Romana Herzensbrecher Band 8

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HOCHZEIT MIT HINDERNISSEN von LUCY GORDON
Der heißblütige Renato Martelli verfolgt Heather bis in ihre Träume. Noch nie zuvor hat ein Mann die junge Engländerin so fasziniert wie dieser aufregende Sizilianer. Doch sie ist bereits einem anderen versprochen - ausgerechnet Renatos Bruder.

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  • Erscheinungstag 23.10.2020
  • Bandnummer 8
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749118
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lucy Gordon, Catherine Spencer, Jackie Braun

ROMANA HERZENSBRECHER BAND 8

1. KAPITEL

„Dein Liebhaber steht draußen und verlangt nach dir, Heather.“

„Musst du so schreien?“ Heather Miller sprang auf und ging ihrer Kollegin entgegen. Im Grunde genommen schätzte sie Sally sehr – auch wenn deren loses Mundwerk mitunter schwer erträglich war.

Zum Beispiel dann, wenn alle im Raum die Köpfe interessiert umdrehten, weil sie Gerüchte in die Welt setzte, an denen nicht das Geringste dran war.

„Erstens muss nicht die halbe Belegschaft davon wissen, und zweitens habe ich dir oft genug gesagt, dass Lorenzo und ich nichts als gute Freunde sind“, erwiderte Heather leise, aber bestimmt.

„Dann ist dir nicht mehr zu helfen.“ Sally schüttelte ungläubig den Kopf. „Einen besseren Liebhaber kann man sich doch gar nicht wünschen. Ich würde jedenfalls keine Sekunde zögern, mit ihm ins Bett zu gehen.“

Der Aufenthaltsraum für die Angestellten von Gossways, Londons führendem Kaufhaus, war kaum der richtige Ort, um dieses Thema auszudiskutieren. Und schon gar nicht mit Sally, die in sexuellen Dingen eine bekanntermaßen lockere Einstellung hatte.

„Bist du sicher, dass es Lorenzo Martelli ist?“ Um keine Enttäuschung zu erleben, hielt Heather es für ratsam, sich zu vergewissern, ob wirklich jener unbekümmerte, gut aussehende, junge Mann in der Parfümerieabteilung auf sie wartete, in den sie sich vor einem Monat Hals über Kopf verliebt hatte. „Du hast ihn doch noch nie gesehen.“

„So viele Sizilianer gibt es in London nicht“, wandte Sally ein. „Außerdem hat er ausdrücklich nach dir gefragt. Und wenn du nicht bald zu ihm gehst, schnappe ich ihn mir. Verlass dich drauf!“

Fröhlich und guter Dinge machte sich Heather auf den Weg zu ihrem Arbeitsplatz. Sallys Begeisterung für ihren italienischen Freund schmeichelte ihr – denn dass sie unverschämtes Glück gehabt hatte, als sie ihm begegnet war, wusste sie selbst am besten.

Zumal Lorenzo genauso empfand. Seine Geschäftsreise nach England hatte ursprünglich nur zwei Wochen dauern sollen, doch hatte er sich von Heather ebenso wenig losreißen können wie umgekehrt. Und dass er sie bei der Arbeit besuchte, obwohl sie sich am Abend ohnehin sehen würden, nährte Heathers Hoffnung, in Lorenzo den Mann fürs Leben gefunden zu haben.

Umso enttäuschter war sie, dass nicht Lorenzo, sondern ein wildfremder Mann auf sie wartete.

Wobei „wildfremd“ nicht ganz stimmte, denn zweifellos handelte es sich bei dem großen und kräftigen schwarzhaarigen Mann mit dem dunklen Teint um einen Italiener, vermutlich sogar um einen Sizilianer.

Damit waren die Gemeinsamkeiten zwischen ihm und Lorenzo jedoch bereits erschöpft. Was möglicherweise am Alter des Fremden lag. Anders konnte sich Heather jedenfalls nicht die beträchtliche Lebenserfahrung erklären, die er ausstrahlte.

Sehr gut hingegen konnte sie sich Sallys heftige Reaktion erklären. Sie pflegte die Männer ausschließlich danach zu beurteilen, ob es sich lohnte, mit ihnen ins Bett zu gehen. Doch erschreckender als die jähe Erkenntnis, dass dieser Mann dieses Kriterium spielend erfüllte, traf es Heather, dass er offenkundig denselben Maßstab bei ihr anlegte.

Der prüfende Blick seiner dunklen Augen ließ jedenfalls keinen Zweifel daran, dass er überlegte, welchen Reiz es für ihn haben könnte, mit der dunkelblonden, schlanken, jungen Frau zu schlafen, die ihm jetzt sichtlich verlegen gegenüberstand. Wofür vor allem die Tatsache verantwortlich war, dass sein Urteil offensichtlich zu Heathers Gunsten ausfiel. Was sie erst recht in Verlegenheit brachte. Denn auch wenn sie mit ihrem Äußeren im Großen und Ganzen zufrieden war, hatte ihr in den dreiundzwanzig Jahren ihres Lebens bislang noch kein Mann auf der Straße hinterhergepfiffen, geschweige denn, sie mit seinen Blicken förmlich ausgezogen.

Um sich ihre Verunsicherung nicht deutlicher anmerken zu lassen als nötig, besann sie sich auf ihre Aufgaben als Verkäuferin in einer derjenigen Abteilungen, in denen das Gossways konkurrenzlos war. „Sie haben mich rufen lassen?“

„Allerdings“, bestätigte der Fremde, nachdem er ausgiebig das Namensschild auf Heathers weißer Bluse betrachtet hatte. Seine sonore Bassstimme war ebenso erotisch wie sein leichter Akzent.

„Sie sind mir als besonders kompetent empfohlen worden“, erklärte er sein Anliegen, „und vielleicht können Sie mir weiterhelfen. Ich suche nach einem passenden Duft, und zwar für völlig unterschiedliche Frauen“, setzte er mit einem Lächeln hinzu, das Heather in der Überzeugung bestärkte, dass es sich bei seiner Lebenserfahrung zu einem Großteil um Liebeserfahrung handelte.

„Als Erstes wäre da meine Mutter“, sagte er zu ihrer Überraschung. „Sie ist Mitte sechzig und legt sehr viel Wert auf Tradition, selbst wenn sie sich insgeheim wünschen würde, dass ihr Leben etwas aufregender verlaufen wäre.“

Die respektvolle Art, mit der er über seine Mutter sprach, wollte so gar nicht zu Heathers Bild von ihm passen. Dafür erleichterte ihr seine Beschreibung die Auswahl bedeutend. „Das müsste zu ihr passen“, erwiderte sie und reichte ihm ein Flakon mit einem frischen, gleichwohl dezenten Parfüm.

„Ich verlasse mich ganz auf Ihr fachliches Urteil.“ Ohne den Duft zu prüfen, akzeptierte der Fremde Heathers Vorschlag. „Womit wir zu den wählerischeren Damen kommen“, fuhr er fort. „Meiner Freundin Elena beispielsweise. Das Beste ist ihr gerade gut genug, und ihr Aussehen steht ihrem Anspruch in nichts nach. Darüber hinaus hat sie einen ausgeprägten Hang zur Extravaganz.“ Er warf Heather einen bedeutungsvollen Blick zu. „Wenn Sie verstehen, was ich meine.“

So unangenehm es ihr war, verstand Heather in jedem Detail, worauf der Fremde mit seiner Bemerkung anspielte. Vor allem aber verstand sie, dass sich eine Frau mit solchen Vorlieben, wie diese Elena sie offensichtlich hatte, von diesem Mann magisch angezogen fühlte. Denn auch wenn er nicht im klassischen Sinn schön war, drohte seine unvergleichliche Ausstrahlung selbst Heather …

„Ich denke schon“, erwiderte sie und zwang sich, den Gedanken zu verdrängen. „In diesem Fall würde ich Ihnen ‚Mittsommernacht‘ empfehlen. Der Duft ist neu auf dem Markt und scheint mir Ihrer Freundin am ehesten zu entsprechen.“

„Der Name entspricht ihr auf jeden Fall“, bestätigte er mit erschreckender Offenheit, bevor er Heathers Handgelenk umfasste, auf das sie eine Probe aufgetragen hatte.

Je näher er ihre Hand zu seinem Gesicht führte, desto mehr hatte sie das Gefühl, dass er mit seinen korrekten Umgangsformen etwas überspielte. Er kam ihr plötzlich wie ein Tiger vor dem Sprung vor.

„Nun verstehe ich auch, warum man mir Sie so wärmstens empfohlen hat.“ Der rätselhafte Kunde war von Heathers Wahl sichtlich beeindruckt. „Genau diesen Duft hatte ich mir vorgestellt. Ich hoffe, Sie können mir etwas anderes anbieten als diese lächerlich kleinen Fläschchen.“

Heather glaubte sich verhört zu haben. Selbstverständlich verkaufte sie auch größere Mengen, doch nach diesen wurde so gut wie nie nachgefragt. Schließlich handelte es sich um das teuerste Parfüm in ihrem Sortiment. Doch da sie am Umsatz beteiligt war, sollte es ihr nur recht sein, wenn der Kunde ein kleines Vermögen ausgeben wollte. Im dritten Stock des Gossways hatte sie ein wunderschönes Hochzeitskleid gesehen …

„Der nächste Fall ist nicht weniger delikat.“ Der Fremde riss Heather aus ihren Gedanken, bevor sie sich gänzlich gehen lassen und Träumen nachhängen konnte, die jeglicher Grundlage entbehrten – derzeit zumindest.

„Minetta hat ein völlig anderes Naturell als Elena. Sie freut sich schon über die kleinsten Aufmerksamkeiten, und ihre Unbekümmertheit ist geradezu ansteckend.“

„Dann könnte das hier das Richtige sein“, schlug Heather vor und trug eine Probe auf das andere Handgelenk auf. Wieder nahm der Fremde ihre Hand, und Heather empfand die Berührung so intensiv, dass sie drauf und dran war, ihren Arm zurückzuziehen.

Einzig die Tatsache, dass der Mann sie nicht einmal ansah, bewahrte sie davor, sich bis über beide Ohren zu blamieren. Seine Berührung galt so wenig ihr wie seine Gedanken, die sicherlich der Frage nachhingen, ob der Duft zu der Frau passte, für die er bestimmt war.

Trotzdem legte sich Heathers Beklommenheit erst, als der Fremde unvermittelt den Kopf hob und ihre Hand losließ.

„Perfetto“, sagte er und lächelte zufrieden. „Wie ich sehe, verstehen wir uns blendend.“

Seine Formulierung war nicht weniger provozierend als der Blick, mit dem er Heather musterte. „Es freut mich, wenn ich Ihren Geschmack getroffen habe, Signore“, erwiderte sie verunsichert, um ihre Unbedachtheit im selben Moment zu bereuen.

„Sprechen Sie etwa meine Muttersprache?“, fragte der Mann, und sein Gesichtsausdruck verriet die Begeisterung, die ein einziges italienisches Wort in ihm ausgelöst hatte.

Womit sich Heathers Vermutung bestätigt hatte, dass er ein Landsmann von Lorenzo war. „Nur ganz wenig“, antwortete sie verlegen. „Und den sizilianischen Dialekt beherrsche ich so gut wie gar nicht.“

Wie unklug es war, sich auf Umwegen danach zu erkundigen, ob er wie Lorenzo aus dem tiefsten Süden des Landes stammte, wurde ihr erst bewusst, als es zu spät war.

Denn sein Interesse an ihr hatte schlagartig neue Nahrung bekommen – und zielte auf Bereiche, die ihn wahrlich nichts angingen. „Welchen Grund mag eine junge Engländerin haben, unseren eigentümlichen Dialekt zu erlernen?“, fragte er, ohne auch nur den Versuch zu machen, seine Neugier zu verbergen. „Ehrlich gesagt fällt mir nur einer ein.“

So wie er indirekt ihre Annahme über seine Herkunft bestätigt hatte, so kam Heather nicht umhin, ihm zuzugestehen, dass seine Vermutung mitten ins Schwarze zielte. „Ich habe einige Brocken bei einem Freund aufgeschnappt“, erwiderte sie ausweichend.

„Ich hoffe, Ihr Freund erweist sich als Ihrer würdig.“ Anders als Heather schien der Fremde nicht bereit, um den heißen Brei herumzureden. „Hat er Ihnen je gesagt, wie überaus grazziusu Sie sind?“

Erst am vergangenen Abend hatte Lorenzo dieses Wort verwendet und erklärt, dass es eines der vielen Ausdrücke sei, die der Dialekt Siziliens bereithielt, um die Schönheit einer Frau zu beschreiben.

Doch sosehr ihr das unverhohlene Kompliment schmeichelte, so unangenehm war es ihr, es sich von einem wildfremden Mann machen zu lassen – selbst wenn es aus seinem Mund ungleich zärtlicher klang.

„Wie ich sehe, ist Ihnen die Bedeutung des Wortes bekannt“, kommentierte er die plötzliche Röte in Heathers Gesicht. „Das beruhigt mich ungemein. Denn offensichtlich ist sich Ihr junger Freund durchaus bewusst, welch ein Glückspilz er ist.“

Heather hielt es für dringend geboten, das Thema zu wechseln. Was nur zum Teil daran lag, dass sie sich alles andere als sicher war, ob Lorenzo die Ansicht des Fremden teilte. Mehr noch bewog sie, dass dessen entwaffnende Direktheit sie zunehmend verunsicherte. Allmählich begann sie zu verstehen, warum er sich vor Verehrerinnen kaum retten zu können schien.

„Haben Sie sonst noch einen Wunsch?“, erkundigte sie sich betont sachlich.

Erst sein unverschämtes Lächeln machte sie darauf aufmerksam, dass ihre Frage alles andere als eindeutig gewesen war. Doch erstaunlicherweise verzichtete er darauf, sie bewusst misszuverstehen.

„Ich suche noch etwas für Julia“, erwiderte er. „Sie ist zweifellos die sensibelste der drei. Wie Sie sehen, sind meine Freundinnen so verschieden wie meine Launen.“

Ganz ohne Anzüglichkeiten wollte er Heather dann doch nicht davonkommen lassen. Mehr als an einer fachkundigen Beratung war ihr Kunde offensichtlich daran interessiert, sie aus der Reserve zu locken. Doch Heather war nicht gewillt, ihm diesen Gefallen zu tun.

„Wie praktisch für Sie“, stellte sie nüchtern fest. „Zumal es das Ganze überschaubar macht.“

„Wie darf ich das verstehen?“ Die Überraschung schien ihr geglückt, denn der Fremde wirkte tatsächlich einen Moment lang ratlos.

„So laufen Sie wenigstens nicht Gefahr, die Frauen zu verwechseln“, erklärte sie ihm rundheraus, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass sie sich damit ins eigene Fleisch schnitt. Einen Kunden zu brüskieren war das Letzte, was sich eine gute Verkäuferin erlauben konnte. Doch da nach allem, was sie sich bereits geleistet hatte, der erhoffte Umsatz ohnehin ausbleiben würde, beschloss sie, aus ihrem Herzen keine Mördergrube zu machen. „Sie können von Glück sagen, dass Sie kein wirklich launischer Mensch sind.“

Zu ihrer großen Verwunderung reagierte der Fremde alles andere als empört. Vielmehr schien er Gefallen daran zu haben, dass Heather zum Gegenangriff übergegangen war.

„Ihr Argument ist nicht von der Hand zu weisen“, erwiderte er sichtlich amüsiert. „Allerdings kommt es bisweilen vor, dass mir der Sinn nach keiner der drei steht. Ich hätte noch Bedarf an einer geistreichen und schlagfertigen Frau. Wären Sie vielleicht an der Stelle interessiert?“

„Ich glaube kaum, dass ich dafür in Betracht komme“, wies Heather sein eindeutiges Angebot zurück.

„Und warum nicht, wenn ich fragen darf?“ Sein Lächeln wurde zunehmend herausfordernder, und allmählich begann Heather, Spaß an dem Wortgefecht mit dem Sizilianer zu finden, dessen Hartnäckigkeit es mit seiner Attraktivität unbedingt aufnehmen konnte.

„Weil ich vor Dienstantritt darauf bestehen müsste, dass Sie die drei anderen entlassen – und zwar fristlos.“

„Daran soll es nicht scheitern.“ Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er gewillt war, das Spiel auf die Spitze zu treiben. „Ich zweifle nicht im Geringsten daran, dass Sie durch Ihren unermüdlichen Einsatz den Verlust mehr als wettmachen.“

„Umgekehrt hätte ich da schon eher Zweifel.“ Heather wusste selbst nicht, woher sie die Kühnheit für diese Antwort nahm. „Weshalb es das Beste sein wird, wenn wir alles so belassen, wie es ist.“

„Das hatte ich ja völlig vergessen“, erwiderte er gespielt überrascht. „Sie sind ja bereits in festen Händen.“

„Zumindest gibt es jemanden, der sich eine fristlose Kündigung nicht so einfach gefallen ließe wie Ihre Freundinnen“, erwiderte sie bestimmt, um deutlich leiser hinzuzufügen: „Hoffe ich zumindest.“

Doch dem Fremden waren ihre Zweifel nicht entgangen. „Will mein junger Landsmann Sie denn nicht heiraten?“, erkundigte er sich, und fast schien es, als wäre er ernsthaft besorgt.

Heather musste einsehen, dass ihr der Schlagabtausch, so spielerisch er begonnen haben mochte, über den Kopf zu wachsen drohte. Weshalb sie es für ratsam hielt, ihm ein Ende zu bereiten, solange sie dazu imstande war. „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht“, verbat sie sich weitere Nachfragen, ihr Privatleben betreffend.

„Sie haben völlig recht“, stimmte der fremde Mann zu und unterstrich sein Bedauern durch eine entschuldigende Geste. „Es geht mich tatsächlich nichts an. Andererseits bitte ich Sie zu verstehen, dass es mir überaus unangenehm wäre, wenn Ihnen ausgerechnet ein Landsmann falsche Versprechungen machte und sich still und heimlich in seine Heimat absetzte, sobald Sie seinen Verführungskünsten erlegen wären.“

„Sie scheinen mich zu unterschätzen“, widersprach Heather mit einer Heftigkeit, die sie selbst überraschte. Die Antwort war deutlich genug, doch anstatt es dabei zu belassen, setzte sie leichtsinnigerweise hinzu: „Um mich in Versuchung zu bringen, muss sich ein Mann schon mehr einfallen lassen, als mir schöne Augen zu machen.“

„Würden zehntausend britische Pfund reichen?“

Sein Frontalangriff kam derartig überraschend, dass Heather nicht einmal Zeit blieb, empört oder entrüstet zu sein. Außerdem war das Angebot viel zu abwegig, um sie in Verlegenheit zu bringen. Das Gegenteil war der Fall. Die unentschuldbare Entgleisung hatte Heather schlagartig ernüchtert. „Darf ich das Parfüm als Geschenk einpacken, Sir?“, fragte sie mit betont professioneller Höflichkeit.

„Ich erhöhe auf zwanzigtausend“, erwiderte der Mann, als befände er sich auf einer Versteigerung, und musterte Heather mit einem Blick, der nicht minder kühl und berechnend war.

„Sie scheinen den Ruf unseres Hauses missverstanden zu haben“, wies sie ihn ebenso leidenschaftslos in seine Schranken. „Im Gossways erhalten Sie in der Tat jedes nur denkbare Produkt, und zwar ausschließlich in bester Qualität. Frauen gehören jedoch ausdrücklich nicht dazu. Und ich schon gar nicht.“

Endlich schien sie den Fremden von der Aussichtslosigkeit seines Unterfangens überzeugt zu haben. „Dann werde ich wohl mit leeren Händen gehen müssen“, sagte er und zuckte die Schultern. Doch sein Gesichtsausdruck widersprach zutiefst dem Bedauern, das in seiner Stimme gelegen hatte. Denn bevor er sich umwandte und grußlos ging, schenkte er Heather ein zufriedenes Lächeln, das sie sich beim besten Willen nicht erklären konnte.

Erst als er im Fahrstuhl verschwunden war, fiel ihr Blick auf die sündhaft teuren Flakons, die er hatte kaufen wollen – was er zumindest behauptet hatte. Nun konnte sie nicht einmal die saftige Provision über die Kränkungen und Beleidigungen hinwegtrösten, die sie sich hatte anhören müssen.

Mehr als der finanzielle Verlust ärgerte sie jedoch, dass sie beinahe dem unwiderstehlichen Charme dieses Mannes erlegen wäre.

Nur gut, dass er ihr rechtzeitig die Augen geöffnet hatte. Unwillkürlich empfand sie großes Mitleid mit all jenen Frauen, die dumm genug waren, für Geld mit ihm ins Bett zu gehen. Denjenigen, die glaubten, es aus Liebe zu tun, war ohnehin nicht zu helfen.

Selten zuvor hatte Heather den Feierabend so herbeigesehnt. Umso erleichterter war sie, als sie sich endlich auf den Heimweg machen konnte, um sich für den Abend mit Lorenzo umzuziehen.

Auch wenn er tatsächlich nur ihr Freund war, genoss sie die Stunden, die sie gemeinsam verbrachten. Wenn sie zusammen waren, verloren die Sorgen des Alltags ihren Schrecken, und meistens gelang es Heather sogar, sie völlig zu vergessen.

Trotzdem scheute sie davor zurück, das, was sie für ihn empfand, Liebe zu nennen. Was weniger an Lorenzo als vielmehr daran lag, dass sie dieses Wort allzu schmerzlich daran erinnerte, wie sehr sie unter der Trennung von Peter gelitten hatte.

Möglicherweise ließ sie die Angst vor einer erneuten Enttäuschung auch davor zurückschrecken, Lorenzo mehr als nur zu küssen. Umso höher rechnete sie ihm an, dass er nie ein böses Wort verloren, geschweige denn sie bedrängt hatte.

Kennengelernt hatten sie sich im Gossways. Die Familie Martelli handelte mit Obst und Gemüse, das auf riesigen Ländereien rings um Palermo angebaut und von dort aus in alle Welt versandt wurde. Und weil die Ware für ihre erstklassige Qualität bekannt war, gehörte selbstverständlich auch das Gossways zu den Kunden der Martellis.

Als jüngster Sohn der Familie war Lorenzo erst vor Kurzem zum Vertriebschef aufgestiegen und nach London gekommen, um mit dem zuständigen Einkäufer des Gossways zu verhandeln, der wiederum ein Bekannter von Heather war. So also war sie Lorenzo begegnet, und seither verging kaum ein Abend, an dem sie sich nicht sahen.

Standesgemäß war er im Hotel Ritz abgestiegen, und nicht selten lud er sie dorthin zum Essen ein. Fast noch mehr genoss es Heather jedoch, wenn sie auf ihren langen Spaziergängen am Ufer der Themse in irgendein kleines, gemütliches Restaurant einkehrten.

An solchen Abenden kam es mitunter vor, dass sich Heather unwillkürlich fragte, warum Lorenzo ihretwegen seinen Aufenthalt verlängert hatte. Darüber, dass er sich vor Verehrerinnen sicherlich kaum retten konnte, machte sie sich nichts vor. Und der Typ, der sich lange bitten ließ, war er ganz und gar nicht.

Trotzdem schien er das Zusammensein mit Heather ebenso zu genießen wie sie, und die Geschenke und kleinen Aufmerksamkeiten, mit denen er sie förmlich überhäufte, deuteten darauf hin, dass sie für ihn alles andere als ein flüchtiges Intermezzo war.

Nicht dass Heather deshalb ernsthaft mit einem Heiratsantrag rechnete. Der Gedanke war dann doch zu kühn. Gleichwohl hatte sie das sichere Gefühl, dass ihr sein Charme und die offene Zuneigung halfen, ihre Trauer zu überwinden. Und wenn er eines nicht so fernen Tages nach Sizilien zurückkehren würde, könnte sie ohne Bitterkeit an die gemeinsamen Stunden zurückdenken.

In der Wohnung fand sie eine Nachricht von ihm auf dem Anrufbeantworter vor. „Hier ist Lorenzo. Würdest du heute Abend bitte das blaue Kleid anziehen, das ich dir geschenkt habe? Ich habe eine Überraschung für dich.“

Nur zu gern kam Heather seiner Bitte nach und holte das Kleid aus dem Schrank, das er ihr gekauft hatte, weil es seiner Meinung nach so wunderbar zu ihren blauen Augen passte.

Als Lorenzo sie wie verabredet vor ihrem Haus abholte, überreichte er ihr eine einzelne rote Rose, bevor er ein kleines Etui öffnete und Heather eine Perlenkette um den Hals legte.

„Ich habe meine Gründe“, erklärte er auf ihren erstaunten und fragenden Blick hin. „Mein Bruder Renato ist gestern aus Sizilien gekommen. Wie du weißt, bin ich seit zwei Wochen überfällig, und jetzt will er die Frau kennenlernen, wegen der ich meine Arbeit so sträflich vernachlässige. Er erwartet uns zum Essen im Ritz.“

„Daher weht also der Wind“, sagte Heather gespielt empört und berührte vorsichtig die Perlenkette, die sich an ihren Hals schmiegte wie ein zärtliches Versprechen.

„Ich hätte den Abend zwar lieber mit dir allein verbracht, aber wenn es unbedingt sein muss, kannst du mich auch gern deinem Bruder vorstellen“, willigte sie schließlich ein. „Er wird mich schon nicht auffressen, oder?“

„Keine Sorge“, erwiderte Lorenzo und legte ihr den Arm um die Schultern. „Ich passe auf dich auf.“

Im Taxi berichtete er Heather in aller Kürze, was sie über seinen Bruder wissen musste. Als ältester Sohn und Familienoberhaupt hatte er die Leitung des Betriebes übernommen und ihn durch harte Arbeit und Verhandlungsgeschick zu dem gemacht, was er heute war.

„Er hat nichts als den Betrieb im Sinn“, beklagte sich Lorenzo, „und sein Ehrgeiz beschränkt sich darauf, immer noch mehr Geld zu verdienen.“

„Damit du es wieder ausgeben kannst“, ergänzte Heather in Gedanken an die sündhaft teure Kette um ihren Hals.

Doch je mehr sie sich dem Ritz näherten, desto größer wurde ihre Beklommenheit. Was Lorenzo nicht entgangen war. „Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte er einfühlsam, als sie aus dem Taxi gestiegen waren. „Mein Bruder ist kein Unmensch. Außerdem bin ich ja bei dir.“

Obwohl sie sich bei Lorenzo unterhakte, ging Heather mit eher gemischten Gefühlen ins Restaurant. Kaum hatten sie es betreten, erhob sich ein Mann von seinem Platz und winkte ihnen freudestrahlend zu. Zu ihrer großen Verwunderung gelang es ihr trotz der maßlosen Entrüstung, die sie empfand, das Lächeln zu erwidern.

„Guten Abend, Signorina Miller“, begrüßte Renato Martelli sie und verbeugte sich höflich. „Es ist mir eine große Ehre, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind.“

„Ich konnte ja nicht wissen, mit wem ich das Vergnügen habe“, erwiderte Heather schroff. „Schließlich haben Sie sich bei unserer ersten Begegnung nicht vorgestellt.“

„Soll das heißen, dass ihr euch schon kennt?“, fragte Lorenzo verständnislos.

Dankenswerterweise übernahm es Renato, ihm von dem Vorfall am Nachmittag zu berichten. „Ich habe deine Freundin heute Nachmittag im Gossways aufgesucht“, erklärte er seinem Bruder. „Allerdings ohne mich zu erkennen zu geben“, setzte er hinzu und küsste Heather die Hand. „Was Sie mir hoffentlich verzeihen.“

„Das muss ich mir noch gut überlegen“, sagte sie unversöhnlich. Trotzdem zögerte sie nicht eine Sekunde, als Renato ihr einen Platz anbot.

„Wollt ihr mir nicht endlich erklären, was sich zugetragen hat?“ Lorenzo war deutlich anzusehen, wie sehr ihn der unerwartete Auftakt des Abends verwirrte.

„Dein Bruder hat sich mir gegenüber als Kunde ausgegeben“, erklärte Heather ihm. „Im Lauf der Unterhaltung hat er mir die eine oder andere Frage gestellt. Nicht alle waren beruflicher Natur.“

„Und warum?“

Das konnte nur Renato beantworten. „Ich wollte mir einen ersten Eindruck von der Frau verschaffen, die dich dazu bringt, deine Pflichten zu vernachlässigen.“

„Ist Ihnen das gelungen?“ Heather konnte der Versuchung nicht widerstehen, diese Frage zu stellen.

„Allerdings.“

Lorenzo schien mit der Antwort sehr zufrieden, denn seine Miene hellte sich auf, und er lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück.

Heather kam nicht umhin, die beiden Brüder heimlich zu beobachten, während sie die Speisekarte studierten. Wie unterschiedlich sie doch waren!

Trotz seiner Größe wirkte Lorenzo mitunter wie ein Junge. Wahrscheinlich, weil seine Gesichtszüge noch nicht sonderlich ausgeprägt waren. Einzig die feine Narbe an der Schläfe verriet, dass er nicht so unerfahren war, wie seine blauen Augen und das lockige braune Haar vermuten ließen. Dafür konnte sein Lächeln Eis zum Schmelzen bringen, und wenn er lachte, war es geradezu ansteckend.

Renato war in allem das genaue Gegenteil. Wenn Lorenzo in mancherlei Hinsicht unreif wirkte, so war es bei ihm kaum vorstellbar, dass er je eine Kindheit gehabt hatte. Er war ungeheuer kräftig gebaut, ohne auch nur ansatzweise zur Rundlichkeit zu neigen. Vielmehr strahlte er ein Übermaß an Kraft und Entschlossenheit aus, und obwohl sein Anzug maßgeschneidert war, fühlte er sich darin sichtlich unwohl.

Die Wirkung seines Gesichtes war nicht weniger beeindruckend – und nicht weniger zwiespältig. Es vermittelte Strenge und Verwegenheit gleichzeitig. Je länger Heather ihn betrachtete, desto mehr empfand sie die Faszination, die von diesem Mann ausging, dessen dunkle Augen wie tiefe Seen waren, die ein Geheimnis bargen.

Wenn sich eine Frau zwischen diesen beiden Männern entscheiden musste, dann würde die Wahl eindeutig zugunsten des Älteren ausfallen.

Renato riss sie aus ihren Gedanken. „Ausgerechnet Lorenzo!“, sagte er laut und schüttelte ungläubig den Kopf. „Mit allem hätte ich gerechnet, aber nicht damit, dass er jemals ernsthaft in Erwägung ziehen könnte zu heiraten.“

„Bitte, Renato.“ Lorenzo war das Verhalten seines großen Bruders sichtlich unangenehm. Oder war es doch die Tatsache, dass Heather etwas erfuhr, was ihm bislang nicht über die Lippen gekommen war?

Dafür sprach jedenfalls, dass er sich augenblicklich zu ihr hinüberbeugte. „Er will dich nur provozieren“, sagte er verlegen.

„Da sagst du mir leider nichts Neues“, erwiderte Heather und ignorierte Renatos ironisches Lächeln. „Sie sind also nach England gekommen, um sich zu vergewissern, dass die Auserwählte Ihres jüngeren Bruders auch standesgemäß ist?“

„Mich interessierte, ob sie Lorenzos Beschreibungen standhält“, widersprach er mit unerschütterlicher Gelassenheit. „Wie ich feststellen muss, hat er maßlos untertrieben.“

Heathers Erinnerung an den Nachmittag war zu frisch, um sich von Renatos Charme täuschen zu lassen. Auch wenn sie nicht wusste, was er im Schilde führte, war ihr klar, dass er mit seinen Komplimenten etwas bezweckte. Doch wenn er annahm, dass sie sich davon blenden ließ, hatte er sich geschnitten.

„Machen wir uns nichts vor“, hielt sie ihm entgegen. „Als Sie erfahren haben, dass Ihr Bruder seine Dienstreise wegen einer kleinen Verkäuferin verlängert hat, waren Sie in höchstem Maße alarmiert. Nichts gegen eine kleine Affäre, doch wenn es ums Heiraten geht, stellt ein Martelli gewisse Ansprüche, nicht wahr?“

Lorenzo war die Auseinandersetzung offensichtlich zu viel geworden, denn er ließ den Kopf hängen und sah ausdruckslos auf seine Hände.

Auch Renato schien beeindruckt, denn Heather meinte erkennen zu können, dass er leicht rot wurde. Doch ebenso schnell hatte er sich wieder gefangen. „Respekt, junge Frau“, sagte er anerkennend, und sein Lächeln verriet, dass sein männlicher Jagdinstinkt geweckt worden war. „Sie verstehen es, einen Mann aus der Reserve zu locken. In einem Punkt muss ich Ihnen allerdings widersprechen. Das mit der ‚kleinen Verkäuferin‘ ist natürlich dummes Zeug.“

„Was willst du damit andeuten?“ Lorenzo schreckte hoch und blickte verwundert in die Runde.

„Das wirst du gleich erfahren“, erwiderte Renato kühl, ohne Heather aus den Augen zu lassen. „Nach allem, was ich weiß, sind Sie eine selbstbewusste und ehrgeizige Frau, die ganz unten angefangen hat und nicht eher ruhen wird, bis sie oben angelangt ist. Im Alter von sechzehn Jahren haben Sie die Schule geschmissen und als Verkäuferin gejobbt, mal hier, mal da, bis Sie vor drei Jahren die Stelle im Gossways bekommen haben. Im vergangenen Jahr haben Sie sich für das hauseigene Fortbildungsprogramm beworben, um ins Management aufsteigen zu können. Weil Sie kein Abitur haben, wurden Sie abgelehnt.“

„Woher weißt du das alles?“

Dieses Mal kam Heather Renato zuvor. „Dein Bruder hat seine Beziehungen spielen lassen und Erkundigungen über mich eingezogen“, erklärte sie Lorenzo. „Ich bin schon ganz gespannt, was er noch alles herausgefunden hat.“

„Zum Beispiel, dass Sie durch Ihren Ehrgeiz, vor allem aber durch Ihren Umsatz die Direktion davon überzeugt haben, dass es ein Fehler war, Sie zu übergehen“, zeigte sich Renato bestens informiert. „Weshalb Sie für den nächsten Lehrgang bereits eine verbindliche Zusage haben. Kurzum: Sie wissen sehr genau, was Sie wollen. Also bitte sparen Sie sich in Zukunft das Gerede von der ‚kleinen Verkäuferin‘.“

2. KAPITEL

Erst nachdem der Ober das Dessert serviert hatte, erhielt Heather Gelegenheit, Renato zur Rede zu stellen, denn Lorenzo hatte einen Geschäftsfreund an der Bar entdeckt und war zu ihm gegangen.

„Warum haben Sie mir heute Nachmittag nicht gesagt, wer Sie sind?“, fragte sie rundheraus, um keine Zeit zu verlieren. „Sie wussten doch ohnehin schon alles über mich.“

„Eben nicht“, wandte Renato ein. „Um einen anderen Menschen zu kennen, muss man ihn erleben. Wenn ich mich Ihnen vorgestellt hätte, hätten Sie sich wohl kaum so natürlich benommen.“

„Warum hätte ich mich anders verhalten sollen, als ich bin?“ Heather wusste beim besten Willen nicht, worauf Renato hinauswollte.

„Sie sind intelligent genug, um zu wissen, dass in Italien, erst recht in Sizilien, das Familienoberhaupt in solch wichtigen Fragen, wie es eine Eheschließung nun einmal ist, das letzte Wort hat“, erklärte er ihr langatmig. „Was hätte also nähergelegen, als sich bei mir einzuschmeicheln?“

„Sie scheinen mich wirklich nicht zu kennen“, erwiderte Heather und musste sich zwingen, nicht ausfallend zu werden. „Sonst wüssten Sie, wie absurd Ihre Unterstellung ist. Abgesehen davon hat mich bislang noch niemand gefragt, ob ich überhaupt die Absicht habe, Lorenzos Frau zu werden.“

„Haben Sie die Absicht?“

„Je mehr ich seine Familie kennenlerne, desto mehr zweifle ich daran.“

Renato sah Heather nachdenklich an. „Mein Verhalten Ihnen gegenüber war sicherlich nicht ganz fair“, gab er schließlich zu. „Ich bitte Sie allerdings zu verstehen, dass ich mir Gewissheit verschaffen musste. Schließlich ist Lorenzo kein armer Mann …“

„Halten Sie mich etwa für eine Mitgiftjägerin?“, schnitt Heather ihm empört das Wort ab.

„Ich muss gestehen, dass ich zunächst den Verdacht hatte“, gab Renato unumwunden zu. „Die Entschiedenheit, mit der Sie mein Angebot zurückgewiesen haben, hat mich eines Besseren belehrt.“

Bislang war Heather der Meinung gewesen, dass auf ihre Menschenkenntnis halbwegs Verlass wäre. Doch dieser Mann stellte sie vor ein Rätsel. Offensichtlich ging er davon aus, dass aus seinem Mund selbst die größte Beleidigung wie ein Kompliment klang.

Vielleicht lag es daran, dass sie sich auf ein ähnlich gewagtes Spiel mit ihm einließ wie schon bei ihrer ersten Begegnung. „Und wenn ich akzeptiert hätte?“

„Dann wären Sie um zwanzigtausend Pfund reicher – und um eine wundervolle Erfahrung.“

Seine Antwort passte genau zu der maßlosen Selbstsicherheit, die er ausstrahlte. Auch dass er ohne Skrupel mit der Freundin seines Bruders schlafen würde, wenn die es zuließe, überraschte Heather nicht sonderlich. Das gehörte anscheinend zu dem Verständnis seiner Rolle als Familienoberhaupt.

„Haben Sie eigentlich schon mal darüber nachgedacht, wie Lorenzo reagieren würde, wenn er von Ihrem Angebot wüsste?“ Auch wenn sie die Antwort bereits zu kennen glaubte, wollte sie Renato die Frage nicht ersparen.

„Da Sie es abgelehnt haben, kann er es ruhig erfahren“, erwiderte er gelassen. „Andernfalls hätte ich ihm einen Gefallen getan – was er sicherlich eingesehen hätte.“

Heather bezweifelte nicht im Geringsten, dass ihm notfalls die entsprechenden Argumente eingefallen wären. Wie er überhaupt davon auszugehen schien, dass die Welt so etwas wie ein Schachspiel war, in dem er die Figuren bewegte – ganz egal ob sie Lorenzo, Elena, Minetta, Julia oder sonst wie hießen.

Sicherlich zählt er mich auch dazu, dachte Heather unwillkürlich. Um ihm zu beweisen, dass sie sich von niemandem zu einer Spielfigur degradieren lassen würde, wagte sie das Äußerste und riskierte einen Zug, mit dem er nicht rechnen konnte.

„Wenn Sie so edle Motive haben, sollten Sie Ihr Angebot vielleicht noch einmal überdenken.“ Um ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, griff sie sein stärkstes – und beleidigendstes – Argument auf. „Ein erfahrener Mann wie Sie müsste doch wissen, dass manche Frauen aus gewissen Gründen nicht so leicht zu haben sind wie andere.“

Der Erfolg gab ihr recht, denn Renato war einen Moment sprachlos. „Ich beginne zu begreifen“, sagte er schließlich, und seine Stimme verriet fast etwas wie Vorfreude. „An was hatten Sie denn so gedacht?“

„Das kann ich Ihnen genau sagen.“ Aufreizend langsam beugte sich Heather zu Renato, bis sich ihre Wangen beinahe berührten. „Dass Sie und Ihr Geld mir ein für alle Mal gestohlen bleiben können“, flüsterte sie ihm ins Ohr und richtete sich augenblicklich wieder auf.

Es dauerte erstaunlich lange, bis Renato die Fassung wiedererlangte. „Ich bewundere Ihren Mut“, sagte er endlich, und jegliche Selbstherrlichkeit war aus seinem Blick verschwunden.

„Mit Mut hat das nichts zu tun“, erwiderte Heather bestimmt. „Glücklicherweise bin ich nicht auf Ihr Wohlwollen angewiesen.“

„Mit einer Ausnahme.“ Renato genoss es offensichtlich, ihr widersprechen zu können. „Jedenfalls wenn Sie beabsichtigen sollten, Lorenzo zu heiraten. Und in der Frage, wen ich in die Familie aufnehme, bin ich überaus …“

„Dann habe ich eine gute Nachricht für Sie“, unterbrach Heather ihn und sah ihn wutentbrannt an. „Lorenzo wird Sie nicht in die Verlegenheit bringen, eine Entscheidung treffen zu müssen. Bis jetzt weiß ich ohnehin nur von Ihnen, dass er um meine Hand anhalten will. Sollte er mich jedoch tatsächlich fragen, werde ich mit Nein antworten. Was er einzig und allein Ihnen zu verdanken hat.“

„Heather!“ Lorenzos bestürzte Stimme machte ihr schlagartig klar, dass er die letzten Worte gehört haben musste.

Sie stand auf und drehte sich zu ihm um. „Es tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren musst. Wir hatten eine wunderschöne Zeit, aber ich befürchte, es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen.“

„Aber ich liebe dich doch!“ Lorenzo klang verzweifelt, und um Heather daran zu hindern, wegzulaufen, hielt er sie am Arm fest.

„Ich dich auch“, gestand sie zum ersten Mal. „Trotzdem ist es das Beste, wenn ich jetzt gehe.“

„Warum denn nur?“

„Frag deinen Bruder“, wich Heather einer Antwort aus. „Vielleicht ist er ja Manns genug, es dir zu erklären.“

Ohne einen der beiden noch einmal anzusehen, drehte sie sich um und lief einfach los.

Kurz bevor sie den Ausgang des Ritz erreicht hatte, legte sich ihr eine Hand auf die Schulter und brachte sie unvermittelt zum Stehen.

„Machen Sie sich nicht lächerlich“, sagte Renato, nachdem er einige Male tief durchgeatmet hatte.

„Der Einzige, der sich lächerlich macht, sind Sie“, hielt Heather ihm wütend entgegen. „Oder finden Sie es nicht lächerlich, dass Sie glauben, alle müssten unbedingt nach Ihrer Pfeife tanzen?“

„Bislang hat es sich noch jeder gefallen lassen“, erwiderte Renato unüberlegt.

„Das dachte ich mir“, sagte sie abfällig. „Von mir dürfen Sie das allerdings nicht erwarten.“

„Das habe ich inzwischen begriffen.“

„Ein bisschen spät, finden Sie nicht?“ Heather machte den Versuch, sich von Renato zu lösen, doch der reagierte, indem er sie am Arm festhielt. „Bitte, Heather, beruhigen Sie sich doch“, bat er nachdrücklich.

„Ich will mich aber nicht beruhigen!“

„Ich verstehe ja, dass Sie wütend auf mich sind“, versuchte es Renato erneut. „Doch wenn Sie jetzt weglaufen, bestrafen Sie nicht mich, sondern Lorenzo.“

„Mit einem Bruder wie Ihnen müsste er Kummer gewöhnt sein“, erwiderte Heather bitter. „Niemand kann von mir erwarten, dass ich freiwillig in eine Familie einheirate, deren Oberhaupt ein solches Scheusal ist. Und wenn Sie mich nicht sofort loslassen, schreie ich um Hilfe.“

Tatsächlich lockerte er seinen Griff, und ohne eine Sekunde nachzudenken, rannte Heather hinaus auf den Bürgersteig.

Auf der anderen Straßenseite erblickte sie ein Taxi. Ohne nach rechts oder links zu sehen, lief sie los. Wie von fern meinte sie Renato zu hören, der ihr etwas hinterherrief. Dann quietschten die Bremsen eines Autos, und grelle Scheinwerferlichter durchschnitten die Dunkelheit. Nur schemenhaft nahm sie wahr, dass sie jemand an der Schulter packte und herumriss, bevor sie auf den harten Asphalt knallte.

Dann hörte sie Lorenzo, der sich einen Weg durch die Menschentraube bahnte und laut ihren Namen rief. Als er neben ihr stand, sah er sie entsetzt an und schlug sich die Hände vor den Mund.

Seine Blickrichtung machte Heather schlagartig klar, dass nicht sie seine Panik ausgelöst haben konnte. Sie drehte sich um und sah Renato, der wenige Meter entfernt blutüberströmt auf der Straße lag.

Instinktiv wusste Heather, was vorgefallen war. Bei dem Versuch, sie von der Straße zu zerren, war er selbst vor ein Auto gelaufen, und offensichtlich war dabei die Schlagader seines rechten Armes verletzt worden. Und wenn die Blutung nicht bald gestoppt würde, müsste er seinen selbstlosen Einsatz mit dem Leben bezahlen.

„Gib mir deinen Schlips!“, befahl sie Lorenzo. Glücklicherweise reagierte er umgehend, und während er den Krawattenknoten öffnete, holte sie aus ihrer Handtasche einen Füllfederhalter.

Obwohl sie selbst benommen war, gelang es ihr unter Aufbietung all ihrer Kräfte, mit dem Stift und Lorenzos Krawatte einen notdürftigen Druckverband anzulegen, während sie ängstlich darauf wartete, dass Renato ein Lebenszeichen von sich gab.

Als es ihr endlich gelungen war, die Blutung zu stoppen, schlug er die Augen auf. „Danke, Heather“, sagte er kaum hörbar, und doch spürte sie, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen.

Plötzlich lösten sich ein Notarzt und zwei Sanitäter mit einer Trage aus der Menge und kümmerten sich um den Schwerverletzten.

Erschöpft und erleichtert zugleich richtete sich Heather auf und ging zu Lorenzo, der vergeblich versuchte, der Polizei den Unfallhergang zu schildern. Neben ihm stand ein Mann, bei dem es sich offensichtlich um den Fahrer des Wagens handelte, denn er versuchte händeringend, die Beamten von seiner Unschuld zu überzeugen.

„Es ist einzig und allein meine Schuld“, teilte sie den Polizisten mit. „Ich bin dem Mann direkt vors Auto gelaufen.“

„Sie?“, fragte einer der Beamten verwundert. „Wir dachten, der Mann … Egal, das können wir später klären. Erst einmal bringen wir Sie beide ins Krankenhaus.“

Lorenzo half ihr in den Krankenwagen, in dem Renato bereits ärztlich versorgt wurde. Der Anblick schnitt Heather ins Herz. Sein Oberkörper war blutüberströmt, und um seinen Kreislauf zu stabilisieren, hatten ihm die Sanitäter eine Sauerstoffmaske aufgesetzt.

Unvermittelt schlug er die Augen auf, und sein Blick wanderte zwischen Lorenzo und Heather hin und her, als wollte er ihnen etwas mitteilen.

Im Krankenhaus wurde er direkt in die Notaufnahme gebracht, während Heather, die nur einige unschöne, aber harmlose Schürfwunden erlitten hatte, noch in der Ambulanz behandelt wurde.

Als sie die Station verließ, erwarteten sie Lorenzo und zwei Polizisten, die ihre Aussage zu Protokoll nahmen.

„Fehlt dir auch nichts, mein Schatz?“, fragte Lorenzo besorgt, nachdem die Beamten gegangen waren.

„Ich muss einen Schutzengel gehabt haben“, erwiderte sie. „Wie geht es deinem Bruder?“

„Schon wieder besser“, berichtete Lorenzo. „Sie haben ihn eben aus der Notaufnahme gebracht. Er hat sehr viel Blut verloren und wird wohl einige Tage hierbleiben müssen. Zum Glück ist er außer Lebensgefahr.“

Die Nachricht, dass es ihrem Lebensretter den Umständen entsprechend gut ging, erfüllte Heather mit großer Erleichterung – zumal im selben Moment ein Arzt zu ihnen kam und Lorenzos Eindruck bestätigte.

„Wenn Sie wollen, können Sie Ihren Bruder kurz sehen“, teilte er ihm mit. „Aber allein.“

„Können wir nicht beide zu ihm?“, bat Lorenzo. „Die Dame ist meine Verlobte.“

„Also schön“, willigte der Arzt ein. „Nur denken Sie bitte daran, dass der Patient viel Ruhe braucht.“

Auch wenn er noch aschfahl war, wirkte Renato nicht mehr gar so bemitleidenswert. Was vor allem daran lag, dass man ihm die blutbefleckte Kleidung ausgezogen hatte.

Er lag mit geschlossenen Augen und bewegungslos im Bett, sein Atem ging gleichmäßig. Einzig die Transfusion, die man ihm gelegt hatte, verriet, dass er nur knapp dem Tod entronnen war.

„Du hast ihm das Leben gerettet.“

Wie aufs Stichwort sprach Lorenzo an, wofür sich Heather große Vorwürfe machte. „Wenn ich mich nicht so kindisch benommen hätte, wäre es gar nicht erst dazu gekommen“, erwiderte sie beschämt.

„Was ist denn eigentlich vorgefallen?“

„Ehrlich gesagt kann ich mich kaum noch erinnern“, erwiderte Heather. „Doch was immer gewesen sein mag – nichts rechtfertigt, dass ich ihn durch mein Verhalten in Lebensgefahr gebracht habe.“

„So schnell ist Renato nicht kleinzukriegen“, sagte Lorenzo tröstend und legte ihr den Arm um die Schultern. „Bist du mir eigentlich böse, weil ich dich vor dem Arzt als meine Verlobte ausgegeben habe?“, fragte er unvermittelt.

„Warum sollte ich?“, antwortete Heather mit einer Gegenfrage und schmiegte den Kopf an Lorenzos Schulter.

„Na ja.“ Lorenzo strich ihr zärtlich übers Haar. „Immerhin hast du ziemlich deutlich gesagt, dass es aus zwischen uns ist.“

Die Ereignisse des Abends hatten sich derartig überstürzt, dass sich Heather selbst daran nur noch vage erinnern konnte. „Ich war so wütend auf Renato …“

„Du sollst doch nicht mich, sondern meinen Bruder heiraten.“ Renato musste durch ihr Gespräch geweckt worden sein. Jedenfalls schien er ihnen schon eine ganze Weile zugehört zu haben, denn sein Blick war hellwach, und obwohl er von den Folgen des Unfalls noch geschwächt war, klang sein Tonfall so bestimmt wie eh und je. „Jetzt gib dir endlich einen Ruck und sag Ja.“

Ob aus Schuldgefühlen Renato gegenüber oder aus Erleichterung, dass ihm nichts Ernsthaftes zugestoßen war – Heather hatte es nicht gewagt, ihm zu widersprechen, und in die Heirat mit Lorenzo eingewilligt.

Dann war alles sehr schnell gegangen. Schon am nächsten Tag hatte ihr Lorenzo einen Verlobungsring mit einem wunderschönen Diamanten geschenkt, und kaum hatte sich Renato halbwegs erholt, waren die beiden Brüder zurück nach Sizilien geflogen.

Vier Wochen waren seither vergangen, die Heather wie in Trance erlebt hatte, und noch als sie im Flugzeug nach Palermo saß, wusste sie nicht so recht, wie ihr geschah.

Glücklicherweise begleitete sie ihre beste Freundin. Dr. Angela Wenham, genannt Angie, hatte sich bereit erklärt, sie zu begleiten – nicht zuletzt, um einige Tage freizunehmen und Versäumtes nachzuholen.

Denn Angie war in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von Heather. Um es vorsichtig zu sagen, war sie ein ziemlicher Paradiesvogel, der kaum eine Gelegenheit zu einem Flirt ungenutzt ließ.

In letzter Zeit hatte ihr Liebesleben jedoch stark unter den vielen Nachtdiensten gelitten, die sie als Ärztin im Krankenhaus hatte ableisten müssen. Doch wenn Heathers Eindruck nicht trog, war ihre bildschöne und zierliche Freundin entschlossen, sich in den kommenden Tagen schadlos zu halten.

„Hast du nicht erzählt, dass dein Verlobter zwei Brüder hat?“, fragte Angie, und ihr Lächeln bestätigte Heather in ihrer Vermutung.

„Du bist und bleibst unverbesserlich“, erwiderte sie lachend. „Ja, er hat zwei Brüder, aber ich kenne bisher auch nur den ältesten, Renato.“

„Ist das nicht dieser Unmensch, dem du den Unfall zu verdanken hattest?“

„Eher umgekehrt.“ Vor Renatos Abflug hatte sich Heather bei ihm dafür entschuldigt, dass sie durch ihr unvernünftiges Verhalten die Gefahr erst heraufbeschworen hatte. Und sosehr es sie erleichterte, dass er ohne bleibende Schäden davongekommen war, so hoch rechnete sie es ihm an, dass er sie mit großer Selbstverständlichkeit als Teil der Familie betrachtete.

„Was weißt du eigentlich über den anderen Bruder?“

„Nicht viel“, musste Heather zugeben. „Er ist der mittlere der drei und heißt Bernardo. Genau genommen ist er ein Stiefbruder. Seine Mutter war eine Angestellte seines Vaters, mit der er über Jahre eine Affäre hatte. Beide sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Lorenzos Mutter Baptista hat das Waisenkind bei sich aufgenommen und es wie einen eigenen Sohn großgezogen.“

„Donnerwetter!“ Angie war offensichtlich beeindruckt von Heathers zukünftiger Schwiegermutter. „Das zeugt von Größe.“

„Allerdings“, stimmte Heather ihrer Freundin zu. „Ich kann nur hoffen, dass sie mich genauso herzlich in die Familie aufnimmt.“

„Bestimmt wird sie das.“ Angie warf Heather einen aufmunternden Blick zu. „Außerdem willst du ja nicht sie, sondern Lorenzo heiraten.“

Gleich nach der Landung hielt Heather Ausschau nach ihrem Verlobten, und noch während sie auf ihr Gepäck wartete, sah sie ihn in Begleitung eines anderen Mannes in der Halle.

Er hatte sie in der Menge ausgemacht und winkte ihr freudestrahlend zu. Augenblicklich lief Heather ihm entgegen. „Endlich habe ich dich wieder“, begrüßte Lorenzo sie überglücklich, nahm sie in die Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. „Du ahnst ja nicht, wie sehr ich dich vermisst habe.“

Heather war viel zu überwältigt, um etwas zu erwidern. Erst vor wenigen Minuten war sie auf Sizilien gelandet, und schon fühlte sie sich heimisch auf der Insel, die ihr noch völlig unbekannt war. Was nur bedeuten konnte, dass ihre Entscheidung, Lorenzos Frau zu werden, richtig gewesen war.

„Du musst unbedingt Bernardo kennenlernen“, sagte Lorenzo unvermittelt und sah sich nach seinem Begleiter um. Doch der war inzwischen zu Angie gegangen, um ihr das Gepäck abzunehmen.

„Darf ich dir meine Verlobte vorstellen?“, fragte Lorenzo, als alle vier beieinanderstanden. „Heather, das ist mein Bruder Bernardo.“

„Und das ist Angie“, machte Heather ihre beste Freundin mit ihrem Verlobten bekannt. „Ihr hattet ja bereits das Vergnügen“, kommentierte sie lächelnd, dass sich Bernardo und Angie unablässig interessierte Blicke zuwarfen.

So war es auch wenig verwunderlich, dass Bernardo dem Brautpaar die Plätze auf der Rückbank zuwies und Angie die Beifahrertür aufhielt, bevor er das Gepäck im Kofferraum seines Wagens verstaute.

Heather schmiegte sich an Lorenzo und genoss den Ausblick, der sich ihr während der Fahrt über die Insel bot.

Am meisten beeindruckten sie die leuchtenden Farben, die seit Jahrhunderten Maler aus aller Welt ans Mittelmeer und nicht zuletzt nach Sizilien gelockt hatten. Vor allem wenn man wie sie aus dem grauen England kam, verschlug einem das Blau des Himmels förmlich den Atem.

Bald hatten sie die Außenbezirke Palermos hinter sich gelassen und erreichten die Küste. Als Heather das Meer sah, umklammerte sie unwillkürlich Lorenzos Arm. Die strahlende Sonne ließ das Wasser in allen erdenklichen Blau- und Grüntönen schimmern, und die Wellen rollten sanft und gleichmäßig auf die Küste zu, wo sie sich an einem breiten Sandstrand brachen.

„Das ist unser Zuhause“, sagte Lorenzo unvermittelt und zeigte auf eine Villa, die sich treppenförmig auf einem Vorsprung direkt an der Steilküste erhob.

Lorenzo hatte ihr vom Anwesen der Martellis erzählt, doch was Heather sah, übertraf ihre kühnsten Erwartungen. Denn so prunkvoll und ausladend es war, fügte es sich zugleich harmonisch in die Landschaft ein. Aus der Entfernung stach als Erstes das Blumenmeer aus Geranien, Jasmin, weißem und rotem Oleander, Klematis und Bougainvilleen ins Auge, das sich farbenprächtig über die vielen Veranden und Terrassen ergoss.

Nachdem sie sich über eine steile und kurvenreiche Straße dem Haus genähert hatten, bogen sie in eine breite Auffahrt ein. Im selben Moment, in dem Bernardo den Wagen vor einer großen Freitreppe zum Stehen brachte, trat eine kleine ältere Dame durch die Eingangstür.

„Meine Mutter kann es kaum erwarten, dich kennenzulernen“, erklärte Lorenzo, bevor er Heather die Wagentür öffnete. Erst als sie Hand in Hand die Treppe hinaufgingen, fiel Heather auf, dass sich ihre zukünftige Schwiegermutter auf einen Stock stützte.

Baptista Martelli reichte ihrem jüngsten Sohn kaum bis zu den Schultern, und trotz ihrer Gebrechlichkeit wirkte sie streng und entschlossen. Dennoch hatte die Krankheit deutliche Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen, und ihr Haar war ergraut.

Der Blick ihrer Augen war jedoch hellwach, und ihm schien nichts zu entgehen, als sie Heather von Kopf bis Fuß musterte. Erst dann legte sie die Arme um sie und drückte sie mit einer Kraft an sich, die Heather ihr nicht zugetraut hätte.

„Herzlich willkommen, meine Liebe“, begrüßte Baptista sie in fast akzentfreiem Englisch, und ihr Lächeln wirkte herzlich. „Treten Sie bitte ein.“

Im Innern war die Villa mindestens so beeindruckend wie von außen. Errichtet im für die Mittelmeergegend nicht ungewöhnlichen maurischen Stil, war sie jedoch ungewöhnlich luxuriös ausgestattet. Ob die kostbaren Wandmosaike oder der Fußboden aus Terrakotta – jeder einzelne Raum strahlte eine selten anzutreffende Ausgewogenheit von Wohlstand, Geschmack und Kennerschaft aus.

Eine Hausangestellte führte Heather und Angie zu dem Zimmer, das sie sich bis zum Tag der Hochzeit teilen sollten. Durch eine große Fensterfront fiel das milde Licht auf zwei große Betten mit Baldachinen. Von der Terrasse aus bot sich ein traumhafter Blick auf den Garten und das dahinterliegende Binnenland, das am Horizont mit den nebelverhangenen Berggipfeln zu verschmelzen schien.

Nachdem die beiden Freundinnen ihr Gepäck – darunter Heathers Hochzeitskleid – ausgepackt und sie sich frisch gemacht hatten, führte sie das Hausmädchen über die Terrasse um das halbe Haus, bis sie schließlich eine große Veranda erreichten.

Baptista und ihre beiden jüngeren Söhne saßen unter einer Schatten spendenden Markise und erwarteten sie bereits. Kaum hatte Heather Platz genommen, brachte Lorenzo ihr einen Teller mit sizilianischen Spezialitäten, von denen sie kaum eine kannte. Dazu schenkte er ihr ein Glas Marsala ein.

Heather fühlte sich wie in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht, und um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte, sah sie mehrfach zu Lorenzo, der ihren Blick jedes Mal lächelnd erwiderte.

„Fürs Erste dürfte das reichen“, unterbrach Baptista sie bestimmt. „Zum Herumturteln bleibt euch später noch Zeit. Jetzt möchte ich mich ein wenig mit deiner Braut unterhalten. Und zwar allein.“

3. KAPITEL

„Vor allem möchte ich Ihnen für den selbstlosen Einsatz danken, mit dem Sie Renato das Leben gerettet haben“, sagte Baptista, kaum dass sie mit Heather allein war.

„Durch meine Überreaktion habe ich die Gefahr doch erst heraufbeschworen“, erwiderte Heather.

„Seien Sie nicht zu bescheiden“, wandte Baptista ein. „Wenn ich richtig informiert bin, hatten Sie allen Grund, wütend auf ihn zu sein. Glücklicherweise haben Sie sich nicht davon abschrecken lassen, sich mit Lorenzo zu verloben und damit Teil unserer Familie zu werden. Ich hoffe, wir können Ihnen den Verlust Ihrer eigenen Familie einigermaßen ersetzen.“

Die Direktheit, mit der die ältere Dame dieses Thema ansprach, erschreckte Heather zutiefst. Sie sprach überaus ungern über den Verlust ihrer Eltern, und es hatte sie große Überwindung gekostet, Lorenzo davon zu erzählen.

Der schien seine Mutter davon in Kenntnis gesetzt zu haben, und so beschloss Heather schweren Herzens, sich ihrer zukünftigen Schwiegermutter anzuvertrauen.

„Ich war Einzelkind, und meine Mutter starb, als ich sechs Jahre alt war. Mein Vater hat ihren Tod nie überwunden.“ Die Erinnerung an ihren unglücklichen Vater drohte sie jetzt noch zu überwältigen, und von seinem Schicksal zu berichten, erschien ihr fast wie Verrat an dem sensiblen Mann, den der Tod seiner Frau lebensuntüchtig gemacht hatte.

„Er hat angefangen zu trinken, bis er schließlich nicht mehr arbeiten konnte. Im Lauf der Jahre ist sein Zustand immer schlimmer geworden. Ich habe mich um ihn gekümmert, so gut es ging, doch als ich kaum sechzehn war, war er so schwach, dass er an einer harmlosen Lungenentzündung gestorben ist.“

In der gebotenen Kürze berichtete sie von den Schwierigkeiten, die sie in jungen Jahren hatte meistern müssen – vor allem den Geldnöten, die den Traum von einem Studium in unerreichbare Ferne gerückt und sie gezwungen hatten, als Verkäuferin zu arbeiten. Es erfüllte sie mit großer Genugtuung, dass Baptista sie nicht nur zu verstehen schien, sondern auch Sympathie für sie empfand. Nur so konnte sich Heather erklären, dass ihre künftige Schwiegermutter sie im weiteren Verlauf der Unterhaltung mit großer Selbstverständlichkeit duzte.

Unvermittelt betrat Renato die Veranda und platzte in das Gespräch. Als Heather ihn vor vier Wochen zum Flugplatz gebracht hatte, waren ihm die Folgen des Unfalls noch deutlich anzusehen gewesen. Vielleicht erschrak sie deshalb, als sie den kräftigen, sonnengebräunten Mann sah, der entschlossener und verwegener wirkte als je zuvor.

Wozu in erheblichem Maße seine legere Kleidung beitrug. Statt eines Maßanzugs trug er Jeans und ein ärmelloses weißes T-Shirt, und sein Haar war zerzaust. Er schien körperlich gearbeitet zu haben, denn auf seiner Stirn glänzten feine Schweißperlen. Doch selbst sein zwangloses Äußeres tat der natürlichen Autorität, die er ausstrahlte, nicht den geringsten Abbruch.

Umso erstaunter war Heather, wie respektvoll Renato seine Mutter begrüßte, bevor er zu ihr kam und ihr die Hand auf die Schulter legte. „Da ist ja meine Lebensretterin“, sagte er lächelnd, beugte sich herunter und küsste ihre Wange. „Herzlich willkommen im Kreis der Familie.“

Noch ehe Heather etwas erwidern konnte, setzte sich Renato und schenkte sich ein Glas Wein ein. Dann lehnte er sich entspannt zurück und verfolgte das Gespräch der beiden Frauen, ohne Heather aus den Augen zu lassen.

„Wirst du eigentlich schnell seekrank?“, fragte er unvermittelt und hob die Augenbrauen.

„Bisher hatte ich noch nie Gelegenheit, es auszuprobieren“, erwiderte Heather verunsichert.

„Dann wird es höchste Zeit. Ich habe Lorenzo angeboten, dass ihr eure Flitterwochen auf meiner Segeljacht verbringen könnt. Und da er morgen nach Stockholm muss, können wir den Tag nutzen und herausfinden, ob du auch seefest bist. Das Mittelmeer kann tückisch sein, und du sollst deine Hochzeitsreise ja genießen und nicht darunter leiden.“

Heather hatte sich in der Hoffnung bereit erklärt, dass Angie sie begleiten würde. Doch die hatte bereits andere Pläne.

„Bernardo will mir die Insel zeigen“, berichtete sie strahlend, als die beiden Freundinnen allein in ihrem Zimmer waren.

„Geht das nicht ein bisschen sehr schnell?“, wandte Heather ein. „Ihr kennt euch doch erst wenige Stunden.“

„Na und?“ Angie teilte ihre Bedenken nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Sie schien mit dem Verlauf der Dinge mehr als zufrieden, und als sie Heather zulächelte und im Bad verschwand, stand ihr die Vorfreude auf den kommenden Tag deutlich ins Gesicht geschrieben.

So musste Heather am nächsten Morgen wohl oder übel ohne ihre Freundin zu Renato ins Auto steigen.

Schon von Weitem war der hohe Mast im Hafen von Mondello zu erkennen, der erahnen ließ, dass es sich bei der Santa Maria nicht um irgendeine Segeljacht handelte. Doch als Renato den Wagen geparkt hatte und sie zu einem strahlend weißen Einmaster führte, glaubte Heather zunächst, er erlaube sich einen Scherz.

„Willkommen an Bord“, sagte er mit deutlichem Stolz in der Stimme und half ihr an Deck einer Luxusjacht von mindestens dreißig Meter Länge.

„Ist das wirklich Ihre Jacht?“, fragte Heather ungläubig.

„Erstens ist sie das, und zweitens finde ich es ziemlich unpassend, dass du deinen Fast-Schwager siezt“, erwiderte Renato bestimmt und gab dem Skipper einige Anweisungen.

Ehe Heather recht begriffen hatte, wie ihr geschah, hatten zwei Matrosen die Leinen losgemacht, und der riesige Segler glitt beinahe lautlos durch die Hafeneinfahrt hinaus auf die offene See.

Vor der Bucht wehte eine kräftige Brise, und sobald die Segel gesetzt waren, legte sich die schwere Jacht leicht auf die Seite und schnitt elegant durch die Wellen.

„Wie fühlst du dich?“, erkundigte sich Renato, der kurz unter Deck gewesen war und sich umgezogen hatte.

„Es geht mir blendend“, erwiderte Heather. Die Schiffsbewegungen machten ihr nicht das Geringste aus, und das traumhafte Wetter trug seinen Teil dazu bei, dass sie die kleine Seereise schon nach wenigen Minuten genoss.

Renato schien es nicht anders zu gehen. An Bord seiner Jacht war er offensichtlich in seinem Element, denn er erinnerte in nichts an den undurchschaubaren und selbstherrlichen Mann, den Heather in London kennengelernt hatte. In den Shorts und dem weißen ärmellosen Hemd wirkte er völlig entspannt und energiegeladen zugleich.

„Komm jetzt mit“, forderte er Heather auf und nahm ihre Hand. „Du willst doch sicherlich wissen, wo du deine Flitterwochen verbringst.“

Er führte sie unter Deck und einen schmalen Korridor entlang, der direkt zur Eignerkabine führte. Der Raum hätte der Luxussuite eines Grandhotels alle Ehre gemacht, und angesichts des Komforts mochte Heather kaum glauben, dass sie sich auf einer Segeljacht befand. Vor allem die Größe des Doppelbettes wollte so gar nicht zu dem Bild passen, das sie sich vom spartanischen Leben auf See gemacht hatte. Umso mehr entsprach es dem, wie sie sich immer den idealen Ort für ihre Hochzeitsnacht vorgestellt hatte.

„Willst du dir nicht einen Badeanzug anziehen?“, fragte Renato und musterte sie mit einem Blick, der Heather befürchten ließ, er könnte Gedanken lesen.

„Ich habe vergessen, einen einzupacken“, erwiderte Heather sichtlich verlegen.

Wortlos ging Renato zu einer Kommode und zog eine Schublade auf, in der Heather eine ganze Sammlung von Badeanzügen erkennen konnte. Wie er in deren Besitz gekommen war, konnte sie sich unschwer vorstellen. Sicherlich stammten sie von Elena, Minetta, Julia und all den anderen jungen Frauen, die er vor ihr in diese Kabine geführt hatte.

„Der müsste dir eigentlich passen“, sagte Renato und hielt ihr einen weinroten Bikini hin.

„Vielleicht sollte ich lieber einen Einteiler anziehen.“ Die Vorstellung, sich dem Blick dieses erfahrenen wie zweifellos unersättlichen Mannes auszusetzen, schien ihr allzu gewagt. „Sonst bekomme ich noch einen Sonnenbrand.“

„Wir können uns ja im Schatten aufhalten“, wandte Renato ein. „Außerdem bin ich gern bereit, dir den Rücken einzucremen.“

Heather musste einsehen, dass ihre Ausrede jämmerlich versagt hatte. Und so zog sie sich unwillig um, nachdem Renato sie allein gelassen hatte. Bevor sie die Kabine verließ, streifte sie jedoch vorsichtshalber den seidenen Morgenmantel über, den sie im Bad gesehen hatte.

Renato saß am Heck des Schiffes unter einem großen Sonnensegel. Als er Heather sah, ging er ihr entgegen und führte sie zu einem kleinen Tisch, auf dem ein Weinkühler und zwei Gläser standen.

„Wo möchtest du gern hinsegeln?“, fragte er lächelnd, nachdem sie angestoßen hatten. „Afrika, Asien, Spanien oder Frankreich“, zählte er mögliche Ziele einer Kreuzfahrt auf, während er in alle vier Himmelsrichtungen zeigte. „Von Sizilien aus ist alles nur einen Katzensprung entfernt.“

„Ist das an einem Tag denn zu schaffen?“

Heather musste sich gefallen lassen, dass Renato über ihre Unkenntnis laut lachte. „Leider nein“, erklärte er ihr schließlich. „Wir werden uns mit einem Turn entlang der Küste begnügen und uns eine einsame Badebucht suchen. Es sei denn, du bist seekrank und möchtest lieber umdrehen.“

„Im Gegenteil“, widersprach Heather bestimmt. „Ich fühle mich pudelwohl.“

„Dann zeige ich dir jetzt, wie man das Schiff steuert.“ Renato stand auf und reichte Heather die Hand.

Am Ruderstand löste er den Skipper ab. Heather stellte sich neben ihn. Es war ein wunderbares Gefühl, im Wind zu stehen und die salzige Luft auf den Lippen zu schmecken.

„Willst du dich nicht in die Sonne legen?“, fragte Renato nach einer Weile. „Aber creme dich erst gründlich ein. Und denk an mein Angebot. Die Sonne hat hier unglaublich viel Kraft, und ich möchte vermeiden, dass du auf deiner Hochzeit mit Sonnenbrand erscheinst.“

Auf dem Vorschiff fand Heather ein Badehandtuch und Sonnenöl. Als sie sich Arme und Beine einrieb, entging ihr nicht, dass Renato sie aufmerksam beobachtete. Plötzlich rief er den Skipper ans Ruder und war mit wenigen Schritten bei ihr. „Dreh dich um“, forderte er sie ohne Umschweife auf.

Heather streckte sich auf dem Bauch aus und legte den Kopf auf die verschränkten Arme. Als Renato ihr das Haar aus dem Nacken strich, schloss sie unwillkürlich die Augen und genoss das wohlige Gefühl, das die Berührung seiner Hände in ihr auslöste, die er mit großer Geschicklichkeit und erstaunlicher Sanftheit über ihren Hals und die Schultern gleiten ließ, bis eine angenehme Wärme ihren ganzen Körper durchfloss. In der Ferne hörte sie Möwengeschrei, und der gleichmäßige Rhythmus, mit dem das schwere Schiff in die Wellen eintauchte, versetzte sie in eine Trance, die sie alles um sich her vergessen ließ.

Urplötzlich schreckte sie hoch, als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. Sie hob den Kopf und blickte zu Renato, dem es offensichtlich genauso ging. Er wirkte wie entrückt, und erst Heathers unvermittelte Bewegung schien ihn in die Wirklichkeit zurückgebracht zu haben.

„Ich muss wieder ans Ruder“, sagte er mit schwacher Stimme, bevor er sich aufrichtete und zurück zum Heck ging.

Heather streckte sich wieder auf dem Badehandtuch aus, doch es dauerte eine ganze Weile, bis sich ihr Puls wieder normalisiert hatte.

Sie musste eingeschlafen sein, denn als sie aufsah, fiel ihr Blick auf eine kleine, menschenleere Bucht.

„Wir haben geankert“, erklärte Renato, nachdem sie zu ihm an die Reling gegangen war, wo gerade das Beiboot der Santa Maria zu Wasser gelassen wurde. „Und jetzt lass uns an den Strand fahren.“

Er half ihr die wackelige Leiter hinunter und nahm einen Picknickkorb an Bord. Dann ließ er den Motor an und steuerte direkt auf den breiten Sandstrand zu.

„Wie wär’s, wenn wir vor dem Essen ein bisschen schwimmen?“, schlug er vor, nachdem er das Beiboot am Ufer vertäut hatte.

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er Heathers Hand, und gemeinsam liefen sie über den Strand ins Wasser, das zu dieser Jahreszeit noch überraschend kühl war.

Heather war keine besonders geübte Schwimmerin, und nie zuvor hatte sie sich so weit von der Küste entfernt, doch in Renatos Nähe fühlte sie sich absolut sicher.

So blieben sie eine geschlagene halbe Stunde im Meer, und als sie endlich zurück am Strand waren, ließ sich Heather erschöpft in den Sand fallen. Dennoch kam sie nicht umhin, heimlich Renato zu beobachten, der neben ihr stand und sich abtrocknete.

Plötzlich fiel ihr eine Narbe an der Innenseite seines rechten Unterarms auf. „Stammt die von dem Unfall?“, fragte sie entsetzt, weil schlagartig die Erinnerung an jenen unglückseligen Tag in ihr aufstieg, an dem sie Renato durch ihre Unbesonnenheit in Lebensgefahr gebracht hatte.

Es dauerte einen Moment, bis er begriff, was Heather meinte. „Ach, die Narbe“, sagte er betont gleichgültig. „Die ist bestens verheilt. Außerdem möchte ich sie inzwischen gar nicht mehr missen. Bis zu dem Unfall war ich fest davon überzeugt, dass es keiner Frau mehr gelingt, eine bleibende Erinnerung bei mir zu hinterlassen. Du hast mich eines Besseren belehrt.“

Als wäre für ihn das Thema damit beendet, ging er zum Beiboot, um den Picknickkorb zu holen. Doch die Bitterkeit in seiner Stimme war Heather so wenig entgangen wie seine Formulierung, die darauf hindeutete, dass es durchaus eine Frau in seinem Leben gegeben haben musste, die ihm mehr bedeutet hatte als etwa diejenige, deren Bikini sie jetzt trug.

Nachdem sie eine Weile gemütlich zusammengesessen hatten und sich die Köstlichkeiten hatten schmecken lassen, die ihnen der Schiffskoch eingepackt hatte, fasste sich Heather ein Herz. „Hattest du nie die Absicht zu heiraten?“, fragte sie rundheraus.

Renato sah sie lange an, bevor er sich endlich dazu durchrang, etwas zu erwidern. „Ich gebe zu, dass ich mal kurz davorstand. Damals war ich jung und unerfahren und glaubte noch an das Gute im Menschen. Magdalena Conti hat mir eine Lektion erteilt, die ich so schnell nicht vergessen werde.“

Gespielt gleichgültig zuckte er die Schultern. „Sie hatte es einzig und allein auf mein Geld abgesehen. Und ich war dumm genug, auf sie hereinzufallen. Eines Tages hat sie mir gesagt, dass sie schwanger sei. Natürlich habe ich ihr sofort einen Heiratsantrag gemacht. Was ich über kurz oder lang sowieso vorhatte. Damals hatte ich noch Träume – den von einer glücklichen Familie zum Beispiel. Mittlerweile habe ich mich viel zu sehr an das Leben als Single gewöhnt, um es aufzugeben.“

Sein Blick schweifte hinaus aufs Meer, und Heather war sich sicher, dass er das Ende der Geschichte für sich behalten würde.

„Kurz darauf hat sie einen Filmproduzenten kennengelernt“, fuhr Renato überraschend fort. „Gegen den hatte ich nicht die geringste Chance, denn erstens besaß er mehr Geld als ich, und zweitens führte er ein ungleich aufregenderes Leben. Jedenfalls habe ich sie nie wiedergesehen.“

„Und das Kind?“ Heather hätte sich für ihre unbedachte Frage ohrfeigen können, doch Renato ließ mit keiner Miene erkennen, dass sie das nichts anging.

„Das hatte sie offensichtlich erfunden“, antwortete er traurig. „Wer weiß, vielleicht hat sie es auch …“ Er ersparte es sich und Heather, den grausamen Gedanken auszusprechen. „Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher. Der Frau ist alles zuzutrauen.“

Heather vermied es tunlichst, etwas zu erwidern. Was hätte sie auch Tröstendes sagen können? Renato hatte den Schmerz auch nach Jahren nicht überwunden, und so erklärte sich auch, dass er sie zunächst für eine Mitgiftjägerin gehalten hatte.

„Lorenzo weiß gar nicht, welches Glück er hat, dass er an jemanden wie dich geraten ist“, sagte er unvermittelt, als hätte er instinktiv gespürt, woran Heather dachte.

„Wenn du mir vertraust, warum denn nicht auch anderen …?“

„Die einzige Frau, der ich vertraue, ist meine Mutter“, unterbrach er sie. „Und ich weiß, wovon ich spreche.“ Er schenkte ihnen Wein nach und reichte Heather ihr Glas. „Glaubst du, du kannst bei uns glücklich werden?“, fragte er mit einem gezwungenen Lächeln.

„Ganz bestimmt sogar“, erwiderte Heather aus tiefster Überzeugung. „Manchmal wundere ich mich selbst, wie schnell alles ging, aber Lorenzo gibt mir das Gefühl, zu Hause zu sein.“

„Gab es nie einen anderen Mann in deinem Leben, der dir dieses Gefühl gegeben hat?“, fragte Renato und beobachtete Heather aufmerksam, als warte er gespannt auf ihre Reaktion.

„Doch“, gestand sie rundheraus. Nachdem er so offen zu ihr gewesen war, gab es keinen Grund, ihm zu verschweigen, dass ihr sein Schmerz aus eigener Erfahrung bekannt war. „Und es ist noch gar nicht so lange her. Er hieß Peter, und wie Magdalena und du wollten wir heiraten. Eine Woche vor der Hochzeit hat der Herr es sich anders überlegt. Ohne Lorenzo hätte ich den Schock sicherlich bis heute noch nicht verarbeitet.“

Erst durch Renatos fragenden Blick merkte sie, dass sie sich unklar ausgedrückt hatte. „Du darfst nicht denken, dass ich Lorenzo nur heirate, um Peter vergessen zu können. Inzwischen bin ich fest davon überzeugt, dass es das Schicksal gut mit mir gemeint hat. Lorenzo ist so verständnisvoll und fürsorglich. Einen besseren Ehemann kann ich mir gar nicht wünschen.“

Renatos Gesichtsausdruck wurde plötzlich ungeheuer nachdenklich. Er sah Heather an, als hätten ihn ihre Worte tief bewegt. „Ich hoffe, du weißt, dass du immer auf mich zählen kannst, falls es mal Probleme geben sollte“, sagte er mit großem Ernst.

Es klang, als triebe ihn eine dunkle Vorahnung, und Heather hatte das dumpfe Gefühl, dass er ihr etwas verschwieg. Doch sein düsterer Blick hielt sie davon ab, ihn nach den Gründen für seine rätselhafte Prophezeiung zu fragen.

Als Renato den Arm ausstreckte und ihre Hand nahm, stockte ihr der Atem. In seinen Augen lag eine eigentümliche Schwermut, die sie diesem kräftigen, stolzen und selbstbewussten Mann nicht zugetraut hätte.

Wie gebannt saßen sie sich gegenüber und sahen sich an, bis Renato unvermittelt ihre Hand losließ und sich aufrichtete. „Es wird höchste Zeit, zur Jacht zurückkehren“, teilte er ihr sachlich mit, und seiner Stimme war nicht mehr die geringste Unsicherheit anzuhören.

4. KAPITEL

Nachdem sie schweigend ihre Sachen zusammengepackt und im Beiboot verstaut hatten, nahm Heather auf dem kleinen Sonnendeck am Heck Platz, während Renato sich ans Steuer setzte und den Motor startete.

Dass es mit seiner Ausgeglichenheit nicht so weit her war, wie er Heather glauben machen wollte, wurde ihr klar, als er den Gashebel nach vorn drückte, sobald sie das tiefe Wasser erreicht hatten. Im selben Moment wurde das kleine Boot nach vorn gepeitscht.

Heather richtete sich auf und beobachtete fasziniert die Wellen, die sich hinter ihnen in weißen Schaumkronen brachen. Längst hatten sie die Santa Maria hinter sich gelassen, und Renato schien weder das Tempo drosseln noch umkehren zu wollen.

Als er sich nach ihr umsah, meinte Heather, in das Gesicht eines kleinen Jungen zu blicken. „Gefällt es dir?“ Über den ohrenbetäubenden Lärm hinweg konnte sie ihn nur mit Mühe verstehen, und zur Erwiderung nickte sie.

Es war ein wunderbares Gefühl, den Fahrtwind im Gesicht zu spüren, der alle Sorgen vertrieb, und je schneller die Fahrt wurde, desto mehr konnte sie die Geschwindigkeit körperlich spüren.

Erst ein erneuter Blick zurück machte ihr klar, dass sie förmlich über das Wasser flogen, denn die große Jacht war schon außer Sichtweite. Die Vorstellung, allein auf dem endlosen Meer zu sein und jede Brücke hinter sich abgebrochen zu haben, löste in ihr ein bislang unbekanntes Freiheitsgefühl aus. Plötzlich meinte sie zu wissen, was sie in ihrem bisherigen Leben vermisst hatte.

Euphorisch legte sie den Kopf zurück und streckte die Arme zum Himmel empor. Alle Zwänge und Hemmungen fielen von ihr ab, und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, mit sich und der Welt wirklich im Einklang zu sein.

Plötzlich erschütterte eine große Welle das Boot, das sich bedrohlich auf die Seite legte. Ehe Heather sich’s versah, hatte sie das Gleichgewicht verloren. Sie streckte den Arm aus, um die Bordwand zu fassen zu bekommen, doch ihr Griff ging ins Leere.

Haltlos flog sie durch die Luft, bis sie hart auf der Wasseroberfläche aufschlug. Augenblicklich wurde ihr schwarz vor Augen. Doch sobald ihr das Salzwasser in den Mund drang, wurde sie sich schlagartig ihrer Situation bewusst. Renato hatte offensichtlich gar nicht bemerkt, dass sie über Bord gegangen war, denn das kleine Boot entfernte sich in rasendem Tempo.

Während sie sich benommen bemühte, den Kopf über Wasser zu halten, wurde sie von einer lähmenden Verzweiflung ergriffen. Ihr Schicksal war besiegelt, denn selbst wenn Renato umkehrte, würde er sie in der unendlichen Einöde des Meeres unmöglich finden.

Die Gewissheit, jämmerlich ertrinken zu müssen, raubte ihr die letzten Kräfte, und eine unsichtbare Hand zog sie unaufhaltsam in die Tiefe. Ein letztes Mal atmete sie ein, bevor das Wasser über ihr zusammenschlug und sie restlos zu verschlingen drohte.

Ohne dass sie ein Motorengeräusch gehört oder ein Boot gesehen hätte, umfassten sie plötzlich zwei starke Arme und brachten sie an die Wasseroberfläche zurück. Heather schnappte nach Luft und umklammerte Renatos Hals wie einen Rettungsring.

So behutsam wie möglich zog er sie an Bord und legte sie auf das Sonnendeck. „Was ist passiert?“, fragte er, und seine Stimme verriet, dass er nicht weniger Angst ausgestanden hatte als Heather.

„Ich bin … es ging alles so schnell“, brachte sie kraftlos hervor.

„Es ist ja noch mal gut gegangen“, sagte Renato tröstend und beugte sich über sie.

Ohne zu wissen, wie ihr geschah, richtete Heather sich auf, umarmte ihn und schmiegte sich fest an ihn. Erst das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit machte ihr klar, wie groß die Gefahr tatsächlich gewesen war, in der sie sich befunden hatte. „Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass du mich nicht rechtzeitig …“

„Ich habe doch gesagt, dass du auf mich zählen kannst“, unterbrach er sie sanft und strich ihr zärtlich durchs Haar.

Auf der Rückfahrt zur Jacht lenkte er das Boot vorsichtig durch die Wellen und drehte sich fortwährend nach Heather um, als fürchtete er, dass sie erneut über Bord gehen könnte.

Doch Heather war viel zu benommen, um sich auch nur zu bewegen. Mit geschlossenen Augen lag sie da und empfand nur noch eine unendliche Müdigkeit.

Schemenhaft nahm sie noch wahr, dass Renato sie an Deck der Santa Maria trug und in die Eignerkabine brachte. Und noch bevor er sie auf das breite Bett gelegt hatte, verlor sie das Bewusstsein.

Als Heather wieder zu sich kam, blickte sie in Angies besorgtes Gesicht.

„Was machst du bloß für Sachen?“, schalt ihre Freundin sie scherzhaft. „Renato hat Bernardo über sein Handy angerufen und ihm gesagt, dass er mich sofort in den Hafen bringen soll“, erklärte sie den Grund für ihre überraschende Anwesenheit. „Dass du mit unserem Ausflug nicht einverstanden warst, wusste ich ja. Aber musst du gleich zu solch drastischen Maßnahmen greifen?“

„Hoffentlich bist du trotzdem auf deine Kosten gekommen“, erwiderte Heather matt.

Angies Lächeln verriet nicht viel mehr, als dass sie die Stunden mit Bernardo zumindest nicht bereute. „Du bist die Erste, der ich es erzählen würde.“ Ihre Antwort war nicht weniger mehrdeutig. „Jetzt zieh dich an, damit ich dich zum Auto bringen kann.“

„Ich ziehe mir nur schnell den Morgenmantel über“, sagte Heather und schlug die Decke zurück.

„Das halte ich für keine gute Idee“, widersprach Angie. „Es sei denn, du willst sämtliche Männer im Hafen mit deinen weiblichen Reizen erfreuen.“

Jetzt erst wurde Heather sich bewusst, dass sie nackt war. Krampfhaft versuchte sie sich zu erinnern, ob sie sich den Bikini selbst ausgezogen hatte. Doch ihre Erinnerung reichte nicht weiter als bis zu jener Sekunde, in der Renato die Kabinentür geöffnet hatte.

„Hast du mir die nassen Sachen …?“

Autor

Catherine Spencer
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