Romana Traumziele der Liebe Band 17

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ZWISCHEN PFLICHT UND VERLANGEN von KATHARINA GLOCK
Jeden Mittwoch kauft Fürst Philipp von Leyenstein einen herrlichen Strauß bei der bezaubernden Floristin Tabea. Nicht, weil er Blumen so mag, sondern weil er die schöne Bürgerliche heimlich begehrt! Aber Philipp weiß auch, dass Welten sie trennen. Ist seine Liebe zu Tabea größer als der Standesunterschied?

HÖR NUR AUF DEIN HERZ, PRINZESSIN! von KATHARINA GLOCK
Prinzessin von Leyenstein: Isabella hasst ihren Titel. Aus dem Familienschloss ist sie geflohen, weil die Zeit dort alles andere als ein wunderschönes Märchen war. Doch dann lernt sie auf einer Party den charmanten Architekten Jens kennen. Der Prinz ihres Herzens? Bis sie entsetzt erfährt, dass ausgerechnet Jens einen Plan verfolgt, der ihre schlimmsten Wunden aufreißt …

HEIMKEHR NACH SCHLOSS LEYENSTEIN von KATHARINA GLOCK
"Niemals kehre ich zu meiner Familie zurück!" Betroffen hört die zarte Marie die ungehaltenen Worte von Richard von Leyenstein. Ist ihm überhaupt klar, worauf er da verzichtet? Marie weiß es genau, denn sie ist mutterseelenallein auf der Welt. Eine eigene liebevolle Familie ist ihr allergrößter Traum - mit Richard …


  • Erscheinungstag 18.05.2018
  • Bandnummer 0017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744601
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Katharina Glock

ROMANA TRAUMZIELE DER LIEBE BAND 17

DREI ADELSROMANE VON KATHARINA GLOCK

Zwischen Pflicht und Verlangen

Jedes Mal, wenn der elegante Fremde ihren Laden betritt, klopft ihr Herz schneller! Die schöne Floristin Tabea ahnt nicht, wer ihr attraktiver Kunde ist: Fürst Philipp von Leyenstein, der heimlich in sie verliebt ist. Doch seine zärtliche Zuneigung bleibt auf dem Moselschloss nicht unbemerkt und weckt tiefes Misstrauen in seiner standesbewussten Großmutter Gräfin Sofia …

Hör nur auf dein Herz, Prinzessin!

Jens weiß, dass Isabella eine Prinzessin ist. Aber als er sie auf einer Party anspricht, sieht er in ihr schnell unendlich viel mehr: eine verletzliche junge Frau, die die dunklen Seiten des Lebens kennt. Er will sie beschützen, küssen, lieben! Aber zugleich weiß er, dass er der schönen Prinzessin noch mehr Schmerz zufügen wird, wenn sie erfährt, wer er wirklich ist …

Heimkehr nach Schloss Leyenstein

Er ist ein Prinz und sie nur eine Kellnerin. Aber manchmal kommt es Richard von Leyenstein so vor, als sei Marie unendlich viel reicher als er. Denn sie glaubt an Familie, Liebe und Glück. Während er nichts mehr mit seinem adligen Familienclan zu tun haben will, der ihm das Vertrauen in Liebe geraubt hat! Können Maries sanfte Küsse das verwundete Herz des Prinzen heilen?

1. KAPITEL

Tabeas Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich, als sie auf die Uhr sah. Mittwoch. Vierzehn Uhr. Um diese Zeit kam er eigentlich immer in ihren Laden, um Blumen zu kaufen. Dann wählte er einen riesigen Strauß Blumen, nickte ihr zu und verschwand. Dabei wirkte er seltsam distanziert, ohne wirklich unfreundlich zu sein. Bislang hatten die beiden nicht viel miteinander gesprochen.

Heute, schwor sich Tabea. Heute würde sich das ändern. Sie würde endlich den Mut aufbringen und mit ihrem geheimnisvollen Stammkunden sprechen.

Die Türglocke klingelte leise. Das musste er sein!

Bedächtig legte sie das Bouquet zur Seite, an dem sie gerade gearbeitet hatte. Du schaffst das, dachte sie und atmete noch einmal tief durch, bevor sie sich umdrehte.

Vielleicht lag es daran, dass der Unbekannte mit seinen dunklen Haaren, den breiten Schultern und dem ernsten Gesichtsausdruck ein wenig einschüchternd wirkte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Tabea sich zu ihm hingezogen fühlte. Auf eine Art, die ihr Sorgen bereitete. Auf jeden Fall machte er sie unsicher. Dabei sollte sie nicht für ihn schwärmen. Auf keinen Fall! Die Liebe hatte sie schon einmal in die Knie gezwungen. Davon musste sie sich erst noch erholen.

Tatsächlich! Ihr Stammkunde war hereingekommen. Gerade passierte er die kleine Blumeninsel in der Mitte des Ladens. Hier standen die von ihr liebevoll arrangierten Schnittblumen in gewaltigen Vasen dicht an dicht: Rosen, Tulpen und Ranunkeln in allen Farben und Größen. Ein paar gelbblühende Freesien waren auch noch da, genau wie die letzten cremefarbenen Anemonen.

Der große Mann wirkte neben der farbenfrohen Pracht fast unwirklich. Wie immer trug er einen schwarzen, knielangen Wollmantel, der ihn irgendwie düster aussehen ließ. Manchmal war er im Businessstil gekleidet und trug perfekt sitzende, schicke Anzüge. Heute jedoch hatte er eine schwarze Stoffhose und ein einfaches, blaues Hemd gewählt, das unter seinem geöffneten Mantel hervorblitzte.

Während er ihren Laden durchquerte, wirkte er ruhig und geschäftsmäßig. Tabea mochte die Art, wie er sich bewegte. Fast lautlos, aber zielstrebig. Er sah aus wie ein Mann, der wusste, was er wollte.

„Guten Tag“, sagte Tabea und ärgerte sich gleichzeitig über ihre zittrige Stimme. Es war wie jeden Mittwoch. Sobald der Mann ihr Geschäft betrat, war sie nicht mehr Herrin ihrer Sinne.

Heute lächelte er ganz leicht. Tabea war fasziniert, wie dieses kleine Lächeln sein gesamtes Gesicht veränderte. Er sah dann viel jünger, viel sanfter aus. Nicht mehr so dominant und furchteinflößend. Ja, genau. Das war es vielleicht, was sie so nervös machte. Dieser Mann war furchteinflößend und gleichzeitig ziemlich faszinierend.

„Ich habe heute weiße Tulpen im Angebot. Sie sind besonders schön, und ich habe sie extra für Sie zurückgelegt“, sagte Tabea nach einer langen Pause, in der sie einander lediglich gemustert hatten. Der Unbekannte kaufte eigentlich immer Blumen der Saison und verlangte nach großen, opulenten Gestecken. Tabea fragte sich oft, wem er diese Blumensträuße schenkte. Seiner Frau? Er trug einen Ring an der rechten Hand. Ein Umstand, der sie bislang davon abgehalten hatte, genauer nachzufragen.

Verheiratete Männer waren für sie absolut tabu. Und wenn sie ehrlich war, sollte sie eigentlich auch die Finger von den unverheirateten lassen. Ihr Herz lag schließlich noch immer in Scherben.

Ihr Stammkunde war mittlerweile vor ihrer kleinen Ladentheke angekommen. Noch immer hatte er kein Wort gesagt, was nicht ungewöhnlich war. Er schien eher der schweigsame Typ zu sein.

„Weiße Tulpen. Das klingt sehr gut“, antwortete er schließlich, nachdem er sie abermals eingehend von oben bis unten gemustert hatte. Das machte er grundsätzlich. Tabea fühlte sich in diesen Momenten, als würde sie bis in ihr Innerstes durchleuchtet. Es war nicht direkt unangenehm. Eher ungewohnt. Aufregend. Seine samtene, dunkle Stimme ließ außerdem ihr Inneres vibrieren.

Um ein Haar hätte sie verpasst, dass er ihr zugenickt hatte. Er gab ihr damit zu verstehen, dass sie mit dem Binden beginnen konnte. Mittlerweile wusste sie genau, dass ihn die Kosten nicht interessierten. Er wünschte sich lediglich einen Strauß, der ihnen beiden gut gefiel. Offenbar vertraute er dabei ganz auf Tabeas Geschick.

Verwickele ihn in ein Gespräch, dachte Tabea verzweifelt. Ihr Kopf war jedoch leer. Wieder einmal. Um sich nicht zu blamieren, rettete sie sich in ein scheues Lächeln. Sie wollte sich gerade umdrehen, um sich um die Blumen zu kümmern, da sprach er sie zu ihrer Überraschung erneut an.

„Ich würde gerne noch ein weiteres Gesteck in Auftrag geben“, sagte er mit leiser Stimme. Zum ersten Mal überhaupt wirkte er unsicher.

„Aber natürlich.“ Tabea ließ die Schere in ihrer Hand wieder sinken und legte sie auf die Theke zurück. Fragend sah sie ihn an. Dass der Unbekannte mehr als nur einen Strauß in Auftrag gab, war ungewöhnlich.

„Machen Sie auch Grabgestecke?“

„Selbstverständlich.“ Erst jetzt bemerkte Tabea, dass ihr Kunde trauriger wirkte als sonst. Da waren dunkle Augenringe, die sonst nicht vorhanden waren. „Was haben Sie sich denn vorgestellt?“ Bei einem normalen Stammkunden hätte Tabea jetzt gefragt, wer gestorben war. Bei dem mysteriösen Mann wagte sie das jedoch nicht.

„Wenn ich das nur wüsste. Was für ein Gesteck wäre angemessen für eine Großmutter?“

Tabea blickte ihn entsetzt an. „Ihre Großmutter ist gestorben? Das tut mir sehr leid. Mein herzliches Beileid.“ Instinktiv hob sie die Hand und berührte ihn ganz kurz am Arm. Die Theke trennte sie zwar, aber aus irgendeinem Grund wollte Tabea ihn jetzt spüren. Ihm damit zeigen, dass er nicht alleine war.

„Danke“, sagte er fast unhörbar. Langsam sank er auf den Hocker, den Tabea vor ihre Theke gestellt hatte. Es war seltsam, ihn dort sitzen zu sehen. So nahe waren sie einander noch nie gekommen.

„Welche Blumen hat Ihre Großmutter denn gemocht?“, fragte Tabea in die Stille hinein.

Der Mann überlegte einen Moment und schüttelte schließlich den Kopf. „Das weiß ich nicht. Es ist lange her, dass ich sie gesehen habe. Als zehnjähriger Junge interessiert es einen für gewöhnlich nicht, welche Blumen die Großmutter mag. Ich hatte danach niemals die Gelegenheit, sie zu fragen.“

Verblüfft legte Tabea den Kopf schief und musterte ihn. „Das klingt nach einer wirklich traurigen Geschichte.“

Der Mann nickte. Gleichzeitig griff er in die Tasche seines schwarzen Wollmantels und zog einen Brief hervor. Eindeutig ein Trauerschreiben.

„Die Verstorbene war meine Großmutter mütterlicherseits. Zu meiner Mutter Margarete habe ich seit meiner Kindheit keinen Kontakt mehr, seitdem ist auch die Verbindung zu meiner Großmutter abgebrochen. Als meine Mutter fortging, war ich zehn Jahre alt. Jetzt hat sie mir einen langen Brief geschrieben und mich eindringlich gebeten, zur Beerdigung meiner Großmutter zu kommen.“ Langsam schüttelte er den Kopf, als wolle er diesen Gedanken vertreiben. Dann sah er Tabea entschuldigend an. „Verzeihen Sie mir. Sie haben sicherlich viel zu tun. Ich will Sie nicht aufhalten.“

„Oh nein“, versicherte ihm Tabea rasch. „Für meine Stammkunden nehme ich mir so viel Zeit wie nötig.“

Sie verschwieg dabei, dass ihr Herz vor Aufregung Kapriolen schlug. Niemals hätte sie erwartet, dass sich ihr dieser geheimnisvolle Mann plötzlich anvertraute. Es war ein wunderbares und gleichzeitig verwirrendes Gefühl. Um nichts auf der Welt hätte sie dieses Gespräch abbrechen wollen.

Der Mann drehte den Brief nachdenklich in den Händen. „Sie müssen sich fragen, warum ich Ihnen das überhaupt erzähle. Es verwundert mich selbst, um ehrlich zu sein. Leider kann ich mit meiner Familie nicht darüber sprechen. Meine Großmutter väterlicherseits ist auf meine Mutter nicht besonders gut zu sprechen. Von meinen Geschwistern ganz zu schweigen. Die wollen niemals wieder auch nur ein Wort mit ihr reden.

Meine Mutter bat mich in dem Brief, meinen Bruder und meine Schwester über die Beerdigung zu informieren und zu fragen, ob sie ebenfalls kommen möchten.“ Er schüttelte mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht den Kopf. „Das ist eine unmögliche Aufgabe. Wie soll ich sie das fragen? Sie werden ohnehin Nein sagen. Am liebsten wäre mir, ich würde gar nichts von all dem wissen. Aber jetzt, wo ich ihn gelesen hab, geht er mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.“

Er schob ihr schweigend den Umschlag zu. „Ich brauche einen Rat. Soll ich auf die Beerdigung gehen oder nicht?“

Tabea zog eine Augenbraue hoch. „Das ist eine schwierige Frage. Dafür kenne ich die Umstände nicht gut genug. Meine Mutter sagt allerdings immer: Den letzten Wunsch einer Sterbenden darf man nicht ignorieren.“

„Und was ist, wenn man seine eigene Familie gegen sich aufbringt, sobald man diesem Wunsch entspricht? Meine Großmutter väterlicherseits würde mir niemals verzeihen, wenn ich wieder Kontakt mit meiner Mutter aufnehmen würde.“

„So schlimm?“, fragte Tabea.

Er nickte. „Was das angeht, ist meine Großmutter ziemlich streng. Gleichzeitig hat mich der Brief aber sehr berührt.“ Er tippte mit einem Zeigefinger auf das Papier. „Möchten Sie ihn lesen?“

Tabea schüttelte hastig den Kopf. Das war ihr zu persönlich. Ihr Blick wanderte wie von selbst zu dem Ring an seiner rechten Hand. Es war ein Goldring mit einer kleinen Platte im oberen Bereich. Darauf war eine Figur eingraviert. Tabea konnte jedoch nicht genau erkennen, was sie darstellte.

Wie ein Ehering sah er eigentlich nicht aus. Aber was sollte es dann sein?

Der Mann räusperte sich und zog den Brief wieder zurück. „Sie haben recht. Bitte entschuldigen Sie meine Frage. Das war unangebracht.“ Er machte Anstalten aufzustehen.

Tabea hob sofort die Hände, um ihn aufzuhalten. „So war das gar nicht gemeint. Aber dieser Brief war sicher nur für Sie persönlich bestimmt. Ihre Mutter wird es sich nicht leichtgemacht haben, Ihnen nach all den Jahren zu schreiben.“ Sie streckte ihm die Hand hin und lächelte zaghaft. „Wir hatten bislang noch gar nicht die Gelegenheit, einander vorzustellen. Wissen Sie eigentlich, dass Sie mein erster Kunde waren, als ich Anfang des Jahres den Blumenladen eröffnet habe? Seit fast drei Monaten kommen Sie schon jede Woche hierher, aber bislang habe ich nie gefragt, wie Sie überhaupt heißen. Ich bin Tabea Fuhrmann. Es freut mich sehr.“

Sie hielt den Atem an. Gleich. Gleich würde sie endlich erfahren, wie der geheimnisvolle Fremde hieß. Er nahm ihre Hand und schüttelte sie. „Ich bin Fü… Ich meine: Philipp. Ich heiße Philipp.“

Tabea war verwirrt, denn sie hatte sein Zögern bemerkt. Was hatte er eigentlich sagen wollen? Und warum hatte er ihr lediglich seinen Vornamen verraten? Zu gerne hätte sie nachgehakt, aber da hatte er bereits ihre Hand losgelassen und war einen großen Schritt zurückgetreten.

„Ich sollte jetzt gehen“, sagte er mit belegter Stimme und drehte sich um.

„Aber … was ist mit den Tulpen? Und mit dem Trauergesteck?“

Philipp schüttelte den Kopf. Von einer Sekunde auf die nächste wirkte er wieder genauso distanziert wie vor ihrem Gespräch. „Vergessen Sie die Blumen. Vergessen Sie auch das Gesteck. Es war dumm von mir, Sie damit zu belästigen. Das kommt nicht wieder vor. Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag.“

Fassungslos musste Tabea mit ansehen, wie Philipp ihren Laden fast fluchtartig verließ. Ihr Herz war schwer, und sie fühlte sich schrecklich elend. Hatte sie eine unsichtbare Grenze überschritten? Das ungute Gefühl wurde stärker, je länger sie reglos einfach nur dastand. Hatte sie mit ihrer Fragerei ihren besten Stammkunden für immer verloren? Den Mann, auf den sie sich jede Woche aufs Neue gefreut hatte?

Ihr war natürlich klar, dass ihre Schwärmerei einfach nur dumm war. Philipp war sicher verheiratet und wollte ihr deswegen seinen vollständigen Namen nicht nennen.

Sie sollte ihn sich ganz schnell aus dem Kopf schlagen. Immerhin erholte sie sich noch von ihrer letzten Beziehung. Die hatte tiefe Wunden in ihrem Herzen hinterlassen, hatte sie sogar dazu veranlasst, umzuziehen. Sie hatte es im Ruhrgebiet nicht länger ausgehalten und war nach Cochem gezogen. Hier an der Mosel, umgeben von den Weinranken, dem Lachen der Touristen und der Reichsburg, war sie zur Ruhe gekommen.

Sie hatte den Blumenladen von einer Bekannten ihrer Eltern übernommen. Früher hatte er „Blumenparadies“ geheißen, doch sie hatte ihn in „Tabeas Blumenbar“ umgetauft. Damit war sie in die Fußstapfen ihrer Eltern getreten, die ihren Blumenladen im Ruhrgebiet nach dem Namen ihrer Mutter benannt hatte. „Gretas Blumenbar“. Im elterlichen Betrieb hatte sie nach ihrer Lehre zur Floristin lange Zeit gearbeitet. Es war schön gewesen, vertraut. Doch nach der Sache mit Felix hatte sie ihrer Heimat den Rücken kehren müssen. Es hatte einfach zu wehgetan. Also war sie im Dezember nach Cochem gezogen und hatte dann Anfang des Jahres den Laden eröffnet.

Und gerade, als sie dachte, alles sei geregelt, war Philipp in ihr Leben getreten. Es war wie ein Blitzschlag gewesen. Ein Kribbeln, ein Prickeln tief in ihr drin. Sie hatte sich geschworen, erst einmal die Finger von den Männern zu lassen, wieder zu sich selbst zu finden, alleine zu bleiben.

Doch das Alleinsein war ein großes Problem. Sie fühlte sich isoliert. An manchen Tagen vermisste sie ihre Eltern und ihre Schwester Nadja so sehr, dass sie kurz davor war, alles aufzugeben. Zurückzugehen. Allerdings bedeutete das, Felix möglicherweise wieder zu begegnen. Felix, der sie verraten und betrogen hatte. Gedemütigt.

Ihre Eltern hatten natürlich längt bemerkt, wie unglücklich sie war. Anfangs hatten sie voll hinter Tabeas Idee gestanden, den alten Blumenladen zu übernehmen. Doch erst vorgestern hatte ihre Mutter sie eindringlich gebeten, es sich noch mal zu überlegen. Zurückzukommen. Ihren Laden aufzugeben. Denn nicht nur die Einsamkeit machte Tabea zu schaffen, sondern auch das Geschäft selbst. „Tabeas Blumenbar“ lief längst nicht so gut wie erhofft. Die Bekannte ihrer Eltern hatte sie bereits vorgewarnt, dass die Cochemer in letzter Zeit eher in dem großen Blumenhandel am Rande der Stadt einkaufen gingen. Sie hatte sich noch bis zu ihrer Rente über Wasser halten können. Tabea hatte gedacht, dass sie das Blatt mit guten Gestecken und neuen Blumenideen wenden könnte. Offenbar ein Irrtum. Und jetzt hatte sie auch noch ihren einzigen treuen Stammkunden verloren.

Philipp. Sie hatte längt die Vermutung, dass sie nur noch wegen ihm an Cochem festhielt. Seine kurzen Besuche hatten sie bislang so aufgemuntert, dass sie die Mosel nicht hatte verlassen wollen. Jetzt aber schien sie ihre Chance verspielt zu haben, ihn jemals wirklich kennenzulernen.

Philipp konnte nicht fassen, was er getan hatte. Wieso nur hatte er ihr von dem Brief erzählt? Wieso hatte er ihr so viel über seine Familie verraten? Normalerweise war er absolut verschwiegen. Das musste er auch sein. Die Geschichte wäre für die Klatschpresse ein gefundenes Fressen. Ganz zu schweigen davon, dass er normalerweise nicht gerne über seine Gefühle sprach.

Also warum? Warum hatte er seine Prinzipien verworfen?

Wenn er ehrlich war, wusste er die Antwort längst. Sie lag tief verborgen in seinem Herzen. Als er Tabea das erste Mal vor etwa drei Monaten auf dem Marktplatz gesehen hatte, war es wie ein Stich in sein Herz gewesen. Sie hatte ihre schulterlangen, braungelockten Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, was sie gleichzeitig mädchenhaft und faszinierend aussehen ließ. Vollkommen entspannt hatte sie die ersten Sonnenstrahlen des Jahres genossen, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. In ihren Händen hatte sie ein halb gegessenes Eis gehalten, das unbeachtet von ihr in der Sonne geschmolzen war. Dass es Anfang Januar noch eiskalt draußen war, hatte sie nicht gestört.

Es war ein Anblick gewesen, den er nie wieder vergessen würde. Noch nie in seinem Leben hatte eine Frau solch ein Gefühlschaos in ihm ausgelöst. Er hatte sich damals erlaubt, sie für etwa zehn Sekunden heimlich zu beobachten. Sich ihren Anblick einzuprägen. Dann war er gegangen, in dem festen Wissen, sie niemals wiederzusehen. Er hatte sie für eine Touristin gehalten. Die kamen und gingen wie der Schnee.

Doch am Geburtstag seiner Großmutter hatte ihn sein Weg in den neu eröffneten Blumenladen in der Innenstadt geführt. Er hatte damals einen viel zu großen Strauß gekauft, einfach nur, damit sie möglichst lange mit dem Binden beschäftigt war. Er hatte ihren Anblick genossen. War zur Ruhe gekommen. Hatte sich einfach nur wohl gefühlt. Seitdem kam er jeden Mittwoch zu ihr. Er gab es nicht gerne vor sich selber zu, doch das war mittlerweile der Höhepunkt seiner Woche geworden.

Und jetzt das. Die Vollkatastrophe. Er hatte ihr nur seinen Vornamen genannt. Aus einem Impuls heraus. Eigentlich wusste jeder in Cochem, wer er war. Für ihn war es gar nicht möglich, unerkannt durch die Straßen zu gehen. Fast immer sprach ihn jemand an oder nickte ihm respektvoll zu.

Also warum hatte er ihr nicht einfach gesagt, dass er Fürst Philipp von Leyenstein war? Normalerweise hatte er kein Problem mit seinem Titel. Im Gegenteil: Er war stolz auf seine Familie. Seit dem Tod seines Vaters vor sechzehn Jahren war er das Oberhaupt der Familie Leyenstein und trug damit viel Verantwortung.

Und jetzt hatte er sich hinreißen lassen und Tabea viel zu viel über seine Familienprobleme erzählt. Ihr auch noch seine wahre Herkunft zu verraten, war ihm dann zu heikel erschienen.

Tabea. Endlich hatten sie sich einander vorgestellt. Natürlich hatte er längst den Namen der jungen Frau herausgefunden, die Anfang des Jahres nach Cochem gezogen war. Er war meist gut darüber unterrichtet, was in der Stadt geschah. Dass es eine neue Blumenhändlerin gab, hatte sich schnell herumgesprochen.

Tabea. Ihren Namen aus ihrem Mund zu hören, hatte ihn seltsam berührt. Und was hatte er daraufhin getan? Er hatte den Moment vollkommen ruiniert.

Kopfschüttelnd wartete er darauf, dass die riesigen gusseisernen Torflügel vor dem Schloss so weit aufgeschwungen waren, dass er hindurchfahren konnte. Der frisch geharkte Kies knirschte unter den Reifen seines Land Rovers. Vor ihm erhob sich der beeindruckende Anblick von Schloss Leyenstein, das seit Jahrhunderten im Familienbesitz war. Es war eine spannende Mischung aus verträumt romantischem Flair und mittelalterlichem Ambiente. Philipp liebte den Anblick seines Zuhauses: die verspielten Türme, die verschnörkelten Erker, der helle Sandstein und das mit dunklem Schiefer gedeckte Dach. Normalerweise bekam er dadurch gleich bessere Laune, doch gerade war das nicht der Fall.

Heute war sein Herz gleich doppelt schwer. Der Brief belastete ihn mehr, als er für möglich gehalten hätte. Auch seine unrühmliche Flucht vor Tabea verdüsterte seine Gedanken. Beim Anblick seiner Großmutter, die vor dem Eingangsportal auf ihn zu warten schien, musste er deshalb tief durchatmen. Was machte sie nur hier draußen?

Eigentlich kam er gut mit der Gräfin aus, doch Gespräche waren meist anstrengend. Sie war kein Freund von fröhlicher Konversation und achtete streng auf Etikette. Umso verwirrter war Philipp, dass sie auf dem Hof auf ihn wartete. Das ließ nichts Gutes befürchten.

Philipp parkte den Wagen links neben dem gewaltigen Springbrunnen in der Mitte des Hofes. Ein Diener kam sofort herbei, um den Wagen auf den offiziellen Parkplatz hinter dem Schloss zu fahren. Philipp überreichte ihm die Schlüssel. „Ist etwas geschehen?“, fragte er den Diener leise.

„Eure Durchlaucht, Gräfin Sofia, hat sich nicht davon überzeugen lassen, im Warmen auf Sie zu warten. Es tut mir leid, Durchlaucht.“

Philipp straffte sich und ging auf seine Großmutter zu. Die alte Dame trug ein dunkelblaues, bodenlanges Kleid mit Spitzenverzierungen an den Ärmeln. Ihre dunkelgrauen Augen musterten ihn mit strengem Blick. Wie immer ließ sie nicht durchblicken, was sie wirklich dachte. „Du überraschst mich“, sagte sie anstatt einer Begrüßung.

Philipp schwieg zunächst, nahm ihre Hand und deutete als Ehrerbietung einen Handkuss an. Dann erst richtete er sich auf und sah sie fragend an. „Inwiefern?“

„Heute ist Mittwoch. Da bringst du mir normalerweise Blumen mit.“

Jetzt war Philipp vollkommen verwirrt. Dass seine Großmutter auf ihn wartete, weil sie den Blumenstrauß in Empfang nehmen wollte, hielt er für ausgeschlossen. Er war sich ziemlich sicher, dass die Gräfin etwas anderes hatte fragen wollen. Sie musterte ihn noch eindringlicher als sonst. „Ich bin heute leider nicht dazu gekommen, in den Blumenladen zu gehen“, wich er ihr aus.

„Was hat dich aufgehalten?“ Sie wirkte nun eher verärgert. Als würde Philipp nicht das sagen, was sie hören wollte. Schon länger hatte Philipp den Eindruck, dass seine Großmutter etwas mit ihm besprechen wollte. Etwas Wichtiges. Aus irgendeinem Grund brachte sie es nur nicht über sich, es endlich in Worte zu fassen.

Was ging hier vor?

Die Wahrheit für seine Verspätung wollte er ihr auf keinen Fall sagen. Er konnte ihr unmöglich gestehen, dass er für die Beerdigung seiner anderen Großmutter einen Kranz hatte bestellen wollen. Sie würde zornig werden.

Oder wusste sie das längst? Hatte sie bereits erfahren, dass Großmutter Frieda vor drei Tagen verstorben war? Das könnte auch erklären, warum sie hier draußen auf ihn wartete. Der April war zwar in diesem Jahr ungewöhnlich warm, aber der Wind war noch recht frisch. Es sah ihr gar nicht ähnlich, der Kälte zu trotzen.

„Ich bin noch einmal bei den Weinhängen vorbeigefahren und habe mir die Weinstöcke dort angesehen. Das hat länger gedauert als erwartet“, sagte er. Das war nicht gelogen. Es war eben nur die halbe Wahrheit.

Die beiden maßen einander in einem stummen Duell. Wie immer gab Philipp zuerst auf und sah fort. Dieser strenge Blick der Gräfin war vermutlich auch mit ein Grund, weshalb seine Schwester Isabella und sein Bruder Richard nicht mehr hier wohnten. Sie hatten sich eingeengt, beobachtet gefühlt und waren geflohen. Nur er war zurückgeblieben. Als Erbprinz hatte er auch gar keine Wahl gehabt. Er musste das Familienunternehmen führen. Zwanzig Hektar Weinanbaugebiet. Dazu noch gut dreißig Hektar Wald. Er hatte viele Angestellte, doch auch die mussten angeleitet und geführt werden. Die meiste Arbeit machte immer noch das Weingut mit den Weinproben und den verschiedenen touristischen Attraktionen. Aber auch die Instandhaltung des gesamten Anwesens erforderte seine Aufmerksamkeit.

Philipp wollte sich jedoch nicht beschweren. Er mochte seine Arbeit und sein Leben, allerdings fühlte er sich häufig einsam. Seine Großmutter Sofia war kein einfacher Mensch. Bei ihr musste jedes Gespräch einen tieferen Sinn haben.

Während er neben seiner Großmutter zum Eingang des Schlosses ging, kam er sich so allein wie selten zuvor vor. Das lag vermutlich daran, dass er sich noch immer über das Gespräch mit Tabea ärgerte. Er hatte sich ihr geöffnet. Ein seltsames, aber auf eine sehr erschreckende Art auch schönes Gefühl. Es war lange her, dass er jemandem solch persönliche Dinge erzählt hatte.

„Zum Osterball werden Fürst und Fürstin Grundstein mit Prinzessin Annabell kommen“, sagte seine Großmutter unvermittelt. „Ich erwarte, dass du dich um die Prinzessin kümmern wirst.“

Ein Stich ging durch Philipps Herz. So wie die Gräfin das sagte, sollte er der Prinzessin nicht nur ihre Zeit auf Schloss Leyenstein so angenehm wie möglich gestalten. Seitdem Philipp dreißig Jahre alt geworden war, suchte seine Großmutter nach einer geeigneten Heiratskandidatin. Das war jetzt vier Jahre her. Bislang hatte sie noch keine geeignete Dame gefunden, was für Philipp ein Segen war. Er wusste, dass er als Oberhaupt der Familie Leyenstein bald heiraten musste. Ohne einen männlichen Nachfolger würde sein Geschlecht aussterben. Im Bereich des Hochadels hatte er aber bislang noch keine Frau entdeckt, die sein Herz höherschlagen ließ. Zumindest nicht so, wie es bei der einfachen Blumenhändlerin der Fall war. Tabea.

Da er nicht antwortete, berührte seine Großmutter ihn sanft am Arm, zwang ihn auf diese Weise, sie anzusehen. „Prinzessin Annabell ist nicht gebunden. Ihre Eltern würden über eine Verbindung hocherfreut sein. Das Gleiche gilt für mich.“ Ihre stahlgrauen Augen bohrten sich in seine. „Es wird Zeit, Philipp. Du bist jetzt vierunddreißig Jahre alt. Du musst eine Familie gründen.“

Sie waren mittlerweile am Eingang angekommen. Rechts und links standen zwei mannshohe steinerne Löwen. Wichtige Symbole des Familienwappens. Dahinter erhob sich die gewaltige Eingangshalle des Schlosses. Zum ersten Mal überhaupt verspürte Philipp einen gewissen Widerwillen, sein Heim zu betreten. Er blieb stehen, um den Blick seiner Großmutter zu erwidern.

„Ich werde eine Frau finden, die mein Herz berührt. Und dann werde ich sie auch heiraten“, sagte er mit fester Stimme.

„Es muss auch eine Dame von Stand sein. Vergiss nicht: Sie wird einmal an oberster Stelle der Familie stehen. Einen erneuten Skandal wie bei deinen Eltern können wir uns nicht leisten. Deine Mutter Margarete hat Schande über uns gebracht und bewiesen, dass eine Bürgerliche einfach nicht dazu in der Lage ist, solch eine Verantwortung zu übernehmen. Prinzessin Annabell wurde hingegen seit Jahren intensiv auf ein Leben in Adelskreisen vorbereitet. Sie könnte die Position an deiner Seite perfekt ausfüllen“, erinnerte ihn seine Großmutter.

All das wusste Philipp natürlich. Der Skandal überschattete noch immer sein Leben. Die Bürgerliche, die erst das Herz des Fürsten erobert und dann von einem Tag auf den anderen verschwunden war. Zurück hatte sie ihre drei Kinder und ein gebrochenes Fürstenherz gelassen.

Philipp wusste ganz genau, was von ihm erwartet wurde. Doch was war, wenn er sein Herz längst verschenkt hatte? Wenn sein Herz einer jungen Frau unten aus dem Ort gehört? Die Geschichte seiner Eltern durfte sich nicht wiederholen. Deshalb war eine Beziehung mit einer Bürgerlichen für ihn vollkommen unmöglich.

In dieser Sekunde schwor er sich, niemals wieder einen Fuß in Tabeas Laden zu setzen. Er musste sich und seine Familie schützen. Und das ging nur, wenn er Tabea niemals wiedersah.

2. KAPITEL

Heute waren wieder erschreckend wenig Kunden in ihren Laden gekommen. Tabea versuchte, das ungute Gefühl so gut es ging zu verdrängen, doch mittlerweile fragte sie sich, wie es weitergehen sollte. Sie war voller Euphorie nach Cochem gekommen. Der kleine Blumenladen lag in der Altstadt, was zunächst nach einem perfekten Standort geklungen hatte. Doch die Wahrheit war: Touristen kauften selten Blumen, und die Cochemer gingen lieber in den großen Blumenmarkt am Rand der Stadt.

Mit den dortigen Preisen konnte Tabea nicht mithalten. Das war unmöglich. Stattdessen hatte sie auf Charme und eine gute persönliche Beratung gesetzt. Ihr Laden strahlte das Herzblut aus, das sie hineingesteckt hatte. Jeden Morgen band sie mit viel Liebe zur Jahreszeit passende Blumensträuße und stellte sie vor dem Eingang aus. An der Markise hingen opulente Blumenampeln, sodass ihr Geschäft schon von Weitem zu sehen war. Ein Farbenmeer inmitten der mittelalterlichen Altstadt. Tatsächlich wurde ihr Laden häufig von Touristen fotografiert, und sie bekam ungewöhnlich viel Lob dafür. Doch gekauft wurde leider nur wenig.

Tabea hatte sich mit ganz besonderen Blumengestecken einen guten Ruf erarbeitet. Für Hochzeiten und Geburtstage wurde sie mittlerweile recht oft gebucht. Doch das ganz normale Tagesgeschäft sah nach wie vor düster aus.

Die Glocke an der Eingangstür läutete und riss sie aus ihren finsteren Gedanken. Eine ältere Dame kam herein. Sie hatte ihr weißes Haar zu einem strengen Dutt zusammengefasst und trug ein mitternachtsblaues Kostüm, das sie sehr formell aussehen ließ. Dazu passte auch ihr kühler Gesichtsausdruck und der stechende Blick, mit dem sie Tabea bedachte.

Die Dame lief strammen Schrittes zu ihr, ohne den Blumen auch nur einen Blick zu gönnen. Das war eher ungewöhnlich. Normalerweise bewunderten ihre Kunden die farbenprächtigen Blumen, die sie in der Mitte des Ladens liebevoll arrangiert hatte. Diese Dame hingegen fixierte sie, als wolle sie dafür sorgen, dass sie nicht entkommen konnte.

„Sind Sie Tabea Fuhrmann?“, fragte die Fremde. Ihre Stimme klang genauso herrisch, wie ihr gesamtes Auftreten wirkte.

„Die bin ich. Was kann ich für Sie tun?“

„Normalerweise kauft mein Enkel bei Ihnen jeden Mittwoch einen Strauß Blumen. Bislang habe ich mich nicht darum gekümmert, woher er die Blumen hat, aber diesen Mittwoch ist er ohne Gesteck bei uns angekommen. Ich habe auf einer alten Rechnung den Namen Ihres Ladens entdeckt.“

Tabeas Herzschlag beschleunigte sich sofort. Hatte sie etwa Philipps Großmutter vor sich? Aber warum tauchte sie einfach so in ihrem Laden auf?

„Möchten Sie, dass ich Ihnen einen Strauß binde? Wir haben ganz herrliche Tulpen, die perfekt mit den letzten Ranunkeln dieser Saison harmonieren würden. Der ideale Frühlingsstrauß“, sagte sie zögernd.

Die Dame nickte kaum sichtbar und trat zur Seite, damit Tabea die Blumen aus den verschiedenen Vasen zusammensuchen konnte. Tabea fühlte sich, als würde jede ihrer Bewegungen bewertet. Es war ein eher unangenehmes Gefühl.

„Sie sind noch nicht lange in der Stadt. Ich kenne eigentlich jeden aus Cochem“, sagte die alte Dame, während Tabea mit geübten Griffen den Strauß band.

„Das ist richtig. Ich bin erst Anfang des Jahres hierhergezogen.“ Tabea betete, dass die Dame nicht nach den Gründen fragte. Sie hätte sie nur sehr ungerne angelogen, doch die Wahrheit tat weh. Sie war zu persönlich, um sie einer Fremden zu erzählen. Vor allem einer Fremden, die sie nervös machte.

„Wir haben regelmäßig große Veranstaltungen. Dafür suche ich eine erfahrene Floristin, die die Gestecke für uns anfertigen könnte. In ein paar Wochen steht das große Frühlingsfest an. Mein Enkel schwört auf Ihre Arbeit, und ich muss zugeben: Ihre Blumensträuße sehen wirklich ganz fantastisch aus. Ich würde Sie gerne engagieren. Kommen Sie morgen zu uns, um sich das Ambiente anzusehen. Ich erwarte eine pünktliche Lieferung, einzigartige Gestecke und Blumen, die langlebig sind.“ Die alte Dame fragte nicht, ob Tabea Zeit hatte. Sie nahm es einfach an. Fast automatisch nickte Tabea, während es in ihrem Kopf arbeitete.

Wenn das Philipps Großmutter war und sie morgen zu ihr fahren würde, würde sie dann auch auf ihren geheimnisvollen Stammkunden treffen? Die Chancen standen ganz gut, wobei Philipp vermutlich nicht bei seiner Großmutter wohnte. Trotzdem. Allein die kleine Möglichkeit ließ ihr Herz schneller schlagen.

Der Strauß war gebunden, und Tabea wandte sich ihrer Kundin zu. Die musterte die kunstvoll arrangierten Blumen und nickte zufrieden. „Bringen Sie den Strauß morgen mit. Punkt acht Uhr. Kommen Sie nicht zu spät.“ Damit drehte sie sich um und wollte gehen.

„Halt!“, rief Tabea erschrocken. „Ich weiß doch gar nicht, wohin!“

Die Dame musterte sie mit einem verärgerten Blick. „Ich bin Gräfin Sofia Magdalena zu Leyenstein, ehemals Fürstin von Leyenstein. Von meinen Mitarbeitern erwarte ich, dass sie meine Familie kennen. Informieren Sie sich.“ Ein letzter tadelnder Blick, dann war sie genauso schnell verschwunden, wie sie gekommen war.

Zurück ließ sie eine fassungslose Tabea. Gräfin von Leyenstein? Sie hatte von der Adelsfamilie gehört, die auf einem Schloss in der Nachbarstadt von Cochem wohnte. Eigentlich war es unmöglich, nicht von der Familie gehört zu haben. Die von Leyensteins galten als wichtige Förderer kultureller Projekte. Sie hatten eigentlich ihre Finger überall mit im Spiel.

Wenn die Gräfin Philipps Großmutter war – was für einen Titel hatte er dann? War er etwa DER Philipp von Leyenstein? Der Fürst? Bei dem Gedanken wurde Tabea mulmig. Dass ihr geheimnisvoller Stammgast ein Fürst sein sollte, fühlte sich seltsam an. Gleichzeitig machte sie die Erkenntnis traurig. Dass sich ein Fürst jemals auf sie einlassen würde, erschien ihr vollkommen absurd. Jetzt war es auch ganz deutlich: Sie musste ihre Schwärmerei aufgeben, sich auf ihr Geschäft konzentrieren.

Aber Philipp hatte so traurig gewirkt. Ob Fürst oder nicht: Sie wollte ihm gerne helfen.

Nachdem sie seine Großmutter kennengelernt hatte, wusste Tabea auch, warum Philipp der alten Dame nichts über den Tod seiner anderen Großmutter erzählen wollte. Sofia von Leyenstein war ein echter Drachen. Offenbar war sie es gewohnt, dass alles nach ihrem Willen geschah. Wenn sie nicht wollte, dass Philipp zur Beerdigung seiner Großmutter mütterlicherseits ging, dann würde er es schwer haben.

Beim Gedanken an Philipp kribbelte es sofort in ihrem Magen. Würde sie ihn wiedersehen? Sie brauchte einen Moment, um das Kribbeln als Vorfreude zu erkennen. Sofort ermahnte sie sich. Keine Schwärmerei mehr! Philipp war ein Fürst und damit unerreichbar für sie.

Tabea fluchte leise vor sich hin. Sie war auf dem Weg zu Schloss Leyenstein und konnte vor Nervosität kaum das Lenkrad halten. Eigentlich hatte sie sich gestern noch über die Familie Leyenstein informieren wollen, doch ihre Internetverbindung hatte nicht funktioniert. Deshalb war sie jetzt auf dem Weg, ohne genau zu wissen, was sie erwartete. Wie musste sie die Gräfin überhaupt korrekt ansprechen? Was gehörte sich? Was nicht?

Sie konnte es sich nicht leisten, die Gräfin zu verärgern und den Auftrag zu verlieren. Wenn sie es schaffte, Zugang zu diesen Kreisen zu bekommen, dann könnte das langfristig ihren Laden retten. Sie würde nicht zu ihren Eltern zurückkehren müssen. Zurück in ihr altes Leben, wo dauernd die Gefahr bestand, Felix über den Weg zu laufen. Ihr Griff um das Lenkrad wurde fester. Es würde schon alles gut gehen, dachte sie verzweifelt.

Sie bremste den kleinen Lieferwagen ab, als plötzlich Schloss Leyenstein in seiner vollen Pracht vor ihr lag. Rund um das gewaltige Gebäude präsentierten sich die eindrucksvollen Weinhänge des Anwesens. Alte Festungsmauern trennten die verschiedenen Weinsorten voneinander, was das Ganze noch beeindruckender aussehen ließ. Eine noch größere Mauer schloss sich direkt an die Weinanbaugebiete an. Dahinter erhoben sich die Zinnen der Trutzburg.

Ihr Blick wurde automatisch von dem größten Turm angezogen, auf dessen Spitze eine Fahne wehte. Vermutlich das Familienwappen der Leyensteins. Es zeigte eine verschlungene Rebe in Form eines Herzens. Schön, aber schlicht. Rechts neben dem Turm erahnte sie das Hauptgebäude, das von der riesigen Mauer zum größten Teil verdeckt war. Tabea war so fasziniert, dass sie das Tor fast übersehen hätte, das ihr den Weg versperrte.

In letzter Sekunde trat sie auf die Bremse, und ihr alter VW Caddy kam gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Das Tor trennte den Waldbereich von den dahinterliegenden Weinbergen ab. Es war einschüchternd.

Nach einer Weile entdeckte Tabea eine Sprechanlage am Rand des Tores.

„Wen darf ich anmelden?“, erscholl Sekunden später eine Stimme aus dem Lautsprecher.

„Tabea Fuhrmann. Die Gräfin erwartet mich. Ich bin die Blumenhändlerin aus Cochem.“ Das Kribbeln in Tabeas Magen verstärkte sich. Sie hatte geahnt, dass die Leyensteins anders lebten als die übrigen Menschen. Doch dass es so förmlich zugehen würde, hatte sie nicht erwartet.

Das Tor schwang wie von Geisterhand auf, und Tabea konnte hindurchfahren. Sie folgte einer breiten, geteerten Straße, die inmitten der Weinreben angelegt war und direkt zum gewaltigen Eingangstor des Schlosses führte. Kurz bevor sie dort angekommen war, wurde sie von einem Mann aufgehalten, der ihr am Wegesrand zuwinkte. Sie hielt an.

„Sie dürfen nicht durchs Haupttor hindurchfahren. Sie müssen die Schlossmauer umrunden und den Lieferanteneingang benutzen. Die Hauswirtschafterin erwartet Sie bereits“, sagte der Mann. Er trug einen schwarzen Anzug mit Livree und war offenbar ein Bediensteter des Hauses.

Tabea dankte ihm und fuhr los. Sie war erstaunt, wie riesig das Schloss war. Schließlich erreichte sie den Lieferanteneingang. Dahinter lag ein hübscher Innenhof, der mit schneeweißem Kies ausgelegt war. Blumenrabatten rechts und links ließen ihr Herz höherschlagen.

Eine schlanke Frau um die fünfzig stand neben einer reich verzierten Eingangstür und winkte sie heran.

„Die Gräfin erwartet mich bereits“, sagte Tabea, nachdem sie einander begrüßt hatten. Die Hauswirtschafterin schüttelte vehement den Kopf.

„Die Gräfin hat mich bereits eingewiesen. Ich übernehme ab hier. Folgen Sie mir bitte.“

Tabea gehorchte und folgte der Hauswirtschafterin in einen Flur, der mit cremefarbenen Fliesen ausgelegt war. Die Wände waren weiß getüncht und die Decke kunstvoll bemalt.

„Das diesjährige Osterfest wird im großen Ballsaal stattfinden. Normalerweise schmücken wir ihn mit Blumen aus unserem Garten, aber in diesem Jahr ist Ostern sehr früh, und die Blumen sind noch nicht so weit. Die Gräfin hat ausdrücklich nach Ihnen verlangt.“ Tabea bemerkte den neugierigen Blick, den die Hauswirtschafterin ihr zuwarf. Offenbar war es eher ungewöhnlich, dass die Gräfin eine Gärtnerin aus Cochem beauftragte. Tabea wunderte sich ja selbst über diese glückliche Fügung. Oder hatte Philipp seine Hände mit im Spiel gehabt?

Tabea war noch nie in einem bewohnten Schloss gewesen. Die Fliesen wurden in der Mitte des Ganges von einem kunstvoll verzierten, hellen Teppich verdeckt. Von dem schmalen Gang ging es in einen sehr viel größeren Saal. Die hohe geschwungene Decke im gotischen Stil war mit blau-weißen Ranken bemalt. Kniehohe Vasen standen in den Ecken, und auf den dunklen Möbeln funkelten Kerzenleuchter. Von hier ging es in einen noch viel größeren Raum. Gewaltige goldverzierte Kronleuchter hingen an der Decke. Die Fenster bestanden aus bunten Mosaiken, die farbenfrohe Lichter auf den Boden warfen. Ein riesiger, schneeweißer Kamin dominierte das Ende des Raumes. Rechts und links davon vermittelten auf Hochglanz polierte Ritterrüstungen ein mittelalterliches Flair.

„Der große Ballsaal“, erklärte die Hauswirtschafterin. „Die Gräfin wünscht Blumen in eher gedeckten Farben. Weiße Tulpen wären durchaus in ihrem Sinne. Kommen Sie! Ich zeige Ihnen, wo Sie Vasen finden können. Auch der Hof sollte geschmückt werden, genau wie die Terrasse.“

Den Rest des Morgens verbrachte Tabea damit, die Blumenarrangements mit der Hauswirtschafterin durchzusprechen. Diese ging auf die meisten Vorschläge ein, andere verwarf sie sofort wieder. Sie schien genau zu wissen, was die Gräfin mochte und was nicht.

Tabea stand gerade auf der Terrasse und machte sich Notizen, als sie ein Geräusch aufblicken ließ. Sie war allein, denn die Hauswirtschafterin war ins Schloss gerufen worden.

Ein Mann kam langsam auf sie zu. Er folgte dabei dem schmalen Kiesweg zwischen den Blumenrabatten hindurch. Noch hatte er sie nicht bemerkt, denn er studierte im Gehen eine Aktenmappe und schien ganz vertieft in seine Arbeit zu sein.

Tabea hingegen hatte ihn auf den ersten Blick erkannt. Philipp. Hastig sah sie sich nach rechts und links um, doch sie konnte nirgendwohin. Aus irgendeinem Grund hatte sie Angst vor einer erneuten Begegnung. Es fühlte sich falsch an. Seitdem sie wusste, dass er der Fürst war, fühlte sie sich gehemmt. Was sollte sie zu ihm sagen?

Für eine Flucht war es jedoch ohnehin zu spät. Philipp blickte in dieser Sekunde auf und sah sie. Er erstarrte in der Bewegung und ließ erstaunt die Aktenmappe sinken.

Auch Tabea rührte sich nicht. Sie erwiderte seinen dunklen Blick und fühlte, wie ihr gesamter Körper in Aufruhr geriet. Bitte, dachte sie stumm, lächele mich an. Sie konnte diesen ernsten Ausdruck auf seinem Gesicht nicht enträtseln, was ihr Angst machte.

„Was machen Sie denn hier?“, herrschte Philipp sie in dieser Sekunde an. Sein Tonfall war eindeutig. Er war äußerst ungehalten, sie zu sehen. Er klang regelrecht entsetzt.

„Ich … ich …“, stotterte Tabea verwirrt. All ihre Hoffnungen verpufften sofort. Er hatte eindeutig nichts damit zu tun, dass sie den Auftrag bekommen hatte. Im Gegenteil. Er wollte sie gar nicht hier haben. „Ihre Großmutter hat mich beauftragt. Ich soll die Blumenarrangements für den Frühlingsball gestalten. Ich dachte, Sie wüssten das.“

„Nein. Das wusste ich nicht.“ So wie er es sagte, ärgerte er sich darüber. Eine Weile sahen sie einander an, schienen beide nicht zu wissen, was sie sagen sollten. Die Sekunden zogen sich in die Länge. Da ging ein Ruck durch Philipps gesamten Körper. Er packte seine Aktenmappe fester und schob sich an ihr vorbei.

Einem Impuls folgend, berührte Tabea ihn kurz am Ellenbogen. „Ihr Geheimnis ist bei mir sicher“, erklärte sie mit fester Stimme und hielt seinem bohrenden Blick stand. Er hatte graue Augen mit einem spannenden, etwas dunkleren äußeren Ring. „Ich werde niemandem von dem Brief erzählen.“

In Philipps Miene war absolut nicht zu erkennen, was er dachte. Schließlich nickte er kurz und wollte weitergehen, da trat die Hauswirtschafterin aus der Tür heraus. Sie verharrte im Schritt und rettete sich dann in einen hastigen Knicks.

„Fürst Philipp“, sagte sie mit leicht gesenktem Haupt. Sie klang zwar überrascht, aber auch hocherfreut. „So früh schon unterwegs?“

„Ich war in den Weinbergen. Der drohende Frost hat mir Sorgen bereitet“, sagte Philipp.

Tabea bekam seine Worte fast nicht mit. Fürst. Da war das Wort. Philipp war also wirklich der Fürst von Leyenstein. Eine kleine Hoffnung hatte sie noch gehabt, dass er jemand anderes sein könnte.

Sie hatte schon viel von dem jungen Mann gehört, der von fast allen Geschäftsleuten in der Umgebung hoch geschätzt wurde. Sie hatte sich ihn immer wie einen Prinz aus einem Märchen vorgestellt. Jemand, den sie niemals zu treffen erwartet hatte. Und jetzt stand er vor ihr.

Sie blickten einander für einen stummen Moment an. „Tabea“, sagte er mit seiner dunklen Stimme. Es klang wie ein Abschied. Dann wandte er sich ab und ging.

„Sie kennen den Fürsten persönlich?“, fragte die Hauswirtschafterin in die angespannte Stille hinein. Tabea konnte spüren, dass die Frau vor Neugierde fast platzte. Wahrscheinlich witterte sie einen Skandal, immerhin hatte Philipp sie beim Vornamen genannt. Hatte die Frau etwa auch ihre Worte wenige Sekunden vor ihrem Erscheinen gehört? Den Part mit dem Geheimnis? Sie forschte im Gesicht der Frau, war sich aber nicht sicher.

„Er war ein paar Mal in meinem Laden und hat dort Blumen für die Gräfin gekauft. Kennen wäre also zu viel gesagt“, wich Tabea aus. Ihr ungutes Gefühl blieb jedoch. Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Sie hatte Philipp also wirklich verärgert. Aber wieso nur?

Dass er ihr die kalte Schulter zeigte, schockierte sie. Hatte sie sich etwa so sehr in ihm getäuscht? Als er in ihrem Laden gewesen war, hatte er zwar geheimnisvoll gewirkt, aber keineswegs unfreundlich. Jetzt aber hatte seine Ablehnung wehgetan. Sehr weh.

Du hast schon einmal einen Mann in deinem Leben geduldet, der deine Gefühle mit Füßen getreten hat, dachte sie bitter. So etwas durfte sie niemals wieder zulassen. Sie musste sich vor so etwas schützen. Selbstbewusster sein.

Sie straffte sich. Am liebsten hätte sie alles hingeschmissen, doch das konnte sie sich nicht leisten. Sie würde nicht zulassen, dass ihre Beziehung zu dem arroganten Fürsten ihr Geschäft ruinierte. Sie würde kämpfen – und ihn danach vergessen.

Das konnte doch nicht wahr sein! Gestern noch hatte er entschieden, die hübsche Blumenverkäuferin aus Cochem aus seinem Leben zu verbannen. Jetzt stand sie hier auf seiner Terrasse und blickte ihn aus ihren blauen Augen fragend an. Den Augen, die er in seinen Träumen sah. Die sein Herz höherschlagen ließen und seine Gedanken beherrschten. Wie sollte er sich von ihr lösen, wenn sie ihn verfolgte? Und wieso hatte seine Großmutter sie hierherbestellt?

Ihm tat es in der Seele weh, dass er so unhöflich zu ihr gewesen war. Sie hielt ihn vermutlich für einen arroganten Mistkerl, der in der Öffentlichkeit nichts mit ihr zu tun haben wollte. Am liebsten wäre er zurückgelaufen und hätte das richtiggestellt, doch das durfte er nicht.

Es war besser, wenn sie ihn unsympathisch fand. Dann fiel es ihm vielleicht nicht mehr so schwer, sich von ihr fernzuhalten.

In dieser Sekunde klingelte sein Handy. Er kannte die Nummer nicht, ging aber trotzdem ran. „Fürst Philipp von Leyenstein.“

Eine kurze Pause trat ein, die ihn irritierte. Dann ein Laut, als würde jemand tief einatmen. „Philipp“, sagte eine Frauenstimme.

Sofort erstarrte er in der Bewegung. Er hätte diese Stimme unter Tausenden wiedererkannt. Seit Jahren hatte er sie nicht gehört. Er hatte auch nicht erwartet, sie jemals wieder zu hören. Seine Mutter. Margarete

„Leg nicht auf“, setzte sie hastig hinzu. „Bitte! Ich wollte nur fragen, ob du meinen Brief bekommen hast. Die letzten sind offenbar nicht angekommen, aber dieser hier … dieser ist zu wichtig. Deine …“

„Woher hast du meine Nummer?“, unterbrach er barsch ihren Redefluss. Ihm war, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Seit fast vierundzwanzig Jahren hatte er sich ausgemalt, was er ihr sagen würde, sollten sie jemals wieder miteinander sprechen. Vierundzwanzig Jahre. Eine kleine Ewigkeit. Sie so unvermittelt am Telefon zu haben, ließ ihn allerdings die ungesagten Worte vergessen.

„Ich habe deine Handynummer schon seit vielen Jahren, mich aber bislang nicht getraut, anzurufen. Bitte, Philipp! Die Beerdigung von deiner Großmutter ist schon in drei Wochen. Du musst …“

„Ich muss gar nichts“, sagte er scharf. „Ruf mich nie wieder an!“ Mit diesen Worten legte er auf. Einen Moment starrte er wie betäubt das Telefon an, dann ließ er sich langsam auf eine Bank sinken und fuhr sich müde über sein Gesicht.

Erst der Brief, dann sogar ein Anruf. Seine Mutter meinte es wirklich ernst. Sein Herz sagte ihm, dass er zu der Beerdigung gehen musste, doch alles in ihm sträubte sich. Seine Großmutter Sofia würde toben vor Wut. Ganz zu schweigen vom Rest seiner Familie. Mit seinen Geschwistern war es ohnehin schon schwierig genug. Isabella und Richard würden niemals wieder ein Wort mit ihm wechseln, wenn er sich über den Schwur ihrer Kindheit hinwegsetzte.

Nach dem Weggang der Mutter hatten die drei irgendwann feierlich beschlossen, kein Wort mehr mit ihrer Mutter zu sprechen. Nach dem Tod des Vaters hatten sie den Schwur sogar noch einmal erneuert.

Isabella, die damals noch sehr klein gewesen war, hatte die Tragweite des Schwurs wahrscheinlich gar nicht richtig erkannt. Sie hatte es geschworen, weil ihre großen Brüder es ebenfalls getan hatten. Isabella hatte ihre Mutter auch niemals wirklich kennengelernt. Als ihre Eltern sich hatten scheiden lassen, war sie gerade mal ein Jahr alt gewesen. Doch dass sie ganz ohne Mutter hatte aufwachsen müssen, war schwer für sie gewesen. Mit neun Jahren auch noch den Vater zu verlieren, hatte sie umso heftiger getroffen. Sie hatte viel geweint, sich aber trösten lassen.

Ganz im Gegensatz zu Richard. Philipp dachte nur mit einem Schaudern an die Zeit nach dem Tod seines Vaters. Richard hatte nicht geweint. Dazu war der Schock über den erneuten Verlust viel zu heftig gewesen. Stattdessen hatte der damals Vierzehnjährige angefangen, seinen Groll über den Tod des Vaters auf seine Mutter zu projizieren, und sich komplett aus der Welt zurückgezogen. Er lebte nur noch für die Schule und begann, sich in der Arbeit zu vergraben. Schon damals.

Philipp hatte gespürt, dass er seinen Bruder verlieren würde. Der Schwur von damals galt zwar noch immer, doch hatte das die Entfremdung der Brüder nicht aufhalten können. Richard war trotz aller Bemühungen gegangen.

Philipp hatte nie bedauert, den Schwur geleistet zu haben. Er war sich auch sicher gewesen, ihn halten zu können. Dass sich seine Mutter nach all den Jahren wieder bei ihm melden würde, hatte er niemals erwartet.

Und doch hatte genau diese soeben angerufen. Unfassbar. Philipp brauchte mehrere Stunden, um sich von diesem Anruf zu erholen. Er versuchte, sich mit Arbeit abzulenken, aber das war schwierig. Seltsamerweise gab es nur eine Person, mit der er darüber sprechen wollte. Tabea. Er hatte ihr bereits vom Brief erzählt, jetzt sehnte er sich danach, ihr vom Anruf zu berichten.

Doch das war unmöglich! Er hatte auch so schon genug Probleme, da konnte er nicht auch noch eine Freundin gebrauchen, die nicht standesgemäß war. Bei dem Gedanken schüttelte er über sich selbst den Kopf. Freundin. Sie würde für ihn niemals mehr sein können als die einfache Blumenhändlerin aus Cochem. Sie durfte nicht mehr sein.

Als Philipp am Abend den Speisesaal betrat, war er müde und erschöpft. Müde von der emotionalen Belastung und erschöpft vom arbeitsreichen Tag. Der verräterische Brief seiner Mutter schien Tonnen in seiner Jackentasche zu wiegen.

Beim Anblick von Gräfin Sofia wusste er allerdings, dass es Ärger gab. Sie saß nicht wie sonst am Tisch, sondern stand mit dem Rücken zu ihm am Fenster. Als sie seine Schritte vernahm, drehte sie sich um. Sie war eindeutig verärgert.

„Was verschweigst du mir?“, fragte sie ihn direkt. „Was ist das für ein Geheimnis, von dem die Dienstboten sprechen? Und was steht in dem Brief?“

Sein Herz setzte einen Schlag aus. Woher musste seine Großmutter von dem Brief? Wer hatte ihr davon erzählt? Eigentlich wusste nur Tabea von seiner Existenz. Hatte sie etwa sein Geheimnis verraten? Doch sie hatte ihm extra noch einmal versichert, es nicht zu tun.

„Es ist nichts, über das du dir Sorgen machen müsstest“, sagte er und ließ sich auf dem Stuhl an der Stirnseite des Tisches nieder. Der Platz des Oberhauptes der Familie. Das war eine Position, an die er sich nach wie vor noch nicht ganz gewöhnt hatte. Wie denn auch? So viel Verantwortung, so viele Probleme.

Mit seiner barschen Antwort hatte er deutlich gemacht, dass er die Unterredung nicht fortzuführen gedachte. Das wusste auch seine Großmutter. Sie blieb noch einen Moment am Fenster stehen, gab dann aber nach und setzte sich. Augenblicklich kam das Dienstmädchen, um die Suppe aufzutragen. Ihre Schritte halten in dem leeren Raum seltsam wider. Auch die Tafel wirkte verlassen. Es war lange her, dass dieser Raum voller Leben gewesen war.

Philipp hatte es geliebt, hier gemeinsam mit seinen Geschwistern zu essen. Doch das war lange her. Zu lange. Was machte Isabella wohl in dieser Sekunde? Saß die mittlerweile Fünfundzwanzigjährige in ihrer Wohngemeinschaft umgeben von ihren Freunden und aß Pizza zu Abend? Und Richard? Als erfolgreicher Bauingenieur war er wahrscheinlich noch immer im Büro und ging Akten durch.

In dieser Sekunde vermisste Philipp seine beiden Geschwister mehr als jemals zuvor. Sie waren früher so eng miteinander gewesen, doch seit dem Tod ihres Vaters war es schwierig geworden. Sie waren gegangen, um ein neues Leben zu beginnen.

Philipp war geblieben.

Wie es schien, würde er noch lange Zeit allein bleiben. Allein mit den vielen Familienproblemen. Der Brief. Das Gespräch mit seiner Großmutter. Und die Frage, wie sie davon erfahren haben könnte. Dass Tabea sein Geheimnis ausgeplaudert haben könnte, schockierte ihn.

War sie zu so etwas fähig?

Als Oberhaupt der Familie hatte er früh lernen müssen, dass die Frauen hinter seinen Geheimnissen und seinem Status her waren. Viele Beziehungen hatte Philipp deshalb nicht gehabt. Kurze Liaisons, das ja. Aber niemals etwas Ernstes. Seine Großmutter hatte darüber hinaus immer darauf geachtet, dass er sich nur mit standesgemäßen Frauen abgab. Das war bislang auch immer in Ordnung für ihn gewesen, bis er Tabea getroffen hatte.

Die ihn offenbar verraten hatte.

„Woher weißt du von dem Brief?“, fragte Philipp nach einer Weile. Er konnte nicht anders. Er musste nachfragen, selbst wenn er damit seine Großmutter noch neugieriger machte.

„Ich gebe meine Quellen nicht preis. Dennoch frage ich mich, was das zwischen dir und dieser Blumenhändlerin ist? Du sprichst sie mit Vornamen an?“

In dieser Sekunde verstand Philipp. Nur die Hauswirtschafterin hatte dieses Gespräch mitbekommen. „Das war ein Versehen. Ich hatte ihren Nachnamen vergessen“, log Philipp. Hatte die Hauswirtschafterin eventuell auch Tabeas Worte über das Geheimnis mitbekommen? Er war sich nicht ganz sicher, beschloss aber, es herauszufinden.

Seine Großmutter glaubte ihm eindeutig kein Wort. Sie legte betont langsam den Suppenlöffel neben den Porzellanteller und richtete sich auf. „Schlag sie dir aus dem Kopf. Falls du bereits etwas mit ihr angefangen hast, beende das sofort. Muss ich dich daran erinnern, was mit deiner Mutter geschehen ist?“

Philipp gefiel die Richtung des Gespräches überhaupt nicht, doch er kannte seine Großmutter. Sie würde das Thema so schnell nicht fallen lassen. Sie hatte es ihrem verstorbenen Mann noch immer nicht verziehen, dass er kurz vor seinem Tod das Hausgesetz der Familie abgeändert hatte. Das regelte innerhalb einer Adelsfamilie unter anderem die Erbfolge und vermögensrechtliche Fragen. Durch die Änderung hatte sein Sohn Friedrich die Frau heiraten können, die er liebte. Philipps Mutter Margarete. Die Ehe hatte nicht gehalten, war sogar in einem völligen Desaster geendet. Das hatte seine Großmutter als Beweis gesehen, dass Ehen mit Bürgerlichen keinerlei Zukunft hatten.

Philipp war klar, dass er ihre Meinung in diesem Punkt niemals ändern konnte. Das hieß aber nicht, dass ihm das gefiel. Auch er ließ den Löffel sinken. Ihm war längst der Appetit vergangen. „Ich hatte nie irgendetwas mit der Blumenhändlerin. Und jetzt lass uns das Thema wechseln.“

Im Nachhinein konnte Philipp nicht mehr sagen, wie er das Abendessen hinter sich gebracht hatte. Er war so früh wie möglich aufgestanden und hatte in sein Zimmer gehen wollen, doch stattdessen saß er jetzt in seinem Land Rover und war auf dem Weg nach Cochem. Er konnte das so nicht stehen lassen. Er musste wissen, was Tabea gesagt hatte.

Ihr Laden hatte bereits geschlossen, doch an der Tür hing ein Schild mit ihrer Handynummer. Er zögerte nur einen Moment, dann wählte er. Es klingelte. Mit jedem Klingeln wurde er nervöser, was ihn ärgerte. Er war eigentlich ein selbstbewusster Mann. Doch sobald Tabea ins Spiel kam, schien er nicht mehr er selbst zu sein.

„Tabea Fuhrmann“, meldete sie sich mit ihrer melodischen Stimme.

„Tabea“, sagte er langsam. Aus irgendeinem Grund brachte er es nicht über sich, sie mit ihrem Nachnamen anzusprechen. „Hier ist Philipp. Ich stehe vor Ihrem Laden. Wir müssen reden.“

3. KAPITEL

Warum nur hatte sie Philipp in ihre Wohnung eingeladen? Das war keineswegs ein Ort, der für einen Fürsten angemessen schien. Sie liebte zwar ihre Räume und hatte sie mit Liebe dekoriert, aber in dieser Sekunde schämte sie sich. Warum hatte sie sich nicht einfach mit ihm im Laden getroffen?

Eigentlich solltest du dich überhaupt nicht mit ihm treffen, ermahnte sie sich. Sie hatte sich geschworen, ihn zu vergessen. Nie wieder wollte sie sich von einem Mann derart herumschubsen lassen. Aber … vielleicht war ja alles ganz anders?

Vielleicht machst du dir aber nur wieder was vor. Am Ende bleibst du mit gebrochenem Herzen zurück. Wie beim letzten Mal.

Es klingelte an der Tür. Offenbar war er bereits von ihrem Laden zu ihrer Wohnung gegangen. Die war nur eine Querstraße vom Laden entfernt, in einem kleinen Wohnhaus im dritten Stock. Zeit, sich zu entscheiden. Ließ sie ihn herein? Oder ignorierte sie das Klingeln einfach.

Sie sollte es nicht tun. Sie sollte … ihre Finger fanden wie von selbst den Türöffner. Sie ließ Philipp herein, obwohl sie noch immer hin und her gerissen war. Hastig warf sie einen Blick in den Spiegel. Sie zog das Haargummi heraus, sodass ihre Haare fließend bis auf ihre Schultern fielen. Besser. Wenigstens war ihre Jeans sauber, und sie trug sogar ihre weinrote Lieblingsbluse. Aus einem Impuls heraus kniff sie sich kurz in die Wangen. Schritte erklangen im Flur.

Tabea lächelte unwillkürlich, als Philipp auf dem Treppenabsatz erschien. Im ersten Moment wirkte der Fürst so ernst wie bei ihrem unerwarteten Treffen am Morgen, doch dann erwiderte er ihr Lächeln. Sofort erwachten Schmetterlinge in ihrem Magen und flatterten wild umher. So viel dazu, dass sie ihre Gefühle unter Kontrolle halten wollte.

Dieser Mann machte sie schwach und verwirrte sie. Eine gefährliche Mischung.

Was jetzt? Schließlich versuchte sich Tabea an einem unsicheren Knicks. „Verzeihen Sie, Fürst Philipp. Ich habe noch nie einen Fürsten bei mir empfangen.“

Als er jetzt schmunzelte, funkelten seine Augen auf eine ganz faszinierende Art und Weise. In dieser Sekunde sah er fast jungenhaft aus. Das Flattern der Schmetterlinge in Tabeas Magen wurde heftiger.

„Nennen Sie mich doch bitte Philipp. Und ein Knicks ist wirklich nicht nötig.“

„Bitte, kommen Sie herein.“ Tabea hatte den Eindruck, vor Aufregung kaum atmen zu können. Erst jetzt kamen ihr die naheliegenden Fragen in den Sinn. Warum war Philipp gekommen? Was wollte er von ihr? Bei ihrer letzten Begegnung hatte er so verärgert gewirkt. Sie hatte eigentlich erwartet, ihn so schnell nicht wiederzusehen. Erwartete er, dass sie den Auftrag ablehnte? Er war eindeutig nicht begeistert gewesen, sie auf dem Schloss zu sehen.

Philipp trat nach einem kurzen Zögern dicht an ihr vorbei. Jetzt konnte sie zum ersten Mal den Duft seines Aftershaves wahrnehmen. Männlich, aber nicht zu herb. Etwas ratlos blieb er in ihrem kleinen Flur stehen und sah sie fragend an.

„Bitte gehen Sie doch weiter in die Küche, geradeaus durch den Flur“, wies Tabea ihn an. Sie schloss hastig die Haustür und folgte ihm. Ihrer Meinung nach war die Küche der gemütlichste Raum der Wohnung. Sie hatte einen weißen Tisch darin aufgestellt und eine rot-weiß karierte Decke darüber gebreitet. Die Stühle hatte sie selbst aufgearbeitet und in verschiedenen Farben bunt lackiert. In die Küchenzeile hatte sie viel Geld investiert, da sie nicht nur Blumen liebte, sondern auch das Kochen. Eigentlich war das der einzige Luxus, den sie sich gegönnt hatte. Nach ihrer Ausbildung zur Blumenhändlerin hatte sie mehrere Jahre im elterlichen Betrieb gearbeitet. Mit neunundzwanzig Jahren war es schließlich an der Zeit gewesen, sich selbstständig zu machen. Selbst wenn der Grund, weswegen sie sich letztlich gelöst hatte, eher traurig gewesen war. Felix. Nein. An ihn wollte sie jetzt gewiss nicht denken.

„Setzen Sie sich doch bitte. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ Sie bemerkte selbst, dass sie schneller sprach als sonst. Das passierte ihr immer, wenn sie sehr aufgeregt war. Und aufgeregt war sie gerade, so schlimm, wie selten zuvor in ihrem Leben. Der Mann in ihrer Küche brachte sie vollkommen durcheinander.

Aber das durfte nicht sein! Sie musste schließlich auf sich und ihr Herz aufpassen.

Der Fürst ließ sich nach einem kurzen Zögern auf dem Stuhl direkt neben dem Fenster nieder, sodass er ihr beim Herumwerkeln in der Küche zusehen konnte. „Ich wäre einem Glas Wasser nicht abgeneigt.“

„Ich hätte auch Wein.“ Sie öffnete den Kühlschrank und holte eine offene Rotweinflasche hervor. Als sie auf das Etikett sah, spürte sie, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. „Es ist sogar eine Flasche aus Ihrem Haus. Ein Leyenstein. Ich habe gehört, der Wein soll sehr gut sein.“ Sie warf ihm ein scheues Lächeln zu und bemerkte erleichtert, dass er es erwiderte.

„Sie bewahren unseren guten Rotwein im Kühlschrank auf?“, fragte er in leicht tadelndem Tonfall. Er stand auf und nahm ihr die Flasche aus der Hand, um einen Blick auf das Etikett zu werfen. „Ah, der Dornfelder trocken. Gereift im Barriquefass. Eine ganz hervorragende Wahl. Ich mag die markante Holznote und diesen ganz leichten Kirschgeschmack. Damit haben wir sogar eine goldene Kammerpreismünze gewonnen.“

„Ehrlich gesagt, habe ich den Wein geschenkt bekommen“, gab Tabea nach einer kurzen Pause zu. Philipp lachte leise und stellte den Wein auf den Tisch. Sie reichte ihm zwei Gläser und sah ihn fragend an. „Wollen Sie mitessen? Ich habe einen Auflauf im Ofen.“

Im ersten Moment schien er Nein sagen zu wollen, nickte dann aber doch. Er setzte sich wieder an seinen Platz und wartete, bis Tabea ihm gegenüber Platz genommen hatte. Da der Tisch nicht besonders groß war, berührten sich ihre Knie ganz kurz. Tabea schob den farbenfrohen Blumenstrauß auf dem Tisch etwas zur Seite, damit sie sich besser sehen konnten. Sie reichte ihm einen gefüllten Teller und wünschte ihm einen guten Appetit.

Er hatte in der Zwischenzeit beide Gläser mit Wein gefüllt und hob sein Glas, um mit ihr anzustoßen. „Auf eisgekühlten Rotwein“, sagte er mit einem Lächeln, das Tabeas Knie schwach werden ließ. Zum Glück saß sie.

Tabea aß erst zwei Gabeln, bevor sie den Mut aufbrachte, nachzufragen. Sei selbstbewusst, dachte sie. Sprich ihn auf sein harsches Benehmen an. „Darf ich fragen, was Sie hierher führt?“, erkundigte sie sich stattdessen.

Er wirkte mit einem Mal so, als sei ihm diese Frage unangenehm. Er wich ihrem Blick aus und starrte stattdessen das Weinglas an. Tabea war es etwas peinlich, wie schlicht es war. Sie hatte die opulenten Weingläser in der Vitrine im Ballsaal gesehen. Kein Vergleich mit diesen einfachen Gläsern.

„Ich bin gekommen, weil ich Sie etwas fragen muss. Jetzt, wo ich hier bin, ist mir das Ganze etwas peinlich.“ Er atmete tief ein. Erst jetzt sah er sie an. Fest und beinahe streng. „Haben Sie meiner Großmutter von dem Brief erzählt?“

Tabea ließ vor Schreck die Gabel mit einem Klirren auf den Teller fallen. „Natürlich nicht! Wie kommen Sie denn auf diese Idee?“

„Sie hat mich darauf angesprochen und verlangte zu wissen, was darin steht. Sie sind die einzige Person, der ich davon erzählt habe.“

Tabea spürte, wie ihr ganzer Körper vor Empörung glühte. Wie kam er bloß darauf, dass sie sein Geheimnis verraten haben sollte? Sie war absolut vertrauenswürdig. Dass er das anzweifelte, machte sie traurig. Und wütend. Erst behandelte er sie derart ablehnend, und dann unterstellte er ihr auch noch so etwas.

„Ich versichere Ihnen, dass ich rein gar nichts zu irgendwem gesagt habe. Warum hätte ich das tun sollen?“, sagte sie mit bebender Stimme.

„Ich glaube Ihnen“, versicherte ihr Philipp leise. „Ich ahne, wer es gewesen ist.“

„Oh! Glauben Sie mir: Das weiß ich auch. Das muss diese Hauswirtschafterin gewesen sein. Wahrscheinlich hat sie gehört, was ich zu Ihnen gesagt habe. Na, die kann was erleben! Wenn ich eins nicht leiden kann, dann ist das Klatsch und Tratsch. Unfassbar, dass sie so etwas an Ihre Großmutter weiterträgt.“

Philipp musterte sie nun mit einem ganz veränderten Blick. Etwas Zärtliches lag darin, Sanftes. „Sie müssen nicht für mich eintreten. Meine Probleme regele ich alleine, aber ich danke Ihnen trotzdem. Schön zu hören, dass Sie für mich kämpfen wollen.“ Jetzt wirkte er ein wenig amüsiert, was Tabeas Wangen erneut glühen ließ.

Verlegen nahm sie einen Schluck Wein. Was war das denn jetzt? Sie hatte ihn eigentlich in seine Schranken weisen wollen. Stattdessen wollte sie sich für ihn starkmachen? Sie musste den Verstand verloren haben. Zeit, gezielter nachzuhaken. „Sie waren böse auf mich, als Sie mich heute Morgen auf Schloss Leyenstein gesehen haben. Warum?“

Er zögerte mit der Antwort. „Ich war etwas überfordert damit, Sie so unverhofft zu sehen. Bitte verzeihen Sie mein ungehobeltes Benehmen.“

„Ich habe mich schrecklich gefühlt“, stellte Tabea klar. „Als hätte ich etwas falsch gemacht. Aber was?“

Er schüttelte vehement den Kopf. „Ich versichere Ihnen, dass es nicht an Ihnen lag. Es tut mir sehr leid. Wirklich.“ Er sah sie so intensiv an, dass sie fortsehen musste.

Tief durchatmen, dachte sie. Wenn sie Antworten haben wollte, musste sie auch die richtigen Fragen stellen. „Warum haben Sie mir nicht von Anfang an gesagt, dass Sie Fürst Philipp von Leyenstein sind? Im Nachhinein kam ich mir ziemlich dumm vor.“

Er zuckte die Schultern. „Eigentlich kennt mich hier jeder. Es war eine ganz neue Erfahrung, dass mich jemand nicht wie einen Fürsten behandelt hat. Das hat mir ganz gut gefallen.“

Mir auch, dachte Tabea. Sie spürte, wie ihr Widerstand schmolz. Ihre Wut verpuffte. Gleichzeitig stand sie jetzt vor einer Entscheidung. Sollte sie Philipp weiter in ihr Leben lassen? Oder sollte sie ihn bitten zu gehen?

Noch immer konnte sie nicht fassen, dass er an ihrem Tisch saß. Er ließ ihre Küche viel kleiner erscheinen, als sie in Wirklichkeit war. Der Fürst war ein großer Mann. Mit breiten Schultern, hochgewachsen. Tabea schätzte ihn auf etwa einen Meter fünfundachtzig. Seine muskulösen Oberarme zeigten, dass er viel Zeit auf den Weinfeldern verbrachte. Er mochte zwar Geschäftsmann sein, aber er packte offensichtlich auch mit an. Tabea, die harte Arbeit gewohnt war, bewunderte so etwas. Sie schätzte ihn auf etwa Mitte dreißig.

„Also haben Sie nichts dagegen, wenn ich den Auftrag Ihrer Großmutter annehme und die Blumendekoration für den Osterball übernehme?“, hakte sie nach. Er schüttelte stumm den Kopf und aß einen weiteren Bissen. „Schmeckt es Ihnen nicht? Sie essen so zögerlich.“

„Oh nein! Es schmeckt hervorragend. Meine letzte Mahlzeit ist nur noch nicht besonders lange her.“ Er wartete, bis Tabea ihn ansah. „Es schmeckt wirklich ganz herausragend.“ So wie er es sagte, hörte es sich fast etwas anrüchig an. Ein Schauer jagte über Tabeas Rücken. Was machte dieser Mann mit ihr?

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