Romana Sommerliebe Band 1

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WIE ROSENBLÄTTER IM WIND von ENGSTRÖM, PIA
Milla Rosenblad hat ein Geheimnis: Die Liebesnacht mit Mårten ist nicht ohne Folgen geblieben. Jetzt soll ausgerechnet er die Musik für die königliche Hochzeit komponieren, auf der ihre kleine Tochter Blumen streuen wird! Millas größtes Geheimnis ist in Gefahr …

MITTSOMMERTRAUM von ENGSTRÖM, PIA
Noelles größter Traum wird wahr, als sie an der Hochzeitstorte der Prinzessin mitarbeiten darf! Bis sie auf Schloss Drottingholm einen verhängnisvollen Fehler macht: In einem geliehenen Festkleid läuft sie dem attraktiven Graf Pilkvist in die Arme läuft …

DER KUSS DER WILDEN ROSE von ENGSTRÖM, PIA
Ein Schlossgarten für die Prinzessin: Doch leider braucht Gärtnerin Lotte Rosenblad ausgerechnet Lorenz Bengtsson für dieses Projekt! Er war ihre große Liebe, die mit einer Enttäuschung endete. Aber warum sehnt sie sich dann immer noch so sehr nach ihm?


  • Erscheinungstag 31.07.2015
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783733742010
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Damals

Leuchtend hob sich die zartgelbe Fassade von Kronborg Slott, dem Wohnsitz der schwedischen Königsfamilie, gegen den makellos blauen Himmel ab. An den dreigeschossigen Mittelteil schlossen sich zwei niedrigere Seitenflügel an, deren äußere Enden hohe Dachkuppeln krönten, die im Sonnenlicht blassgrün glänzten. Auf der großen Doppeltreppe vor dem Schloss standen ein Mann und eine Frau in Festkleidung, beide etwa Ende zwanzig. Ernst blickte sie den attraktiven Mann an ihrer Seite an, der mit dem streng zurückgekämmten Haar und in seinem schwarzen Smoking sehr beeindruckend aussah.

Immer wenn die vierzehnjährige Milla Rosenblad diese Fotografie ihrer Eltern vom Hochzeitstag des schwedischen Königspaars vor vielen Jahren anschaute, fragte sie sich, wie man sich freiwillig auf diesen ganzen Zirkus einlassen konnte. Sie jedenfalls wollte damit nichts zu tun haben.

Niemals!

Rasch schob sie das Foto zurück in ihren Rucksack. Sie würde es später noch brauchen, aber jetzt musste sie ihre beiden jüngeren Schwestern – Noelle, die Mittlere, und Lotte, das Nesthäkchen der Familie – antreiben, etwas schneller zu rudern.

Das dunkelblaue Wasser glitzerte im Sonnenlicht wie ein Meer aus Edelsteinen. Dahinter erstreckte sich das Forsjö-Tal mit seinen endlosen dunkelgrünen Wäldern, in denen Rehe und Elche, aber auch Wölfe und Luchse lebten.

Es war noch sehr früh am Tag. Milla hatte ihre Schwestern bereits im Morgengrauen aus den Betten gescheucht. Die beiden wussten noch nicht, worum es ging. Aber heute, an Millas Geburtstag, hielten sie ihre neugierigen Fragen erst einmal zurück. Doch als sie schließlich am anderen Ufer des Sees angelangten und zu einer Stelle im Wald gingen, wo sie gestern bereits am Fuße einer alte Eiche ein Loch ausgehoben und eine kleine Metallkiste bereitgestellt hatte, war es mit der Zurückhaltung vorbei.

„Ich schlage vor“, erklärte Milla ihren Schwestern, „dass wir alle an unserem vierzehnten Geburtstag hier einen feierlichen Schwur ablegen und als Symbol dafür einen Gegenstand in diese Kiste legen, der für das steht, was wir in unserem Leben auf keinen Fall wollen. Und ich fange hiermit an“, erklärte sie feierlich.

Sie legte die alte Fotografie ihrer Eltern hinein und schwor sich, dass sie sich niemals mit dem Königshof einlassen würde. Das war in ihren Augen eine total veraltete und spießige Institution. Damit wollte sie nichts zu tun haben. Sie träumte davon, eines Tages aus Schweden wegzugehen, irgendwohin, wo man wirklich etwas erleben konnte.

Dass ihr Leben in vollkommen anderen Bahnen verlaufen sollte, ahnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht …

1. KAPITEL

Vierzehn Jahre später.

Das Sonnenlicht zauberte goldene Glanzlichter auf die spiegelglatte Oberfläche des Mälarsees. Reglos wie eine Marmorstatue stand Mårten Nylund am Bug des Fährdampfers, nur sein dunkler Mantel flatterte leicht im Fahrtwind.

Es war ein herrlicher Spätnachmittag, wie geschaffen für einen Ausflug ins Grüne. Am wolkenlosen Himmel zogen Möwen langsam ihre Kreise, ihre Schreie vermischten sich mit dem Lachen der Kinder, die ausgelassen zwischen den Sitzbänken herumtollten.

Die Temperaturen waren für Mitte April ungewöhnlich mild. Es schien, als wäre die Natur rund um Stockholm nach einem langen, klirrend kalten Winter endlich aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Bunte Frühlingsblumen säumten die Ufer der zahllosen Inseln des Sees, und die ersten zarten Triebe der Bäume schlugen aus. Sanftes Grün und tiefes Blau, so weit das Auge reichte.

Doch Mårtens Miene blieb ernst, beinahe ausdruckslos. Einen Moment wünschte er sich, er könnte die unberührte Schönheit seiner Umgebung einfach nur genießen, die Atmosphäre der Unbeschwertheit in sich aufnehmen und die Erinnerungen hinter sich lassen. Aber die Gefühle, die ihn antrieben, waren zu stark, um sie einfach abzuschütteln.

Wut. Hass.

Was bildete sich Milla eigentlich ein? Glaubte sie wirklich, sie könnte nach all den Jahren plötzlich auftauchen und so tun, als sei alles in bester Ordnung? Erwartete sie ernsthaft, dass er so tat, als wäre nichts geschehen? Ohne Frage verdiente sie für ihr unverschämtes Verhalten eine Lektion. Aber war es seine Aufgabe, ihr diese zu erteilen?

Was hast du überhaupt hier zu suchen? Warum tust du dir das an? Fahr wieder nach Hause und versuche zu vergessen, dass du eine junge Frau namens Milla Rosenblad jemals kanntest.

Es war nicht das erste Mal seit seiner Abreise, dass er sich diese Fragen stellte. Er befand sich auf dem Weg nach Kronborg Slott, der Residenz der schwedischen Königsfamilie, die auf der Insel Lovö nahe Stockholm im See Mälaren lag. Hier würden am 19. Juni, also in gut zwei Monaten, die Feierlichkeiten anlässlich der Hochzeit der Kronprinzessin mit ihrem ehemaligen Tanzlehrer und Inhaber einiger Tanzstudios mit Niederlassungen in Stockholm und Umgebung stattfinden. Doch damit hatte Mårten nichts zu tun, er folgte lediglich der Einladung zu einer Spendengala.

Ausgerechnet er, der sich bereits vor zwei Jahren aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte.

Das Ganze war, wenn man es genau betrachtete, vollkommen absurd. Abgesehen vom alten Thorbjörn, der schon seit einer gefühlten Ewigkeit für ihn arbeitete und sich im Laufe der Zeit zu einem väterlichen Freund entwickelt hatte, vermied er den Kontakt zu anderen Menschen völlig. Schon jetzt wünschte er sich zurück zu der alten Mühle, ein paar Kilometer außerhalb von Stockholm, die er damals, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, gekauft und aufwendig restauriert hatte.

Nein, er wollte nicht hier sein, ganz gewiss nicht. Die Einladung war von allerhöchster Stelle gekommen, und trotzdem hätte er sie normalerweise einfach ignoriert. Den Ausschlag für seine Entscheidung, ihr schließlich dennoch Folge zu leisten, hatte auch nicht die Tatsache gegeben, dass es sich um die Spendengala einer gemeinnützigen Organisation handelte, für die er sich bereits seit vielen Jahren engagierte. Jedenfalls nicht ausschließlich. Es lag vor allem an dem Namen, der unter dem Einladungsschreiben stand, das ihm vor etwas mehr als zwei Wochen ins Haus geflattert war.

Ein Name, der einige lang verdrängte, unliebsame Erinnerungen in ihm hervorgerufen hatte.

Milla Rosenblad.

Wie konnte sie es wagen, sich nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, an ihn zu wenden? Hinzu kam, dass alle Welt wusste, dass er nichts mehr mit dem Musikgeschäft zu tun hatte! Die Zeiten, in denen er eine Person des öffentlichen Lebens gewesen war, lagen weit hinter ihm – auch wenn einige Vertreter der Presse das noch immer nicht zu begreifen schienen.

Er würde Milla gewiss nicht den Gefallen tun und den blendend gelaunten Entertainer spielen. Dieser Teil von ihm war vor fast auf den Tag genau zweieinhalb Jahren gestorben. Damals, als …

Er schüttelte den Kopf, wie um die Geister der Vergangenheit zu vertreiben, die ständig in seiner Nähe lauerten. Sie warteten nur auf einen Augenblick der Schwäche, um über ihn herzufallen. Doch dies war weder der richtige Ort noch der passende Zeitpunkt, und so schob er die Erinnerungen so weit wie möglich fort – wohl wissend, dass er ihnen immer nur für kurze Zeit entkommen konnte.

Stattdessen schürte er seine Wut auf Milla, die ihm auf gewisse Weise sogar half, denn sie lenkte ihn von den Geschehnissen ab, die sein Leben nun schon seit geraumer Zeit überschatteten. Wieder und wieder tauchten die Bilder vor seinem geistigen Auge auf, die Bilder von dem Augenblick, als …

Nein, nicht schon wieder! Angespannt fuhr er sich mit der Hand durch sein dichtes schwarzbraunes Haar und zwang sich, wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Er musste endlich damit aufhören, ständig über die Vergangenheit nachzugrübeln. Was passiert war, konnte nichts und niemand auf der Welt mehr ändern. Besser, er akzeptierte die Dinge so, wie sie nun einmal lagen.

Überrascht stellte er fest, dass der Dampfer die Insel Lovö fast erreicht hatte. An ihrem Nordostufer hob sich die hellgelbe Barockfassade von Schloss Kronborg prächtig gegen den strahlend blauen Frühlingshimmel ab. Die lange Front des dreistöckigen Hauptgebäudes mit ihren zahllosen Fenstern, Erkern und Torbögen spiegelte sich im Wasser des Sees. Oben auf dem Dach, dessen Schindeln grünlich im Sonnenlicht schimmerten, flatterte an einem Fahnenmast die schwedische Nationalflagge – das Zeichen dafür, dass die königliche Familie anwesend war.

Wie ein Schloss aus den Geschichten seiner Kindheit wirkte es auf Mårten. Es war einmal vor langer, langer Zeit …

Doch die Tage, in denen sein Leben an ein Märchen erinnert hatte, waren längst vorüber. Besser, er fand sich endlich damit ab.

Er würde Milla sagen, was er von ihrer Einladung hielt, und anschließend auf schnellstem Wege wieder nach Hause zurückkehren.

Als das Schiff am Pier anlegte, atmete er noch einmal tief durch und straffte die Schultern.

Dann ging er von Bord.

Zur selben Zeit stand Milla Rosenblad inmitten prachtvoll blühender Blumenrabatten vor Kina Slott, dem chinesischen Pavillon inmitten der idyllischen Parkanlage von Kronborg Slott, und wartete auf Mårten. Obwohl sie nun schon seit mehr als vier Monaten am schwedischen Königshof arbeitete, geriet sie beim Anblick des kleinen, im asiatischen Stil errichteten Lustschlösschens noch immer ins Schwärmen.

Die Fassade erstrahlte in einem leuchtenden Rosarot, goldene Ornamente umfassten die hohen Fenster und Türme, während das geschwungene Dach, das in seiner Form an einen asiatischen Tempel erinnerte, in einem zarten Grün schimmerte. Welches kleine Mädchen träumte nicht von einem Märchenschloss und dem dazugehörigen Märchenprinzen?

Und sie lebten glücklich und zufrieden bis in alle Ewigkeit

Milla schüttelte den Kopf. Sie war jetzt achtundzwanzig und damit längst aus dem Alter heraus, in dem man an solche Dinge glaubte. Sie wartete nicht mehr auf den Ritter in glänzender Rüstung, der mit seinem weißen Pferd kam, um sie zu sich in seine perfekte Welt zu holen, in der weder Sorgen noch enttäuschte Hoffnungen oder zerschlagene Träume existierten. Das Leben hatte sie gelehrt, dass ein solcher Ort nicht existierte – wenigstens nicht in der Welt, die sie kannte.

Reiß dich zusammen, rief sie sich selbst zur Ordnung. Worüber beschwerst du dich eigentlich?

Im Grunde gab es für sie wirklich kaum Anlass, sich zu beklagen. Leider war sie gezwungen gewesen, ihren großen Traum aufzugeben und ihre Stelle als Sängerin an der Stockholmer Oper aufzugeben, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Doch Millas kleine Eventagentur, die sie nach Jannas Geburt gegründet hatte, lief inzwischen recht gut. Damals hatte ihr, abgesehen von ihren beiden Schwestern, niemand zugetraut, dass sie es allein schaffen würde – nicht einmal ihre eigenen Eltern. Zwar konnte sie sich von den Einnahmen auch heute noch keine großen Sprünge erlauben, aber es reichte, um sie und Janna zu ernähren.

Bei dem Gedanken an ihre Tochter huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Janna war ihr Ein und Alles. Jede Minute, die sie von der Vierjährigen getrennt war, kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Es fiel ihr unendlich schwer, die Kleine immer wieder in die Obhut eines Kindermädchens geben zu müssen. Doch alles, was sie tat, machte sie nur für Janna. Zugleich fürchtete sie, einen großen Fehler zu begehen. Das Risiko, das am Ende alles aufflog und sie nicht nur ihren Job, sondern im schlimmsten Fall auch Janna verlor, war nicht gänzlich wegzuleugnen. Und dennoch! Wenn sie es jetzt nicht schaffte, würde sie ihren großen Traum niemals verwirklichen.

Schon seit Langem war es ihr großes Ziel, Schweden endlich den Rücken kehren und woanders noch einmal ganz neu anfangen zu können. Milla benutzte stets zwei Worte, um ihr Heimatland zu beschreiben: konservativ und altmodisch. Das beste Beispiel hierfür stellten ihre eigenen Eltern dar. Sie hatten sich einfach nicht vorstellen können, dass Milla als alleinerziehende Mutter einer kleinen Tochter in der Lage sein würde, ihr Leben zu meistern, und deshalb zu einer sehr drastischen Maßnahme gegriffen.

Doch darüber wollte sie jetzt lieber nicht nachdenken.

Allerdings war genau das einer der Gründe, warum sie Schweden unbedingt verlassen musste. Außerdem träumte sie davon, Janna die beste Ausbildung auf einer englischen Privatschule zu ermöglichen. Doch wenn sie im Ausland nicht wieder bei Null beginnen wollte, brauchte sie vor allem eines: positive Publicity für ihre kleine Eventagentur und ein solides finanzielles Polster, mit dem sie in der Lage war, mögliche Anfangsschwierigkeiten aufzufangen. Jetzt stand sie ganz dicht davor, das alles auf einen Schlag zu erreichen. Das Einzige, was sie dafür tun musste, war das Unmögliche möglich zu machen. Und um dieses Ziel zu erreichen, war sie bereit, einiges an Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen – sogar ein Treffen mit Mårten Nylund.

Drinnen, im gelben Saal des Chinaschlösschens, fand eine Spendengala statt, zu der die Kronprinzessin, die zugleich auch Herzogin von Västergötland war, geladen hatte. Und Milla zeichnete sich verantwortlich dafür, dass auch Mårten auf der Gästeliste stand.

Mårten.

Der Gedanke an ihn löste die unterschiedlichsten Gefühle in ihr aus: Enttäuschung darüber, wie es damals zwischen ihnen zu Ende gegangen war, und zu ihrer eigenen Überraschung auch einen Anflug von Sehnsucht. Die Zeit mit ihm gehörte zur glücklichsten ihres Lebens, doch die Erinnerungen machten sie stets auch wehmütig und melancholisch. Daher vermied sie es, an ihn zu denken.

Um sich abzulenken, warf Milla einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war bereits kurz nach fünf. Wo Mårten bloß blieb? Sie wartete nun schon seit über einer halben Stunde auf ihn. Er würde doch hoffentlich kommen?

Falls nicht, steckte sie in ernsthaften Schwierigkeiten.

„Mensch, hier hast du dich versteckt!“ Eine dunkelhaarige junge Frau in tadelloser Kellnerlivree war hinter ihr durch die Tür getreten. Noelle, ihre ein Jahr jüngere Schwester, arbeitete zurzeit ebenfalls bei Hofe – im Gegensatz zu Milla jedoch in der Küche. „Ich habe mitbekommen, dass ein paar Leute nach dir gefragt haben. Du solltest besser wieder reinkommen.“

„Danke.“ Mit einem Seufzen wandte sie sich um und eilte die geschwungene Doppeltreppe zur Eingangstür des Pavillons hinauf. Noelle hatte recht, sie konnte wirklich nicht länger warten. Der musikalische Ablauf des heutigen Abends lag in ihrer Verantwortung, und so wichtig die Angelegenheit mit Mårten sein mochte, sie durfte auch ihre übrigen Aufgaben nicht vernachlässigen.

Die Spendengala war bereits in vollem Gange und versprach ein echter Erfolg zu werden. Alles, was in der schwedischen Society Rang und Namen hatte, stand auf der Gästeliste, und man zeigte sich großzügig. Es herrschte eine ausgelassene, ungezwungene Atmosphäre, wie man sie bei Veranstaltungen dieser Art nur selten antraf. Musik erfüllte die Luft. Die Besucher tanzten, lachten und hielten gepflegten Small Talk. Ein Buffet mit feinsten Delikatessen stand bereit, livrierte Kellner eilten mit voll beladenen Tabletts umher und reichten Champagner und andere Erfrischungen.

Doch Milla war nicht hier, um sich zu amüsieren. Sie hatte einen Job zu erledigen. Glücklicherweise schien bis jetzt alles nach Plan abzulaufen. Die von ihr engagierten Musiker leisteten hervorragende Arbeit, und das Duo, bestehend aus einer Cellistin und einem Pianisten, das später am Abend auftreten sollte, wurde von der Kritik in den höchsten Tönen gelobt.

Doch die wahre Herausforderung lag noch vor ihr und bestand darin, Mårten zu überzeugen, mit ihr zusammenzuarbeiten.

Milla atmete tief durch, ordnete ihr langes honigblondes Haar und strich den Rock ihres Etuikleids aus schimmernder grüner Seide glatt. Dann ließ sie ihren Blick suchend durch den Saal schweifen, der mit seinen kunstvollen Lackarbeiten und Chinoiserien ein wahres Prunkstück der Innenarchitektur im Rokokostil darstellte.

Eine brünette Frau, die ein traumhaftes Kleid aus saphirblauem Taft trug, trat von der Seite her zu ihr. Es war Frederika Norling, eine gute Freundin der Kronprinzessin von Schweden. Frederika und ihr Verlobter würden bei der Hochzeit im Juni die Trauzeugen sein.

„Wer ist dieser Mann?“, fragte Frederika. „Er kommt mir bekannt vor, aber ich kann sein Gesicht nicht zuordnen.“

Milla blickte in die Richtung, in die die junge Frau deutete. Obwohl sich knapp einhundert geladene Gäste im gelben Saal des Chinaschlösschens aufhielten, wusste sie auf Anhieb, wen Frederika meinte. Nur ein Mann kam dafür infrage: groß, dunkel und athletisch, besaß er eine überwältigende Ausstrahlung, die jeden anderen in seiner Nähe förmlich verblassen ließ. Und die Wirkung, die er auf Milla ausübte, erwies sich auch nach all den Jahren noch als verheerend.

Es war Mårten – der Mann, auf den sie gewartet hatte.

Sie räusperte sich angestrengt, denn ihre Kehle fühlte sich mit einem Mal wie ausgetrocknet an. „Das ist Mårten Nylund“, erklärte sie und versuchte, ihre Stimme möglichst unberührt klingen zu lassen, was jedoch gründlich misslang. „Sie kennen ihn sicher. Er war ein international gefeierter Pianist und Komponist, bevor er sich vor ein paar Jahren überraschend aus dem Musikgeschäft zurückzog.“

„Nylund?“ Die attraktive Brünette neigte nachdenklich den Kopf, dann nickte sie. „Ja, ich erinnere mich an den Namen. War er nicht gerade erst vor Kurzem wegen einer Affäre mit einem englischen Mannequin in den Schlagzeilen?“

„Davon ist mir nichts bekannt“, schwindelte Milla. Natürlich wusste sie davon, schließlich hatte sie in den vergangenen Jahren jeden einzelnen Artikel, in dem Mårtens Name auch nur erwähnt worden war, geradezu verschlungen. Mehr noch, sie bewahrte die Zeitungsausschnitte alle in einer kleinen, mit hübschen Schnitzereien verzierten Kiste auf, versteckt unter ihrem Bett. Nicht für sich selbst, sondern für Janna. Die kleine süße Janna, die eines Tages anfangen würde, Fragen zu stellen, und dann …

„Was er hier wohl will?“, riss Frederika sie aus ihren Gedanken.

„Er wurde auf persönlichen Wunsch der Herzogin von Västergötland eingeladen“, erklärte Milla und zwang sich zu einem Lächeln. „Sie entschuldigen mich?“

Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge der Feiernden, ohne Mårten dabei aus den Augen zu lassen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, ihn nach all den Jahren wiederzusehen. Sein Anblick erschien ihr fremd und vertraut zugleich. Und zu ihrem Entsetzen hatte er seit ihrer letzten Begegnung nichts von seiner Macht über sie verloren.

Wie gut er aussah! Irgendwie gelang es ihm, in dem dunklen Abendanzug elegant und gleichermaßen zwanglos zu wirken. Und obwohl Konventionen ihn offenbar noch immer nicht besonders interessierten – sein volles schwarzbraunes Haar, das im sanften Licht der kristallenen Kronleuchter geheimnisvoll schimmerte, war ein deutliches Stück länger als üblich, und er trug einen gepflegten Dreitagebart –, brachte er es dennoch irgendwie fertig, all die anderen perfekt frisierten und rasierten Männer in seiner Umgebung in den Schatten zu stellen. So war es schon immer gewesen: Wenn Mårten auftauchte, stand er wie von selbst im Mittelpunkt, ganz ohne es zu wollen.

Die düstere Aura aber, die ihn umgab, war neu. Allerdings tat sie seiner Attraktivität keinen Abbruch – ganz im Gegenteil!

Die Aufmerksamkeit der meisten weiblichen Gäste, die sich in seiner Nähe aufhielten, richtete sich augenblicklich allein auf ihn, was er offensichtlich nicht einmal bemerkte. Wahrscheinlich empfand er es als völlig normal, von schönen Frauen umschwärmt zu werden. Was Milla viel mehr wunderte war, dass dieser Gedanke ihr einen eifersüchtigen Stich versetzte.

Lass den Unsinn, ermahnte sie sich selbst. Mårten ist tabu für dich. Was ihn und dich verbindet, ist eine rein geschäftliche Angelegenheit. Der Rest gehört der Vergangenheit an.

Sie holte noch einmal tief Luft und trat auf ihn zu. Als er sie direkt anblickte, stockte ihr der Atem. Sie hatte vollkommen vergessen, welch unglaubliche Wirkung seine Augen, dunkelblau und tief wie das Meer, auf sie ausübten. Einen Moment musterten sie sie fragend, dann spiegelte sich plötzlich Erkennen in ihnen wieder, und seine Miene verfinsterte sich schlagartig.

Hej, Mårten. Ich hoffe, du hattest eine angenehme Anreise?“, sagte sie, um das unbehagliche Schweigen, das aufgekommen war, zu überbrücken. Die Luft zwischen ihnen knisterte förmlich vor Spannung, wie bei einem Gewitter, unmittelbar bevor sich die aufgestaute Energie in einem Blitz entlud. Und Milla spürte deutlich, dass es auch zwischen ihnen, wenn sie sich nicht sehr geschickt anstellte, kaum ohne Blitz und Donner ablaufen würde.

„Was soll das alles?“, fragte er kühl. Nur ein leichtes Beben in seiner Stimme verriet seinen inneren Aufruhr. „Wie kommst du dazu, mich zu dieser Gala einzuladen?“

Milla atmete tief durch und zwang sich zu einem Lächeln. „Nein, nicht ich habe dich eingeladen, sondern die Kronprinzessin. Sie lässt dir ausrichten, dass sie eine große Verehrerin deiner Kunst ist und dich gern persönlich kennenlernen würde.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust. Seine ganze Haltung drückte Ablehnung aus. „Lassen wir den Small Talk. Du allein trägst die Verantwortung dafür, dass ich heute hier bin. Also, was willst du nun von mir?“

Milla durfte sich von ihm nicht provozieren lassen, wenn sie es schaffen wollte, ihr Ziel zu erreichen. Und sie durfte nicht versagen. Ihre ganze Zukunft hing davon ab, dass es ihr gelang, Mårten zu überzeugen.

Ihre eigene Zukunft, aber vor allem auch die ihrer Tochter.

Wenn sie daran dachte, dass ihre derzeitige Position bei Hofe im Grunde lediglich auf einem Irrtum beruhte, den sie absichtlich nicht aufgeklärt hatte, spürte Milla eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen.

Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich darüber Gedanken zu machen. Sie musste sich auf ihre Aufgabe konzentrieren.

„Du hast recht mit deiner Vermutung, dass ich dich um etwas bitten möchte“, erwiderte sie behutsam. „Ich weiß, dass du vermutlich keine Veranlassung dazu siehst, mir einen Gefallen zu tun, aber was ich dir anzubieten habe, dürfte auch für dich von Interesse sein.“

Sein Blick blieb eisig. „Komm zum Punkt, ich habe nicht ewig Zeit.“

„Es geht um die bevorstehende Heirat der Prinzessin mit ihrem Verlobten“, erklärte Milla. „Ich bin für die musikalische Organisation der Feierlichkeiten verantwortlich.“

„Ach, wirklich? Früher warst du gegen alles, was mit dem Königshaus zu tun hatte. Altmodisch, spießig und bieder lauteten deine exakten Worte, wenn ich mich recht erinnere.“

„Das ist lange her“, entgegnete Milla ausweichend, denn sie wusste sehr wohl, dass Mårten recht hatte. Noch vor Kurzem wäre ihr nicht einmal im Traum eingefallen, für die königliche Familie zu arbeiten, aber jetzt … „Vielleicht habe ich meine Meinung einfach nur geändert.“

Ein ironisches Lächeln umspielte Mårtens Mundwinkel, doch es erreichte seine Augen nicht. „Eigentlich sollte mich das wohl nicht einmal besonders wundern. Du warst schon immer eine Opportunistin und hast deine Meinungen und Ansichten bedenkenlos an die jeweiligen Umstände angepasst, um deine Vorteile zu wahren. Ich frage mich allerdings, was du dir von diesem Arrangement versprichst.“

Gerade aus seinem Munde fand Milla eine solche Anspielung alles andere als angebracht, doch sie sagte nichts. „Willst du dir nun anhören, was ich zu sagen habe?“

Er schien kurz darüber nachzudenken, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, eigentlich nicht.“

Als er sich abwandte und Anstalten machte zu gehen, spielte Milla verzweifelt ihren letzten Trumpf aus. „Du solltest es dir wirklich noch einmal überlegen“, rief sie ihm nach. „Ich weiß, dass du in ziemlichen Schwierigkeiten steckst. Und ich kann dir helfen!“

Abrupt blieb Mårten stehen.

2. KAPITEL

„Was willst du damit sagen?“ Mårten verspürte eine irritierende Mischung aus Zorn und Argwohn, und als er sich zu Milla umdrehte, war sein Blick eisig. „Wie kannst du annehmen, dass du irgendetwas von mir weißt?“

Wütend fuhr er mit der Hand durch sein dunkles Haar. Angesichts der Tatsache, wie es damals zwischen ihnen zu Ende gegangen war, zeugte ihr gesamtes Verhalten von einer geradezu unglaublichen Unverfrorenheit. Und nun versuchte sie auch noch, ihn unter Druck zu setzen! Er fragte sich, ob sie vielleicht tatsächlich etwas ahnte. Aber nein, das konnte unmöglich sein! Niemand, abgesehen von Thorbjörn, kannte die ganze Geschichte. Vermutlich hatte sie einfach irgendetwas gesagt, um ihn vom Gehen abzuhalten – doch er musste sicherstellen, dass sie wirklich nichts wusste.

„Komm, lass uns hinausgehen“, sagte Milla und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln, was gründlich misslang. „An der frischen Luft redet es sich viel besser.“

Sie verließen den Saal und traten hinaus in den weitläufigen Park, der Kronborg Slott umgab. Ohne ein Wort zu sprechen, gingen sie eine Weile nebeneinander her. Mårten seufzte leise. Offenbar war ihm die düstere Stimmung, in der er sich befand, deutlich anzusehen. Denn die Blicke der Gäste, die die letzten Sonnenstrahlen des frühen Aprilabends nutzten, um die prachtvollen Gärten und Parkanlagen von Kronborg Slott zu erkunden, sprachen Bände. Ein Mann im eleganten Abendanzug, der an einem herrlichen Tag wie diesem mit finsterer Miene durch einen der schönsten Parks von ganz Schweden flanierte, fiel nun einmal auf. Besonders, wenn er sich in Begleitung einer wunderschönen Frau befand.

Vor einer Bank im Schatten einer hohen Kastanie am Ufer eines Ententeichs blieb Milla stehen. Das grünlich schimmernde Wasser war fast zur Hälfte von Seerosenblättern bedeckt, deren Blüten hübsche Farbtupfer in Rosa und Hellgelb abgaben.

Mårten setzte sich, lehnte sich zurück und atmete tief durch.

Warum warf ihn die Begegnung mit Milla eigentlich so aus der Bahn? Die Sache mit ihr lag nun schon so lange zurück, und in der Zwischenzeit hatten sich einige Dinge zugetragen, die ihn zu einem anderen Menschen gemacht hatten. Sollte er also nicht längst über diese alte Geschichte hinweg sein?

Wie es aussah, war dies jedoch nicht der Fall – und das verstärkte seinen Zorn auf sie sogar noch. Er hatte schon genug Probleme, auch ohne dass sie auftauchte und sein Leben noch mehr durcheinander wirbelte. Zugleich brauchte er bloß die Augen zu schließen, um ihr Bild vor sich zu sehen. Das lange honigblonde Haar, das im Schein der sinkenden Sonne wie Gold schimmerte. Ihre klaren Augen, so blau wie der Himmel an einem Sommertag, und die verführerisch geschwungenen Lippen, die förmlich zum Küssen einluden und …

Besser, du verschwindest so schnell wie möglich von hier, ehe du noch eine Dummheit begehst, die du zum Schluss nur bereuen würdest.

„Also, was willst du von mir?“, fragte er barsch.

Milla holte tief Luft. „Die Prinzessin ist mit einem besonderen Musikwunsch an mich herangetreten.“ Nervös fuhr sie sich mit der Hand durchs Haar. „Wie ich ja bereits sagte, ist sie ein großer Anhänger dei…“

„Wenn du mich fragen willst, ob ich bereit bin, bei den Hochzeitsfeierlichkeiten aufzutreten, brauchen wir nicht weiter zu sprechen“, fiel er ihr ins Wort. „Was glaubst du, warum ich seit zwei Jahren auf keiner Bühne mehr gestanden habe? Ich trete nicht mehr auf – und ich werde auch für die königliche Familie keine Ausnahme machen.“

„Als ich vorhin sagte, dass ich über deine Schwierigkeiten Bescheid weiß, war das nicht gelogen“, entgegnete Milla. „Ich weiß aus sicherer Quelle, dass deine Plattenfirma plant, dich zur Zahlung einer hohen Konventionalstrafe zu verpflichten, weil du die vertraglich vereinbarte Anzahl an Alben nicht erfüllst.“

Gott sei dank. Mårten unterdrückte ein erleichtertes Aufatmen. Milla wusste überhaupt nichts – jedenfalls nichts, was in irgendeiner Weise relevant wäre. Er hatte schon befürchtet, dass sie durch einen unglücklichen Zufall irgendwie auf die Geschichte mit Sören gestoßen sein könnte. Wenn es nach ihm ginge, würde sie nie etwas davon erfahren.

„Habe ich dir meinen Standpunkt denn nicht klar und deutlich zu verstehen gegeben?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht interessiert. Was auch immer du mir vorschlagen willst, vergiss es.“

„Aber siehst du denn nicht, was für eine einmalige Chance ich dir anbiete? Überleg doch mal! Ein Engagement durch das Königshaus könnte dich auf einen Schlag wieder nach ganz oben katapultieren. Alles, was du dafür tun musst, ist, mit mir zusammenzuarbeiten.“

Er seufzte. Warum konnte sie nicht einfach gehen und ihn in Ruhe lassen? Am liebsten wollte er, wenn der nächste Fährdampfer in einer halben Stunde anlegte, einfach an Bord steigen und versuchen zu vergessen, dass er jemals hier gewesen war. Mårten bereute es längst bitter, überhaupt hergekommen zu sein. Was war bloß aus seinem Vorhaben, ihr die Meinung zu sagen, geworden? Doch zumindest stand fest, dass Milla mit diesem lächerlichen Versuch, ihn zu einer Zusammenarbeit zu bewegen, keinen Erfolg haben würde – und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Er wäre nämlich nicht einmal in der Lage, ihrer Bitte nachzukommen, wenn er es gewollt hätte.

„Lass uns bitte noch einmal in Ruhe über alles reden.“ Unaufgefordert setzte Milla sich auf den freien Platz neben ihm. „Sollten unsere persönlichen Differenzen der Grund dafür sein, dass du …“

Ihre Nähe versetzte ihn augenblicklich in Unruhe, sein Puls beschleunigte sich, und seine Handinnenflächen wurden feucht. Hastig sprang er auf und trat ans Ufer des Sees, wo er mit dem Rücken zu Milla stehen blieb.

„Du nimmst dich selbst zu wichtig.“ Er bückte sich und nahm eine Handvoll Kieselsteine vom Boden auf. „Es geht hier nicht um dich“, sagte er und schleuderte einen Stein im hohen Bogen ins Wasser. „Oder um mich.“ Der zweite Stein folgte nur ein paar Meter entfernt. „Oder um sonst jemanden. Ich trete einfach nicht mehr auf. Punkt.“ Wie um das letzte Wort zu unterstreichen, warf er die restlichen Kiesel und drehte sich zu ihr um. „Ist das so schwer zu verstehen?“

Solange er sie nicht ansehen musste, war es nicht schwer für ihn gewesen, sich hart und unnachgiebig zu zeigen. Doch die Verzweiflung, die aus ihrem Blick sprach – und für die er keine rechte Erklärung fand –, ließ ihn kurz zögern. Aber dann erinnerte er sich daran, dass sie ihn schon einmal mit ihrer mädchenhaft unschuldigen Art um den Finger gewickelt hatte. Und auf keinen Fall würde er zweimal denselben Fehler begehen. Wie konnte er, nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, noch Mitleid für sie empfinden?

„Es ist eine einmalige Gelegenheit, siehst du das denn nicht?“ Milla hatte den Versuch, ihn zu überreden, offensichtlich noch nicht aufgegeben. „Komm schon, ich kenne dich doch. Die Musik war stets dein Leben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dir mit dem Entschluss, dich für immer aus dem Geschäft zurückzuziehen, wirklich ernst ist.“

Mårten lachte leise. Wenn sie auch nur die leiseste Ahnung hätte, was in den vergangenen Jahren passiert war, würde sie so etwas nicht sagen. „Weißt du, damit machst du nur deutlich, dass du mich im Grunde gar nicht kennst. Du kennst mich überhaupt nicht.“ Er warf einen Blick auf die Uhr. „Und jetzt entschuldige bitte, ich möchte lieber wieder zur Feier zurück. Die Leute fangen immer so schnell an zu reden, und ich möchte nicht, dass sie beginnen, irgendwelche wilden Spekulationen über uns anzustellen.“

Und was nun?

Ratlos schaute Milla ihm hinterher, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Sie hatte sich ja denken können, dass Mårten ihr gegenüber eine eher ablehnende Haltung einnehmen würde. Ganz offensichtlich gab er ihr die Schuld am Scheitern ihrer Beziehung vor fünf Jahren. Doch die Nachdrücklichkeit seines Neins überraschte sie. Wusste er denn nicht längst, warum ihr keine andere Wahl geblieben war, als ihn zu verlassen?

Ganz davon abgesehen stimmte es, was er sagte: Sie kannte seine Gründe, sich aus dem Musikgeschäft zurückzuziehen, nicht. Doch insgeheim war sie immer davon ausgegangen, dass er diese Entscheidung nicht aus freien Stücken getroffen hatte. Differenzen mit der Plattenfirma, Streit mit dem Manager, etwas in der Art. Es passte nicht zu dem Mårten aus ihrer Erinnerung, das aufzugeben, was er am meisten auf der Welt liebte: die Musik.

Damit lag sie offenbar falsch. Er war nicht mehr der Mann, den sie von früher kannte, und langsam erkannte sie, dass ihr schöner Plan sich als so gut wie unmöglich erwies. Wegen dieses Irrtums steckte sie plötzlich in einer reichlich verzwickten Situation. Sie musste sich etwas einfallen lassen, sonst platzte ihr großer Traum, noch ehe er richtig begonnen hatte.

Inzwischen bereute sie, dass sie das Missverständnis, dem sie ihre Position als Verantwortliche für die musikalische Organisation der Hochzeit verdankte, nicht gleich aufgeklärt hatte. Irgendwie war der Kronprinzessin zu Ohren gekommen, dass Mårten und sie sich von früher kannten. Darum hatte sie wohl angenommen, Milla sei genau die richtige Person, um Mårten für einen Auftritt auf der Hochzeit zu gewinnen. Es wäre wohl besser gewesen, gleich mit der Wahrheit herauszurücken. Doch Milla hatte ihre große Chance gesehen und geschwiegen.

Ein Fehler, wie sich nun herausstellte.

Denk nach!

Das Klingeln ihres Handys riss Milla aus ihren Gedanken. Sie öffnete die winzige paillettenbesetzte Handtasche und nahm das Gerät heraus. Beim Blick auf das Display entfuhr ihr ein unterdrücktes Stöhnen. Christer Brandt – der hatte ihr gerade noch gefehlt!

Sicher bereitete es dem königlichen Musikhofmeister – ihrem Vorgesetzten – eine geradezu diebische Freude, sich an ihrer Verzweiflung zu weiden. Er wusste vielleicht nichts Genaues, doch zumindest ahnte er, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Kein Wunder, schließlich war allgemein bekannt, dass sie den Auftrag, die musikalische Organisation der bevorstehenden Hochzeit der Kronprinzessin zu leiten, nur bekommen hatte, weil Mårten ein alter Bekannter von ihr war.

Kurz spielte sie mit dem Gedanken, den Anruf zu ignorieren, doch sie ahnte, dass Christer einen Weg finden würde, das gegen sie zu verwenden. Seit man ihr die Aufgabe übertragen hatte, die musikalische Organisation der königlichen Hochzeit zu leiten, machte Christer ihr das Leben schwer, weil er diese Position für sich selbst beanspruchte und nicht akzeptieren konnte, einfach übergangen worden zu sein. Aber die Kronprinzessin hatte nun einmal so entschieden, und er konnte nicht offen dagegen vorgehen – was ihn allerdings nicht daran hinderte, Milla Steine in den Weg zu legen, wo es nur ging. Also atmete sie noch einmal tief durch und meldete sich mit einem, wie sie hoffte, einigermaßen zuversichtlich klingendem: „Hej.“

„Na, wo steckt denn nun Ihr gefeierter Wunderpianist?“, begann Christer, charmant wie immer, ohne jegliche Einleitung. „Die Kronprinzessin wartet bereits ungeduldig.“

Milla biss sich auf die Unterlippe. Sie bezweifelte ernsthaft, dass sie Mårten dazu bringen würde, ihr zuliebe Small Talk mit der Kronprinzessin zu halten. Schlimmer noch: Wenn er ihr gegenüber auch nur ein falsches Wort sagte, konnte er damit all ihre Hoffnungen auf einen Schlag zunichte machen. Das durfte auf keinen Fall passieren.

„Ich werde sehen, was ich tun kann“, erwiderte sie hastig, und sie wusste, wie unverbindlich ihre Worte klangen.

Für einen Moment herrschte Schweigen, dann fragte Christer: „Er hat Sie abblitzen lassen, habe ich recht?“

„Nein, selbstverständlich nicht!“, protestierte Milla hastig. „Ich habe alles unter Kontrolle.“

„Ach tatsächlich?“ In Christers Stimme schwang eine gehörige Portion Skepsis mit. „Sind Sie davon überzeugt?“

„Ja“, bekräftigte Milla. „Alles läuft nach Plan.“

Dann beendete sie das Gespräch, sank mit einem schweren Seufzen auf die Bank zurück und barg das Gesicht in den Händen. Auf was hatte sie sich da bloß eingelassen? Immer tiefer verstrickte sie sich in ein Netz aus Lügen, während ihr gleichzeitig mehr und mehr die Kontrolle entglitt. Wie sollte sie da jemals wieder herauskommen?

Es gab nur einen Weg: Sie musste Mårten überzeugen, sonst würde diese Sache in einer furchtbaren Blamage für sie enden. Wenn herauskam, dass sie nicht mit offenen Karten gespielt hatte, konnte das das Ende ihrer Karriere bedeuten. Mårten musste zustimmen.

Fragte sich nur – wie?

Nun, jedenfalls nicht, indem du noch länger tatenlos herumsitzt und die Hände in den Schoß legst!

Eilig kehrte Milla zum Pavillon zurück.

Äußerst widerwillig mischte Mårten sich erneut unter die Gäste der Spendengala. Am liebsten wäre er einfach auf die nächste Fähre gestiegen und hätte sich auf den Heimweg gemacht. Doch es ging hier immerhin um einen guten Zweck, und außerdem sollte Milla nicht glauben, dass er sich so leicht von ihr in die Flucht schlagen ließ.

Unglaublich, er war nur gekommen, um ihr zu sagen, was er von ihr hielt – und nun das! Wie schaffte sie es bloß immer wieder, ihn in die Defensive zu drängen, wo doch sie diejenige war, die sich schämen sollte!

Seine Stimmung lag also auf einem absoluten Tiefpunkt. Und sie besserte sich auch nicht, als eine dunkelhaarige Schönheit auf ihn zukam.

Die persönliche Assistentin der Kronprinzessin.

„Mårten Nylund! Wie schön, dass Sie es einrichten konnten!“

Mårten atmete tief durch und deutete eine Verbeugung an. „Es ist mir eine Ehre, hier sein zu dürfen.“

Ihr Lächeln war warm und herzlich. „Ganz im Gegenteil, wir fühlen uns geehrt. Wissen Sie, dass die Kronprinzessin schon seit vielen Jahren eine große Anhängerin Ihrer Kunst ist? Leider ergab sich bisher keine Gelegenheit für sie, Sie persönlich kennenzulernen. Umso mehr freue ich mich, dass es heute endlich so weit ist. Sie werden ihr doch nachher den Gefallen tun und an ihrem Tisch speisen? Milla ist natürlich ebenfalls herzlich eingeladen.“ Suchend blickte sie sich um. „Da wir gerade von ihr sprechen – ist sie denn nicht bei Ihnen? Nun, ich hoffe, sie kommt gleich. Ich kann es nämlich gar nicht erwarten, mich mit Ihnen beiden über die Details für die bevorstehenden Hochzeitsfeierlichkeiten zu unterhalten.“

Ganz offensichtlich hatte Milla alle Welt glauben lassen, sie sei in der Lage, ihn zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. Höchste Zeit, dieses Missverständnis aufzuklären!

„Ich fürchte, ich …“

„Er will sagen, dass es in diesem Stadium noch zu früh ist, konkret etwas zu besprechen“, wurde er von Milla unterbrochen, die unbemerkt hinter ihm den Saal betreten hatte. „Die Hochzeit findet zwar bereits im Juni statt, dennoch sollten wir ihm ein wenig Zeit lassen, über alles nachzudenken. Immerhin habe ich ihn gerade erst mit Ihrer Bitte überfallen.“

Trotz ihres strahlenden Lächelns erkannte Mårten sofort, wie nervös sie in Wahrheit war. Ganz offensichtlich fürchtete sie, er würde ihr kleines Kartenhaus aus Lügen zum Einsturz bringen. Zu Recht, denn er dachte gar nicht daran, bei diesem Spielchen mitzuspielen.

Die Assistentin der Kronprinzessin schien von alledem nichts zu bemerken. „Natürlich“, sagte sie an Mårten gewandt. „Lassen Sie sich ruhig ein paar Tage Zeit. Wir werden in den kommenden Wochen sicherlich noch ausreichend Gelegenheit haben, alles zu besprechen. Ich muss mich ohnehin dafür entschuldigen, dass wir erst so spät an Sie herantreten. Das Ganze war eine spontane Idee der Kronprinzessin. Als sie erfahren hat, dass Sie und Milla einander kennen, bat sie Milla, bei Ihnen ein gutes Wort für sie einzulegen.“

In diesem Moment spielte eine Tanzkapelle auf, und ein Leuchten glitt über die Miene der Assistentin. „Bei diesem Lied habe ich zum ersten Mal mit meinem Freund getanzt! Bitte entschuldigen Sie mich, dieser Versuchung kann ich unmöglich widerstehen. Wollen Sie mir nicht die Freude bereiten und ebenfalls tanzen? Sie geben so ein hübsches Paar ab!“

Sie nickte ihnen noch einmal lächelnd zu, dann verschwand sie in der Menge, um nach ihrem Freund zu suchen.

„Was ist?“, fragte Mårten, ohne groß darüber nachzudenken. „Möchtest du tanzen?“

Milla wirkte überrascht. „Ist das dein Ernst?“

Dieselbe Frage stellte er sich selbst. Warum eigentlich nicht? Wenn er heute Abend nach Hause fuhr, wollte er die Erinnerung an Milla für immer hinter sich zurücklassen. Es sprach also nichts dagegen, noch einmal das Gefühl zu genießen, ihren warmen, weichen Körper in den Armen zu halten.

„Komm“, forderte er sie auf. „Oder fürchtest du dich etwa davor, dich wieder in mich zu verlieben?“

Ihre Augen funkelten. Im Licht der Kronleuchter schimmerte ihr Haar wie flüssiges Gold. „Oh nein“, erwiderte sie kämpferisch. „Bilde dir bloß nichts ein, Mårten Nylund. Die Zeiten, in denen du mich mit einem Lächeln um den Finger wickeln konntest, sind längst vorbei.“

„Ist das so?“ Er hob eine Braue. „Wir werden es ja sehen.“

Die Welt um Milla verblasste, als Mårten sie in seine Arme zog und sich mit ihr im Takt der Musik bewegte. Es war ein sehr vertrautes Gefühl, und zugleich aufregend und neu. Sie fühlte sich wie in einem Strudel, in dem Raum und Zeit keine Bedeutung hatten. Vergangenheit und Gegenwart verschmolzen miteinander. Mårten und sie gehörten zusammen, so war es immer gewesen, und so würde es auch immer sein.

Als sie ihn ansah, ertrank sie im tiefen Blau seiner Augen. Ihr Platz war an seiner Seite und …

„Nein!“ Hastig machte sie sich von ihm los, taumelte einen Schritt zurück und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Die anderen Paare tanzten einfach um sie herum und schienen Millas Aufruhr gar nicht zu bemerken.

Was war bloß in sie gefahren? So sehr hatte sie nicht mehr die Kontrolle über sich verloren, seit … ja, seit die Sache mit Mårten damals so unschön zu Ende gegangen war.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er sanft und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Seine Berührung jagte Wellen der Erregung durch ihren Körper. Rasch wandte sie sich ab, damit er nicht sah, was in ihr vorging.

Sie wollte nicht so empfinden. Es machte ihr Angst, dass Mårten nach all den Jahren noch immer eine derart verheerende Wirkung auf sie ausübte.

„Es geht schon wieder“, brachte sie heiser hervor. „Mir ist nur ein wenig schwindelig, das ist alles.“

„Bist du sicher?“

Sie nickte. „Hör zu, vielleicht können wir noch einmal in Ruhe über alles reden.“

„Nicht jetzt“, wehrte er ab. „Dafür bist du nicht in der richtigen Verfassung.“

Insgeheim konnte Milla ihm nur zustimmen. Aber wenn nicht jetzt – wann dann?

Mårten schien ihre Verzweiflung zu bemerken. „Also gut.“ Er seufzte leise „Du erinnerst dich noch an das kleine Restaurant in Mariefred? Wir treffen uns dort morgen Abend um Punkt sieben Uhr. Ich werde nicht auf dich warten, wenn du zu spät kommst, hörst du?“

„Ich danke dir! Und du wirst deine Entscheidung nicht bereuen, das verspreche ich.“ Die Worte sprudelten förmlich aus ihr heraus. „Ich werde pünktlich sein.“

Grenzenlose Erleichterung durchströmte sie. Wie sehr hatte sie gehofft, dass er doch noch Vernunft annehmen würde. Was sie ihm bot, war eine einmalige Chance, noch einmal ganz neu durchzustarten. Die Öffentlichkeit hatte das Interesse an ihm noch nicht verloren, das bewiesen die Artikel in der Boulevardpresse, die regelmäßig über ihn erschienen. Wenn er einwilligte, ein Stück für die Hochzeitsfeierlichkeiten der Kronprinzessin zu komponieren und dieses während der Zeremonie in der Storkyrkan – der St. Nikolaikirche – selbst spielte, würde ihn das mit einem Schlag in der gesamten westlichen Welt bekannt machen. Zwar blieben ihm nur noch etwa acht Wochen, doch sie wusste, dass einige von Mårtens besten Kompositionen in noch kürzeren Zeiträumen entstanden waren.

Eine solche Gelegenheit konnte sich kein Musiker einfach so entgehen lassen. Nicht einmal ein Mann wie Mårten Nylund.

Warum gelang es ihr dann trotzdem nicht, das Gefühl abzuschütteln, dass es nicht leicht werden würde?

3. KAPITEL

„Du siehst hübsch aus, Mamma!“ Ehrfürchtig strich Janna mit ihren kleinen Händen über den mit bunten Blüten bedruckten Stoff des locker geschnittenen Sommerkleids, das Milla bis knapp über die Knie reichte. „So hübsch wie die Blumenwiese hinterm Haus.“

Ein Lächeln erhellte Millas Gesicht. Zärtlich strich sie ihrer kleinen Tochter übers Haar, das so dicht und dunkel war wie das ihres Vaters. Und auch darüber hinaus ähnelte sie ihm in vielen Dingen. Vielleicht war es Milla deshalb all die Jahre so schwergefallen, ihn zu vergessen.

Kein Mensch auf der Welt wusste, dass Mårten der Vater ihrer Tochter war. Nicht einmal ihren Eltern und Geschwistern hatte sie damals die Wahrheit gesagt, auch wenn sie vermutete, dass zumindest ihre jüngste Schwester Lotte etwas ahnte.

Natürlich war sie sich darüber im Klaren, dass Janna früher oder später anfangen würde, Fragen zu stellen. Ihre Tochter anzulügen, kam für Milla nicht infrage. Janna hatte das Recht, ihre Herkunft zu kennen. Ebenso wie man Mårten vermutlich auch das Recht zubilligen würde, zu erfahren, dass er vor vier Jahren Vater geworden war. Aber er hatte ihr damals ja praktisch keine andere Wahl gelassen, als er diese andere Frau …

Nein, darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Sie schob den Gedanken weit von sich und beugte sich stattdessen lächelnd zu Janna hinunter. „Was meinst du, welche Schuhe soll ich dazu tragen?“

Die Augen der Vierjährigen fingen an zu leuchten. „Ich darf aussuchen?“

Milla nickte. „Wenn du mir versprichst, heute Abend ein braves Mädchen zu sein und schön auf das zu hören, was Tante Lotte sagt?“

Das war nicht viel verlangt, denn Janna vergötterte ihre Tante. Die sechsundzwanzigjährige Lotte wiederum verwöhnte Janna nach Strich und Faden. Die beiden kamen bestens miteinander aus, und so hielt sich Millas schlechtes Gewissen dafür, dass sie ihre Schwester schon wieder um Hilfe bitten musste, in Grenzen. Normalerweise kümmerte sich Annika, das Kindermädchen, um Janna, wenn Milla nicht da war. Doch so kurzfristig hatte Annika ihren freien Abend nicht mehr verschieben können.

Als es klingelte, eilte Milla in den Flur und betätigte den Türöffner. Sie wohnte für die Dauer ihrer Anstellung bei Hofe kostenlos in einem kleinen Apartment im Dachgeschoss eines Hauses in der Gamla Stan, der Altstadt Stockholms, die sich über drei Inseln – Stadsholmen, Riddarholmen und Helgeandsholmen – erstreckte.

Kurz darauf erschien Lotte auf dem Treppenabsatz ein Stockwerk tiefer.

„So schön ich deine Wohnung auch finde“, stöhnte sie schwer atmend, „im Erdgeschoss würde sie mir noch besser gefallen.“

Lachend schloss Milla sie in die Arme, als sie es endlich bis nach ganz oben geschafft hatte. „Für die herrliche Aussicht von meiner Dachterrasse aus nehme ich die paar Treppen gern in Kauf. Hej, wie geht es dir?“

„Blendend“, erwiderte Lotte und fuhr sich mit der Hand durch ihr kinnlanges rotblondes Haar, das sie zurzeit zu einem Pagenschnitt frisiert trug. Manche Frauen hatten einen Schuhtick, Lottes Spleen waren ihre ständig wechselnden Frisuren und Haarfarben. „Dir scheint es allerdings auch nicht gerade schlecht zu gehen“, stellte sie fest, wobei sie Milla von oben bis unten musterte. „Hast du dich für deinen Mårten so schick gemacht?“

„Erstens ist er nicht mein Mårten“, stellte Milla sofort klar. „Und zweitens gehe ich grundsätzlich nicht in Sack und Asche zu geschäftlichen Verabredungen.“

„Geschäftliche Verabredungen, so so …“ Lotte schmunzelte. „Na ja, wie du meinst. Ich wünsche dir auf jeden Fall viel Spaß – Janna und ich werden unseren ganz gewiss haben, was Kleines?“

Nachdem Milla sich vergewissert hatte, dass Lotte und Janna mit allem versorgt waren, was sie benötigten, musste sie sich wirklich beeilen. Es war bereits viertel vor sechs. Wenn sie pünktlich zu ihrer Verabredung mit Mårten erscheinen wollte, wurde es höchste Zeit.

Rasch zog sie die Schuhe an, die Janna für sie ausgesucht hatte – hochhackige Peeptoes aus cremefarbenem Wildleder, die glücklicherweise hervorragend zu ihrem Kleid passten. Gleich darauf eilte sie das schmale Treppenhaus hinunter, so schnell es mit den hohen Absätzen ging, und trat auf die Straße.

Keine fünf Minuten später überquerte sie mit ihrem Wagen auf der Centralbron den Fluss Riddarfjärden und fuhr dann den Söder Mälarstrand entlang in Richtung Mariefred. Das kleine Städtchen lag etwa siebzig Kilometer von Stockholm entfernt am Mälarsee. Milla war nicht mehr in Mariefred gewesen, seit sie dort mit Mårten ein herrliches Wochenende verbracht hatte. Das schien eine Ewigkeit her zu sein.

Die Fahrt führte sie am südlichen Ufer des Mälaren entlang. Das Wasser des Sees glitzerte im Licht der bereits tief stehenden Sonne. Auf der anderen Straßenseite erstreckten sich leuchtend gelbe Rapsfelder und saftige grüne Wiesen, auf denen Kühe im Schatten blühender Obstbäume grasten.

Nach etwas mehr als einer Stunde erreichte sie die ersten Ausläufer der Ortschaft. Farbenprächtige Häuser, die meisten im typischen Rostrot – dem Faluröd –, andere in leuchtendem Blau, sanftem Lindgrün oder strahlendem Sonnengelb gestrichen, standen direkt an der Wassergrenze. In den Vorgärten blühten Osterglocken und die ersten Maiglöckchen.

Sie passierte den Bahnhof von Mariefred, ein hellgelb getünchtes Holzgebäude mit weißen Dachgauben und einer historischen Eisenbahn, und erreichte schließlich das Restaurant, in dem sie mit Mårten verabredet war. Es lag direkt am Ufer des Mälaren und bot eine fantastische Aussicht auf die imposante Backsteinfassade von Schloss Gripsholm mit seinen zahlreichen Türmen und Kuppeln, das auf einer Halbinsel im See lag.

Der Anblick weckte Erinnerungen in ihr, an die sie lieber nicht zurückdenken wollte. Erinnerungen an eine wunderschöne Zeit mit Mårten, in der sie so glücklich gewesen war wie nie zuvor in ihrem Leben. Doch das Wissen, dass Mårten lediglich mit ihren Gefühlen gespielt hatte, versetzte ihnen einen schalen Nachgeschmack.

Milla stellte ihren Wagen neben dem Haus ab und betrat das Restaurant. Sie sah Mårten schon vom Eingang aus. Er saß draußen auf der Terrasse und plauderte angeregt mit einer wasserstoffblonden Kellnerin. Milla wusste selbst nicht, was sie an dem Anblick so sehr störte. Sie war doch nicht etwa eifersüchtig?

Hej, Mårten“, begrüßte sie ihn, als sie hinaus auf die Terrasse trat. An der Miene der Bedienung ließ sich deutlich ablesen, dass sich ihre Begeisterung über Millas Auftauchen in Grenzen hielt.

„Du bist spät dran.“ Demonstrativ warf er einen Blick auf seine Armbanduhr.

„Wie es scheint, bist du ja recht gut ohne mich zurechtgekommen“, erwiderte sie und setzte sich zu ihm an den Tisch. „Hast du schon bestellt?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, noch nicht.“ Er wandte sich an die Kellnerin. „Inga, wären Sie so freundlich, eine weitere Speisekarte zu bringen?“

„Inga?“, raunte Milla ihm zu, als die Blondine außer Hörweite war, und hob fragend eine Braue.

„Ich wüsste nicht, was dich das anginge.“

Die Bedienung kehrte mit der gewünschten Speisekarte zurück, und Milla blätterte gedankenverloren darin, ohne den Inhalt wirklich aufzunehmen. Schließlich gab sie es auf, klappte die Karte zu und legte sie auf den Tisch.

„Du hast dich schon entschieden?“, fragte Mårten erstaunt. „Früher brauchtest du immer eine Ewigkeit, um ein Menü auszuwählen.“

„Um ehrlich zu sein, ich habe keinen allzu großen Appetit. Ich werde es bei einem gemischten Salat belassen.“

„Wie du meinst, es ist deine Entscheidung.“ Er winkte Inga heran und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, bevor er fragte: „Können Sie das Älgstek empfehlen?“

„Der Elchbraten ist eine Spezialität unseres Kochs“, erwiderte die Kellnerin strahlend. „Besonders beliebt bei unseren Gästen ist sein Älgstek med svamp och äppelen.“

Mårten nickte. „Elchbraten mit Pilzen und Äpfeln klingt ganz hervorragend – das nehme ich. Und dazu bitte ein Glas Rotwein.“

„Gerne. Darf es sonst noch etwas sein?“

„Ja“, meldete Milla sich zu Wort, die mehr und mehr den Eindruck gewann, dass ihre Anwesenheit bei Tisch vollkommen in Vergessenheit geraten war. „Ich hätte gern einen Salat und ein Glas Mineralwasser, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

„Salat“, wiederholte die Kellnerin knapp. „Wird sofort gebracht.“

„Kommen wir dann endlich zur Sache?“, fragte Milla ein wenig verstimmt, nachdem die Bedienung mit der Bestellung in der Küche verschwunden war. „Ich bin nicht den ganzen weiten Weg hier heraus gefahren, um dir dabei zuzusehen, wie du mit einer anderen flirtest.“

„Sollte ich stattdessen lieber mit dir flirten?“

„Nein“, entgegnete Milla scharf. „So war das nicht gemeint, und das weißt du ganz genau. Also, was ist jetzt? Hast du es dir noch einmal überlegt? Ich habe mir bereits ein paar Gedanken über die bevorstehenden Hochzeitsfeierlichkeiten gemacht, und auch um die Rolle, die du dabei spielen sollst und …“

„Lass uns bitte nach dem Essen darüber sprechen“, fiel er ihr ins Wort und schenkte Inga ein warmes Lächeln, als diese die Getränke an den Tisch brachte.

Manchmal konnte Mårten den Mann, zu dem er sich im Lauf der letzten Jahre entwickelt hatte, selbst nicht ausstehen.

Dies war einer solcher Momente.

Er wusste, dass er sich falsch verhielt, indem er versuchte, Milla mit der hübschen Kellnerin eifersüchtig zu machen. Nicht, weil sie es nicht verdiente. Er fand nur keine logische Erklärung dafür, warum er das eigentlich wollte. Fest stand nur, dass er es einfach nicht schaffte, damit aufzuhören. Zugleich fiel es ihm erstaunlich schwer, ihr gegenüber kühl und herablassend zu bleiben.

Das geblümte Sommerkleid, das sie trug, schmeichelte ihrer schlanken, aber dennoch weiblichen Figur, und die hellen Seidenstrümpfe ließen ihre Beine verführerisch schimmern. Das honigblonde Haar fiel offen bis über die Schultern herab, und ein Hauch von Make-up perfektionierte den ohnehin schon so gut wie makellosen Teint. In all den Jahren seit ihrem überraschenden Verschwinden hatte sie nichts von der Anziehungskraft eingebüßt, die sie auf ihn ausübte.

Mårten war beinahe erleichtert, als das Essen gebracht wurde, schließlich lenkte es ihn zumindest für eine Weile von den irritierenden Gefühlen ab, die er in Millas Nähe empfand. Gefühle, die er längst vergessen und überwunden geglaubt hatte …

Bist du wirklich bereit, die Vergangenheit so schnell zu vergessen?

Nein, das war er definitiv nicht. Ihr Zauber ließ ihn einfach nicht los. Es schien fast, als wäre nie etwas zwischen ihnen vorgefallen. So, als hätten sie sich nicht vor mehreren Jahre, sondern erst vor ein paar Stunden zum letzten Mal gesehen.

Reiß dich zusammen und halte dich an deinen Plan, rief er sich selbst zur Ordnung. Nur so wird es dir gelingen, endgültig von ihr loszukommen.

Genau darum ging es ihm. Er wollte sie ein für allemal aus seinen Gedanken verbannen. Aber das ging nicht, solange er noch diese alte Rechnung mit ihr offen hatte. Darum würde er es ihr nun mit gleicher Münze heimzahlen, indem er zuerst Hoffnungen in ihr erweckte und diese dann gnadenlos zerstörte.

Ganz genau so, wie sie es damals mit ihm gemacht hatte.

„Und? Was hast du in den letzten Jahren getrieben?“, fragte er, nachdem er bereits über die Hälfte seines Älgsteks gegessen hatte, ohne wirklich etwas davon zu schmecken. „Dein Engagement bei der Stockholmer Oper hast du ja ziemlich überstürzt abgebrochen.“

Das alles wusste er deshalb so genau, weil er nach ihrem Verschwinden wochenlang versucht hatte, sie wiederzufinden. Nur um festzustellen, dass sie gar nicht gefunden werden wollte: Von ihrer Familie, die einen Gutshof in der südlichsten schwedischen Provinz Skåne besaß, ließ sie sich verleugnen, ihre kleine möblierte Wohnung hatte sie verlassen, ihre Stellung aufgegeben.

„Ich habe mir eine kleine Eventagentur in Stockholm aufgebaut“, erwiderte Milla, ohne auf die Spitze einzugehen. „Hauptsächlich betreue ich musikalische Veranstaltungen, aber man kann mich auch für jede andere Gelegenheit buchen.“

„Seltsam“, meinte er mit einem schiefen Lächeln. „Ich habe dich auch immer für eine Vollblutmusikerin gehalten. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass du das Singen eines Tages aufgeben würdest …“

„Mir blieb kaum eine andere Wahl!“, entgegnete sie so energisch, dass Mårten überrascht eine Braue hob.

„Das klingt vorwurfsvoll“, stellte er fest. „Die Entscheidung, deine Karriere als Sängerin hinzuwerfen, kannst du mir ja wohl kaum anlasten.“

Sie senkte den Blick. „Nein, natürlich nicht.“

Etwas an der Art und Weise, wie sie es sagte, gefiel Mårten nicht. Es klang, als würde sie etwas vor ihm verbergen. Als hätte sie bereits zu viel gesagt und hoffte nun, dass er nicht weiter nachhakte. Doch wenn sie glaubte, dass er sie so leicht davonkommen ließ, täuschte sie sich. Er …

„Kann ich Ihnen vielleicht noch ein Dessert bringen?“

Irritiert schaute Mårten auf. Inga sah ihn erwartungsvoll an. Er winkte ab. „Nein, jetzt nicht. Wir melden uns, wenn wir noch etwas wünschen.“

Der enttäuschte Blick der jungen Frau entging ihm nicht, doch im Augenblick hatte er andere Sorgen.

„Das war aber ziemlich unhöflich“, stellte Milla fest, und insgeheim dachte sie: Er hat sich wirklich überhaupt nicht verändert – noch immer der unverbesserliche Frauenheld, der sich in Wahrheit für niemand anderen interessiert als für sich selbst.

„Ich glaube kaum, dass du dir darüber ein Urteil erlauben kannst“, entgegnete Mårten scharf. Er schob seinen Teller von sich. „Oder wie würdest du das Verhalten bezeichnen, das du vor fünf Jahren an den Tag gelegt hast?“

Abwehrend verschränkte Milla die Arme vor der Brust. „Ich hatte meine Gründe.“

„Ja, das kann ich mir denken. Graf Bergholm ist nicht zufällig einer davon?“

Jetzt war sie wirklich überrascht. „Gregor?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, wie du darauf kommst, aber es geht dich wohl auch kaum etwas an.“ Sie dachte nur ungern an Gregor Bengtsson – Graf Bergholm – zurück. Die Erinnerung schmerzte noch immer. Nicht etwa, weil sie sich geliebt hätten, sondern weil die Beteiligung ihrer Eltern an diesem Fiasko ihr einmal mehr verdeutlicht hatte, wie wenig sie ihr zutrauten. Sie seufzte. „Hör zu, ich bin nicht hier, um mit dir zu streiten. Vielleicht könnten wir jetzt endlich zum Thema kommen? Ich nahm an, dass du dich mit mir verabredet hast, weil du noch einmal über mein Angebot nachgedacht hast.“

„Du hast recht“, erwiderte er. „Ich habe mir alles noch einmal ganz genau durch den Kopf gehen lassen und bin bereit, noch mal über deinen Vorschlag nachzudenken – unter einer Bedingung.“

„Alles, was du willst.“ Erleichtert atmete Milla auf. „Also, was verlangst du?“

„Nicht viel.“ Er verzog keine Miene. „Nur, dass du für die Dauer unserer Zusammenarbeit jederzeit für mich zur Verfügung stehst.“

„Das ist kein Problem, ich bin …“

„Und außerdem möchte ich“, fiel er ihr ins Wort, „dass du für die nächste Zeit zusammen mit mir in der alten Mühle wohnst. Sie liegt nur etwas mehr als eine halbe Autostunde von Kronborg Slott entfernt, kaum mehr, als du von deiner Wohnung in Stockholm aus benötigst.“

Vor Schreck und Überraschung riss Milla die Augen auf. „Du willst – was?“

„Du hast richtig gehört. Und wenn ich zusammen sage, dann meine ich es auch so: Wir werden unter einem Dach wohnen, gemeinsam essen und arbeiten. Es wird wieder sein wie damals, vor fünf Jahren.“

4. KAPITEL

„Das kann unmöglich dein Ernst sein!“ Energisch schüttelte Milla den Kopf. „Tut mir leid, aber du verlangst zu viel. Das mit uns ist schon so lange vorbei, wir sollten es dabei belassen.“

„Schade, dass du es so siehst.“ Er stand auf. „Dann haben wir uns nichts weiter zu sagen. Ich wünsche dir viel Erfolg und …“

„Warte!“ Ihre Gedanken rasten. Verzweifelt rang sie die Hände. Was sollte sie jetzt bloß tun? Sie dachte an Janna, an all ihre Träume und den brennenden Wunsch, Schweden den Rücken zu kehren. Und nicht zuletzt auch daran, was ihre Eltern sagen würden, wenn sie jetzt versagte. Sie wusste nicht, ob sie ein Wir haben es dir doch gleich gesagt aus dem Mund ihrer Mutter ertragen konnte. Mårtens Bedingungen mochten unverfroren, ja dreist sein – doch konnte sie es sich wirklich erlauben, abzulehnen? Es wurde allgemein von ihr erwartet, dass sie ihn für die königliche Hochzeit gewann, weil sie ihn kannte und in gutem Kontakt zu ihm stand. Und sie hatte nichts unternommen, um diese Annahme zu korrigieren.

Milla zwang sich zur Ruhe.

Denk nach! Wie weit bist du bereit, für die Erfüllung deiner Träume zu gehen?

Allein der Gedanke, für längere Zeit mit Mårten in dessen Haus außerhalb Stockholms zu verbringen, war schlimm genug. Doch er verlangte weit mehr als das von ihr: Was er wollte, war die Karikatur ihrer früheren Beziehung, und Milla wusste nicht, wie sie das durchstehen sollte. Konnte sie es für einige Zeit in seiner Nähe aushalten und wie eine Geliebte mit ihm zusammenleben? Mit diesem Mann, der ihre Liebe einst mit Füßen getreten hatte?

Wenn sie daran zurückdachte, machte es sie noch immer zornig. Sie war so sicher gewesen, dass er ihre Gefühle erwiderte. Dabei hätte sie es besser wissen müssen. Mårten gehörte einfach nicht zu den Männern, die treu sein konnten.

Doch leider hatte sie das erst viel zu spät erkannt.

Dennoch. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie versuchte es, oder sie gab auf. Eine weitere Alternative stand ihr nicht zur Verfügung. Wenn sie nicht auf seine Forderung einging, konnte sie ihren Traum von einem Leben in England zumindest für die nächsten Jahre vergessen.

„Was ist?“, fragte Mårten ungeduldig, als sie nicht weitersprach. „Hast du es dir doch anders überlegt?“

„Mir bleibt wohl kaum eine andere Wahl, oder?“

Er lachte leise und setzte sich wieder zu ihr an den Tisch. „Man hat immer eine Wahl, das weißt du ebenso gut wie ich. Die Frage ist: Wie lautet deine?“

Obwohl die Stimme der Vernunft ihr sagte, dass sie einen folgenschweren Fehler beging, nickte sie. „Gut, ich bin mit deinen Bedingungen einverstanden. Aber ich brauche ein paar Tage, um alles vorzubereiten.“

„Du solltest dich besser beeilen“, erwiderte Mårten. „Immerhin findet die Hochzeit schon in zwei Monaten statt, und wenn ich ein Stück komponieren und einüben soll, brauche ich dazu länger als ein oder zwei Wochen. Also, ich gebe dir Zeit bis übermorgen, einverstanden? Ich hole dich um Punkt acht Uhr zu Hause ab. Wo wohnst du im Augenblick?“

Kurz spielte Milla mit dem Gedanken, ihm die Adresse zu geben, entschied sich dann aber dagegen. Sie musste um jeden Preis verhindern, dass Janna und er einander begegneten. Mårten hatte sich in all den Jahren kaum verändert. Er war immer noch ein unverbesserlicher Frauenheld, der sich für niemand anderen auf der Welt interessierte als für sich selbst. Später, wenn Janna alt genug war, um zu begreifen, würde Milla ihr die Wahrheit sagen. Dann konnte ihre Tochter selbst entscheiden, ob sie ihren leiblichen Vater kennenlernen wollte oder nicht. Doch im Moment war ihre zarte Kinderseele einfach noch zu verletzlich.

„Ich werde an der Riddarholm-Kirche auf dich warten“, erklärte sie deshalb, ohne auf seine Frage einzugehen. Sie winkte die Kellnerin heran, um zu zahlen, doch Mårten kam ihr zuvor.

„Das ist nicht nötig“, protestierte sie. „Ich bin durchaus in der Lage, für mich selbst zu sorgen.“

„Schon möglich, aber so lange du mit mir zusammen bist, werde ich sämtliche Rechnungen übernehmen, verstanden?“

Milla schluckte die scharfe Entgegnung, die ihr auf der Zunge lag, hinunter und nickte widerwillig. „Wir sehen uns dann übermorgen.“

„Ich kann es kaum erwarten.“

„Versprich dir nicht zu viel, Mårten. Du kannst mich vielleicht zwingen, zu dir zu ziehen, aber ich werde mich gewiss nicht wieder auf dich einlassen.“

Er blickte sie ernst an. „Wie kommst du darauf, dass ich daran interessiert sein könnte?“

Ohne ein weiteres Wort wandte Milla sich ab und ging davon. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass er sie noch immer beobachtete. Erst als sie durch die Eingangstür ins Freie trat, atmete sie auf. Doch der Augenblick der Erleichterung hielt nicht lange an – dann wurde ihr klar, auf was sie sich soeben eingelassen hatte.

Auf der Rückfahrt von Mariefred gingen Mårten eine Menge Dinge durch den Kopf. Vor allem fragte er sich immer wieder, wie er auf die verrückte Idee gekommen war, Milla zu sich in die alte Mühle zu holen.

Es war absurd – und gefährlich. Die Anziehungskraft zwischen ihnen war noch immer da, er spürte es jedes Mal, wenn sie sich in seiner Nähe aufhielt. Mit ihr zusammenzuleben wie damals, als sie noch ein Liebespaar gewesen waren, und sei es nur für kurze Zeit, grenzte an Wahnsinn.

Auf der anderen Seite stellte es vielleicht die einzige Möglichkeit dar, sich endlich von Milla zu lösen und ihr zudem noch eine Lektion zu erteilen. Sie sollte am eigenen Leibe erfahren, wie es sich anfühlte, benutzt zu werden. Denn nichts anderes hatte sie mit ihm gemacht: mit seinen Gefühlen gespielt, ihn glauben lassen, dass sie ihn liebte, nur um ihn dann ohne ein Wort der Erklärung zu verlassen – für einen anderen Mann, der ihr mehr bieten konnte als er.

Als er die alte Mühle erreichte, in der er seit etwas mehr als drei Jahren lebte, war es schon fast zehn Uhr, doch im Küchenfenster brannte noch Licht.

Stirnrunzelnd parkte Mårten den Wagen vor dem Schuppen neben dem Haus. Thorbjörn ging für gewöhnlich spätestens um neun zu Bett. Dass er noch auf war, konnte nur bedeuten, dass er auf ihn gewartet hatte. Und das tat der alte Matrose gewiss nicht ohne Grund.

„Hej“, sagte Mårten und legte den Schlüssel auf die Anrichte. „Du bist so spät noch auf?“

Thorbjörn seufzte. „Komm, ich brühe uns erst einmal eine Tasse Tee.“ Er machte Anstalten aufzustehen, doch Mårten winkte ab.

„Nicht nötig. Was ist los? Du hast doch etwas auf dem Herzen.“

„Es geht um deinen Manager, diesen Hallström“, erwiderte Thorbjörn ernst. „Er hat vorhin wieder angerufen und wollte dich unbedingt sprechen. Ich habe ihm gesagt, dass du nicht hier bist, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er mir geglaubt hat. Er wird sich wieder melden.“

„Und?“, fragte Mårten desinteressiert. „Was geht mich das an?“

„Denkst du nicht, dass es langsam an der Zeit ist, die Angelegenheit ein für alle Mal zu klären? Es ist doch jetzt schon fast zwei Jahre her.“

„Hallström soll sich zum Teufel scheren! Ich habe ihm bereits alles gesagt, was es zu sagen gibt. Warum lässt dieser Blutsauger mich nicht endlich in Ruhe?“

Im Grunde kannte Mårten die Antwort natürlich selbst: Er hatte einen Vertrag mit seiner Plattenfirma geschlossen, in dem er sich zur Produktion einer bestimmten Anzahl von Alben verpflichtete, und dieser Verpflichtung kam er nun schon seit zwei Jahren nicht nach. Bisher hatte man große Geduld mit ihm gezeigt, doch mittlerweile spitzte sich die Lage immer mehr zu. Kein Wunder, dass sein Manager langsam nervös wurde!

„Aber es hat doch keinen Sinn, die Sache totzuschweigen! Warum erklärst du ihm und den Leuten von der Plattenfirma nicht, was wirklich mit dir los ist? Wenn sie erfahren, was …“

„Keiner wird davon erfahren, hörst du?“, fiel Mårten ihm brüsk ins Wort. Allein die Erinnerung an jene Tragödie, die sein Leben vor beinahe zwei Jahren bis in die Grundfesten erschüttert hatte, hielt er kaum aus. Sein Vater war tot – und er trug dafür die Verantwortung. Schlimmer noch, er hatte ihn und sich selbst der Möglichkeit beraubt, einander richtig kennenzulernen. Die Schuld lastete wie ein tonnenschweres Gewicht auf seinen Schultern und hatte ihm die Fähigkeit genommen, das zu tun, was er auf der Welt am meisten liebte: Musik zu machen.

Sicher war es durchaus möglich, dass es stimmte, was Thorbjörn sagte. Vielleicht würden sein Manager und die Plattenbosse tatsächlich verständnisvoll reagieren, wenn sie die Wahrheit erfuhren. Doch er konnte einfach nicht darüber reden, und darum musste er mit den Konsequenzen leben.

Etwas ruhiger fuhr er nun fort: „Ich will es nicht, respektier das bitte endlich. Du meinst es nur gut, das weiß ich ja, aber misch dich nicht ein.“ Er zwang sich zu einem Lächeln. „Ach, ehe ich es vergesse: Wir werden in der nächsten Zeit einen Besucher im Haus haben.“

„Wirklich?“, fragte der alte Matrose verblüfft. Mårten lud nicht gerade oft Gäste ein. „Wer kommt denn?“

„Milla.“

„Milla Rosenblad? Wolltest du dich nicht heute mit ihr treffen, um ihr zu erklären, dass du ihr nicht helfen kannst?“ Thorbjörns Miene verfinsterte sich. „Was hast du vor? Du planst doch etwas, das sehe ich dir an.“

„Allerdings.“ Mårten nickte. „Ich werde das Kapitel Milla endgültig zu einem Abschluss bringen.“

„Das gefällt mir nicht.“ Der alte Matrose schüttelte den Kopf. „Es gefällt mir ganz und gar nicht. Aber vermutlich steht es mir nicht zu, darüber zu urteilen.“ Er warf Mårten noch einen Blick zu, der zu sagen schien: Hoffentlich weißt du, was du tust, dann brummte er ein knappes „God Natt“ und schlurfte zur Tür.

Nachdenklich blickte Mårten seinem väterlichen Freund noch einen Moment hinterher, ehe auch er die Küche verließ und die enge Wendeltreppe nach oben in die erste Etage der Mühle stieg, wo sowohl sein Schlaf- als auch das Musikzimmer lagen.

Vor der Tür des letzteren blieb er kurz stehen. Mit einer Mischung aus Sehnsucht und Schwermut strich er über das dunkle Eichenholz, dann wandte er sich rasch ab. Es machte keinen Sinn, Dingen nachzutrauern, die man ohnehin nicht ändern konnte. Aber das Herz war ein sehr eigenwilliger kleiner Muskel – und manchmal weigerte es sich einfach auf das zu hören, was der Verstand und die Logik ihm sagten.

Nervös betrat Milla am Morgen des übernächsten Tags den Vorplatz der im neugotischen Stil errichteten Riddarsholmkyrkan. Der neunzig Meter hohe spitz zulaufende Turm der Kirche überragte die meisten Gebäude der kleinen Altstadtinsel, nach der das Gotteshaus benannt war. Nicht zum ersten Mal warf Milla einen nervösen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war bereits kurz vor halb neun, und mit jeder Minute, die verstrich, wuchs ihre Aufregung.

Es sah Mårten gar nicht ähnlich, zu spät zu kommen. Ob er es sich im letzten Augenblick noch anders überlegt hatte?

Ein Teil von ihr hoffte sogar, dass er nicht mehr kommen würde. Die Aussicht, die nächste Zeit mit ihm zu verbringen, jagte ihr schreckliche Angst ein. Trotzdem kam ein Rückzieher für sie nicht infrage. Von ihrem Erfolg in dieser Sache hing einfach zu viel ab.

Milla hatte bei Hofe erklärt, dass sie bereits erste Vorbereitungen mit Mårten treffen wollte. Ihr war klar, dass sie sich damit womöglich in noch größere Schwierigkeiten brachte, denn sie tat ja so, als ob seine Mitwirkung bei der königlichen Hochzeit praktisch feststand. Sie verstrickte sich immer tiefer in ihre eigene Lügengeschichte, was ihren Erfolg umso wichtiger machte. Das bedeutete jedoch nicht, dass ihr dieses Spielchen gefiel. Normalerweise hasste sie nichts mehr als Unehrlichkeiten, und daher plagte sie auch ein furchtbar schlechtes Gewissen.

Aber Milla war nun einmal fest entschlossen, für ihren Traum zu kämpfen. Und wenn dies der Preis dafür war, würde sie ihn zahlen. Für sich – und für Janna.

Der Gedanke an ihre Tochter, die sie vorübergehend in Lottes Obhut zurücklassen musste – sie konnte sich noch immer nicht überwinden, Mårten die Wahrheit über seine Vaterschaft zu sagen –, machte sie erneut unruhig. So lange am Stück war sie noch nie von Janna getrennt gewesen. Natürlich würde sie so oft wie möglich nach ihr sehen. Doch das machte es für Milla nicht gerade leichter. Ständig würde sie von den schlimmsten Sorgen und Befürchtungen darüber heimgesucht werden, was während ihrer Abwesenheit alles passieren könnte.

Nichts wird geschehen – überhaupt nichts. Du weißt doch, dass auf Lotte Verlass ist. Und im Notfall ist Annika ja auch zur Stelle!

Der Klang einer Autohupe riss Milla aus ihren Gedanken. Mårtens dunkelblauer Volvo hielt am Rand des Platzes. Rasch nahm sie ihre kleine Reisetasche auf und eilte zu ihm. In der Zwischenzeit stieg Mårten aus und öffnete den Kofferraum.

„Du bist spät dran“, sagte Milla, die sich einen kleinen Seitenhieb einfach nicht verkneifen konnte.

Autor

Pia Engström
<p>Pia Engström liebt das wunderbare Schweden über alles – das ist wohl auch der Grund, warum sie den Handlungsort für ihre Geschichten hier ansiedelt. Dennoch packt ihren Mann und sie ab und an das Fernweh, und sie haben schon Reisen in einige entlegene Winkel der Erde unternommen. Die Liebe zur...
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