bekäme …

Sein Magen verkrampfte sich.

Es konnte nur einen Grund geben, weshalb die üppige Blondine in der Gefängniszelle damit noch nicht an die Öffentlichkeit gegangen war. Vielleicht hatte sie gehofft, von Marcello mehr Geld zu erpressen, als ihre Zeitung zu zahlen bereit war.

Der Gedanke, dass es sich hier vermutlich nur um die Spitze des Eisbergs handelte, verursachte Gino Übelkeit. Entschlossen klappte er den Laptop zu, schloss den Koffer wieder und brachte beides zu dem kleinen Laster, der draußen parkte.

Über eine versteckte kleine Seitenstraße verließ Gino das Grundstück und fuhr wieder zum Gefängnis.

Später in seinem Landhaus, wenn er mehr Zeit hatte, würde er die E-Mails und sonstigen Dateien durchgehen. Zuerst einmal würde er aber diese Frau weichklopfen.

Er wollte den Namen des Revolverblattes, für das sie arbeitete. Wie viele Fotos existierten noch, und wie lange hatte die Amerikanerin Donatas Spur schon verfolgt, um die Fotos zu erlangen?

Die Tür öffnete sich, Ally horchte auf. Als sie eine große dunkle Gestalt auf sich zukommen sah, stieß sie einen markerschütternden Schrei aus und zog sich die Decke über den Kopf.

„Albträume, signora?“, erklang die tiefe Stimme ihres Peinigers. „Bei dem, was Sie auf dem Gewissen haben, überrascht mich das nicht.“

„Verschwinden Sie!“, schrie sie in die Dunkelheit. „Die einzige Person, mit der ich sprechen werde, ist ein Vertreter der amerikanischen Botschaft. Verstehen Sie mich?“

„Ich fürchte, da werden Sie lange warten müssen.“

Sie hörte etwas über den Zementboden schleifen. Als ihr klar war, dass der Fremde den Stuhl ans Bett gezogen und sich hingesetzt hatte, schauderte sie.

„Was Sie hier tun, verstößt gegen das Gesetz.“

Er gab ein sarkastisches Lachen von sich. „Ich rate Ihnen, mir alles zu gestehen, bevor der Generalstaatsanwalt dieser Region herkommt und Ihnen der Prozess gemacht wird.“

Augenblicklich setzte sie sich auf und rückte so weit weg von ihm wie möglich. „Ob Sie mir glauben oder nicht, ich bin Mrs. James Parker. Bis jetzt haben Sie mir nur vorgeworfen, widerrechtlich das Grundstück betreten zu haben. Allerdings sehe ich nicht, wie ich das getan haben soll, wenn die Wachen mich aufgehalten haben.“

Sie hörte, wie er sich auf dem Stuhl bewegte.

„Wenn Sie die Wahrheit sagen und wirklich die unglückselige Ehefrau sind, die als letzte Person herausgefunden hat, was Ihr Ehemann angestellt hat, dann erklären Sie mir, woher die Fotos auf Ihrem Laptop stammen.“

Fotos? Ally rieb sich ihre blutunterlaufenen Augen. Sie war so übermüdet, dass sie diese Schauergeschichte vielleicht nur träumte.

„Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, signora.“

Nein – sie träumte nicht. Er saß dort neben ihr und schüchterte sie schon durch seine bloße Anwesenheit ein.

„Das ist der Laptop meines Mannes. Ich weiß nichts von irgendwelchen Bildern.“

Sie hörte, wie er die Luft einsog.

„Sie haben also diesen Laptop aus keinem besonderen Grund mit nach Montefalco geschleppt?“

„Das habe ich nicht gesagt“, protestierte sie. „Wie ich Ihnen vorhin schon mitteilte, bin ich hergekommen, um persönlich mit Mr. Montefalco zu sprechen und mit niemandem sonst.“

„Um ihm die Fotos zu zeigen und Tausende von Dollars zu erpressen?“

Tausende von Dollars? Was für Bilder würden so viel wert sein? Sie atmete tief ein und hatte Angst vor dem, was sie möglicherweise entdecken würde. „Wenn es Fotos gibt, habe ich sie nie gesehen.“

In dem Hotel in Sankt Moritz hatte Ally den Laptop einschalten wollen. Weil sie jedoch keinen Adapter für die europäischen Steckdosen hatte, war sie gezwungen, zu warten. In Portland wollte sie sich die Dateien ansehen. Ihr war klar, dass das nur ein Vorwand gewesen war. Insgeheim fürchtete sie sich davor, welche Geheimnisse der Computer barg.

„Ich hatte geplant, mit ihm über Dinge zu reden, die weder Sie noch sonst irgendjemanden etwas angehen.“

Nach einer Pause sagte er: „Sie können mit mir sprechen. Er vertraut mir.“

„Beweisen Sie es mir! Soweit ich weiß, sind Sie nur ein einfacher Polizist, der vorgibt, Mr. Montefalcos Leibwächter zu sein.“

Plötzlich sprang er auf. Sie konnte seine Wut spüren, als er den Stuhl beiseiteschob.

Noch immer empört fuhr sie fort: „Nun wissen Sie, wie man sich fühlt, wenn man beschuldigt wird, ein Lügner und schmieriger Trickbetrüger zu sein, der aus dem Leid anderer Kapital schlagen will. Und jetzt sage ich kein Wort mehr, bis jemand von der Botschaft hier ist.“

Während sie auf eine Antwort wartete, öffnete sich die Tür und fiel dann wieder ins Schloss. Als Nächstes ging das Licht in der Zelle an. Ally sah auf die Uhr: Es war halb acht Uhr morgens.

Wie lange würde man sie hier drinnen schmoren lassen, bevor ihr erlaubt wurde, sich etwas frisch zu machen? In ihrer Verzweiflung zog sie den Stuhl zur Tür, um an den Knopf zu kommen, den ihr Peiniger vorher gedrückt hatte.

Plötzlich wurde die Tür so schwungvoll geöffnet, dass Ally fast zu Fall gekommen wäre. Ein Wärter, den sie noch nicht gesehen hatte, befahl ihr, vom Stuhl zu steigen und ihm zu folgen.

Sie nahm ihre Handtasche und folgte ihm über den Gang zu einem Badezimmer. Keine Spur von diesem Quälgeist, dachte Ally und atmete auf – weit und breit nichts zu sehen. Sie hoffte inständig, dass sie ihn nie wieder zu Gesicht bekäme.

Nachdem sie sich das Haar gebürstet und etwas Lippenstift aufgelegt hatte, fühlte sie sich schon wieder etwas menschlicher. Der Wärter begleitete sie zurück zur Zelle, wo auf dem Stuhl nun ein Frühstückstablett stand.

Wieder eingeschlossen, beäugte sie das karge Frühstück. Brötchen und Kaffee, aber Ally wollte sich nicht beschweren. Wer weiß, wann ich wieder etwas zu essen bekomme, entschied sie und verschlang alles bis zum letzten Krümel.

Sie musste immer wieder an die ominösen Fotos denken. Jim hatte sie offensichtlich auf der Festplatte gespeichert. Vielleicht zeigten die Aufnahmen alle Frauen, mit denen er in Europa ausgegangen war. Inzwischen traute Ally ihm alles zu. Ihr Ehemann hatte wirklich ein Doppelleben geführt.

Was war sie nur für eine Närrin gewesen! Als ihr zum ersten Mal der Verdacht gekommen war, dass es eine andere Frau gab, hätte sie Jim zur Rede stellen sollen. Damals hatte Ally sich aber nicht eingestehen wollen, dass etwas nicht stimmte. Außerdem wollte sie von ihrer Mutter nicht den einen Satz hören: „Das habe ich dir gleich gesagt. Ein Mann, der gut aussieht und es weiß, gibt sich nicht mit einer Frau zufrieden.“

Ally glaubte nicht daran. Schließlich kannte sie genügend attraktive Paare, die glückliche Partnerschaften führten.

Auch ihre Ehe hatte so begonnen. Doch als Ally die ersten Veränderungen bemerkte, hätte sie Jim direkt darauf ansprechen müssen. Aber sie war zu ängstlich gewesen. Vielleicht hätten sie ihre Beziehung durch eine Aussprache retten können. Jetzt ist es zu spät. Sie seufzte; es war sinnlos, ihr Verhalten zu bedauern.

Ally sah sich im eingeschränkten Raum der Zelle um. In dieser Situation sollte sie lieber überlegen, wie sie schnellstmöglich ins Freie gelangen konnte. Ihr Entführer wollte, dass sie kooperierte. Vielleicht könnte sie sich etwas Glaubwürdiges ausdenken, sodass er sie mit einer Verwarnung davonkommen ließ.

Ohne zu zögern, schob sie den Stuhl an die Tür, stieg hinauf und drückte auf den Knopf. Kurz darauf erschien der Wärter, der das Frühstück gebracht hatte.

„Signora?“

„Ich will hier raus. Ich bin bereit zu reden.“

Wortlos nahm er das Tablett und ging wieder zur Tür.

„Haben Sie mich gehört?“, kreischte sie. „Ich bin zu einem Geständnis bereit.“

Er warf ihr einen schrägen Blick zu, bevor er die Tür hinter sich zuzog.

Mit den Fäusten hämmerte sie gegen die Tür. „An was für einem verrückten Ort bin ich hier überhaupt?“, schrie Ally.

Als sie bemerkte, dass sie sich nur selbst wehtat, hörte sie damit auf und begann, in der Zelle umherzugehen. Fünf Minuten später betrat der Entführer die Zelle erneut. Als Ally den bedrohlichen Blick in seinen grimmigen schwarzen Augen sah, wich sie vor ihm zurück.

„Sie sind bereit, die Wahrheit zu sagen, signora?“

„Ja, aber nicht hier. Ich kann so beengte Räume nicht ertragen.“

Er zuckte auf elegante Weise mit den Schultern und machte ihr wieder bewusst, was für einen beeindruckenden Körperbau er hatte. „Entweder hier oder gar nicht.“

„Von mir aus. Es ist wahr, ich habe vorgegeben, Mrs. Parker zu sein, um die Aufmerksamkeit des Duca auf mich zu lenken. Ich arbeite freiberuflich für ein Magazin in Portland. Einer meiner Freunde ist bei der Polizei und gibt mir hin und wieder einen Tipp.“

Sie holte tief Luft. „Vor ein paar Monaten erzählte er mir, dass sein Chef an einem Vermisstenfall arbeitete, in den ein verheirateter Mann aus Portland verwickelt war und eine Frau, mit der zusammen dieser in Europa ums Leben kam. Und vor zwei Tagen berichtete er, dass die Frau endlich identifiziert werden konnte und sie Fotos von ihr hätten. Ich bat ihn, mir die Fotos ansehen zu dürfen, und habe sie dabei eingescannt.“

Allmählich begann Ally sich für ihre Geschichte zu erwärmen. „Alles, was ich wollte, war, mit dem Ehemann der Frau zu sprechen und ihn um ein Exklusivinterview zu bitten. Die Bilder hatte ich als Beweis für meine Seriosität dabei, für den Fall, dass er mir nicht traut. Aber ich hätte nie zugelassen, dass diese Fotos veröffentlicht werden. Ich hatte auch nicht die Absicht, ihn zu erpressen, ich wollte lediglich eine herzzerreißende Liebesgeschichte schreiben. Amerikaner lieben so etwas, speziell, wenn es sich um reiche Leute mit Adelstiteln handelt. Jetzt wissen Sie alles. Bitte lassen Sie mich gehen, ich werde auf direktem Weg nach Portland zurückfliegen.“

Seine Augen funkelten beängstigend.

„Sie lügen, dass sich die Balken biegen, signora. Dennoch kann ich nicht umhin, Ihre Kreativität zu bewundern.“

Sein kühles Lächeln entmutigte sie.

„Ich hatte Ihnen nicht erklärt, um welche Art von Fotos es sich handelt. Wenn Sie wüssten, was darauf zu sehen ist, hätten Sie Ihren Informanten nicht in Gefahr gebracht, seinen Job zu verlieren. Sie haben mich überzeugt, dass Sie eine Lügnerin sind.“

Er blufft doch nur …

„Bis jetzt haben Sie mir zwei genau entgegengesetzte Lügengeschichten aufgetischt, die beide nicht stichhaltig sind. Wollen Sie noch eine Dritte ausprobieren, solange ich hier bin?“

„Okay.“ Sie spürte, wie ihr die Kraft ausging. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wenn Sie mich gehen lassen, gebe ich Ihnen einhundert Dollar, und das braucht niemand zu erfahren.“

„Selbst wenn Sie mir hunderttausend Dollar böten, würde ich sie nicht annehmen.“

Dieser Mensch war einfach unmöglich! „Schauen Sie … Ich wollte nur mit Mr. Montefalco sprechen. Das ist etwas zwischen ihm und mir und geht niemanden sonst etwas an.“

Er schürzte die Lippen. „Weshalb ist das so, signora?“

„Weil es um etwas sehr Trauriges und sehr Persönliches geht.“

Überlegen stützte er die Hände in die Hüften, ein Bild von einem Macho. „Ich bin sein engster Vertrauter. Sie können mir alles sagen. Wenn es Ihnen lieber ist, können Sie es mir zuflüstern. Ich schwöre Ihnen, dass es unter uns bleibt.“

Irgendetwas in seiner Stimme bewog Ally beinahe dazu, ihm Glauben zu schenken. „Und woher weiß ich, dass Sie nicht verkabelt sind?“

„Gar nicht“, erwiderte er in schneidendem Tonfall. „Sie müssen mir vertrauen.“

Sie beugte sich vor. „Es tut mir leid, aber ich muss mit ihm allein sprechen.“

Die Nähe ihres herzförmigen Mundes und der blumige Duft, der sie umgab, raubten Gino genauso sehr den Atem wie ihre kompromisslosen Worte.

Sie konnte nicht Mrs. James Parker sein. Kein Mann, der mit ihr verheiratet war, würde sich Donata oder irgendeiner anderen Frau zuwenden.

„Wenn Sie mich hier nicht herauslassen wollen“, fuhr sie mit leiser Stimme fort, „dann bringen Sie Mr. Montefalco zu mir. Ich möchte mit ihm sprechen und bin der Meinung, dass auch ihm etwas daran liegt, mit mir zu reden. Wir können uns möglicherweise gegenseitig etwas Trost spenden.“

Sein Körper reagierte auf ihren warmen Atem an seinem Ohr. Nur widerwillig konnte Gino sich dazu durchringen, die Entfernung zu ihr zu vergrößern. Doch das musste sein, so flehentlich sie ihn auch ansah und sosehr der eindringliche Ton ihrer Stimme ihn auch überzeugte, dass sie endlich die Wahrheit sagte.

Gerade war er etwas zur Seite getreten, als die Tür aufging. Einer der Wärter teilte ihm mit, dass Inspektor Santi ihn am Telefon verlangte.

Ohne noch ein Wort zu ihr zu sagen, trat er aus der Zelle und eilte den Korridor hinunter zum Empfangsschalter, um dort das Gespräch entgegenzunehmen. Da Gino wusste, dass die Telefone im Gefängnis abgehört wurden, sagte er: „Inspektor, ich rufe Sie gleich mit meinem Handy zurück.“

Nachdem er Santis Nummer gewählt hatte, flüsterte er: „Carlo? Was hast du herausgefunden?“

„Sie ist Mrs. Parker, Gino. Sie ist eine trauernde Witwe.“

Dass sie Marcello in der Hoffnung aufgesucht hatte, sich gegenseitig beizustehen, sprach durchaus dafür. Aber wenn das stimmte, wieso speicherte sie dann Fotos auf dem Laptop? Irgendwie passte das alles nicht zusammen.

„Sie sagte, dass sie in St. Moritz war, um die Unfallstelle zu besichtigen“, murmelte Gino.

„Es ist bedauerlich, dass sie gerade diesen Zeitpunkt gewählt hat, um nach Italien zu kommen. Die hiesige Presse wartet ja nur auf pikante Einzelheiten, mit denen sich aus dem Fall ein Skandal machen lässt. Mrs. Parker ist die letzte Person, mit der du gesehen werden solltest.“

Gino teilte diese Meinung. Das hätte gerade noch gefehlt, dass einer der ihm auflauernden Paparazzi ein Foto von ihnen beiden ergatterte!

„Du solltest aus dem Gefängnis verschwinden, Gino, und alles Weitere mir überlassen. Ich werde Anweisung geben, sie freizulassen. Ein Beamter kann Mrs. Parker im Zug nach Rom begleiten und dort ins nächste Flugzeug in die Staaten verfrachten.“

Nachdenklich schwieg er. Carlos Vorschlag klang vernünftig. Trotzdem konnte Gino nicht vergessen, dass Mrs. Parker mit diesem Laptop von so weit hergekommen war, um Marcello zu treffen – und das offensichtlich aus einem ganz bestimmten Grund. Um ihr Ziel zu erreichen, hatte sie sich in Gefahr gebracht. Gino konnte sie nicht gehen lassen, bevor er nicht wusste, welches Ziel sie verfolgte.

„Du hast sicher recht, Carlo. Ich überlasse sie von jetzt an dir.“

„Gut. Du solltest dich unbedingt von ihr fernhalten.“

Das würde er tun, aber erst nachdem er Zeit gehabt hätte, unter vier Augen mit ihr zu sprechen. „Grazie, Carlo. Anscheinend ist das alles, was ich immer wieder zu dir sage.“

„Vergiss es. Ciao, Gino.“

Auf dem Feldbett sitzend, fragte sich Ally, was hier vorging, als derselbe Wärter wie eben in die Zelle stürmte.

„Kommen Sie, signora. Sie werden entlassen. Bitte folgen Sie mir.“

Sie konnte es kaum glauben und griff verwirrt nach ihrer Handtasche. „Was ist mit meinem Koffer?“, fragte Ally, während sie ihm folgte.

„Hier ist er“, antwortete der Polizist, als sie am Empfangsschalter ankamen.

Sie war überzeugt davon, dass ihr Entführer den Laptop konfisziert hatte. Ein prüfender Blick in den Koffer bestätigte die Vermutung. Der Laptop war verschwunden.

Ärgerlich schloss Ally den Deckel und fragte: „Und was ist mit meinem Pass?“

„Den bekommen Sie, sowie Sie an Bord Ihres Flugzeugs in die USA sind.“

Fast hätte sie gesagt, dass sie Montefalco noch nicht verlassen konnte, aber sie schaffte es, sich in Zaum zu halten. Die Worte hätten sie womöglich sofort wieder in die Zelle zurückgebracht.

Ally holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Wenn sie auf das Flugzeugs wartete, würde sie vorgeben, krank zu sein, und darum bitten, auf einen späteren Flug umgebucht zu werden. Dann könnte sie von Rom aus vielleicht noch einmal versuchen, Mr. Montefalco zu erreichen.

„Sehr gut. Ich bin bereit, wenn Sie es sind.“

Das Gefängnistor öffnete sich. Ein weiterer Wächter stand draußen bei einem weißen Polizeiauto und hielt die hintere Wagentür auf. Im Gegensatz zu dem Quälgeist, der Ally entführt hatte, nahm dieser Mann ihr nicht das Gepäck ab. Er hielt sie wohl für eine zwielichtige Reporterin, der er keine Höflichkeit schuldete.

Sie schob ihren Koffer über den Sitz und stieg ein. Kurz darauf schlängelte sich der Wagen durch die bezaubernden Gassen, in denen es jetzt von Touristen wimmelte. Nach kurzer Fahrt waren sie am Bahnhof.

„Kommen Sie, signora.“ Der Wächter hatte geparkt und geleitete sie durch die überfüllte Halle auf den Bahnsteig. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Schaffner stieg der Polizist mit ein und platzierte Ally in einem Abteil, in dem außer einem Platz in der Mitte alle anderen Sitze schon belegt waren. Diesmal half der Mann ihr zumindest, den Koffer im Gepäcknetz zu verstauen.

„Ich werde während der Fahrt nach Rom draußen im Gang sein, signora.“ Diese Mitteilung enthielt die Warnung, keinen Fluchtversuch zu unternehmen.

Mit vor Wut erhitzten Wangen setzte sie sich unter den neugierigen Blicken der Mitreisenden.

Dann fuhr der Zug an. Erschöpft von der Nacht im Gefängnis, lehnte Ally den Kopf an die Nackenstütze des Sitzes. Immerhin bin ich jetzt frei, ging es Ally durch den Kopf. Entmutigt vom Verlauf der Ereignisse, schloss sie für ein paar Minuten die Augen. Und döste ein …

Plötzlich spürte sie eine Hand auf dem Arm.

„Signora?“, ertönte eine tiefe männliche Stimme, die irgendwie vertraut klang.

Als sie ihren eindrucksvollen Peiniger erkannte, der sich – immer noch ganz in Schwarz – mit ihrem Koffer in der Hand vor ihr aufgebaut hatte, blieb ihr die Luft weg. Sie blinzelte und war sich nicht sicher, ob er Traum oder Wirklichkeit war.

„W…was ist los?“

Unter gesenkten Augenlidern ließ er den Blick über ihre Gesichtszüge wandern, und trotz – oder vielleicht gerade wegen – der Müdigkeit erweckte dieser Blick all ihre Sinne.

„Ich habe den anderen Wächter abgelöst. Wir steigen beim nächsten Halt aus. Kommen Sie mit.“

Zwar fühlte sie sich so angeschlagen, dass sie nicht wusste, ob sie in der Lage sein würde zu laufen. Dennoch war Ally eines klar: Dieser Mann bedeutete ihre einzige Chance, Jims Laptop wiederzubekommen und eventuell Mr. Montefalco zu begegnen.

Sie folgte ihm den Gang entlang, während der Zug schon das Tempo drosselte. Als er anhielt, stieg der beängstigend sinnliche Mann zuerst aus und reichte ihr dann die Hand, um ihr hinunterzuhelfen. In der durch Schlafmangel bedingten Benommenheit fand Ally seinen festen Griff auf seltsame Weise beruhigend.

Zu ihrer Verwunderung ließ er ihre Hand nicht los. Auch nicht, während er sie aus dem kleinen Bahnhof hinaus zu einem Transporter führte, der dort geparkt war. Kein Vergleich zu der schwarzen Limousine, in der der Italiener sie am Vorabend entführt hatte.

Um Himmels willen – war erst ein Tag vergangen? Ally fühlte sich total desorientiert und verwirrt. Sie musste wohl verwirrt sein, wenn sie sich darüber freute, dass dieser rätselhafte Fremde sie aus diesem schrecklichen Zug befreite.

„Wohin bringen Sie mich?“, fragte sie, nachdem er den Motor angelassen hatte.

„An einen Ort, wo Sie etwas essen und dann schlafen können.“

Das klang so wundervoll, dass sie am liebsten geweint hätte. „Warum tun Sie das für mich, nachdem Sie mich erst wegen Vorspiegelung falscher Tatsachen und unerlaubten Betretens haben verhaften lassen?“ Ihre Stimme zitterte.

Seine Hände klammerten sich fester um das Lenkrad. Sie erkannte das daran, dass seine Fingerknöchel ganz weiß wurden.

„Ich habe herausgefunden, dass Sie sind, wer Sie zu sein behaupten.“

Ruckartig wandte sie den Kopf, damit er nicht den schmerzlichen Blick in ihren Augen sah. „Sie glauben mir also jetzt, dass ich Mrs. Parker bin?“

„Ja.“

„Ich verstehe. Da Sie nun meinen Namen kennen, möchte ich wissen, wie Mr. Montefalco Sie nennt?“

Nach einem befangenen kurzen Schweigen antwortete er: „Gino.“

Ally rutschte unruhig auf ihrem Sitz herum.

„Ob das nun Ihr richtiger Name ist oder nicht, wenigstens kann ich Sie jetzt ansprechen.“

„Abgesehen von ‚Mistkerl‘ meinen Sie?“

Wider Willen musste Ally leise lachen.

„Ehrlich gesagt hätte ich den Wärter gern so genannt, der mir nicht mit meinem Koffer geholfen hat. Selbst zu Ihren schlechtesten Zeiten haben Sie sich immer noch mehr wie ein Gentleman verhalten.“

Sie hörte ihn gequält seufzen. „Ich muss Sie um Verzeihung bitten.“

Aus dem Augenwinkel warf sie ihm einen neugierigen Blick zu. „Wenn ich jemals Ihren Arbeitgeber treffe, werde ich Ihre uneingeschränkte Loyalität bezeugen. Kein Wunder, dass er Sie auf seiner Gehaltsliste behält. Jeder Mensch, der eine Zielscheibe darstellt, sollte einen solch vertrauenswürdigen Leibwächter haben.“

Inzwischen hatten sie das kleine Dörfchen Remo hinter sich gelassen und fuhren im heißen italienischen Sonnenschein zwischen ausgedehnten Sonnenblumenfeldern.

„Woher wissen Sie so viel über ihn?“

Sie betrachtete ihre Hände. „Ich weiß nur sehr wenig, nur das Offensichtliche: Er ist reich, trägt einen Adelstitel und hat seine Frau verloren. Wenn er sie sehr geliebt hat, dann fühle ich von Herzen mit ihm.“

„Was ist mit Ihrem Herzen?“, flüsterte er.

„Wenn Sie wissen wollen, ob der Tod meines Mannes mir das Herz gebrochen hat – ja, das hat er.“ Und wenn Sie sich fragen, ob die Untreue meines Mannes mich verletzt hat – ja, das hat sie. Aber weil sie zu lange damit gewartet hatte, die Beziehung wieder ins Reine zu bringen, rief Jims Tod Schuldgefühle in Ally wach, die sie nicht abschütteln konnte.

Gino lenkte den Wagen mit offensichtlicher Vertrautheit und Sicherheit durch ein Labyrinth aus Landstraßen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte sie es genossen, durch diese Landschaft zu reisen. Im Moment war Ally für die Welt um sich nicht aufnahmefähig.

Als er das nächste Mal anhielt, rieb sie sich die übernächtigten Augen und nahm ein ziemlich altes, ockergelbes, dreistöckiges Landhaus wahr. „Wo sind wir?“

„Das ist mein Zuhause“, verkündete er, bevor er ihr aus dem Wagen half.

Er nahm ihren Koffer und forderte sie auf, ihm zu folgen. Sie stellte ihm keine Fragen, während sie in die Diele traten und dann eine Treppe in den ersten Stock hinaufgingen.

Oben angelangt, öffnete Gino eine Tür. „Hier werden Sie sich wohlfühlen, Mrs. Parker. Die Tür dort führt zum angeschlossenen Badezimmer. Ich bitte Bianca, meine Haushälterin, Ihnen etwas zu essen zu bringen. Schlafen Sie gut. Wir unterhalten uns später.“

„Ja, das werden wir. Ich möchte den Laptop meines Mannes wiederhaben.“

„Alles zu seiner Zeit.“

Wie Ally noch herausfinden sollte, war das seine bevorzugte Redewendung.

Auf dem Holzfußboden stellte er den Koffer ab, dann ging Gino hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Direkt vor ihr stand ein großes Himmelbett mit einer einladenden weißen Steppdecke. Ally war so müde, dass sie sich nur ihre Oberbekleidung abstreifte und unter die Decke kletterte. Bevor ihr Kopf das Kopfkissen berührte, war sie schon eingeschlafen.

3. KAPITEL

Auf dem Weg zur Küche traf Gino im Esszimmer Sofia.

„Wer ist die Dame, die du mitgebracht hast, Onkel Gino?“

Gino musste schnell schalten. „Eine Bekannte, die den Hof besichtigen will. Sie ist direkt aus den Vereinigten Staaten hergeflogen und deswegen todmüde. Sie soll sich erst einmal ausschlafen, bevor ich sie dir vorstelle.“

„Oh.“

„Wo ist Bianca?“

„Draußen auf der hinteren Terrasse mit Luigi und Papa.“

Das war ihm auch recht. Er wuschelte Sofia durchs Haar. „Unser Gast braucht etwas zu essen. Willst du mir helfen, etwas zurechtzumachen?“

„Ja.“

Sofia ging mit ihm zur Küche. „Was isst sie denn gern?“

„Kannst du dir vorstellen, dass sie irgendetwas nicht mag, das Bianca gekocht hat?“

„Eigentlich nicht.“

Sie stellten einen Teller mit Schinken, frischem Brot, Salat und Obst zusammen. Dazu machten sie einen heißen Tee.

„Kann ich mit dir mitkommen, wenn du es ihr bringst?“

„Natürlich.“

„Wie heißt sie?“

„Signora Parker.“

„Spricht sie Italienisch?“

„Nein.“ Jedenfalls hatte der Taxifahrer das gesagt. „Du bekommst noch die Gelegenheit, dein hervorragendes Englisch bei ihr auszuprobieren.“

„Ist sie auch Blumenzüchterin?“

Gino war genauso neugierig auf die Ehefrau von Donatas Geliebtem. „Frag sie doch nachher.“ Die Antwort würde ihn interessieren.

Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf. Er klopfte an die Tür. „Signora?“

„Ich sehe mal nach“, bot Sofia an, öffnete die Tür einen Spalt, schlich auf Zehenspitzen ins Zimmer und kam sofort wieder heraus. „Sie schläft tief und fest.“

Das überraschte Gino nicht. „Dann machen wir eben später noch mal einen Teller für sie fertig.“

Wieder in der Küche, genoss er selbst das Essen, das für die faszinierende Frau bestimmt gewesen war, die jetzt unter seinem Dach schlief. Anschließend räumten Sofia und er zusammen alles auf.

„Sie hat schöne Haare – wie die Farbe von Feenflügeln.“

Das war eine passende Beschreibung. Gino sah seine brünette Nichte liebevoll an. „Nicht viele Leute in unserem Bekanntenkreis haben so eine Haarfarbe, nicht wahr?“

„Ich kenne keinen Einzigen“, erklärte sie.

„Was hältst du davon, dass wir Annas Mutter anrufen und fragen, ob sie ein paar Tage hier bei uns verbringen kann?“

„Sie hat es lieber, wenn ich zum Spielen zu ihr nach Hause komme.“

Er runzelte die Stirn. „Und warum will sie nicht hierherkommen?“

„Ich weiß nicht.“

Ernst legte Gino ihr die Hand auf die Schulter. „Ich denke, du weißt es doch. Sag mir, was los ist.“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich glaube, sie hat Angst vor Papa.“

Ein Schmerz durchzuckte ihn. „Hat sie dir das gesagt?“

„Nein. Aber als sie das letzte Mal in den palazzo gekommen ist, fing Papa plötzlich an, durch alle Zimmer zu laufen, immer und immer wieder, und …“ Sofia konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.

Er nahm sie fest in die Arme, damit sie ihrem Kummer freien Lauf ließ. Tief im Inneren weinte Gino mit ihr bei dem Gedanken, dass sein Bruder, einst sein Idol, so früh in seinem Leben unter dieser schrecklichen Krankheit leiden musste. Und es schmerzte noch mehr, weil Sofia dadurch einer normalen Kindheit beraubt wurde. Er hoffte, dass Gott ihm die Kraft gab, seiner geliebten Nichte dabei zu helfen, wieder etwas Glück zu finden, bevor ihre Kindheit vorüber war.

„Soll ich dich zu Anna bringen?“

„Nein. Ich will nirgendwohin gehen. Ich möchte nur bei dir bleiben.“

Das war genau das, was Gino befürchtet hatte. Sofia zog sich immer tiefer in ihr undurchdringliches Schneckenhaus zurück. Das musste er verhindern. Aber wie sollte er das schaffen, wenn er es nur mit Mühe fertigbrachte, nicht selbst zusammenzubrechen?

Als sie aufwachte, brauchte es eine Weile, bis Ally sich erinnerte, wo sie sich befand.

Sie sah auf die Uhr. Es war beinahe acht Uhr abends. Sie hatte neun Stunden geschlafen!

Jemand musste ins Zimmer gekommen sein und ihr ein Tablett mit Essen gebracht haben. Sie war so dankbar und so ausgehungert, dass sie alles bis auf den letzten Krümel aufaß.

Der Koffer stand noch da, wo Gino ihn abgesetzt hatte. Sie trug ihn zum Bett und nahm frische Kleidung heraus, bevor sie ins Bad ging, um zu duschen.

Als sie zehn Minuten später mit frisch gewaschenen Haaren und in sauberen Jeans und einem blauen Top zurückkam, fühlte sie sich wieder halbwegs wie ein Mensch. Begeistert von ihrem heiteren Zimmer mit den gelb gestrichenen Wänden, öffnete sie die Fensterläden, um hinauszuschauen. In der Abenddämmerung sah sie endlose Blumenfelder. Unglaublich.

Nachdem sie ihr feuchtes Haar so lange gebürstet hatte, bis es sich zu natürlichen Locken formte, trug Ally ein wenig Lippenstift auf und ging dann hinunter, um nach ihrem Gastgeber zu suchen.

Ein großes schmales Mädchen von etwa elf, zwölf Jahren, mit langen braunen Haaren und traurigen braunen Augen, kam ihr am Fuß der Treppe entgegen. Ginos Tochter?

Allys Schritte wurden langsamer. Natürlich hatte er eine Familie. Das war doch eigentlich zu erwarten gewesen.

„Hallo.“

„Hallo, Mrs. Parker“, sagte das Mädchen.

Ally war bezaubert von ihren guten Manieren. „Wie heißt du?“

„Sofia.“

„Ich liebe diesen Namen.“

Das Mädchen sah sie ernst an. „Und wie ist Ihr Name?“

„Ich bin Ally. Aber Sofia gefällt mir viel besser.“

„Was bedeutet Ihr Name?“

„Ich glaube nicht, dass er irgendetwas bedeutet. Allerdings bin ich viel geneckt worden deswegen.“

„Wieso das denn?“

„Weißt du, was eine Katze ist?“

„Ja. Onkel Gino hat mir vor ein paar Monaten eine geschenkt. Sie ist schwarz und hat weiße Pfoten.“

Onkel Gino. Das erklärte die Familienähnlichkeit. „Da hast du aber Glück gehabt. Wie heißt sie denn?“

„Sie ist ein Er und heißt Rudolfo. Wie Onkel Ginos richtiger Name.“

Wie passend. Gino erfüllte die Erwartungen vollkommen, die man an den Träger eines solchen Namens stellte.

„Ach so. Nun, mich nannten die anderen Kinder Straßenkatze, weil Ally so wie das englische Wort für Gasse klingt.“

„Was ist das?“

„Eine Katze, die auf der Straße lebt, weil sie kein Zuhause hat.“

„Aber Sie hatten ein Zuhause?“ Sofia klang besorgt.

„Ja, Liebes.“ Dieses Kosewort rutschte ihr so heraus. Denn das Mädchen war von einer Aura der Wehmut umgeben, die an Allys Herz rührte.

„Onkel Gino sagte, Sie sind gekommen, um sich den Hof anzusehen. Sind Sie Landwirtin?“

Diese Erklärung hatte er also für Allys Anwesenheit in seinem Haus geliefert!

„Nein, eigentlich nicht, Sofia. Aber meine Großeltern hatten eine kleine Farm am Fuß des Mount Hood in Oregon. Das ist ein alter Vulkan.“

„Wir haben hier auch Vulkane“, erklärte Sofia.

„Ich weiß. Sehr berühmte sogar. Eines Tages möchte ich sie gern besichtigen.“

„Ist der bei Ihren Großeltern noch aktiv?“

„Ich vermute, sie können alle irgendwann wieder zum Leben erwachen, aber Mount Hood ist schon seit Langem ruhig. Der Boden dort ist perfekt, um Lavendel anzupflanzen.“

„Das ist eine der Pflanzen, die Onkel Gino züchtet.“

„Ja, das habe ich gehört, deshalb bin ich auch hergekommen. Die Felder erinnern mich an den Garten meiner Großmutter. Früher hat sie Lavendel immer gern verschenkt. Ihr dabei zu helfen, den Lavendel zu kleinen Sträußen zu binden, gehört zu meinen liebsten Kindheitserinnerungen.“

„Dazu hätte ich auch Lust.“

„Kannst du deiner Tante und deinem Onkel nicht manchmal helfen?“

„Onkel Gino ist nicht verheiratet. Er sagt, Freundinnen sind viel besser.“

Wenigstens war er ehrlich, um nicht zu sagen: unverblümt. Nachdem Ally schon mehrere unterschiedliche Seiten von ihm kennengelernt hatte, überraschte sie seine Lebensphilosophie eigentlich nicht. Es passte sogar zur Einstellung ihrer Mutter, die die Meinung vertrat, dass gut aussehende Männer schlechte Ehemänner abgaben.

Ally trat näher zu Sofia. „Da du zur Familie gehörst, kann ich mir vorstellen, dass Gino dir eine Arbeit auf den Blumenfeldern zuteilt, wenn du ihn darum bittest.“

„Vielleicht mache ich das.“ Sofia sah sie mit neu erwachtem Interesse an. „Wollen Sie meinen Vater kennenlernen? Er ist noch nicht im Bett.“

„Sehr gerne. Wie heißt er?“

„Marcello.“

„Noch so ein schöner Name. Wie heißt deine Mutter?“

Sofias Gesichtsausdruck wurde verschlossen. „Donata.“

Donata?

Aber das hieß ja … Um Gottes willen …

Genau in diesem Moment trat Gino aus dem Schatten des Korridors.

Ally fragte sich, wie lange er wohl schon dort stand. Wie viel hatte er von ihrem Gespräch mit Sofia gehört?

Ihre Blicke trafen sich für einen Moment. Als Gino einen Arm um seine Nichte legte, erkannte Ally die Seelenqualen in den schwarzen Tiefen seiner Augen. Sie beugte sich vor und ergriff die Hand des Mädchens.

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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