Romana Gold Band 72

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VERSÖHNUNG AM KAMIN von PENNY JORDAN
„Verzeih mir!“ Verzweifelt steht Helen vor Alexander, mit dem brennenden Wunsch, das Unrecht an dem Mann, den sie liebt, wiedergutzumachen. Wird er ihre Entschuldigung annehmen, sie am Kaminfeuer zärtlich küssen – oder sie kühl fortschicken?

WIRD DIE LIEBE SIEGEN? von SANDRA MARTON
Wie ein Sonnenstrahl an einem kalten Wintertag erscheint Jake die feurige Catarina: Sie ist widerspenstig, temperamentvoll – und faszinierend! Aber Catarina muss einen Brasilianer heiraten, sonst verliert sie ihr Vermögen. Kann Jake dieses Opfer von ihr verlangen?

WINTERMÄRCHEN MIT EINEM MILLIARDÄR von MELISSA JAMES
TV-Moderatorin Rachel Chase ist erleichtert: Hier in den Schweizer Bergen wird ihr Noch-Ehemann sie nicht finden. Und als der Milliardär Armand Bollinger sie in seine Arme zieht, fühlt sie sich sicher – bis plötzlich der Schatten der Vergangenheit ihren Wintertraum verdunkelt …


  • Erscheinungstag 16.12.2022
  • Bandnummer 72
  • ISBN / Artikelnummer 9783751510912
  • Seitenanzahl 444
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Penny Jordan, Sandra Marton, Melissa James

ROMANA GOLD BAND 72

1. KAPITEL

Auf dem dunklen Teppich im Wohnzimmer lagen mehrere zurechtgesägte Kiefernholzstücke und eine Rolle rotes Band herum, das die Katze abgewickelt hatte. Im Kamin loderte ein lustiges Feuer, das an diesem trüben Winternachmittag eine behagliche Stimmung verbreitete. Helen nahm all diese Einzelheiten unbewusst in sich auf, als sie das Zimmer betrat, denn sie war danach erzogen worden, alles genau zu beobachten und die Eindrücke zu speichern, um sie bei Bedarf für ihre Arbeit zu verwenden. Heute allerdings war sie mit ihren Gedanken ganz woanders.

Gerade hatte sie mit ihrer Mutter telefoniert, doch das Gespräch hatte sie keineswegs beruhigt. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass ihr Vater vor zwei Tagen mit einem Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht worden war.

Niemand hatte geahnt, dass es ihm so schlecht ging. Gordon Burns war ein schlanker Mann in den Fünfzigern und schien noch über die gleiche Energie wie ein junger Mann zu verfügen.

Sogar jetzt, nachdem sein dichtes dunkles Haar grau geworden war, konnte Helen die Tatsache, dass er älter wurde, nur schwer akzeptieren. Unwillkürlich runzelte sie die Stirn und biss sich auf die Lippe. Sie beide hatten sich immer sehr nahegestanden.

Viele von Helens Altersgenossinnen wunderten sich, dass sie für ihre Eltern arbeitete und dazu noch freiwillig in deren Haus lebte. Wahrscheinlich war das mit dreiundzwanzig Jahren ziemlich ungewöhnlich, aber sie hatte nie die Sehnsucht nach der sogenannten Freiheit verspürt.

Das Telefon klingelte, und Helen nahm mit klopfendem Herzen den Hörer ab. Wahrscheinlich war es wieder ihre Mutter, denn sie hatten ausgemacht, dass sie anrufen würde, sobald es Neuigkeiten aus dem Krankenhaus gab. Bis jetzt war der Zustand ihres Vaters stabil gewesen, aber die Ärzte hatten von einer notwendigen Operation gesprochen, durch die ein weiterer Herzinfarkt in Zukunft verhindert werden sollte.

Helen wusste, dass eine solche Herzoperation nicht von der Krankenkasse finanziert wurde.

Sie war eine große schlanke Frau, hatte kastanienbraunes Haar und ähnelte mehr ihrem Vater als ihrer kleinen blonden Mutter. Nur in ihrem Temperament glich sie keinem von beiden. Ihr Vater hatte sie oft aufgezogen, wenn sie ihren Stolz und ihre Empfindungen nicht beherrschen konnte. Jetzt, als Erwachsene, hatte sie zwar immer noch nicht gelernt, ihre Gefühle zu kontrollieren, aber sie konnte sie wenigstens akzeptieren.

Ängstlich meldete sich Helen, aber es war nur Mrs Anstey, die Stütze der kleinen Gemeinde und ungekrönte Königin der örtlichen Frauenvereinigung.

„Helen, es tut mir leid, dass ich dich in einer so schweren Zeit mit meinen Angelegenheiten behelligen muss, aber was machen die Dekorationen?“

Vor vielen Jahren hatte Helens Vater als Abteilungsleiter in einem der führenden Kaufhäuser Londons gearbeitet. Damals war er auf die Idee gekommen, eine eigene Firma zu gründen, die auch kleineren Geschäften Schaufensterdekorationen und den dazugehörigen Service anbot, den sich sonst nur die großen Kaufhausketten leisten konnten.

Gordon Burns überraschte der Erfolg seines kleinen Unternehmens, und schon nach zwei Jahren trat seine Frau mit in das Geschäft ein, und auch Helen war in das Team aufgenommen worden, sowie sie ihre Ausbildung an der Kunstschule beendet hatte.

Helen liebte die Arbeit. Es erfüllte sie jedes Mal mit Befriedigung, mit wenig Aufwand wahre Wunderwerke zu zaubern, die zudem so aussahen, als hätten sie viel Geld gekostet.

Während der letzten Jahre hatte ihr Vater mehrere Angebote von größeren Firmen bekommen, die sein Unternehmen aufkaufen wollten, aber er hatte jedes Mal abgelehnt. Er wollte sein Geschäft klein und überschaubar halten und war mit dem Erfolg, den er hatte, zufrieden.

Wenn man ihrem Vater überhaupt einen Fehler vorwerfen konnte, dann nur seine Weichherzigkeit und Großzügigkeit.

Die Weihnachtsfeier im Altersheim war das beste Beispiel dafür.

Als Maureen Anstey ihn gefragt hatte, ob er die Kirche für das Fest dekorieren könne, hatte er sich sofort mit Begeisterung in die Arbeit gestürzt, aber Helen wusste aus Erfahrung, dass er die Zeit und den Aufwand nie in Rechnung stellen würde.

Sie hatten immer ihr Auskommen gehabt, und es war ihnen gut gegangen. Doch hatten ihre Eltern nie einen Penny zurücklegen können und waren deshalb nicht in der Lage, eine kostspielige Operation zu bezahlen, wie sie der Herzspezialist vorgeschlagen hatte.

Nachdem Helen Maureen Anstey versichert hatte, dass die Dekorationen rechtzeitig fertig würden, ging sie ins Wohnzimmer zurück. Dieser Raum war ihr der liebste in dem kleinen ehemaligen Pfarrhaus, das ihr Vater gekauft hatte, als sie nach Durminster gezogen waren. Alle Zimmer im Erdgeschoss waren mit einem Kamin ausgestattet, aber das Wohnzimmer mit den alten gemütlichen Möbeln hatte eine ganz besondere Atmosphäre. Und das war auch der Raum, in dem sich die Familie am Abend versammelte.

Die Katze miaute vorwurfsvoll und erinnerte Helen daran, dass es Zeit zum Teetrinken war. Außerdem wartete Meg auf ihren täglichen Spaziergang mit ihr.

Die alte Colliehündin wedelte mit dem Schwanz, als Helen in die Küche kam. Helen hatte Meg zu ihrem dreizehnten Geburtstag geschenkt bekommen. Bei der Erinnerung an diesen Geburtstag lief ihr ein Schauer über den Rücken. Den Gedanken daran hätte sie am liebsten verdrängt. So als wäre es gestern gewesen, stand ihr jener Morgen noch vor Augen: Ihre Eltern hatten sie erwartungsvoll angesehen, während sie ihr den kleinen Welpen in die Arme legten. Es hätte für Helen die glücklichste Erinnerung sein können, wenn ihre Mutter nicht etwas gesagt hätte, das ihre ganze Freude mit einem Schlag zunichtemachte.

Denn gerade, als sie dem Hündchen über das Köpfchen streicheln wollte, erklärte ihre Mutter: „Natürlich musst du Meg mit Alexander teilen, Helen.“

Sofort hatte Helen Meg in das Körbchen fallen lassen. Sogar heute, nach all den Jahren, konnte sie sich noch mit kindlich empörter Stimme sagen hören: „Dann will ich sie nicht! Ihr könnt sie ihm geben, wenn ich sie nicht allein besitzen darf!“ Natürlich war sie eifersüchtig gewesen. Und obwohl sie damals ein unreifes Kind war, hatte sie mit ihrer Handlung das Leben der Familie bis auf den heutigen Tag verändert.

Helen war sieben Jahre alt gewesen, als ihre Eltern den Plan fassten, einen Pflegesohn aufzunehmen. Helen hatte sich von Anfang an dagegen gesträubt. Vielleicht hätte sie sich an den Gedanken gewöhnen können, wenn sie nicht eines Tages zufällig Zeuge eines Gesprächs zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater gewesen wäre. Damals hatte sie erfahren, dass ihre Mutter niemals ganz über den Tod ihres ersten Kindes, eines Sohnes, hinweggekommen war, den sie bei einer Fehlgeburt verloren hatte.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Helen nicht gewusst, dass sie einen älteren Bruder gehabt hätte. Bis dahin hatte sie geglaubt, die uneingeschränkte Liebe ihrer Eltern zu besitzen, und nun plötzlich zweifelte sie daran.

Der Gedanke, ihre Eltern mit einem anderen Kind teilen zu müssen, versetzte ihr einen Stich. Während noch das Für und Wider dieses Plans erörtert wurde, wuchs in Helen die Eifersucht auf den Eindringling. Offenbar war ein Junge für ihre Eltern wichtiger als sie. Noch bevor eine Sozialarbeiterin Alexander ins Haus brachte, hasste Helen ihn schon von ganzem Herzen.

Heute wusste sie, dass diese Ablehnung ihren Vater in seiner Entschlossenheit, einen Bruder für sie ins Haus zu nehmen, nur bestärkt hatte. Damals hatte sie geglaubt, dass niemand sie in ihren Gefühlen verstand. Sie hatte nur Angst gehabt, dass dieser fremde Junge sie aus dem Herzen ihrer Eltern verdrängen könnte.

Natürlich hatten ihre Eltern nichts von diesen Ängsten geahnt. Beide waren auch als Einzelkinder groß geworden und wussten sehr wohl um die Problematik eines Kindes, das nicht gewohnt war zu teilen.

Als Alexander schließlich in die Familie kam, begegnete Helen ihm abweisend. Und diese Haltung war ihr nicht schwergefallen. Er war nicht nur stärker und größer als sie, sondern auch sechs Jahre älter. Zum anderen schien er auch klüger als sie zu sein und konnte sich mit ihren Eltern auf einer Ebene unterhalten, die ihr verschlossen war.

Heute wusste sie natürlich, dass Alexander sich damals ähnlich unsicher gefühlt haben musste. Er hatte sie aus Angst ignoriert, nicht weil er sie bei ihren Eltern ausstechen wollte. Ja, heute wusste sie mehr über diese Dinge, aber jetzt war es zu spät.

Helen zog den Dufflecoat an. Draußen wehte ein kalter Wind, und es roch nach Schnee.

Meg kläffte aufgeregt, als Helen die Tür öffnete. Im hinteren Teil des Gartens gab es eine kleine Pforte, durch die man auf einen kleinen Pfad gelangte, der zu den Feldern führte. Es war ein sonniger Tag gewesen, die Luft war kristallklar.

Aus dem nahen Wäldchen hörte Helen das Keckern eines Fuchses.

Meg spitzte die Ohren und suchte die Fährte. Der Abend war wie geschaffen für einen langen Spaziergang. Helen wusste, dass ihre Eltern sich oft Gedanken über ihr einsames Leben machten. Ihre Mutter schlug ihr immer wieder vor, an den verschiedenen gesellschaftlichen Anlässen in der Gemeinde teilzunehmen, aber Helen hatte meistens abgelehnt. Bisher hatte sie sich noch nicht ein einziges Mal verliebt. Nie hatte sie den Wunsch verspürt, eine Beziehung mit einem jungen Mann einzugehen, denn sie kannte sich zu gut und wusste, dass eine flüchtige Begegnung nichts für sie war. Sie kannte die Intensität und Tiefe ihrer Gefühle und die damit verbundenen Schmerzen. Darum zog sie sich lieber zurück wie ein gebranntes Kind.

Die stabile und liebevolle Beziehung zu ihren Eltern hatte sie verwöhnt. Sie konnte die sorglose Art, mit der sich ihre Altersgenossinnen in die Ehe stürzten, nicht verstehen und bezweifelte, dass sie je einen Mann finden würde, der bereit war, sich vorbehaltlos an sie zu binden. Denn nur nach einer solchen Beziehung sehnte sie sich.

Und deshalb war es besser, sich gar nicht erst zu verlieben.

Zwar hatte sie sich gelegentlich mit Jungen verabredet – Jungen, die sie von der Schule kannte und die inzwischen zu Männern herangewachsen waren – oder mit Männern, mit denen sie arbeitete, aber bis jetzt hatte ihr niemand viel bedeutet.

Das Eis auf dem gefrorenen Pfad knackte unter ihren Schritten. Meg verfolgte eine neue Fährte und steckte ihre Schnauze in einen leeren Kaninchenbau. Helen und Meg kannten den Weg gut, aber sie entdeckten trotzdem jedes Mal etwas Neues. Der Mond war inzwischen aufgegangen, und Helen betrachtete entzückt die dunklen Zweige, auf die das Mondlicht silberne Reflexe malte.

Das Wetteramt hatte Schnee für Weihnachten vorausgesagt. Die Dorfkinder werden begeistert sein, hatte Maureen Anstey sachlich bemerkt. Weniger willkommen würde der Schnee den Menschen sein, die jeden Tag nach Bristol oder Bath zur Arbeit fahren mussten.

Der Kohlenschuppen war gefüllt, und das Holz, das ihr Vater erst vor zwei Wochen gehackt hatte, lag ordentlich gestapelt für ein wärmendes Kaminfeuer bereit. Helen konnte sich noch gut daran erinnern, wie erstaunt Alexander damals gewesen war, als er die tief verschneite Landschaft zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte in London gelebt. Dort blieb der Schnee niemals länger als einige Stunden liegen. Sekundenlang hatte Helen sich ihm überlegen gefühlt, aber wie immer hatte er es verstanden, die Situation schnell zu seinen Gunsten umzukehren. Sie fror plötzlich und rief Meg.

Natürlich wusste Helen genau, weshalb sie in Gedanken immer wieder zu Alexander zurückkehrte. Seit der Herzspezialist ihnen eröffnet hatte, dass ihr Vater operiert werden müsste, wusste sie, dass nur Alexander ihnen helfen konnte.

Die Geschäfte ihres Vaters waren in letzter Zeit nicht sehr gut gegangen. Viele kleine Läden hatten keine Möglichkeit mehr gesehen, mit den großen zu konkurrieren, und hatten aufgegeben. Unternehmensgruppen wie „Bennett Enterprise“ schluckten die kleinen Firmen. Wer hätte je gedacht, dass der kleine verwahrloste Alexander Bennett, den ihre Eltern als Pflegesohn zu sich genommen hatten, einmal ein so erfolgreicher Geschäftsmann werden würde?

Er war heute vielfacher Millionär, und wenn man dem Klatsch in der Regenbogenpresse glauben konnte, führte er auch ein dementsprechendes Leben. Da Helen ihn gut kannte, glaubte sie, was sie in der Presse las.

Er hatte immer nur das Beste gerade gut genug für sich gefunden. Sie brauchte nur an die vielen Models zu denken, die er mit nach Hause gebracht hatte, um sie ihren Eltern vorzuführen. Glamouröse Luxusgeschöpfe, in deren Gegenwart sie sich ungelenk und hässlich gefühlt hatte. Alexander hatte ihr Unbehagen bemerkt und seinen Triumph genossen.

So war es immer zwischen ihnen gewesen. Vom ersten Augenblick an hatten sie sich als Feinde betrachtet. Damals konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie ihn eines Tages besiegen würde. Sie schauderte, als sie an den hohen Preis für diesen Sieg dachte und den alten Schmerz spürte, den sie tief in ihrem Herzen verschlossen hatte. Ihre Eltern hatten Alexander seit jenem entsetzlichen Abend an ihrem siebzehnten Geburtstag nie mehr erwähnt. Sie hatten ihr nie Vorwürfe gemacht, aber Helen wusste, was sie fühlten. Sie hatten ihr zwar die gleiche Liebe entgegengebracht, aber ihr dadurch auch gleichzeitig einen Spiegel vorgehalten, in dem sie ihre Selbstsucht und unbegründete Eifersucht erkannte. Der Therapeut, der sie während ihres Aufenthalts im Krankenhaus behandelte, hatte ihr auf diesem Weg geholfen. Sie zitterte bei der Erinnerung an den dummen Teenager, der sie damals gewesen war, an ihre Rache, die sie genommen hatte, ohne an die Folgen für alle Beteiligten zu denken.

Selbst heute verfolgten sie die Ereignisse jener Nacht noch immer. Damals hatte sie nur den einen Wunsch gehabt, Alexander ein für alle Mal zu besiegen und ihm die Rückkehr nach seinem erfolgreich absolvierten Examen in Oxford zu verderben. Ihre Eltern sollten zwischen ihnen beiden wählen.

Und sie hatte gesiegt. Aber um welchen Preis?

Nie würde sie die Angst und den Vorwurf in ihres Vaters Blick vergessen, als sie im Krankenhaus aufwachte.

Man hatte ihr den Magen ausgepumpt. Und als sie erschöpft und noch halb benommen die Augen aufschlug, war ihre erste Frage gewesen: „Wo ist Alexander?“

Ihre Eltern hatten ihr aus Mitleid und Liebe verschwiegen, dass er fortgegangen war.

Helen hatte geglaubt, dass Alexander mit Absicht ihren Geburtstag für seine Heimkehr aus Oxford gewählt hatte, weil er ihr den Tag stehlen wollte. Ihre Eltern hatten ein Geburtstagsessen im ersten Hotel des Ortes vorbereitet, aber Helen weigerte sich, sich umzuziehen, und blieb beleidigt in ihrem Zimmer. Sie rechnete fest damit, dass ihr Vater erscheinen und sie überreden würde, doch mitzukommen.

Doch statt ihres Vaters war Alexander zu ihr gekommen. Er sah älter und reifer aus als bei seinem letzten Besuch vor einem Jahr. Während seines letzten Jahres in Oxford hatte er in den Ferien gearbeitet, sodass sie ihn lange nicht gesehen hatte. Helen hatte gehofft, er sei für immer aus ihrem Leben verschwunden, obwohl er regelmäßig einmal die Woche schrieb und telefonierte.

Er hatte sie wie ein bockiges, verwöhntes Kind behandelt. „Du erwartest von jedem, dass er nach deiner Pfeife tanzt“, hatte er gesagt, und sie hatte in seiner Kritik ein Körnchen Wahrheit entdeckt. Das schmerzte, und deshalb hasste sie ihn umso mehr. „Wenn du auch nur etwas für deine Eltern empfindest, ziehst du dich jetzt sofort um und gehst mit uns“, fügte er dann hinzu. „Es wird Zeit, dass du erwachsen wirst, Helen. Hör auf, die Menschen, die dich lieben, zu erpressen, damit du erreichst, was du haben willst. Wir beide werden immer so weit wie Nord- und Südpol voneinander entfernt sein, aber um deiner Eltern willen sollten wir wenigstens versuchen, miteinander auszukommen.“

Damals hatte sie sich geweigert, nach unten zu gehen, und schließlich waren ihre Eltern mit Alexander ohne sie ausgegangen.

Beinahe wahnsinnig vor Wut und Eifersucht war sie zu dem Medikamentenschränkchen gegangen und hatte eine volle Packung Schlaftabletten herausgenommen.

Helen hatte nicht wirklich sterben wollen, sondern nur den dringenden Wunsch gehabt, die Menschen zu bestrafen, die sie weniger – viel weniger – als Alexander liebten.

Wenn Alexander ihre Eltern nicht überredet hätte, schon nach dem ersten Gang nach Hause zurückzukehren, würde sie heute wahrscheinlich nicht mehr leben.

Sie hatte bereits das Bewusstsein verloren, als ihre Eltern ihren kindischen Abschiedsbrief fanden. Sie war sofort ins Krankenhaus gebracht worden.

In ihrem Abschiedsbrief hatte sie viele törichte, bittere Worte gefunden. Sie hatte ihre Eltern beschuldigt, sie hätten sich immer gewünscht, sie wäre ein Junge, und Alexander hatte sie vorgeworfen, dass er versucht habe, ihr die Liebe der Eltern zu stehlen. Da sie sich weder erwünscht noch geliebt fühle, hätte sie beschlossen, aus dem Leben zu scheiden.

Während der Therapie, die sie nach dem Krankenhausaufenthalt durchlief, lernte sie, dass sie nicht Alexander so sehr gehasst hatte, sondern die Bedrohung, die er für sie darstellte. Nur sie allein war für ihre Gefühle verantwortlich.

Zuerst war sie wütend geworden, aber später, als sie die Wahrheit erkannte, hatte sie ihre unüberlegte, kindische Drohung bitter bereut. Da war es jedoch zu spät. Alexander war fort. Er hatte nur einen kurzen Brief hinterlassen, in dem er schrieb, dass es unter den gegebenen Umständen besser sei, wenn er für immer fortgehen würde. Nie würde er vergessen, was ihre Eltern für ihn getan hatten.

Alexanders Fortgang wurde nie mit einem Wort erwähnt, aber Helen spürte, wie sehr ihre Eltern ihn vermissten. Er war immer eine Stütze für ihr Mutter gewesen, und auch ihr Vater hatte ihn oft in finanziellen Angelegenheiten um Rat gefragt. Wenn nur …

Aber das Leben war kein Märchen. Sie konnte nicht einfach die Augen schließen, sich etwas wünschen und darauf warten, dass der Wunsch in Erfüllung ging.

Doch es gab noch eine andere Lösung. Immer wieder hatte sie versucht, einen anderen Ausweg aus dem Dilemma zu finden. Seit ihr Vater ins Krankenhaus eingeliefert worden war, wusste sie, dass nur Alexander bereit sein würde zu helfen. Sie musste zu ihm fahren und ihn um ihrer Eltern willen um Hilfe bitten.

Helen hatte einen längeren Spaziergang gemacht, als sie eigentlich beabsichtigt. Als sie nach Hause zurückkehrte, läutete das Telefon. Es war ihre Mutter.

„Es ist alles soweit in Ordnung, Helen. Bis jetzt hat sich das Befinden deines Vaters nicht verändert, aber Mr. Frazer hat noch einmal bestätigt, dass er eine Operation für unbedingt erforderlich hält. Er schlägt einen besonders qualifizierten Chirurgen vor, der sich im Augenblick allerdings in New York aufhält. Ende der Woche kommt er zurück. Ich habe Mr. Frazer gesagt, dass wir die Operation nicht privat bezahlen können, weil dein Vater seine Krankenversicherung gekündigt hat!“

Helen umklammerte den Telefonhörer wie einen Strohhalm. Wenn nur die Geschäfte im letzten Jahr etwas besser gegangen wären! Ob ihre Mutter überhaupt von der Hypothek wusste, die Vater auf das Haus aufgenommen hatte, um Kapital in die Firma stecken zu können? Die Bank hatte schon auf Rückzahlung gedrängt …

Helen schauderte. Ihr Vater hatte einen Herzinfarkt bekommen, als er gerade die lange Liste seiner Schulden durchgegangen war. Sie hatte die Papiere später auf seinem Schreibtisch entdeckt.

„Ich bleibe über Nacht im Krankenhaus. Die Schwestern haben mir ein Zimmer zur Verfügung gestellt, solange es deinem Vater schlecht geht. Wie kommst du zurecht?“

Es sah ihrer Mutter ähnlich, dass sie trotz ihrer Sorgen auch noch daran dachte, wie es ihr, Helen, ging. Wie hatte sie nur jemals glauben können, dass ihre Eltern sie nicht liebten? Sicher hätten sie gern einen Sohn gehabt. Sie hatten Alexander geliebt, aber das hatte ihre Liebe für sie nicht vermindert. Ihre eigene törichte Eifersucht hatte sie verblendet.

„Mir geht es gut. Ich arbeite an den Dekorationen für die Kirche. Morgen muss ich mir neues Material besorgen“, fügte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, hinzu. „Sorg dich deshalb nicht, wenn du mich nicht erreichst. Ich werde den größten Teil des Tages unterwegs sein.“

„Pass auf dich auf, Darling. Es ist Schnee angesagt. Fahr vorsichtig“, warnte ihre Mutter sie.

Helen hatte ein schlechtes Gewissen, als sie den Hörer auflegte. Sie hasste es zu lügen, aber sie brauchte Zeit, um ihren Plan auszuführen.

2. KAPITEL

Helen schlief in dieser Nacht sehr schlecht. Sie wachte lange vor der Morgendämmerung auf und lag im Bett und beobachtete, wie es draußen langsam heller wurde. Der Himmel färbte sich allmählich rosa. Das bedeutete Schnee. Die ganze Nacht über hatte sie heftig geträumt: Alexanders Ankunft in der Familie. Er war so viel größer, als sie erwartet hatte, und so schrecklich aggressiv. Während ihrer Therapie hatte sie gelernt, dass die Aggression das einzige Mittel zur Selbstverteidigung war, über das er verfügte, um seine Unsicherheit zu überspielen. Er war in einem der ärmsten Viertel Londons groß geworden, sein Vater hatte ihn verlassen, und seine Mutter war mit fünfundzwanzig Jahren an einer illegalen Abtreibung gestorben. Danach kümmerten sich seine Großeltern um ihn. Heute war Helen bewusst, dass er wahrscheinlich nie in seinem Leben Güte und Liebe erfahren hatte, bis ihre Eltern ihn aufgenommen hatten. Nach dem Tod seiner Mutter gaben seine Großeltern ihn in ein staatliches Pflegeheim. Bevor er zu ihren Eltern kam, hatte Alexander schon in den verschiedensten Heimen gelebt. Er galt als schwer erziehbar und dumm.

Weshalb nur hatten ihre Eltern gerade ihn als Pflegekind ausgesucht? Helen wusste es nicht. Über ihn zu reden war stets so, als würde sie verbotenes Gebiet betreten. Ihre Eltern vermissten ihn noch immer. Sofort, nachdem ihr Vater das Bewusstsein wiedererlangt hatte, hatte er nach Alexander gefragt. Nur aus Liebe zu ihr sprachen ihre Eltern sonst nie von ihm und taten, als existiere er nicht. Der Schmerz, ihren Eltern aus bloßer Eifersucht so viel Kummer bereitet zu haben, ließ nie ganz nach, aber es war zu spät.

Allerdings war es nicht zu spät, die Zukunft besser zu gestalten.

Alexander wusste, dass Helen ihn hasste, wie er ebenso wusste, dass ihre Eltern ihn wirklich liebten. Es stellte sich sehr bald heraus, dass er überdurchschnittlich begabt war. Ihr Vater hatte Spaß an seinem wachen Geist und ihn gefördert, wo er konnte. Als Alexander ein Stipendium für eine Privatschule gewann, war ihr Vater sehr stolz gewesen.

Helens letzte Erinnerung an Alexander war jener schicksalsschwere Abend an ihrem siebzehnten Geburtstag. Alexander war während seiner Studienzeit auf der Universität groß und kräftig geworden. Von einem Ferienjob im Ausland war er gerade tief gebräunt zurückgekommen und hatte sie, kaum angekommen, in ihrem Zimmer aufgesucht. Sie konnte sich noch ganz genau erinnern, wie sie am ganzen Körper gezittert hatte.

Doch es nützte nichts, die Vergangenheit heraufzubeschwören. Jetzt gab es Wichtigeres zu tun. Jetzt war sie reif genug, um ihren Eltern für ihre Liebe und die Opfer, die sie ihr gebracht hatten, zu danken.

Helen warf einen Blick auf den Zettel, der auf dem Nachttisch neben ihrem Bett lag. Gestern hatte sie die Adresse der Hauptniederlassung der Firma „Bennett Enterprise“ herausgesucht.

Ihr Plan war bereits fertig, trotzdem verspürte Helen große Nervosität. Was würde geschehen, wenn Alexander es ablehnte, mit ihr zu sprechen? Was sollte sie tun, wenn er nicht da war?

Sie duschte und zog sich an. Es war schwierig, ein passendes Kleid zu finden, denn sie wollte diesmal einen guten Eindruck machen und Alexander zeigen, dass sie erwachsen und vernünftig geworden war.

Schließlich entschied sie sich für ein schwarzes Leinenkostüm. Es war teuer gewesen und sah auch danach aus. Außerdem stand es ihr gut und brachte ihre schlanke Taille und die sanften Rundungen ihres Körpers gut zur Geltung. Dann zog sie einen leichten Mantel mit großen silbernen Knöpfen an. Sie wusste, dass das Schwarz gut zu ihrem vollen kastanienbraunen Haar passte.

Heute hatte sie die widerspenstigen Locken mit der Bürste bändigen können. Da sie zu nervös war, um etwas zu essen, bereitete sie sich wenigstens eine Tasse Kaffee.

Ihre Mutter war mit dem Auto ins Krankenhaus gefahren, und Helen hatte nur den alten Lieferwagen zur Verfügung, den sie für die Firma brauchten. Er war zwar alt, aber noch ziemlich verlässlich.

Gerade als Helen den Außenbezirk von Bath erreicht hatte, begann es zu schneien. Sie gönnte sich noch eine Tasse Tee in einem Café, das sie an die Zeiten von Dickens erinnerte. Danach wollte sie sich in die Höhle des Löwen begeben. Die Kellnerin erkannte sie und begrüßte sie freundlich. Die meisten Gäste waren Touristen, vorwiegend Amerikaner, wie Helen aus dem Akzent schloss.

Als Helen schließlich das Café verließ, schneite es draußen noch immer. Da Helens Mantel viel zu dünn war, fror sie. Vor einer wunderschön restaurierten Fassade eines Hauses aus der Zeit König Georges IV. blieb sie wenig später stehen. Helen zögerte einen Augenblick und wäre am liebsten davongerannt.

Die Kälte trieb sie letztendlich in das Gebäude, wo sie von einem uniformierten Portier höflich gefragt wurde, zu wem sie wolle. Helen antwortete zögernd, dass sie Alexander Bennett besuchen wolle. „Mr. Bennett kennt meine Eltern“, sagte sie.

„Kommen Sie herein, Miss.“

Anscheinend glaubte ihr der Portier, denn er führte sie in eins der Zimmer.

Offensichtlich war der Raum, an dessen Wänden Seidenmalereien hingen, eine Art Wartezimmer. Zwei weich gepolsterte Sofas waren mit Seidenstoffen bezogen, die farblich mit den Gemälden an der Wand übereinstimmten. Im Kamin loderte ein Feuer.

Allein im Zimmer ergriff sie plötzlich eine fast panische Angst. Doch energisch rief sie sich zur Ordnung. Sie konnte jetzt nicht aufgeben, sie musste diese Sache durchstehen. Wovor hatte sie Angst? Dass sie sich wieder Alexanders Spott und Verachtung aussetzen musste? War ihr Stolz wirklich wichtiger als das Leben ihres Vaters?

Beschämt senkte sie den Kopf. Das Schlimmste, was ihr passieren konnte, war Alexanders Weigerung, sie zu sehen. Sie war bereit, jede Demütigung hinzunehmen, wenn er nur die Operation ihres Vaters bezahlen würde.

Allein der Gedanke, dass er ihre Bitte ablehnen könnte, rief Panik bei ihr hervor.

Als der Portier wieder ins Zimmer kam und sie ansah, fragte er besorgt: „Geht es Ihnen auch gut, Miss?“

„Ja, ja … alles in Ordnung.“ Helen blickte ihn gespannt an.

„Mr. Bennett erwartet Sie.“

Der Lift lag diskret versteckt hinter einer der Türen. Helen presste aufgeregt eine Hand auf den Bauch, als sie nach oben fuhr. Als der Aufzug anhielt, ging sie einen eleganten Korridor entlang auf Alexanders Bürotür zu. Bevor Helen sie erreichte, wurde sie von einer jungen Frau geöffnet, die wie ein Mannequin von der Titelseite eines Modemagazins aussah. Sie war eine typisch nordische Blondine, wirkte kühl und sehr selbstsicher. Abschätzend betrachtete sie Helens zerzaustes Haar.

„Alexander hat mich gebeten, Sie gleich hereinzuführen.“

Sie lächelte und zeigte dabei makellos weiße Zähne. Alles ist darauf abgestellt, die Besucher einzuschüchtern, dachte Helen, als sie der jungen Frau durch das Vorzimmer folgte.

Die Sekretärin klopfte an die schwere Tür und öffnete sie dann für Helen.

Der Raum, den Helen jetzt betrat, war genauso ausgestattet, wie sie es erwartet hatte. Die Wände waren mit Holz vertäfelt, und in der Mitte des Raumes stand ein riesiger Schreibtisch. Alexander stand vor dem Kamin und legte gerade ein Scheit Holz in das Feuer.

Er wandte sich zu Helen, nachdem die Sekretärin die Tür hinter sich geschlossen hatte, und musterte sie kühl.

„Das ist wirklich eine Überraschung!“

Helen hatte plötzlich das Gefühl, bewegungsunfähig zu sein. Sie hatte ganz vergessen, wie anziehend er wirkte und wie sicher er auftrat. Helen verspürte einen schmerzhaften Stich, während sie Alexander beobachtete. Warum nur berührte sie sein Anblick so?

„Du wolltest mich sprechen?“

Beim Klang seiner Stimme lief Helen ein Schauer über den Rücken. Erinnerungen, die sie längst vergessen glaubte, kamen hoch.

„Es ist wegen Dad“, erwiderte sie hastig. Sie wollte die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen. „Er hat einen Herzinfarkt gehabt und ist sehr krank. Der Herzspezialist rät dringend zu einer Operation und einem Bypass.“

Zum ersten Mal, seit sie das Zimmer betreten hatte, wagte sie, Alexander direkt anzusehen. „Wir können die Kosten für die Operation nicht aufbringen. Die Warteliste beim National Health Service ist so lang, dass Dad wahrscheinlich schon gestorben ist, bis er an die Reihe kommt.“

„Was soll ich dabei tun, Helen?“ Alexander zog die Brauen hoch, und Helen spürte den alten Groll wieder in sich aufsteigen. Sie betrachtete Alexanders harten Mund und konnte sich nicht vorstellen, dass er eine Frau leidenschaftlich küssen konnte. Merkwürdig, welche unerwartete Richtung ihre Gedanken plötzlich nahmen. Was ging sie Alexanders Liebesleben an?

„Soll ich raten?“

Seine Frage brachte Helen in die Wirklichkeit zurück.

„Du möchtest, dass ich die Operation bezahle, oder? Du willst Geld von mir. Mit anderen Worten: Du willst Bezahlung für die Jahre, die du mich ertragen musstest. Welchen Preis hast du dafür festgesetzt, Helen, oder hast du darüber noch nicht nachgedacht?“

Helen war vor Zorn sprachlos. Sie hatte nur den einen Wunsch, ihm ins Gesicht zu schlagen, so wie sie es als Kind oft gern getan hätte. Warum schaffte Alexander es immer noch, sie so in Wut zu versetzen?

„Wie viel willst du, Helen?“, fragte er.

Und plötzlich wusste sie, dass nichts, aber auch gar nichts auf der Welt sie dazu bringen würde, diesen Mann um Geld zu bitten.

„Nichts“, entgegnete sie bitter. „Ich will nichts von dir, Alexander. Ich dachte nur, du würdest meine Eltern lieben, so, wie sie dich lieben. Sie vermissen dich noch immer, besonders mein Vater … Als er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, warst du der Erste, nach dem er gefragt hat. Er war noch etwas benommen, weißt du“, fügte sie hinzu. „Er hatte vergessen, dass du nicht mehr bei uns bist.“

Tränen, die sie so lange zurückgehalten hatte, strömten ihr nun ungehindert über das Gesicht. Ungeduldig wischte Helen sie mit der Hand fort.

„Sie lieben dich, Alexander, und ich liebe sie.“ Plötzlich war es ihr gleichgültig, wie tief sie sich erniedrigte. „Als ich meinen Vater in der Intensivstation liegen sah, wünschte ich von ganzem Herzen, dass ich die Vergangenheit ungeschehen machen könnte, aber ich …“ Entsetzt brach sie ab. Sie hatte ihm zu viel von ihren Gefühlen verraten. Aber jetzt war es zu spät. Sie konnte ihre Worte nicht mehr zurücknehmen.

„Sprich weiter“, forderte Alexander sie auf. „Was hast du dir gewünscht? Dass du nicht ein so verwöhntes kleines Biest gewesen wärst? Dass du keinen Selbstmordversuch aus Eifersucht unternommen hättest?“

Gequält wandte sich Helen von ihm ab. Erinnerungen tauchten wieder auf, die sie versucht hatte zu verdrängen. So war es immer zwischen ihnen gewesen. Auch jetzt herrschte eine merkwürdige Spannung. Warum nur? Sie waren beide erwachsen. Sie hatte mehr Schuld auf sich geladen als er. Doch er musste mittlerweile auch erkannt haben, dass sie beide gleich eifersüchtig aufeinander gewesen waren.

„Meine Eltern brauchen dich, Alexander“, erklärte sie ruhig. „Nicht weil du die Operation bezahlen kannst. Wenn sie wüssten, dass ich hier bin, wären sie entsetzt. Nein, sie vermissen dich, weil sie dich lieben und weil sie eine Stütze brauchen.“ Sie holte tief Luft und sah ihn direkt an.

Helen wusste nicht, wie Alexander reagieren würde. Das Schweigen zwischen ihnen schien endlos zu dauern. Helen blickte aus dem Fenster und war sicher, dass sie versagt hatte. Gleich würde er sie bitten zu gehen. Draußen schneite es noch immer. Sie fror. Was war nur los mit ihr? Es konnte nicht die Kälte sein. Jeder ihrer Muskeln war angespannt und schmerzte. Wenn sie sich nur einen Augenblick entspannte, würde sie wie ein Kind zu zittern anfangen. Unwillkürlich überlegte sie, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte.

„Ich frage dich noch einmal, Helen, was willst du von mir?“, begann Alexander schließlich.

Er wies ihr also nicht die Tür. Sie konnte es kaum fassen. Wie aus weiter Ferne hörte sie sich antworten: „Ich will, dass du Dad besuchst … Du könntest so tun, als hättest du von seinem Infarkt gehört. Bitte, Alexander … Es würde ihm so viel bedeuten. Sie vermissen dich beide, und ich kann nicht mit ihnen darüber sprechen. Sie … sie wollen mich nicht verletzen.“

„Und ich soll ihm anbieten, dass er sich auf meine Kosten privat operieren lassen kann?“

„Ja“, stimmte sie ihm mutig zu, „aber nicht, weil du ihnen etwas schuldest, Alexander. Was sie dir gegeben haben, gaben sie dir aus Liebe. Wenn du an Bezahlung denkst, betrachte es als Ablösung für mich, weil ich endlich zugebe, was ich seit Jahren weiß. Dass nämlich meine Eltern dich lieben und brauchen – wahrscheinlich mehr als mich.“

Nun war es heraus. Mehr konnte sie nicht ertragen. Seine Reaktion wollte sie nicht mehr abwarten. Blind vor Tränen stürzte sie zur Tür.

„Helen!“

Sie wand sich, als er sie mit festem Griff bei der Schulter packte.

„Ich tu dir doch nichts!“, sagte er scharf. „Wirklich nicht.“

„Du hast mir bereits wehgetan“, erwiderte Helen, als er sie losließ.

„Du bestehst ja nur noch aus Haut und Knochen. Hast du etwa Magersucht?“

Sein Spott tat ihr weh. „Ich bin erwachsen, Alexander“, erwiderte sie. „Ich brauche keine dummen Tricks mehr.“

Er sah sie durchdringend an. „Ja, das habe ich beinahe vergessen. Du bist außerdem zur Therapie gegangen, nachdem …“

„Nachdem ich einen Selbstmordversuch unternommen habe? Du kannst das Wort ruhig aussprechen, Alexander. Das war ein Teil meiner Therapie. Heute verdränge ich nicht mehr, was ich getan habe. Du hast ganz recht, ich bin zur Therapie gegangen und habe viel über mich und meine Motive erfahren, aber auch über die anderer …“

„Du bist viel zu dünn“, wiederholte er. „Du musst auf dich aufpassen, sonst siehst du bald richtig krank aus. Wie alt bist du jetzt? Vierundzwanzig? Fünfundzwanzig?“

Er weiß sehr wohl, dass ich erst dreiundzwanzig Jahre alt bin, dachte Helen bitter. Wenn er allerdings Frauen mit üppigen Kurven bevorzugte, wie seine Vorzimmerdame, ja, dann war sie wirklich zu dünn.

Sie sagte, was sie dachte, ohne die Worte auf die Waagschale zu legen. Sein amüsiertes Lächeln überraschte sie. Sie hatte ganz vergessen, dass sich immer, wenn er lächelte, kleine Fältchen um seinen Mund bildeten – und sie hatte vergessen, wie ungeheuer attraktiv er sein konnte.

„Sie ist attraktiv, findest du nicht auch?“ Dann fragte er geradeheraus: „Gibt es in deinem Leben zurzeit irgendjemanden, der dir etwas bedeutet, oder willst du noch immer Karriere machen?“

Seine Bemerkung schmerzte sie. Sie arbeitete in der Firma ihrer Eltern, und ihr Vater bezahlte ihr mehr, als seine Einkünfte eigentlich erlaubten.

„Ich bin gekommen, weil ich dich bitten wollte, meinen Vater zu besuchen“, antwortete sie kühl. „Nicht, um mit dir über mein Privatleben zu diskutieren. Wenn du nicht …“

Helen machte Anstalten, die Tür zu öffnen. Als er sie aber nicht daran hinderte, zögerte sie.

„Noch immer dieselbe alte Helen“, meinte er zynisch. „Du versuchst immer noch, mit Gefühlen zu erpressen.“

Plötzlich waren alle ihre guten Vorsätze verflogen. Wütend antwortete sie: „Das ist nicht wahr! Ich habe keine Sekunde lang versucht, dich zu erpressen!“ Erregt drehte sie sich um und wollte aus dem Zimmer laufen, aber plötzlich schienen sich die Wände auf sie zuzubewegen, alles verschwamm und drehte sich vor ihren Augen.

Alexander fing Helen auf und setzte sie auf einen Sessel vor dem Kamin. Sie hörte, wie er fluchte und sie eine kleine Närrin nannte. Doch sie war zu verwirrt und benommen, um zu protestieren, denn er streifte ihr gerade den Mantel ab und öffnete dann den Reißverschluss ihres Kleides.

Und das alles in nur wenigen Sekunden, und ebenso schnell verschwand auch ihr Schwindel. Sie richtete sich sofort auf und versuchte, den Reißverschluss wieder zu schließen.

„Verrenk dich nicht … ich werde es für dich machen.“

Helen spürte seine feste kühle Hand auf ihrem nackten Rücken und seinen Atem auf ihrer Haut. Ein leichtes Gefühl der Erregung stieg in ihr auf.

„Du hast keine Ferien gemacht“, bemerkte er beiläufig, als er den Reißverschluss heraufzog. „Oder setzt du deine blasse Haut nie der Sonne aus?“

„Ich werde nicht braun. Ich dachte, du wüsstest das noch“, erwiderte sie kurz. Sie erinnerte sich noch gut an den Sommer, in dem sie versucht hatte, brauner als Alexander zu werden, mit dem Ergebnis, dass sie sich einen gefährlichen Sonnenbrand einhandelte. Eine Woche lang hatte sie damals im verdunkelten Zimmer liegen müssen, während ihre Mutter ihre geschwollene Haut immer wieder mit Lotion einrieb.

„Deine Haut wird, spätestens wenn du vierzig bist, wie Leder aussehen!“, fügte sie scharf hinzu.

„Während deine sich immer noch wie der teuerste Seidensamt anfühlen wird.“

Sie begriff erst nach Sekunden, was er eben gesagt hatte, dann aber starrte sie ihn erstaunt an.

„Was ist los, Helen? Auch andere Männer werden die Zartheit deiner Haut schon bemerkt haben. Deine Liebhaber …“

Seine Stimme hatte eine merkwürdige Wirkung auf sie. So sanft und liebevoll hatte er noch nie mit ihr gesprochen, und die Bilder, die er damit heraufbeschwor, schockierten sie, verwirrten sie doch.

„Ich habe es schon einmal gesagt, ich bin nicht gekommen, um mit dir über mein Privatleben zu diskutieren, Alexander …“

„Offensichtlich gibt es darüber auch nicht viel zu diskutieren.“

Ehe sie jedoch den vollen Sinn seiner Worte begriff, fuhr er fort: „Ich werde deinen Vater besuchen, Helen. Wenn ich ihn gesehen habe, werden wir beide uns wahrscheinlich noch einmal unterhalten müssen. Kannst du morgen Mittag mit mir essen? Den Tag darauf muss ich in die Staaten fliegen, um einen wichtigen Kunden zu treffen.“

Was konnte sie darauf antworten? Sie musste zustimmen. Erst als sie wieder im Auto saß, wurde ihr bewusst, was Alexander zu ihr gesagt hatte, ehe er sich mit ihr zum Lunch verabredete.

Woher wusste er so gut über sie Bescheid? Sie hatten sich seit sechs Jahren nicht mehr gesehen, und trotzdem hatte er sie behandelt, als wüsste er alles über sie. Wie konnte das sein? Hatte er sie etwa beobachten lassen? Sie runzelte die Stirn. Dann wäre er aber auch über die Krankheit ihres Vaters informiert gewesen. Sie versuchte, sich an Alexanders Reaktion auf ihre Mitteilung zu erinnern, aber er hatte es immer verstanden, seine Gefühle zu verbergen. Außerdem war sie viel zu nervös gewesen, um auf seine Miene zu achten. Dieser Mann war ein Rätsel für sie.

Doch warum sollte sie länger darüber nachgrübeln. Sie hatte erreicht, was sie sich vorgenommen hatte – oder jedenfalls einen Teil davon. Eigentlich müsste sie jetzt triumphieren und sich erleichtert fühlen, aber sie konnte es nicht. Sie wollte nicht, dass Alexander Bennett wieder in ihr Leben eingriff. Und doch wusste sie, dass sie ihn um ihrer Eltern willen ertragen musste.

Was auch geschehen sollte, ihre Eltern durften nie erfahren, dass sie Alexander veranlasst hatte, ihren Vater zu besuchen. Es musste ein Geheimnis bleiben. Es war ein merkwürdiges Gefühl, dass sie etwas mit ihm teilte, wovon ihre Eltern ausgeschlossen waren.

3. KAPITEL

Als Helen Bath hinter sich gelassen hatte, wurde der Schnee auf der Landstraße tiefer. Glücklicherweise hatte es aufgehört zu schneien. Der alte Lieferwagen liebte für gewöhnlich niedrige Temperaturen nicht besonders, aber heute kam sie ohne Zwischenfälle zu Hause an. Sie hatte schreckliche Kopfschmerzen nach der Fahrt.

Helen wusste, dass sie eigentlich etwas essen sollte, aber der bloße Gedanke daran verursachte ihr Übelkeit. Deshalb machte sie sich eine Tasse starken Kaffee und setzte sich auf den alten Küchenstuhl, den die Katzen für gewöhnlich für sich beanspruchten. Hilda, die ältere der beiden Katzen, starrte sie böse an, entschloss sich aber dann, Meg anzufauchen und sich neben Helen zu kauern.

Gedankenverloren starrte Helen ins Leere. Lebte sie wirklich behütet in ihrem Elternhaus? Für jemanden wie sie, die das Landleben liebte, war ihre Situation nahezu ideal. Ihre Arbeit machte ihr Spaß, und sie war froh, dass sie nicht wie andere Leute jeden Tag nach London fahren musste. Ohne es auszusprechen, hatte Alexander seine Missbilligung über ihren Lebensstil zum Ausdruck gebracht. Oder reagierte sie nur überempfindlich auf Alexander? Es stimmte, das Geschäft ihres Vaters war gerade eben in der Lage, ihre Eltern zu ernähren. Eigentlich konnte die Firma keinen weiteren Mitarbeiter tragen. Die Stellung, die ihr Vater für sie, Helen, eingerichtet hatte, belastete das Budget. Seit einigen Monaten hatte sie jedoch mehr und mehr die Verantwortung für die Firma übernommen, denn ihr Vater hatte schon lange über Müdigkeit geklagt und nicht mehr den rechten Schwung gehabt. Heute jedoch machte sich Helen Vorwürfe, dass sie seine Klagen nicht als Hinweis auf seinen schlechten Gesundheitszustand erkannt hatte.

Schließlich war sie nicht dumm und wusste selbst sehr wohl, dass es langsam mit dem Geschäft abwärtsging. Die Arbeit wurde ihrem Vater zu viel. Aber wovon sollten ihre Eltern ohne die Firma leben?

Besorgt stand Helen auf und ging in das kleine ungeheizte Zimmer, das sie als Büro benutzten. Sie setzte sich an den Schreibtisch, zog die Schublade auf und nahm die Auftragsbücher heraus.

Erst als es dämmrig wurde, merkte sie, wie lange sie sich in die Kalkulationen vertieft hatte. Sie hob den Kopf und massierte sich den verspannten Nacken. Es war bedrückend. Die Firma stand am Rande des Bankrotts. Warum hatte Vater ihr nur verschwiegen, dass er Hypotheken auf das Haus aufgenommen hatte? Helen schloss erschöpft die Augen. Instinktiv sehnte sie sich nach jemandem, dem sie ihre Sorgen anvertrauen, jemandem, der ihr die Last von den Schultern nehmen könnte. Gleichzeitig wusste sie, dass es für jede Hilfe zu spät war.

Es war beinahe vier Uhr. Bald würde ihre Mutter anrufen. Außerdem hatte sie versprochen, heute Abend bei den Dekorationen für das Seniorenfest zu helfen.

In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Es war jedoch nicht ihre Mutter, sondern Alexander Bennett! Helen war so überrascht, dass sie einen Moment nicht wusste, was sie sagen sollte.

„Du bist doch nicht mehr böse mit mir, weil ich dir einige unangenehme Wahrheiten gesagt habe, oder?“, fragte Alexander sanft. Sofort verflog Helens Müdigkeit. Zorn stieg in ihr auf.

„Du musst mich mit jemand anderem verwechseln, Alexander“, erwiderte Helen scharf. „Ich bin nicht böse. Was willst du?“

„Ich habe Karten für das ‚Phantom‘. Ich dachte, du würdest vielleicht die Aufführung gern sehen.“

Die Einladung kam so überraschend, dass Helen völlig sprachlos war. Sie erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, dass Karten für die Show „Phantom of the Opera“ längst ausverkauft waren, und wäre liebend gern hingegangen, nur nicht mit Alexander!

„Es tut mir leid“, antwortete sie, „aber ich kann leider nicht. Ich habe heute etwas anderes vor.“

Es entstand eine lange Pause. Helen hatte unterdessen Zeit, darüber nachzudenken, weshalb Alexander sie einlud. Was für ein Spiel spielte er? Dann hörte sie ihn spöttisch sagen: „Ich verstehe … Wo gedenkst du den Abend zu beenden, bei ihm oder bei dir? Es muss nicht einfach sein, in deinem Alter noch bei den Eltern zu leben. Oder haben deine Liebhaber alle …“

Ehe Helen bewusst wurde, was sie tat, hatte sie schon den Hörer auf die Gabel geknallt. Sie zitterte vor Wut. Alexander unterstellte ihr, die Krankheit ihres Vaters auszunutzen, um einen Mann mit nach Hause zu bringen. Wie konnte er es wagen …

Zitternd setzte sie sich auf den nächsten Stuhl. Sicher wollte er mich gar nicht beleidigen, versuchte sie sich einzureden. Er glaubt einfach nur, dass ich mich genauso benehme, wie er sich in der gleichen Situation verhalten würde.

Entschlossen stand sie auf und öffnete die Tür, um ihren täglichen Spaziergang durch die Felder zu machen. Doch auch das brachte ihr nicht die erhoffte Ruhe.

Als Helen nach Hause zurückkam, rief ihre Mutter an und sagte ihr, dass es ihrem Vater schon langsam besser ginge. Sie unterhielten sich noch eine Weile miteinander, dann hängte sie auf. Helen runzelte nachdenklich die Stirn. Ihre Mutter hatte anders als sonst geklungen, so als wolle sie Helen etwas verschweigen. Ging es ihrem Vater vielleicht schlechter, als sie glaubte? Ängstlich blickte Helen auf das Telefon. Am liebsten hätte sie ihre Mutter noch einmal zurückgerufen, tat es dann aber lieber nicht.

Trotz all ihrer Sorgen verging der Abend schnell. Mrs Anstey hatte einen Neffen mitgebracht, der ihnen bei der Dekoration der Halle half. Er diente in der Armee und war auf Heimaturlaub aus Deutschland bei seiner Tante zu Besuch. Ein angenehmer junger Mann, Ende zwanzig, mit etwas altmodischen höflichen Umgangsformen, die Helen ausgesprochen anziehend fand. Er war zwar nicht annähernd so attraktiv wie Alexander, aber Helen fühlte sich in seiner Gesellschaft wohl und sicher. Im Laufe des Abends gefiel er ihr immer besser.

Als Helen später zu Fuß nach Hause gehen wollte, bot er ihr an, sie zu begleiten. Erfreut nahm Helen das Angebot an.

Es war nur eine kurze Strecke, doch sie fühlte sich verpflichtet, ihn zu einer Tasse Kaffee einzuladen. Während sie in der Küche hantierte, klingelte das Telefon.

„Howard, könntest du eben mal abnehmen?“, rief sie. „Wahrscheinlich ist es meine Mutter.“ Er hatte schon von seiner Tante von der Krankheit ihres Vaters gehört.

Gleich darauf kam er in die Küche. „Es ist nicht deine Mutter“, sagte er. „Es ist ein Mann, der sich Bennett nennt.“

Helen ließ vor Überraschung beinahe den Topf fallen. Weshalb rief Alexander schon wieder an? Howard runzelte die Stirn und sah Helen etwas missbilligend an.

„Ich glaube, ich kann nicht mehr zum Kaffee bleiben. Ich muss morgen früh aufstehen … Es war nett, dich kennenzulernen.“

Ehe sie protestieren konnte, war er schon zur Tür hinaus. Helen, bestürzt über sein plötzlich verändertes Benehmen, lief zum Telefon.

„War das dein Freund?“, fragte Alexander ohne Umschweife.

„Howard ist der Neffe einer Freundin meiner Eltern. Im Übrigen finde ich, dass dich das nichts angeht!“, erklärte Helen mit eisiger Stimme und fügte unwillkürlich hinzu: „Was, um alles in der Welt, hast du zu ihm gesagt? Er wollte nicht einmal mehr zu einer Tasse Kaffee bleiben.“

Alexander ignorierte Helens Frage und fuhr unvermittelt fort: „Ich bin im Krankenhaus gewesen und habe deinen Vater gesehen.“

Sofort hatte Helen Howard vergessen.

„Wirklich? Alexander, bitte, sag mir die Wahrheit! Wie geht es ihm? Mum klang so besorgt am Telefon. Ich habe das Gefühl, sie verheimlicht mir etwas.“

Es entstand eine längere Pause, bis Alexander schließlich bemerkte: „Du hast dich wirklich verändert. Die Helen, an die ich mich erinnere, war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich für die Nöte anderer zu interessieren.“

Seine unverschämte Bemerkung war sicher gerechtfertigt, dennoch schmerzte sie Helen.

„Dein Vater hält sich ganz gut, Helen, aber wie du mir schon berichtet hast, muss er so bald wie möglich operiert werden. Ich habe mit deiner Mutter geredet, und wir haben uns auf den unter diesen Umständen besten Plan geeinigt. Sie ruft dich später an. Außerdem hat sie mir erlaubt, Einblick in die Firmenbücher zu nehmen. Es sieht so aus, als hätte sich dein Vater große Sorgen um das Geschäft gemacht. Sie glaubt, dass es ihn beruhigt, wenn ich mich darum kümmere.“

Mum traut mir also nicht zu, allein mit den Dingen fertig zu werden, dachte Helen bitter.

„Ich bringe die Bücher morgen Mittag mit“, beeilte sie sich zu antworten.

„Nein. Ich möchte sie lieber noch heute Abend sehen. Ich komme jetzt gleich zu dir, wenn es dir recht ist. Dann können wir morgen schon über alle Angelegenheiten, die das Geschäft betreffen, miteinander sprechen, wenn wir uns zum Lunch treffen.“

Helen war einfach sprachlos. „Alexander, es ist schon ziemlich spät“, wandte sie schließlich ein. „Ich wollte gerade ins Bett gehen …“

„Allein, hoffe ich“, meinte er ironisch.

„Es sieht so aus, als hätte ich keine andere Wahl“, erwiderte Helen bissig und dachte daran, wie fluchtartig Howard das Haus verlassen hatte.

„Enttäuscht?“

„Kaum. Ich hatte ohnehin nicht die Absicht, mit ihm ins Bett zu gehen. Es gibt noch Menschen, die an anderen Dingen mehr interessiert sind als an bedeutungslosen sexuellen Abenteuern, Alexander.“

„Da kann ich dir nur zustimmen. Also, im Laufe der nächsten Stunde werde ich bei dir vorbeikommen“, sagte er abschließend, ohne ihr die Gelegenheit für einen Einspruch zu geben. „Könntest du inzwischen die Unterlagen zusammenstellen?“

Helen war zu verwirrt, um zu antworten, und legte den Hörer auf die Gabel.

Da Helen doch noch auf Alexander warten musste, beschloss sie, das Material zusammenzustellen, das sie morgen für die Dekorationen in einer kleinen Boutique im Ort brauchen würde.

Die Inhaberin des Geschäfts war mit Helen zusammen zur Schule gegangen. Inzwischen war sie geschieden und hatte für zwei Kinder zu sorgen. Ihr Mann hatte sie letzten Sommer verlassen, und nun brauchte sie das Geschäft, um sich und ihre Kinder zu ernähren.

Die Trennung von ihrem Mann hatte sie verbittert. Als Teenager hatte sie sich in ihn verliebt und ihn mit achtzehn Jahren geheiratet. Jetzt war sie fünfundzwanzig, zwar immer noch jung, aber frühzeitig gealtert, da sie die Verantwortung für zwei kleine Kinder tragen musste.

„Wenn die beiden groß sind“, hatte sie zu Helen gesagt, „werde ich aufpassen, dass sie nicht den gleichen Fehler wie ich machen. Und ich werde dafür sorgen, dass sie sich ernähren können. Ich habe Glück gehabt, dass meine Eltern mir diesen Laden eingerichtet haben, aber ich kenne genügend andere Mädchen in meinem Alter, die auf die Gnade ihrer Ehemänner oder staatliche Unterstützung angewiesen sind. Hast du überhaupt eine Vorstellung, wie teuer Kinderschuhe sind?“

Helen hatte ihr versprochen, sich etwas Ausgefallenes für die Weihnachtsdekoration zu überlegen. Sie wusste wohl, dass sie nicht viel an dem Auftrag verdienen würde, konnte so aber die Zeit, bis Alexander kam, nutzen.

Alexander war das letzte Mal in jener Nacht im Haus gewesen, in der … Nein, sie wollte sich nicht mehr quälen.

Das schrille Läuten des Telefons unterbrach Helen in ihren Gedanken. Sie nahm den Hörer ab und war nicht überrascht, die Stimme ihrer Mutter zu hören.

„Helen! Du wirst nie erraten, was geschehen ist! Alexander hat heute Abend Dad besucht. Offenbar hat er von seiner Krankheit gehört. Jedenfalls besuchte er ihn im Krankenhaus.“ Plötzlich sprach sie einen Augenblick nicht weiter. „Darling, bist du noch da?“

Helen umklammerte den Hörer und zwang sich, freudig erstaunt zu klingen. „Ich bin noch da. Sein Besuch muss euch glücklich gemacht haben.“

Es entstand eine kleine Pause, und Helen spürte, wie ihre Mutter zögerte.

„Ich hätte dir die Neuigkeit vielleicht doch erst berichten sollen, wenn du ins Krankenhaus kommst, aber wir waren so überrascht, ihn wiederzusehen.“

„Mum, ich bin inzwischen erwachsen geworden. Ich habe nichts mehr gegen Alexander und bin auch nicht mehr eifersüchtig auf ihn. Ich freue mich, dass er euch besucht hat.“

Helen bemerkte sofort, wie erleichtert ihre Mutter war. Nach einer kurzen Pause erzählte sie atemlos weiter. „Er hat uns jede Hilfe angeboten, die wir benötigen. Oh Helen, ich bin so froh. Ich habe mir solche Sorgen gemacht … Alexander hat mir versprochen, dass er mich begleiten will, wenn ich den Herzspezialisten aufsuche …“

Helen spürte die alte brennende Eifersucht wieder in sich aufsteigen, verdrängte sie aber sofort wieder. Sie hatte vor Jahren gelernt, damit umzugehen, und wollte nicht wieder in alte Verhaltensmuster fallen.

„Dad muss sich wahnsinnig gefreut haben“, unterbrach sie ihre Mutter. Dabei versuchte sie, so viel Begeisterung wie eben möglich in ihre Stimme zu legen. „Ich weiß, dass er Alexander sehr vermisst hat … Ihr habt ihn beide vermisst.“

„Er wird dich anrufen. Ich habe ihm gestanden, dass wir uns Sorgen um das Geschäft machen, und er hat sofort angeboten, die Bücher für uns durchzugehen. Es ist dir doch recht, Darling?“

Der besorgte Ton in der Stimme ihrer Mutter besänftigte Helens Eifersucht.

„Natürlich“, log sie. „Ich lege die Bücher für ihn bereit.“

„Ich weiß genau, was du empfindest, Darling, aber … Ich muss jetzt Schluss machen, jemand möchte das Telefon benutzen. Ich rufe morgen wieder an.“

Helens Mutter hatte ihre Freude über das Wiedersehen mit Alexander nicht verbergen können. Sieh den Tatsachen ins Auge, schalt sich Helen. Sie lieben dich nicht weniger als ihn, vielleicht auf eine andere Art. Du hast es immer gewusst. Jetzt ist die Zeit gekommen, wo du beweisen kannst, dass du wirklich erwachsen geworden bist.

Ihre Eltern brauchten jemanden, der ihnen beistand, das war ihr klar. Sie brauchten jemanden, der ihnen die Bürde und Verantwortung für die schlecht gehende Firma abnahm. Und obwohl sie es nicht wahrhaben wollte, wusste sie doch, dass sie diese Stütze nicht sein konnte.

Helen arbeitete noch immer, als sie eine Stunde später Alexanders Auto vorfahren hörte. Es war schon nach elf Uhr, und sie fragte sich, was die Nachbarn in der kleinen ruhigen Straße wohl denken mochten, wenn sie so spät noch Besuch empfing. Spätestens morgen früh würde jeder im Dorf wissen, dass sie in Abwesenheit ihrer Eltern einen Mann empfangen hatte. Sie konnte ein spöttisches Lächeln nicht unterdrücken. Der Klatsch im Dorf war niemals böswillig. Sowie sie erklärt haben würde, wer der späte Besucher gewesen war, würde das Gerede schnell wieder aufhören. Die meisten Dorfbewohner erinnerten sich sicherlich noch an Alexander. Sie würden seinen Besuch mit der gleichen stillschweigenden Diskretion übergehen, mit der sie damals ihren Selbstmordversuch behandelt hatten.

Vielleicht lebte sie deshalb so gern hier. Sie fühlte sich als Mitglied einer großen Familie. Das Leben in der Großstadt mit all der Hektik und Einsamkeit war nichts für sie. Sie wunderte sich oft, wie zufrieden sie mit dem stillen Leben auf dem Lande war.

Alexander trug ausgewaschene Jeans und einen Pullover, aber er sah deshalb nicht weniger attraktiv aus. Er gehört zu den Männern, die keine teure Kleidung brauchen, um Menschen zu beeindrucken, dachte Helen, als sie ihn hereinließ. Instinktiv wich sie einige Schritte zurück.

„Immer noch die alte Helen“, bemerkte er ironisch. „Du ziehst dich immer noch auf dein kleines sicheres Territorium zurück und signalisierst: Hände weg!“

„Ich habe die Bücher für dich bereitgelegt“, erwiderte sie kurz und wandte ihm den Rücken zu.

„Eine wirklich herzliche Begrüßung! Bietest du mir nicht einmal eine Tasse Kaffee an?“ Er war schon auf dem Weg in die Küche, und Helen verspürte wieder die altvertraute Feindseligkeit ihm gegenüber.

„Ich dachte, du hättest keine Zeit, eine Tasse Kaffee zu trinken, da du die Bücher unbedingt noch heute Nacht durchgehen willst.“

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich sie gern gesehen haben möchte, ehe wir uns morgen zum Lunch treffen. Mach dir keine Mühe mehr mit dem Kaffee.“ Er zuckte die Schultern. Helen bemerkte plötzlich, wie müde und abgespannt er aussah.

Sofort bereute sie ihre scharfe Bemerkung. Alexander liebte ihre Eltern, vielleicht sogar mehr als sie. Weshalb regte sie sich immer wieder über ihn auf und reagierte engherzig und gemein?

„Da ist noch Kaffee. Ich mache schnell noch etwas Milch heiß.“

Obwohl Alexander nichts erwiderte, bemerkte Helen den bitteren Zug um seinen Mund.

Im selben Augenblick, als er die Küche betrat, empfing ihn Meg mit wildem Gebell. Offenbar hatte auch Meg ihn nicht vergessen. Wieder musste Helen sich zwingen, keine Eifersucht aufkommen zu lassen.

„Hier ist dein Kaffee.“ Sie stellte die Tasse vor ihn auf den Tisch. „Ich hole schnell die Bücher.“

Als sie wieder in die Küche kam, saß Alexander, die Beine ausgestreckt und die Augen geschlossen, im Sessel. Es berührte sie tief, einen so offensichtlich starken Mann plötzlich hilflos und verwundbar zu sehen. Helen schluckte. Wie gerne wäre sie in diesem Moment zu ihm gegangen und hätte ihn in ihre Arme genommen. Verlegen räusperte sie sich. Sofort fuhr er hoch und nahm die Bücher in Empfang, die er schnell durchblätterte.

„Ich vermisse das Auftragsbuch.“

„Oh, das ist oben. Ich hole es herunter.“

Das Auftragsbuch lag noch in ihrem Zimmer. Helen hatte es gestern Nacht mit nach oben genommen, als sie ins Bett ging, um noch darin zu blättern.

Zuerst bemerkte Helen nicht, dass Alexander ihr gefolgt war. Erst als sie die Tür öffnete, spürte sie, dass er ganz dicht hinter ihr stand.

„Charles lebt also immer noch mit dir.“

Erschreckt fuhr sie herum. Sie wollte nicht, dass Alexander ihr kleines privates Refugium sah, obwohl sie ihr Zimmer gerade erst neu tapeziert und eingerichtet hatte und außerordentlich stolz darauf war.

Charles war ihr alter Teddybär, der wie früher auf seinem angestammten Platz auf ihrem Frisiertisch saß. Helen hatte ihn einfach aus sentimentalen Gründen dort gelassen, jetzt aber, mit Alexanders Augen betrachtet, sah sie ihn als Symbol einer kindischen Frau, die nicht erwachsen werden wollte. Schnell nahm sie ihn hoch und versteckte ihn hinter der Gardine. Sie wollte nicht über die Vergangenheit sprechen.

„Ich wollte dich nicht kritisieren“, meinte Alexander. „Ich habe auch immer noch das erste Geschenk aufbewahrt, das ich von deinen Eltern bekommen habe. Es ist ein Fußball.“

„Ich erinnere mich …“ Nie würde Helen den Tag vergessen, als sie mit ihren Eltern in die Stadt gefahren war, um den Ball zu kaufen. Ihre Eltern waren voller Vorfreude auf Alexander gewesen, der nun für immer bei ihnen leben würde, aber Helen hatte alles getan, um ihnen die Freude zu verderben. Wie oft musste sie an diesen Tag denken.

Zuerst hatten sie ihm ein Fort und Soldaten kaufen wollen, aber schließlich hatten sie sich für den Fußball entschieden. Sie, Helen, hatte eine Puppe geschenkt bekommen, mit der sie nicht ein einziges Mal gespielt hatte.

„Helen …“

Alexanders Stimme klang plötzlich so anders. Helen wandte sich heftig ab. Sie wollte ihn nicht anhören.

„Hier ist das Auftragsbuch. Wir sollten nach unten gehen, der Kaffee wird kalt. Oder möchtest du noch einen Blick in dein altes Zimmer werfen, da wir gerade hier oben sind? Um der guten alten Zeiten willen?“

Erschrocken über ihren Sarkasmus, biss Helen sich auf die Lippe. Was war nur los mit ihr? Schon wieder tat sie alles, um ihn ihre Abneigung spüren zu lassen. Sie sah, wie er die Lippen zusammenpresste.

„Immer noch die gleiche alte Helen.“ Der weiche liebevolle Ausdruck auf seinem Gesicht war wie weggewischt.

Seine Stimme klang so müde und resigniert, dass Helen ihn überrascht anblickte.

„Alexander …“

„Es ist schon gut. Ich hatte gedacht, du wärst erwachsen geworden, aber es sieht so aus, als hätte ich mich geirrt. Ich nehme die Bücher mit, dann können wir morgen Mittag darüber sprechen. Wie gut kennst du Bath?“

„Ziemlich gut“, antwortete sie und fragte sich, weshalb er das wissen wollte.

„Ich habe ein Haus außerhalb von Bath. Wir werden uns dort treffen.“ In der Küche gab er ihr die Adresse und beschrieb ihr den Weg dorthin. Helen hatte einen guten Ortssinn und versicherte ihm, dass sie sein Haus ohne Schwierigkeiten finden würde.

„Gut, dann sehen wir uns morgen so gegen zwölf. Ich warte auf dich.“

Er stand auf, nahm die Aktenordner und ging zur Tür.

„Fahr vorsichtig“, warnte er Helen, als sie ihm die Tür aufhielt. „Es ist Frost und Schnee angesagt.“

Plötzlich fiel Helen wieder Howards fluchtartiger Abgang ein. „Sag mal, was hast du eigentlich vorhin am Telefon zu dem jungen Mann gesagt?“, fragte sie ärgerlich.

„Weshalb glaubst du, dass ich ihn in die Flucht getrieben habe? Vielleicht hatte er plötzlich Angst oder hat es sich anders überlegt. Du hast einen ziemlich hungrigen Ausdruck in den Augen, Helen. Einige Männer könnte das einschüchtern und ihn vielleicht auch.“

„Dich natürlich nicht“, erwiderte Helen wütend.

„Möchtest du das wirklich wissen?“

Natürlich wollte sie das nicht! Diese Spannung, die jetzt zwischen ihnen bestand, hatte es früher nicht gegeben. Früher hatten sie nur Antipathie füreinander empfunden. Während Helen noch fieberhaft nach einer passenden Antwort suchte, wandte er sich zum Gehen.

„Bis morgen dann“, hörte sie ihn sagen.

4. KAPITEL

Merkwürdigerweise schlief Helen trotz der bevorstehenden Verabredung zum Lunch tief und fest. Erst als sie aufwachte, war die Spannung mit einem Schlag wieder da.

Von dem Augenblick an, als sie sich entschlossen hatte, wegen ihrer Eltern Kontakt zu Alexander aufzunehmen, hatte sie sich eingeredet, dass Alexander nicht so stark sein konnte, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Damals war sie unreif und eifersüchtig gewesen. Umso bestürzender war die Erkenntnis, dass sie sich auch heute noch in seiner Gegenwart unsicher fühlte.

Heute jedoch wollte sie nicht auf ihn hereinfallen. Sie würde achtgeben und sich ruhig und zurückhaltend benehmen. Sie würden sich nur über die Firma unterhalten, so als sei Alexander nur der Steuerberater ihres Vaters.

Es beunruhigte sie, dass er so schnell wieder einen Platz in ihrer Familie eingenommen hatte – fast so, als sei er nie fort gewesen.

Als Helen sich zurechtmachte, fand sie sich zu blass. Zu viele schlaflose Nächte und Sorgen hatten Spuren hinterlassen. Sie war dünn geworden. Der Gürtel, den sie heute tragen wollte, war viel zu weit. Sie hatte einen müden und erschöpften Gesichtsausdruck. Sogar ihr Haar, das für gewöhnlich glänzend war, wirkte stumpf und strähnig.

Ungefähr eine Stunde später betrachtete sie sich kritisch im Spiegel. Es war wirklich erstaunlich, was man schon mit wenig Make-up erreichen konnte. Schließlich war sie nicht umsonst auf die Kunstschule gegangen. Obwohl sie nicht viel Make-up aufgelegt hatte, hatte sie doch die Spuren beseitigen können, die die Erschütterungen der letzten Tage bei ihr hinterlassen hatten.

Der Wetterbericht hatte Schnee vorausgesagt, doch als Helen losfuhr, schneite es nicht. Die Straßen allerdings waren gefährlich glatt.

Der Lieferwagen war zuerst nicht angesprungen, hatte sich dann aber eines Besseren besonnen. Trotzdem schien es ihr so, als mache der Motor andere Geräusche als sonst.

Sie fuhr langsam und vorsichtig, denn sie wollte kein Risiko eingehen. Außerdem hatte sie reichlich Zeit. Alexander hatte den Weg gut beschrieben.

Er hatte ihr nicht erklärt, weshalb er sie lieber in seinem Haus treffen wollte, sondern nur bemerkt, dass er manchmal lieber dort als im Büro arbeitete. Helen erwartete, dass er in einem ehemaligen Herrenhaus wohnen würde, denn davon gab es viele in der Umgebung von Bath. Als sie aber schließlich die Einfahrt zu seinem Haus herauffuhr, lag vor ihr ein großes altes Bauernhaus.

Alexanders Auto parkte davor. Der Garten sah jetzt im Winter kahl aus, aber Helen konnte sich gut vorstellen, dass er im Sommer, wenn alles blühte, ein verwunschenes Plätzchen war.

Alexander hatte offenbar schon auf sie gewartet, denn er kam aus dem Haus, um sie zu begrüßen.

Es kam Helen so vor, als sei es noch kälter geworden. Vielleicht bildete sie es sich aber auch nur ein, weil sie selbst so fror. Als sie ins Haus gingen, bemerkte Alexander: „Es wird schneien, noch ehe es Abend wird. Ich rieche den Schnee in der Luft, du auch?“

Ich bin nicht hergekommen, um höfliche Konversation über das Wetter zu machen, dachte Helen, als er ihr den Mantel abnahm.

„Ist dir kalt? Komm in die Bibliothek.“

Der Fußboden im Flur war mit großen polierten Steinplatten belegt, auf dem dunkle flauschige Brücken lagen.

Alexander öffnete eine Tür und trat zurück, um Helen hereinzulassen. Es war nur eine schmale Tür, und als Helen an ihm vorbei in die Bibliothek ging, streifte sie der männliche Duft, der von ihm ausging. Vor Erregung lief ihr ein Schauer über den Rücken.

„Was ist los?“, fragte Alexander besorgt.

Helen errötete und ging schnell an ihm vorbei ins Zimmer. „Mir ist nur ein bisschen kalt“, log sie und hockte sich vor das Feuer, das in einem riesigen Kamin loderte.

In der hölzernen Kamineinfassung entdeckte sie ein geschnitztes Wappen mit einer lateinischen Inschrift. Sie tat so, als interessierte sie der Sinn der Worte, denn sie wollte Zeit gewinnen, um ihre Verwirrung zu überspielen. Was war nur mit ihr los? Es war absolut verrückt, sich einzubilden, dass er auch nur irgendeine Anziehungskraft auf sie ausübte. Sie mochte ihn nicht leiden, sie verachtete ihn sogar. Er war nicht ihr Typ. Sein Lebensstil hatte sie immer mit Abscheu erfüllt, und sie konnte sich Alexander beim besten Willen nicht als ihren Liebhaber vorstellen, noch konnte sie …

Ihre Gedanken erschreckten sie plötzlich, und sie rief sich zur Ordnung. Ich muss überanstrengt sein, dachte sie verzweifelt, sonst könnte ich nicht auf so merkwürdige Gedanken kommen …

„Möchtest du einen Drink?“, fragte Alexander in diesem Moment.

Helen brauchte einige Sekunden, um überhaupt zu verstehen, was er gefragt hatte.

„Oh ja … bitte einen Kaffee …“

„Bleib hier, ich mache dir einen.“

Helen hob spöttisch die Augenbrauen. „Du willst mir wirklich einen Kaffee machen? Ist das nicht ein ziemlicher Abstieg für den großen Alexander Bennett? Ich dachte, du hättest ein Heer dienstbarer Geister, die so profane Dinge für dich erledigen.“

„Ich habe nur eine Frau im Dorf, die für mich sauber macht und einkauft. Ich habe früh gelernt, wie wichtig es ist, sich die Privatsphäre zu erhalten.“

Beschämt senkte Helen den Blick. Immer wieder schaffte es Alexander es, sie wütend zu machen und ins Unrecht zu setzen.

Als hätte das kleine Geplänkel zwischen ihnen nicht stattgefunden, fragte er beiläufig: „Trinkst du ihn schwarz oder mit Milch?“

„Bitte mit Milch.“

„Ich denke, wir besprechen erst die geschäftlichen Dinge und essen dann später. Ich hoffe, du magst noch immer gebratene Hähnchen?“

„Essen wir hier?“, fragte Helen erstaunt.

„Warum nicht? Oder hast du etwas dagegen? Ich verspreche dir, dass ich nicht die Absicht habe, dich zu vergiften. Um ganz ehrlich zu sein, ich habe noch viel zu erledigen, ehe ich in die Staaten fliege, und ich habe einfach nicht die Zeit, viele Meilen mit dem Auto zu fahren, nur um in einem Restaurant zu essen und dem Geschwätz anderer Leute zuzuhören.“

„Verzeih, wenn ich deine kostbare Zeit in Anspruch nehme“, unterbrach Helen ihn spöttisch und griff nach der Handtasche.

„Du wolltest mit mir reden, Alexander, ich nicht …“

„Schon gut!“ Er fasste sie fest am Arm und drückte sie wieder auf den Sessel.

„Warum musst du nur immer alles, was ich sage, falsch verstehen, Helen? Wenn ich dich nicht sehen wollte, hätte ich dich nicht eingeladen. Was wir zu bereden haben, lässt sich besser in häuslicher Atmosphäre besprechen als zwischen vielen anderen Leuten im Restaurant.“

Er hatte recht, aber Helen wollte es nicht zugeben.

„Meine Zeit ist natürlich nicht kostbar, oder?“, fragte sie bissig. „Es zählt nicht, dass ich zwei Stunden für die Hin- und Rückfahrt brauche, die ich sonst hätte arbeiten können.“

„Wirklich?“, fragte Alexander spöttisch und griff nach dem Auftragsbuch, das auf dem Tisch lag.

Helen gab sich alle Mühe, ihren Zorn zu bekämpfen, während Alexander sie beobachtete, als er die unbeschriebenen Seiten durchblätterte.

„Ja, es stimmt, im Augenblick ist die Auftragslage nicht so rosig, aber …“

„Nichts aber, Helen. Die Firma ist erledigt. Du weißt das genauso gut wie ich“, unterbrach er sie. „Das Geschäft deines Vaters steht kurz vor dem Bankrott, wenn nicht schnell etwas geschieht. Und mit schnell meine ich sofort. Ich habe heute Morgen mit deiner Mutter gesprochen – übrigens habe ich dich deshalb hierhergebeten. Sie hat mir genau wie dein Vater erlaubt, die Firma mit sofortiger Wirkung zu übernehmen. Von heute an ist das Geschäft deiner Eltern eine Tochter von ‚Bennett Enterprise‘.“

Helen starrte ihn ungläubig an. „Du hast die Firma übernommen? Aber …“

„Mit allem, was dazugehört“, erklärte Alexander ruhig. „Unter uns gesagt, deine Mutter und ich haben deinen Vater zu diesem Schritt überredet. Ich glaube, er war erleichtert, als er von meinem Angebot hörte. Die Summe, die ich für die Firma bezahlt habe, garantiert ihm einen sorglosen Lebensabend.“

„Du meinst, du hast die Firma wirklich gekauft?“

„Kennst du einen anderen Weg, ein Geschäft legal zu übernehmen, außer man heiratet ein?“, fragte Alexander ironisch. „Natürlich habe ich dafür bezahlt. Komm Helen, hast du wirklich geglaubt, dein Vater würde mir erlauben, die Kosten für die Operation zu übernehmen?“

Helen sah ein, dass er recht hatte.

„Aber die Firma ist nichts wert“, erwiderte sie nachdenklich. „Mein Vater weiß das, und …“

„Ich habe ihn vom Gegenteil überzeugt“, erklärte Alexander kühl. „Tatsächlich liegt der Wert des Unternehmens in seinem erstklassigen Ruf.“

„Aber wir dekorieren Schaufenster … du besitzt keine Läden.“

„Noch nicht, aber wir bauen gerade eine kleine, aber sehr exklusive Einkaufspassage in Bath. Wir werden die Boutiquen unter der Bedingung vermieten, dass die Mieter sich an den hohen Standard halten, den wir festsetzen wollen. Wir werden sie verpflichten, ihre Schaufenster von unseren Spezialisten dekorieren zu lassen.“

Es klang alles so einleuchtend. Trotzdem wusste Helen sehr wohl, dass die Firma ihres Vaters praktisch wertlos war.

„Wie viel hast du ihm gezahlt?“, fragte sie zögernd mit klopfendem Herzen.

Sofort nahm sein Gesicht einen verschlossenen Ausdruck an.

„Das kann ich dir nicht sagen. Das geht nur deinen Vater und mich an.“

Helen fühlte sich ausgeschlossen und zurückgewiesen. Dieses Gefühl hatte sie seit ihrer Kindheit begleitet, und auch jetzt reagierte sie nach dem alten Verhaltensmuster.

„Auch bei dir hat sich nichts geändert, Alexander. Du lehnst mich noch genauso ab wie früher. Nur du verbirgst es besser als ich, das ist der einzige Unterschied“, antwortete sie kalt.

„So kann man es natürlich auch sehen“, stimmte er nach längerem Schweigen zu. Dabei sah er sie mit einem merkwürdig fremden Ausdruck in den Augen an, so als schmerzte ihr Anblick ihn.

„Ich lasse mich nicht auf einen Streit mit dir ein, Alexander. Ich habe nie verstanden, was meine Eltern in dir sehen, außer dass du ein Mann bist“, stieß sie bitter hervor. Ohne es zu bemerken, gewährte sie ihm Einblick in ihre verborgenen Ängste. „Aber um ihretwillen …“

„Das ist es also?“, unterbrach Alexander sie weich. „Bist du auf mich eifersüchtig, weil ich ein Mann bin?“

„Nein!“, rief Helen heftig und errötete. Sie war mit dem Status einer Frau ganz zufrieden und ärgerte sich über Alexanders Unterstellung.

„Nein… das ist es nicht!“ Sie schluckte, denn ihr war plötzlich bewusst geworden, dass sie sich auf ein gefährliches Gebiet vorgewagt hatte.

Alexander beobachtete sie scharf. Er würde sie nicht ohne eine Erklärung davonkommen lassen.

Helen erinnerte sich plötzlich an den Rat ihres Therapeuten. Sie kämpfte gegen ihren Stolz an und versuchte nicht länger, die geheimsten Gedanken zu verbergen. „Lange bevor du in unsere Familie aufgenommen wurdest, hat meine Mutter ein Baby verloren. Es war … es wäre ein Junge geworden. Ich habe meine Eltern einmal zufällig darüber sprechen hören. Damals habe ich sie so verstanden, als sei ein Mädchen für sie nur ein Ersatz gewesen.“

Helen schwieg und wartete ängstlich auf eine spöttische Erwiderung, aber Alexander erwiderte nichts.

„Ich habe mich doch geirrt“, hörte sie ihn schließlich sagen. „Du bist tatsächlich erwachsen geworden.“

„Du scheinst nicht sehr erfreut darüber zu sein.“ Wie dumm ihre ironische Bemerkung klang! Aber irgendwie hatte sie das Bedürfnis, ihre Unterhaltung auf den gewöhnlichen Umgangston, den Austausch von scharfen Bemerkungen, zurückzuführen.

„Vielleicht nicht“, stimmte er ihr zu. Ehe sie antworten konnte, fügte er leise hinzu: „Da es nun mal die Stunde der Wahrheit zu sein scheint, muss ich zugeben, dass ich dich auch gehasst habe. Ich konnte nicht begreifen, dass deine Eltern mich um meiner selbst willen liebten. So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt. Du weißt ja, dass mein Vater meine Mutter verlassen hatte – übrigens ist er inzwischen tot – und meine Mutter gestorben war. Ich habe lange gebraucht, bis ich verstanden habe, dass deine Eltern mich wirklich um meiner selbst willen liebten und nicht, weil sie ein gutes Werk tun wollten, indem sie mir ein Zuhause gaben.“

„Und dennoch hast du sie verlassen.“

Es entstand ein langes Schweigen zwischen ihnen. Helen konnte ihr Herz schlagen hören. Sie waren an einem Punkt angelangt, an dem ein neuer Beginn ihrer Beziehung möglich schien. Alles hing jetzt davon ab, ob Alexander ehrlich zu ihr sein würde.

„Ich bin damals fortgegangen, weil ich glaubte, es sei das Beste für sie“, sagte er offen. „Du bist ihr leibliches Kind. Es war klar, dass wir beide nie in Harmonie unter ihrem Dach leben konnten. Nach deinem … Unfall wusste ich, dass ich nicht länger bleiben durfte. Deshalb …“

„Um ihretwillen?“

Er erwiderte nichts, aber Helen kannte die Antwort. Sie hatte sie schon immer gewusst.

Erleichtert spürte sie, wie ihre Spannung ein wenig nachließ. Alexander respektierte sie heute genug, um offen mit ihr zu reden! Sie würden sich nie so nah wie Bruder und Schwester sein, aber vielleicht war es möglich, um der Menschen willen, die sie beide liebten, eine neue Beziehung aufzubauen.

„Und wegen deines Jobs brauchst du dir auch keine Sorgen zu machen. Du wirst die neue ‚Bennett-Enterprise‘-Dekorationsfirma leiten“, sagte Alexander unvermittelt.

Helen wollte etwas erwidern, brachte aber kein Wort heraus. Die Stimme versagte ihr den Dienst. Sie räusperte sich. Endlich hatte sie sich wieder in der Gewalt und fuhr ihn an: „Ich brauche deine Almosen nicht, Alexander. Ich kann mir selbst einen Job suchen!“

„Wirklich?“ Seine Ironie verletzte Helen maßlos.

„Ich bin voll ausgebildet … Ich habe ein Diplom!“

Er hatte immer noch diesen gewissen zynischen Zug um den Mund, der sie immer wieder in Wut versetzte, weil er damit zum Ausdruck brachte, dass er mehr wusste als sie.

„Ich stelle deine Qualifikation ja gar nicht infrage. Aber du wirst zugeben, dass Jobs dieser Art nicht gerade leicht zu bekommen sind. Denk darüber nach, Helen. Oder möchtest du vielleicht nach London gehen und dort dein Glück versuchen? Vielleicht findest du dort in einem Kaufhaus eine Anstellung und musst die Schaufenster nach den Anweisungen deiner Vorgesetzten dekorieren. Gleichzeitig bist du einem scharfen Wettbewerb mit Jüngeren ausgesetzt, die gerade von der Kunstschule kommen.“

Das Bild, das Alexander von ihrer Zukunft entwarf, war nicht gerade verlockend.

Helen hatte den Gedanken, in London zu leben und zu arbeiten, immer gehasst. Ihre Arbeit machte ihr Spaß, aber sie war nicht eigentlich ehrgeizig. Alexander hatte recht, sie hatte immer gern selbstständig gearbeitet. Ihr Vater hatte ihr völlig freie Hand gelassen, und sie hatte, wenn sie ehrlich war, die Verantwortung gern getragen. 

Plötzlich fiel ihr etwas ein. „Hat Dad die Idee gehabt? Er hat dich dazu gebracht, mir diesen Job anzubieten, nicht wahr?“, fragte sie heiser vor Erregung.

„Denk, was du willst, Helen. Ich bin nicht bereit, über die Gründe für mein Angebot zu diskutieren. Das ist bei mir nicht üblich.“

Sie verkniff sich eine heftige Antwort und blickte ihn argwöhnisch an. Wollte er sie zu einer Entscheidung zwingen?

„Ich will den Job nicht haben“, sagte sie geradeheraus.

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