Romana Weihnachten 2019

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DER SÜSSE DUFT VON WEIHNACHTEN VON LILLI WIEMERS

Wenn süßer Zuckerduft die Luft erfüllt, beginnt für die Dresdner Stollenbäckerin Laura eigentlich die schönste Zeit. Doch um die kleine Backstube ihrer Eltern zu retten, muss sie für ihren verhassten Konkurrenten Tom Reuther arbeiten. Warum nur knistert es so heiß zwischen ihnen?

WIE EIN LICHT IN DUNKLER WINTERNACHT VON ANNA KELLER

Der tiefverschneite Schwarzwald und der traditionelle Christbaumverkauf auf dem Familienanwesen mahnen Theodor von Waldersleben an seine größte Schuld. Doch die bezaubernde Mia überwindet mit zarten Küssen die Mauer, die er um sein kaltes Herz errichtet hat. Aber eine gemeinsame Zukunft ist unmöglich …

FEST DER LIEBE - ZEIT DER WUNDER VON NIKKI WEST

Betrogen am Fest der Liebe! Tief verletzt flieht Alina in eine einsame Berghütte. Als der beste Freund ihres Ex ihr besorgt nachreist, zwingt ihn ein Schneesturm zum Bleiben. Allein mit Yannick in den magischen Rauhnächten, erwachen ungeahnt romantische Gefühle …


  • Erscheinungstag 27.09.2019
  • Bandnummer 19
  • ISBN / Artikelnummer 9783733745097
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lilli Wiemers, Anna Keller, Nikki West

ROMANA WEIHNACHTEN BAND 19

LILLI WIEMERS

Der Duft von Weihnachten

Um das Ansehen des Familienbetriebs zu retten, muss Tom Reuther den legendären Stollenwettbewerb auf dem Striezelmarkt gewinnen! Das ist er seinen Eltern schuldig! Spontan bietet er Konkurrentin Laura an: Sie verzichtet auf die Teil-nahme, und er hilft ihr aus einer finanziellen Schieflage. Ein Fehler? Laura betört ihn so, dass er bald nur eins gewinnen will: ihre Liebe!

ANNA KELLER

Ein helles Herz im dunklen Wald

Hat dieser Mann ein Herz aus Stein? Wie kann Theodor von Waldersleben seinen süßen Kater bei Eis und Schnee im tiefen Tannenwald aussetzen? Empört will Mia den Gutsbesitzer zur Rede stellen! Aber kaum steht sie vor ihrem ehemaligen Jugendschwarm, fühlt sie sich sofort wieder zu ihm hingezogen. Dabei wird sie als Waise nie zu dem Adligen passen, oder?

NIKKI WEST

Zauberhafte Rauhnächte

Besorgt folgt Yannick Alina in die entlegene Hütte im Bayerischen Wald. Natürlich nur, damit sie Weihnachten nicht allein verbringen muss – nicht, weil er sie schon lange heimlich liebt! Schließlich wurde sie gerade erst von seinem besten Freund verlassen und ist tabu. Doch in den magischen Rauhnächten zwischen den Jahren scheint plötzlich alles möglich …

1. KAPITEL

Schnee rieselte vom Himmel herab, der purpur-violett zu glühen schien, und überzog jedes Dach, jeden Baum und jeden Weg mit makellos pudrigem Weiß.

Die Lichter der Uferpromenade spiegelten sich auch im Wasser der Elbe, ebenso wie der kuppelförmige Dom der Frauenkirche und die eindrucksvolle Sandsteinfassade des Zwingers mit ihren zahlreichen Pfeilern und Kolonnaden.

Alles war so herrlich winterlich, dass man die Kälte beinahe fühlen konnte. Den würzigen Duft von Tannenharz riechen, der sich mit der süßen Verlockung frisch gebackener Weihnachtsplätzen vermischte …

Seufzend ließ Laura Zimmermann die nostalgische Postkarte, die sie gerade gedankenverloren betrachtet hatte, sinken und lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück. Aus dem Radio, das auf dem Aktenschrank in ihrem winzigen Büro stand, drangen gerade die letzten Klänge eines alten Weihnachtslieds.

Schneeflöckchen, Weißröckchen,

komm zu uns ins Tal.

Dann baun wir den Schneemann

und werfen den Ball.

„Ja, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, fragen Sie sich nicht auch, wann Schneeflöckchen endlich geschneit kommt? Wir bei Radio Elbflorenz haben die Meteorologen für Sie befragt, aber leider ist die Kunde, die wir bringen, alles andere als froh – zumindest für die Freunde weißer Weihnachten unter uns, und …“

Mit einem unterdrückten Seufzen schaltete Laura das Radio aus, dann trat sie ans Fenster und schaute hinaus in den trüben, regnerischen Donnerstagmorgen, der leider so gar nichts mit dem Bild auf der Postkarte gemein hatte.

In der Tat waren die Temperaturen für Anfang Dezember ausgesprochen mild – der mildeste Winter seit Beginn der Wetteraufzeichnung, hatte es sogar gestern in den Nachrichten geheißen. Und irgendwie entsprachen das Matschwetter, der wolkenverhangene Himmel und die verdrießlichen Gesichter der Menschen, die mit hochgezogenen Mantelkrägen die Straße entlangeilten, absolut Lauras momentaner Stimmung.

Sie liebte Weihnachten, es war für sie die schönste Zeit des Jahres.

Normalerweise.

In diesem Jahr jedoch …

Als es an der Tür klopfte, wandte Laura sich vom Fenster ab und rief: „Herein.“

Ein Mann öffnete und blieb im Türrahmen stehen. Er musste sich bücken, um nicht mit dem Kopf gegen die Zarge zu stoßen. Nicht etwa, weil er besonders groß war, nein. Alles hier in der Bäckerei Hexenhäuschen war eben eine Nummer kleiner als sonst üblich.

Der Name Hexenhäuschen kam nicht von ungefähr. Das Fachwerkgebäude, in dem sich die Backstube, der Laden und im oberen Stockwerk Lauras Wohnung befanden, war zweihundert Jahre alt. Die Wände waren allesamt ein bisschen windschief, und die Decken für heutige Verhältnisse recht niedrig, aber Laura war hier aufgewachsen und mit jedem einzelnen Holzwurm per Du. Sie liebte das Haus – was es umso schwerer machte, sich mit der Vorstellung abzufinden, dass sie es womöglich schon sehr bald für immer verlassen musste.

„Ja, Ulf?“ Fragend schaute sie den grauhaarigen Mann an, dessen schwarz-weiß karierte Hose mit Mehl bestäubt war. Er war bereits Ende fünfzig und würde in ein paar Jahren in Rente gehen, doch dafür hatte er sich, wie Laura fand, recht gut gehalten. So manche Kundin drehte sich nach ihm um, wenn er Waren aus der Backstube nach vorne brachte. „Was gibt es?“

„Ein Herr Wiese ist gerade angekommen und möchte mit dir sprechen. Hast du Zeit?“

Laura atmete tief durch. „Ja, sicher“, sagte sie dann mit einem gezwungenen Lächeln. „Wir haben schließlich einen Termin.“ Sie schaute sich in ihrem Minibüro um, in dem jede freie Fläche, inklusive des Besucherstuhls, mit Fachzeitschriften, Büchern und Aktenordnern vollgepackt war. „Bring ihn am besten in den Pausenraum.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Hier kann ich dem armen Mann ja nicht mal einen Platz anbieten.“

Nicht, dass sie es ihm unbedingt bequem machen wollte. Herr Wiese war Immobilienmakler, der im Auftrag eines Kunden das Gespräch mit ihr gesucht hatte. Er sollte ihr ein Kaufangebot für das Hexenhäuschen machen.

Allein bei dem Gedanken, das Haus zu verkaufen, blutete ihr das Herz. Nicht nur, weil sie hier geboren und aufgewachsen war. Die Bäckerei war das Lebenswerk ihrer Eltern, die vor etwas mehr als einem Jahr bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren. Sie war alles, was ihr von ihrem Vater und ihrer Mutter geblieben war. Und dann waren da noch Ulf und die anderen Angestellten der Bäckerei, an die Laura zum Teil noch Kindheitserinnerungen hatte, so lange arbeiteten sie bereits für ihre Familie.

Das Haus und damit auch den Betrieb zu verkaufen, würde sie ihre Jobs kosten. Doch Laura wusste beim besten Willen nicht, was sie sonst tun sollte. Es war nicht gerade so, als ob ihr eine Wahl blieb.

Ihre Eltern hatten im Laufe der Jahre – ohne Lauras Wissen – mehrere Hypotheken auf das Haus aufgenommen, um die laufenden Betriebskosten zu decken. Für notwendige Investitionen war kein Geld geblieben – und das rächte sich nun.

In der Zeit, in der Laura nun schon für den Betrieb verantwortlich war, hatte der größere der beiden Öfen den Geist aufgegeben, und seitdem konnten sie nur noch die halbe Produktionskraft aufbieten, was natürlich auch geringere Einnahmen bedeutete.

In den vergangenen Monaten hatte dieser Weg, den ihre Eltern eingeschlagen hatten, Laura immer weiter Richtung Abgrund geführt. Dass gestern auch noch die Rührmaschine kaputtgegangen war, war der sprichwörtliche letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.

Der Grund, warum sie die Visitenkarte hervorgeholt hatte, die schon seit Wochen zwischen Büroklammern und Heftzwecken in ihrer obersten Schreibtischschublade gelegen hatte. So lange versuchte Herr Wiese schon, einen Termin mit ihr zu vereinbaren, doch Laura hatte sich gegen den Gedanken gesträubt.

Nun schien es, als würde ihr keine andere Möglichkeit bleiben, als sich das Angebot seines Kunden zumindest einmal in Ruhe anzuhören. Entscheiden konnte sie sich dann später noch. Aber wem wollte sie eigentlich etwas vormachen? Es war im Grunde nur noch eine Frage des Preises, und das stimmte Laura traurig.

Aber sosehr sie die Bäckerei auch liebte und so ungern sie das alles auch aufgeben wollte, manchmal musste man eben der Wahrheit ins Auge blicken. Und die lautete, dass sie es allerhöchstens noch ein paar Monate lang schaffen würde, alles irgendwie am Laufen zu halten. Es war auch so schon schwer, die Gehälter für die Angestellten aufzubringen. An so etwas wie Weihnachtsgeld war nicht einmal zu denken.

Laura trat an den kleinen Spiegel, der über dem Aktenschrank stand, und fuhr sich glättend übers Haar. Besonders viel machte sie nicht her. Ungeschminkt und mit einem einfachen Pferdeschwanz, der ihr dunkelbraunes Haar im Nacken zusammenhielt, sah sie jünger aus als ihre sechsundzwanzig Jahre. Ihre blaugrünen Augen waren ganz hübsch, aber auch nichts Besonderes. Doch Herr Wiese war ja auch nicht gekommen, weil er sich für sie interessierte, sondern für das Hexenhäuschen.

Seufzend ging sie aus ihrem Büro in die Backstube. Außer Ulf war noch Simon, ihr Auszubildender im letzten Lehrjahr, mit dem Zubereiten von Teig beschäftigt. Monika stand vorne im Verkaufsraum und bediente die Kundschaft, die sich bedauerlicherweise immer seltener in den Laden verirrte.

Die Tür zum Pausenraum war nur angelehnt. Als Laura eintrat, stand Herr Wiese mit dem Rücken zur Tür am Fenster. Der Immobilienmakler sah genauso aus, wie sie sich ihn vorgestellt hatte, in seinem dunklen, nicht besonders gut sitzendem Anzug, der aber trotzdem sicher genug gekostet hatte, dass sie mit dem Geld einen ihrer Angestellten einen weiteren Monat lang bezahlen könnte. Aber letztlich würde das auch keinen Unterschied mehr machen, und außerdem war sie niemand, der anderen ihre Erfolge neidete.

Sie zwang sich zu einem Lächeln, von dem sie ziemlich sicher war, dass es nicht besonders echt wirkte. Doch zu mehr war sie im Augenblick nicht in der Lage. „Herr Wiese“, begrüßte sie ihren Besucher, der sich zu ihr umdrehte. „Leider kann ich unter den gegebenen Umständen nicht behaupten, dass ich mich freue, Ihre Bekanntschaft zu machen …“

Der Mann erwiderte ihr Lächeln. „Das ist verständlich, aber ich bin zuversichtlich, dass wir alles zur Zufriedenheit aller Beteiligten abwickeln werden.“

Abwickeln.

Das Wort klang so kalt, dass sich alles in Laura unwillkürlich dagegen sträubte. Doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Für den Immobilienmakler war dies ein Geschäft wie jedes andere. Eines, bei dem er bei erfolgreichem Abschluss seine Provision kassierte und dann zum nächsten Projekt überging.

Für Laura war das Hexenhäuschen mehr als das.

Sehr viel mehr.

Wieder verspürte sie dieses seltsame Gefühl in der Brust, so als wäre dort eine gähnende Leere, die durch nichts und niemanden gefüllt werden konnte. Sie atmete tief durch und bot Herrn Wiese einen Sitzplatz an. Dann setzte sie sich ihm gegenüber, schenkte Kaffee ein und bot ihm etwas von den Vanillekipferln an, die Monika auf ihre Bitte hin bereitgestellt hatte.

„Also, was haben Sie mir mitgebracht?“

Der Makler stellte seinen Aktenkoffer auf den Tisch, ließ die Schnappverschlüsse aufspringen und holte einen schwarzen Schnellhefter daraus hervor. Diesen schob er Laura über die Tischplatte hinweg zu.

Mit heftig klopfendem Herzen drehte sie den Hefter um und schlug ihn auf.

Laura überflog den Inhalt des Kaufvertrags zunächst nur, denn sie ging davon aus, dass das meiste den üblichen Standards entsprach. Sie würde später immer noch Zeit haben, alles genauer zu prüfen. Was sie im Augenblick wirklich interessierte, war der Kaufpreis. Sie blätterte um, und ihr blieb fast das Herz stehen, als sie die Summe las, die dort geschrieben stand.

Sie blinzelte, doch die Zahl veränderte sich nicht.

Langsam blickte sie auf, und räusperte sich angestrengt, als ihr zunächst die Stimme versagte. „Ist das Ihr Ernst?“, fragte sie dann.

Herr Wiese wirkte plötzlich recht unbehaglich. „Ich kann mir vorstellen, dass das Angebot für Sie nicht ganz zufriedenstellend …“

„Nicht ganz zufriedenstellend?“ Sie musste sich zusammenreißen, nicht zu schreien. Eigentlich war sie ja ein eher ruhiger und beherrschter Mensch. Pragmatisch. Aber das, was man ihr hier vorlegte, grenzte schon beinahe an eine Beleidung. „Das kann doch nur ein Scherz sein. Wer ist noch gleich Ihr Kunde?“

„Ich bin nicht sicher, ob …“

„Nun hören Sie mal, ich werde doch wohl erfahren dürfen, wer hier mit mir Geschäfte machen möchte. Wenn man das hier“, sie deutete mit beinahe schon angewidertem Gesichtsausdruck auf das Dokument vor sich, „wirklich so nennen will.“

Der Mann zögerte kurz, zuckte dann aber schließlich mit den Achseln. „Die Stollenmanufaktur Reuther ist …“

„Reuther also.“ Laura kniff misstrauisch die Augen zusammen. Das hätte sie sich denken können!

Sie kannte den Inhaber der Stollenmanufaktur nicht persönlich, aber seit er vor ein paar Jahren eine Zweigstelle ganz in der Nähe eröffnet hatte, liefen die Geschäfte noch schlechter als zuvor. Zwar hatten sie noch immer Stammkunden, aber deutlich weniger waren noch bereit, mehr Geld für traditionsreiches Gebäck von hervorragender Qualität auszugeben, wenn man das Ganze auch günstiger von einer großen Manufaktur bekam. Von denen gab es schließlich nicht wenige. Zu den mehr als einhundertzwanzig Bäckereien und Konditoreien, die als Hersteller der echten Dresdner Stollen zertifiziert waren, gehörten kleine Familienbetriebe ebenso wie größere Unternehmen und sogar Online-Shops. Da war die Konkurrenz natürlich groß.

Lauras Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als sie daran dachte, wie ihre Eltern darunter gelitten haben mussten. Und sie war nicht für sie da gewesen, um ihnen zu helfen …

Hastig schob sie den Gedanken beiseite. Jetzt war nicht der Moment für Schuldgefühle. Sie musste sich auf die Gegenwart konzentrieren. Nichts anderes war im Augenblick von Bedeutung.

Sie atmete tief durch und schlug den Hefter zu. „Den würde ich gern behalten, wenn Sie nichts dagegen haben“, sagte sie dann und erhob sich. „Und damit wäre unsere Unterhaltung auch beendet, Herr Wiese. Vielleicht hören wir ja mal wieder voneinander, ich halte es angesichts der Gegebenheiten allerdings für eher unwahrscheinlich.“

Der arme Mann sah vollkommen verwirrt aus, als Laura ihn sanft, aber bestimmt zur Tür hinauskomplimentierte.

Laura lehnte sich mit dem Rücken gegen das kühle Holz und schloss die Augen. Ihr Puls raste noch immer, und ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zum letzten Mal auf eine so hilflose Art und Weise wütend gefühlt hatte.

Das Angebot, das Herr Wiese ihr übermittelt hatte, war, soweit es sie betraf, eine bodenlose Frechheit. Doch offenbar ging Walter Reuther davon aus, dass ihr das Wasser bis zum Hals stand und sie deshalb gezwungen war, einen solchen Kaufpreis zu akzeptieren.

Leider lag er mit dieser Annahme gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt, aber das bedeutete noch lange nicht, dass Laura sich auf sein Angebot einlassen würde.

Wenn sie akzeptierte, würde sie nicht nur ihren Angestellten keine Abfindung zahlen können. Nein, sie würde nach dem Verkauf auch noch auf einem Berg Schulden sitzen bleiben. Vermutlich verdiente sie es nicht anders – aber das galt nicht für Ulf und die anderen.

„Alles okay, Chefin? Du bist ein bisschen blass. Geht’s dir nicht gut?“

Sie öffnete die Augen und sah Ulf, der besorgt um die Ecke lugte. Es fiel ihr nicht leicht, sich ein Lächeln abzuringen, doch sie schaffte es irgendwie. „Keine Sorge, Ulf. Alles in Ordnung, aber ich muss noch mal weg. Ihr kommt hier allein zurecht?“

Er hob eine Braue. „Ich arbeite hier schon länger als du zurückdenken kannst. Natürlich kommen wir zurecht.“

Dieses Mal fiel Laura das Lächeln schon sehr viel leichter. Sie nahm ihre Jacke vom Garderobenhaken und streifte sie über. Dann trat sie hinaus in den regnerischen Novembernachmittag.

„Nein, Mutter, ich werde es mir nicht noch einmal anders überlegen. Ich will die Leitung der Firma nicht dauerhaft übernehmen, und bis vor ein paar Monaten wäre das für euch nicht infrage gekommen. Von daher verstehe ich nicht, warum ich auf einmal ein geeigneter Kandidat sein soll.“ Tom Reuther lehnte sich in seinem Chefsessel zurück und fuhr sich mit der freien Hand durchs Haar, während er mit der anderen das Telefon so fest umklammert hielt, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. „Hör zu, Mutter, ich habe jetzt einen Termin und sehe auch wirklich keinen Grund, warum wir das ganze Thema noch einmal durchexerzieren sollten. Wenn du nichts dagegen hast, kümmere ich mich jetzt wieder um meine Arbeit.“

Tom beendete das Gespräch, ohne seiner Mutter die Chance zu geben, noch etwas zu erwidern. Dann warf er das Handy auf den Schreibtisch und massierte seine Schläfen mit den Fingerspitzen.

Es hatte ihm wirklich noch gefehlt, dass seine Mutter ihm schon wieder in den Ohren lag. Und es war immer dasselbe Thema: Sie wollte, dass er dauerhaft die Geschäftsführung der Stollenmanufaktur Reuther übernahm, damit sein Vater sich aus dem Geschäft zurückziehen oder zumindest längerfristig auskurieren konnte. Bis zu seinem Zusammenbruch vor zwei Monaten hatte sein alter Herr die Firma zusammen mit Chris geführt.

Toms Bruder.

Der eigentlich an seiner Stelle auf diesem Stuhl sitzen sollte.

Tom verzog das Gesicht. Sowohl das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater als auch das zu Chris war alles andere als gut. Chris war stets der Lieblingssohn gewesen, der Erbe, der seit jeher darauf vorbereitet worden war, eines Tages die Firma zu übernehmen.

In seiner Kindheit und Jugend hatte Tom darunter gelitten, stets an zweiter Stelle zu stehen. Ganz gleich, wie sehr er auch versucht hatte, die Aufmerksamkeit seines Vaters auf sich zu ziehen, es war ihm nie gelungen. Was ihn dabei besonders frustriert hatte, war, dass seinem Bruder viele Qualitäten fehlten, die eine Führungspersönlichkeit brauchte. Er war nicht dumm, aber ein wenig naiv. Ihm fehlten der Biss und der Hunger, die man haben mussten, um ein Unternehmen zum Erfolg zu führen. Tom war sich ziemlich sicher, dass ihm die Stollenmanufaktur nicht einmal sonderlich am Herzen lag. Aber im Gegensatz zu ihm hatte Chris nie gegen ihren Vater aufbegehrt. Hatte nie seine eigene Meinung geäußert oder in irgendeiner Weise protestiert. Auf sich allein gestellt, neigte er sogar dazu, unkalkulierbare geschäftliche Risiken einzugehen, ohne eine andere Meinung einzuholen.

Mehr als einmal hatte Tom versucht, seinem Vater die Augen zu öffnen. Ohne Erfolg. Und auch Chris war nicht bereit gewesen, ihn anzuhören. Schließlich hatte Tom aufgegeben und fortan seine eigenen Ziele verfolgt.

Ziele, von denen er wusste, dass sie garantiert nicht die Billigung seiner Eltern finden würden.

So wie seine Theaterkarriere.

Die Reaktion seines Vaters war deutlich hinter Toms Erwartungen zurückgeblieben, was ihn rückblickend nicht besonders wunderte. Walter Reuther hatte sich nie genug für seinen zweiten Sohn interessiert, um echte Empörung angesichts seines Lebenswandels zu verspüren. Er war nicht angetan gewesen, sicherlich. Und natürlich hatte er seinen Sohn auch in keiner Weise unterstützt. Weder er noch Toms Mutter waren je zu einer seiner Vorstellungen gekommen.

Er war sich beinahe sicher, Chris ein- oder zweimal im Publikum bemerkt zu haben, aber sie hatten nie darüber gesprochen. Was hätte das auch für einen Sinn gehabt? Chris war der Stammhalter, der in den Augen ihres Vaters absolut ohne jeglichen Fehl und Tadel war. Und auch wenn Chris im Grunde kein schlechter Kerl war, so hatte er doch nie wirklich begriffen, wie es war, in Toms Schuhen zu stecken.

Deshalb hatte er Tom auch nie zur Seite gestanden oder Partei für ihn ergriffen. Zumindest nicht, wenn es wirklich darauf ankam.

Als kleiner Junge hatte Tom noch zu seinem großen Bruder aufgesehen. Er war sein Held gewesen, und er hatte ihm nachzueifern versucht. Doch in Chris’ übermächtigem Schatten hatte er bald das Gefühl gehabt zu ersticken.

Ihr Vater hatte es mit seinem Verhalten nicht leichter gemacht. In seinen Augen hatte Chris nie etwas falsch, aber Tom nichts richtig machen können. Das mochte albern klingen, aber für einen Teenager war es eine Katastrophe.

Das alles war nicht Chris’ Schuld gewesen, und instinktiv hatte Tom das auch immer gewusst. Was er seinem Bruder allerdings ankreidete, war die Tatsache, dass er sich im Zweifelsfall stets auf die Seite ihres Vaters gestellt hatte.

Als Tom mit der Schauspielerei begonnen hatte, hatte Chris ihn als selbstsüchtig bezeichnet und ihm vorgeworfen, er würde sich weigern, Verantwortung zu übernehmen.

Die Worte ihres Vaters, zweifellos. Doch sie aus dem Mund seines Bruders zu hören war eine so schmerzliche Erfahrung gewesen, dass er sie wohl nie in seinem Leben vergessen würde.

Seitdem war der Kontakt zu Chris immer weniger und weniger geworden. Wenn überhaupt, dann hatten sie sich allenfalls noch bei größeren Familienfeierlichkeiten gesehen. Und selbst da hatten sie einander zumeist die kalte Schulter gezeigt.

Tom presste sich die Handballen auf die Augen. Als er laute Stimmen auf dem Korridor vor seinem Büro hörte, ließ er die Hände sinken und runzelte die Stirn.

„Warten Sie! Sie können da nicht einfach …“

Bevor er etwas dagegen tun konnte, wurde die Tür aufgerissen, und eine junge Frau stürmte in sein Büro – dicht gefolgt von Chris’ … falsch … von seiner Sekretärin Annika Römer. Er wusste nicht, ob er sich je daran gewöhnen würde, jetzt im Büro seines Bruders zu sitzen. Aber wer hätte auch für möglich gehalten, dass Chris jemals seine Stelle als Geschäftsführer verlieren würde …

„Es tut mir schrecklich leid, Herr Reuther“, entschuldigte Annika sich sofort. „Die Dame ließ sich einfach nicht aufhalten.“ Sie bedachte die Unbekannte mit einem missbilligenden Blick, den diese jedoch gar nicht wahrzunehmen schien.

„Schon gut, Annika.“ Er nickte ihr zu. „Sie können uns jetzt allein lassen. Ach, und seien Sie doch bitte so freundlich und bringen uns Kaffee, ja?“

Annika blinzelte überrascht. „Ich … natürlich, sehr gern.“

Zum ersten Mal widmete Tom dem ungebetenen Gast seine volle Aufmerksamkeit – und was er sah, weckte sein Interesse.

Die junge Frau war nicht schön im klassischen Sinne. Dazu war ihr Gesicht eine Spur zu breit, und ihre Augen standen ein klein wenig zu weit auseinander. Doch wenn man diese kleinen Details außer Acht ließ, war das Gesamtbild durchaus nicht ohne Reiz.

Dabei gab sie sich ganz offensichtlich keine Mühe, ihre Vorzüge zu betonen. Sie trug kein Make-up, und das fahle Licht des regnerischen Spätnovembertags ließ sie vermutlich noch blasser erscheinen, als sie ohnehin bereits war. Unter ihren blaugrünen Augen lagen dunkle Ringe, die darauf hindeuteten, dass sie schon über einen längeren Zeitraum keinen erholsamen Schlaf mehr gefunden hatte. Insgesamt wirkte sie abgeschlagen und … zornig?

„Nun, was verschafft mir das Vergnügen Ihres Besuches, Frau …“

„Zimmermann – Laura Zimmermann – und ich kann Ihnen versichern, dass es kein Vergnügen für Sie sein wird.“

Sie schaute ihn an, die Fäuste in die Seiten gestemmt, und wirkte irgendwie – erwartungsvoll. So, als dachte sie, dass ihm schon ihr Name etwas sagen sollte.

Das war jedoch nicht der Fall.

Nicht im Geringsten.

Er hob eine Braue. „Nun, Frau Zimmermann … Vielleicht hätten Sie die Güte, ein wenig mehr ins Detail zu gehen?“ Er deutete auf den Besucherstuhl. „Aber setzen Sie sich doch erst einmal. Annika müsste jeden Moment …“ Die Tür wurde geöffnet, und er schenkte seiner Sekretärin ein Lächeln, die mit einem Tablett, auf dem sie eine Kanne und zwei Tassen balancierte, in den Raum trat. Sie arbeitete schon seit gut und gerne zwanzig Jahre in der Firma, und war so etwas wie die gute Seele der Vorstandsetage. „Ach, da sind Sie ja schon.“ Er stand auf, um das Tablett entgegenzunehmen. „Vielen Dank, Annika. Bitte stellen Sie mir in der nächsten Stunde keine Anrufe durch, ja?“

Sie strich eine graudurchwirkte Strähne, die sich aus ihrem strengen Dutt gelöst hatte, zurück hinters Ohr, und nickte. „Natürlich, Herr Reuther.“ Leise fügte sie hinzu. „Und Sie brauchen auch ganz bestimmt nicht den Sicherheitsdienst?“

Tom unterdrückte ein Schmunzeln. „Ihre Besorgnis ehrt Sie, Annika, aber das wird nicht nötig sein. Ich bin sicher, dass ich auch ohne Security mit Frau Zimmermann fertigwerden kann.“

Als die Tür leise hinter der Sekretärin ins Schloss fiel, stellte er das Tablett auf dem Schreibtisch ab, schenkte den dampfenden Kaffee in zwei Tassen und schob eine zu seiner Besucherin hinüber. Die andere nahm er mit, als er sich wieder hinter seinen Schreibtisch setzte.

Die Frau hatte sich noch immer nicht von der Stelle gerührt und funkelte ihn wütend an. „Sie haben wirklich keine Ahnung, wer ich bin“, stellte sie nach einer Weile fest.

Er schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht den blassesten Schimmer, aber Ihr Auftreten legt die Vermutung nahe, dass ich es sollte. Vielleicht helfen Sie mir auf die Sprünge? Aber zuerst setzen Sie sich bitte. Annikas Kaffee ist wirklich hervorragend. Es wäre eine Schande, ihn kalt werden zu lassen.“

Mit einem ungehaltenen Schnauben durchquerte die Fremde den Raum und ließ sich auf den Besucherstuhl sinken. Kerzengerade saß sie da, die Hände auf dem Schoß verschränkt. Tom konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal jemandem gegenübergestanden hatte, der so verkrampft war.

„Also, Frau Zimmermann, was haben Sie auf dem Herzen?“

„Ihr Kaufangebot habe ich auf dem Herzen“, schoss sie sofort zurück. „Oder vielleicht sollte ich sagen, es liegt mir im Magen. Und zwar verflixt schwer.“

Kaufangebot. Etwas klingelte bei ihm, doch er konnte es nach wie vor nicht recht greifen. „Tut mir leid, ich kann noch immer nicht folgen“, sagte er und zuckte entschuldigend mit den Achseln. „Hier gehen jeden Tag so viele Unterlagen über meinen Tisch, dass ich unmöglich alle aktuellen Angelegenheiten im Kopf behalten kann.“

Ihre Miene verfinsterte sich noch weiter. „Großer Gott, das ist ja noch schlimmer, als ich erwartet habe. Sie wollen mir meine Existenz für ein Taschengeld abknöpfen und erinnern sich nicht einmal? Das …“ Sie schüttelte den Kopf. „Wirklich, das schlägt dem Fass den Boden aus.“

Tom nippte an seinem Kaffee. Der war noch viel zu heiß, und er verbrannte sich prompt die Oberlippe, doch wenigstens verschaffte es ihm eine kurze Atempause. Zimmermann. Kaufangebot. Existenz. Verdammt, er war jetzt beinahe sicher, dass sein Vater ihm dazu irgendetwas gesagt hatte, als sie an seinem Krankenbett die Bedingungen seiner vorübergehenden Übernahme der Geschäfte der Stollenmanufaktur besprochen hatten. Dummerweise war Tom zu diesem Zeitpunkt zu aufgebracht gewesen, um seinem Vater wirklich zuzuhören, und so waren es jetzt auch nur Bruchstücke, die ihm wieder zuflogen.

Doch Bruchstücke waren immer noch besser als gar nichts – damit konnte er arbeiten. Wozu war er schließlich Schauspieler? Mit Improvisation verdiente er seinen Lebensunterhalt.

Er stellte die Tasse wieder auf dem Schreibtisch ab. „Sie sind die Besitzerin des Knusperhäuschens?“

„Hexenhäuschen“, seufzte sie resigniert. „Und ja, die bin ich. Wie schön, dass Sie es doch geschafft haben, sich zu erinnern. Denn dann können Sie sich vielleicht auch vorstellen, warum ich hier bin.“

Konnte er das? Sie hatte ja bereits angedeutet, dass ihr ein Kaufangebot für ihre Bäckerei vorlag – und dass sie damit alles andere als zufrieden war. Wirklich verwunderlich war das nicht. Walter Reuther war ein Pfennigfuchser, der niemals mehr bezahlte als unbedingt nötig.

Dass er versuchte, der jungen Frau ihren Betrieb für einen Apfel und ein Ei abzukaufen, bedeutete vermutlich, dass sie sich finanziell in einer echten Zwangslage befand. Und Toms Vater war niemand, der davor zurückschreckte, eine solche Lage zu seinem Vorteil auszunutzen. Ganz im Gegenteil.

„Sie wirken deswegen sehr ungehalten“, sagte Tom. „Es zwingt Sie doch niemand, auf das Angebot einzugehen, wenn es Ihnen nicht zusagt.“

Ihre Antwort bestand aus einem abfälligen Schnauben – doch sie wandte auch den Blick ab, was für ihn ein deutliches Zeichen war. Sie musste wirklich in großen Schwierigkeiten stecken, denn offenbar blieb ihr nichts anderes übrig, als das Angebot seines Vaters ernsthaft in Erwägung zu ziehen – ob es ihr nun gefiel oder nicht.

Er beschloss, noch einen draufzusetzen, um zu sehen, ob er sie aus der Reserve locken konnte. Also fügte er betont sachlich hinzu: „Zudem können Sie mich kaum für Ihre unternehmerischen Fehlentscheidungen verantwortlich machen. Dass Sie heute mit dem Rücken zur Wand stehen, ist nicht meine Schuld, meine Liebe.“

Jetzt blitzten ihre grünblauen Augen regelrecht vor Wut. „Sie wissen ganz genau, dass die Dinge in meinem Fall ein wenig anders liegen. Ich bin erst kurz nach dem Tod meiner Eltern wieder nach Dresden zurückgekehrt, und die Patisserie, die ich zuletzt während meiner Zeit in Paris geführt habe, war überaus erfolgreich. Ich habe Erfahrung sowohl in der Produktion als auch in Vertrieb und Marketing. Aber nichtsdestotrotz haben Sie natürlich recht, es wurden falsche Entscheidungen getroffen. Entscheidungen, durch die mir nicht viele Optionen offenbleiben – wie Sie sehr wohl wissen, nicht wahr? Sonst würden Sie es wohl kaum wagen, sich mir gegenüber eine solche Frechheit herauszunehmen!“

Tom fiel ein, dass er irgendwo schon einmal etwas über die neue Besitzerin des Hexenhäuschens gelesen hatte. Wenn er sich recht erinnerte, war sie von einem echten Meister der Konfiserie ausgebildet worden. Ihre Referenzen waren also beeindruckend. Sie schien genau die Person zu sein, die jeder Arbeitgeber gern seine Angestellte nennen wollte.

Unwillkürlich musste er wieder an das Telefonat mit seiner Mutter zurückdenken. Sie versuchte nach wie vor, ihn davon zu überzeugen, die Leitung der Firma selbst zu übernehmen. Doch er und sein Vater hatten einen Deal geschlossen. Tom musste es nur gelingen, bis zum Jahresende einen geeigneten Geschäftsführer zu finden und den diesjährigen Stollenwettbewerb auf dem Striezelmarkt zu gewinnen, und er war frei.

Nur …

In Wirklichkeit wollte sein Vater ja nicht, dass er erfolgreich war. Ganz im Gegenteil sogar: Er rechnete damit, dass Tom auf ganzer Linie versagen und ihm daher auch weiterhin als Geschäftsführer zur Verfügung stehen würde.

Doch da hatte er die Rechnung ohne Toms Dickkopf gemacht. Er würde dem alten Mann zeigen, was wirklich in ihm steckte, und wenn seine Chancen noch so schlecht standen!

Natürlich konnte er auch so jederzeit einfach alles hinschmeißen und gehen. Aber so schlecht das Verhältnis zu seinem Vater auch sein mochte, für seinen Tod wollte er nicht verantwortlich sein. Und die Ärzte hatten sich in der Hinsicht ziemlich klar ausgedrückt: Jede Aufregung konnte der Gesundheit seines Vaters unwiderruflichen Schaden zufügen.

Also war er für den Augenblick auf dem Chefsessel gefangen.

Aber wirklich nur für den Augenblick, wiederholte Tom mantraartig, um sich selbst zu beruhigen. Denn die Vorstellung, dass er dauerhaft … Nein, auf gar keinen Fall. Er wollte nicht den lieben langen Tag im Büro sitzen. Er wollte zurück auf die Bühne. Es war Glück, dass er kein laufendes Engagement hatte unterbrechen müssen, um hier auszuhelfen. Aber er konnte es sich trotzdem nicht erlauben, eine zu lange Pause einzulegen. Die Branche war schnelllebig, und wenn man erst einmal eine Weile von der Bildfläche verschwunden war, geriet man rasch in Vergessenheit.

Auf einmal kam Tom ein Gedanke. Er neigte den Kopf ein Stück zur Seite. „Sagen Sie, können Sie auch Stollen backen?“

Die Frau blinzelte irritiert. „Ob ich …? Was soll das für eine Frage sein? Natürlich kann ich Stollen backen! Das Hexenhäuschen ist berühmt für seine unterschiedlichen Stollensorten, darunter natürlich auch der klassische Dresdner Stollen.“

„Arbeiten Sie für mich.“ Er hatte nicht lange darüber nachgedacht, sondern seine Gedanken einfach ausgesprochen. Doch vielleicht hätte er die Sache ein wenig behutsamer angehen sollen, denn ihre Miene verfinsterte sich schlagartig.

„Ich soll für Sie arbeiten? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?“

Jetzt war es ohnehin zu spät für eine diskrete Vorgehensweise. „Wieso nicht? Wenn Sie Ihre Bäckerei verkaufen, brauchen Sie doch einen Job, oder etwa nicht? Arbeiten Sie für mich. Als meine Assistentin.“

„Ich bin Bäckermeisterin, keine Bürokraft“, fauchte sie. „Und überhaupt: Für jemanden wie Sie, der die Notlage anderer Menschen ausnutzt, arbeite ich nicht. Eher friert die Hölle zu!“

Mit diesen Worten sprang Laura Zimmermann so abrupt von ihrem Platz auf, dass ihr Stuhl umkippte, und stürmte zur Tür. Sie knallte sie so fest hinter sich zu, dass Tom den Luftzug bis ans andere Ende des Büros spürte.

Er atmete tief durch.

Na, prost Mahlzeit – das war ja ganz hervorragend gelaufen.

2. KAPITEL

Laura schaffte es noch bis zu ihrem Auto, ehe sie in Tränen ausbrach. Zum Glück regnete es noch immer in Strömen, und das Wasser, das über die Fenster lief, verhinderte, dass Passanten einen Blick ins Wageninnere erhaschen konnten.

Was bildete sich dieser unverschämte Kerl eigentlich ein?

Der Name Reuther war ihr natürlich ein Begriff, immerhin stand die Stollenmanufaktur schon mit der Bäckerei ihrer Eltern in Konkurrenz, solange sie zurückdenken konnte.

Wobei – von Konkurrenz konnte eigentlich nicht die Rede sein, denn dazu musste man in derselben Liga spielen. In Wahrheit handelte es sich mehr um einen Kampf David gegen Goliath. Während der Betrieb ihrer Eltern unter dem Druck der rückgängigen Verkaufszahlen zu leiden gehabt hatte, waren sie für das sehr viel größere Unternehmen allerhöchstens so störend gewesen wie eine lästige Fliege.

Und nun kam dieser Reuther daher, überheblich und arrogant, und erwartete, dass sie ihren Betrieb für einen geradezu unverschämt niedrigen Betrag an ihn verkaufte und – was eine noch größere Frechheit war – sogar noch als seine Assistentin für ihn arbeiten sollte!

Das war wirklich die Höhe!

Wie konnte er auch nur eine Sekunde lang glauben, dass sie auf ein solches Angebot eingehen würde? Und doch …

Als die Tränenströme langsam versiegten, fuhr sie sich mit dem Ärmel ihres weiten Strickpullovers über die Augen und atmete tief durch. Erst als sie vollkommen sicher sein konnte, dass sie sich weitgehend gefasst hatte, steckte sie den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor.

Zurück im Betrieb schlich Laura sich durch den Hintereingang herein und verschwand in ihrem Büro. Sie wollte – konnte – jetzt niemanden sehen oder sprechen. Dazu war sie einfach noch viel zu aufgewühlt. Ein falsches Wort reichte, und sie würde wieder in Tränen ausbrechen, und das wollte sie auf gar keinen Fall.

Wut war sicherer als Traurigkeit.

Ihre Wut konnte sie wachsen lassen und all die anderen Gefühle darunter begraben. Mit Wut konnte sie umgehen. Sie würde ihr dabei helfen, nicht unter der Last der Dinge, die ihr in unmittelbarer Zukunft bevorstanden, zusammenzubrechen.

Hoffentlich.

Es klopfte. Laura unterdrückte ein Seufzen und rief stattdessen „Herein“.

Es war Ulf, der kurz darauf eintrat und sich auf die Kante ihres Schreibtisches setzte. „Ich habe bemerkt, wie du reingeschlichen bist, Chefin. Und vorhin bist du ziemlich aufgebracht davongestürmt. Stimmt was nicht?“

Laura holte tief Luft. „Ich kann das Hexenhäuschen nicht mehr halten“, gestand sie leise. „Ich weiß, ich hätte es allen schon viel früher sagen sollen, aber ich habe immer gehofft, dass ich das Ruder vielleicht doch noch irgendwie herumreißen kann.“

Zu ihrer Überraschung nickte der alte Bäckermeister bloß. „Ich habe mir so etwas schon gedacht“, sagte er. „Du bist schon eine ganze Weile nicht mehr so fröhlich und gelassen, wie ich dich eigentlich kenne. Man merkt dir an, dass dir etwas auf dem Herzen liegt.“ Er schenkte ihr ein Lächeln. „Du wirst also verkaufen …“

Schon wieder spürte Laura, wie ihr Tränen in die Augen traten. Hastig blinzelte sie sie weg, doch natürlich hatte Ulf es bemerkt.

„Ach, Kindchen, das ist doch kein Grund zum Weinen. Ich weiß, dass dir das Hexenhäuschen sehr wichtig ist, aber so ist nun einmal der Lauf der Dinge. Manchmal gewinnt man, manchmal verliert man.“

Laura schniefte. „Du siehst das ganz schön gelassen, dafür, dass es dich vermutlich den Job kosten wird.“

Immer noch lächelnd zuckte Ulf mit den Achseln. „Würde sich irgendetwas ändern, wenn ich mit einer Leichenbittermiene durch die Gegend liefe? Man muss das Leben so nehmen, wie es kommt. Was denkst du, wie oft ich schon dachte, in einer ausweglosen Situation zu stecken? Aber schau mich an.“ Er deutete an sich herunter. „Ich bin immer noch hier, und die Welt ist nicht untergegangen. Ich will damit nicht sagen, dass ich mich darüber freue, in meinem Alter noch einmal auf Arbeitsuche zu gehen. Aber es gibt Schlimmeres. Hauptsache ist doch, man ist gesund.“ Fragend sah er sie an. „Hast du denn schon einen Kaufinteressenten?“

Laura schnaubte. „Könnte man so sagen. Du erinnerst dich an den Herrn, der heute Vormittag hier war? Er kam im Auftrag der Reuthers, um mir ein Angebot zu unterbreiten. Wenn man das wirklich so nennen möchte – ich würde es eher als schlechten Witz bezeichnen.“

„So wenig?“

„Das Geld würde nicht einmal reichen, um die Hypothek zur Gänze zu tilgen. Ich würde mich noch Jahre für einen Betrieb abstrampeln, den ich gar nicht mehr besitze. Aber viel schlimmer ist, dass ich euch nicht einmal eine Abfindung zahlen kann, wenn ich annehme. Nicht, dass das zur Diskussion steht. Dieser Reuther …“ Sie schüttelte den Kopf. „So ein unverschämter Kerl ist mir wirklich noch nie begegnet.“

„Ich dachte, der alte Reuther liegt im Krankenhaus?“, entgegnete Ulf überrascht. „Oder war es sein Sohn? Chris Reuther?“

„Keine Ahnung. Ich habe nicht nach seinem Vornamen gefragt, aber er war etwa in meinem Alter, groß, schlank, dunkles Haar, leicht gewellt …“

„Chris Reuther ist doch blond. Wie … Moment, du hast mit Tom Reuther gesprochen?“

Sie zuckte mit den Achseln. „Ich habe wirklich keine Ahnung. Wieso? Wäre das so außergewöhnlich?“

„Kann man wohl sagen. Er und sein Vater sind miteinander verkracht. Er ist der jüngere Reuther-Sohn. Chris, sein Bruder, ist eigentlich der Erbe des Unternehmens. Soweit ich weiß, hat Tom mit dem Familienbetrieb nichts am Hut. Er ist … Maler. Oder nein, nein, Schauspieler. Meine Frau hat mal einen seiner Auftritte am Theater gesehen und war ganz hin und weg von ihm. Nicht, dass das jetzt eine besondere Auszeichnung wäre.“ Er lachte leise in sich hinein. „Karin ist ja nicht gerade das, was man eine Theaterkritikerin nennen könnte. Aber er soll wirklich gut gewesen sein.“

Laura runzelte die Stirn. „Er saß im Büro der Geschäftsführung hinter dem Schreibtisch, von daher bin ich davon ausgegangen, dass er auch zuständig ist.“

„Dann wird das sicher auch so sein. Aber wie auch immer – das Angebot der Reuthers war also nicht besonders gut.“

„Nein. Und dann besaß dieser Kerl auch noch die Frechheit, mir einen Job anzubieten.“

Er hob eine Braue. „Einen Job?“

„Ja, stell dir vor! Als seine Assistentin! Ist das zu fassen?“

„Du hast doch hoffentlich zugesagt.“

Laura blinzelte. „Was? Nein, natürlich nicht! Wie kommst du denn darauf?“

„Na, weil es Sinn ergeben würde.“ Er stand auf, trat hinter Laura und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Wenn du das Hexenhäuschen nicht halten kannst, wirst du eine neue Arbeitsstelle benötigen. Und davon abgesehen, könntest du damit vielleicht sogar uns anderen helfen.“

Fragend schaute sie zu ihm auf. „Wie denn das?“

„Als seine Assistentin könntest du ein wenig Einfluss auf ihn gewinnen. Und wenn du ihm dabei hilfst, seine Ziele zu erreichen, sieht er sich möglicherweise veranlasst, auch dir zu helfen. Frei nach dem Motto: Eine Hand wäscht die andere.“

Laura dachte darüber nach. Ganz unrecht hatte Ulf nicht. Sie durfte sich nicht von falsch verstandenem Stolz und fehlgeleitetem Ehrgefühl beeinflussen lassen. Wenn sie bei der Bank noch weiter in Rückstand geriet und man dort zu dem Schluss kam, dass man lange genug geduldig gewesen war, liefe es auf eine Zwangsversteigerung heraus. An deren Ende würde vermutlich ebenfalls Reuther neuer Besitzer des Hexenhäuschens sein – und zwar zu einem noch geringeren Betrag als dem, den er ihr derzeit anbot.

Wenn sie für ihn arbeitete, würde es dazu hoffentlich nicht kommen. Der Gedanke, sich bei Reuther einschmeicheln zu müssen, war ihr zwar zuwider, doch wenn sie damit irgendetwas für ihre Angestellten erreichen konnte, würde sie in den sauren Apfel beißen.

„Ich … werde darüber nachdenken“, sagte sie schließlich.

Ulf klopfte ihr auf die Schulter. „Mehr kann niemand von dir verlangen. Ich gehe jetzt wieder an die Arbeit. Ach, und Monika lässt ausrichten, dass sich schon ein paar Kunden nach dem diesjährigen Spezialstollen erkundigt haben.“

Laura nickte. Wenn sie ehrlich sein wollte, hatte sie daran in den vergangenen Wochen keinen einzigen Gedanken verschwendet. Dabei war es eine althergebrachte Tradition der Bäckerei Hexenhäuschen, jedes Jahr zur Weihnachtszeit mit einem überraschenden neuen Stollenrezept aufzuwarten.

Obwohl das Erfinden neuer, kreativer Rezepte ihr eigentlich das Liebste an ihrer Arbeit war, stand Laura in diesem Jahr der Sinn nicht danach.

Zum ersten Mal, solange sie zurückdenken konnte, graute es ihr regelrecht vor Weihnachten.

Es war das Fest der Liebe, der Besinnlichkeit und des harmonischen Miteinanders. Doch alles, was Laura empfinden konnte, waren Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.

„… heute in den frühen Morgenstunden eine Kaltfront aus Sibirien erreicht, die deutlich niedrigere Temperaturen und trockeneres Wetter mit sich bringt. Wie es scheint, gibt es sogar tatsächlich wieder Chancen auf weiße Weihnachten. Na, wenn das keine überraschenden Neuigkeiten sind, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Zu welchem Weihnachtstyp gehören Sie? Sind Sie Muffel oder Fan? Rufen Sie uns an unter 0800…“

Tom schaltete das Autoradio mit einem ärgerlichen Schnauben ab. Weiße Weihnachten, so ein Unsinn. Das war nur etwas für kleine Kinder und hoffnungslose Romantiker. Für den Rest der Menschheit bedeutete es Verkehrschaos, Schneeschippen und matschige Schuhe. Nicht unbedingt etwas, das er sich herbeisehnte.

Früher war das anders gewesen. Da hatten Chris und er ab Anfang Dezember jeden Morgen am Fenster gesessen und auf die ersten Schneeflocken gewartet. Mit einem halb bitteren, halb nostalgischen Lächeln dachte er an jene besseren Zeiten zurück, in denen sein Bruder und er sich wirklich noch nahegestanden hatten.

Doch das war lange her, und es brachte nichts, längst verlorenen Dingen nachzutrauern. Tom neigte nicht zu Sentimentalitäten. In seiner Erfahrung machen sie einen nur schwach, und seinem Vater gegenüber Schwäche zu zeigen hatte sich stets als großer Fehler erwiesen.

Walter Reuther war keiner der Väter, die ihre Söhne zu Gefühlsduseleien ermutigten. Ironischerweise war Chris derjenige von ihnen, der sich leichter zu emotionalen Ausbrüchen hinreißen ließ, wie Tom eingestehen musste. Er selbst war … vorsichtiger damit gewesen. Er hatte gelernt, sein Herz nicht auf der Zunge zu tragen. Vielleicht war das Theater auch deshalb zu einer solchen Leidenschaft für ihn geworden. Auf der Bühne konnte er alles herauslassen.

Manchmal hatte Tom das Gefühl, er war nie sosehr er selbst, wie wenn er eine Rolle spielte.

Er stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz hinter dem Firmengebäude ab und stieg aus. Der Atem kondensierte vor seinen Lippen. Es war tatsächlich über Nacht empfindlich kälter geworden. So sehr, dass der Wind, der ihm entgegenblies, scheinbar mühelos durch den Wollstoff seines Mantels drang und ihn frösteln ließ.

Zum Schutz gegen die Kälte stellte er den Kragen hoch und duckte sich leicht, während er auf den Hintereingang zuging.

Sehr zu seiner Überraschung wartete dort bereits jemand auf ihn.

„Frau Zimmermann?“

Sie sah völlig durchgefroren aus. Kein Wunder, schließlich trug sie lediglich einen dünnen Anorak, der für die milderen Temperaturen der vergangenen Tage vielleicht geeignet gewesen sein mochte – nicht aber für diesen plötzlichen Wintereinbruch.

Als sie Toms Stimme hörte, sah sie auf. Doch im nächsten Moment senkte sie den Blick schon wieder. „Herr Reuther“, sagte sie leise. „Ich habe auf Sie gewartet.“

„Warum sind Sie denn nicht reingegangen, um Himmels willen?“ Er schüttelte den Kopf. „Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist – der Winter scheint nun tatsächlich doch noch Einzug zu halten.“

„Ich habe es bemerkt, stellen Sie sich vor“, schoss sie sofort zurück, hüstelte dann aber verlegen. „Ich meine … Ich wollte sagen …“

„Hier, nehmen Sie meinen Mantel.“ Er streifte ihn ab und legte ihn ihr um die Schultern. Dabei merkte er, dass sie am ganzen Körper zitterte, und rieb mit den flachen Händen über ihre Schultern. „Sie sind ja ein wandelnder Eiszapfen. Ehrlich, was haben Sie sich dabei gedacht?“

„Ich habe keinen Termin, und …“ Sie verstummte.

„Und?“

„Und Ihre Sekretärin hat mich vom Sicherheitsdienst vor die Tür setzen lassen.“

Ärgerlich presste Tom die Lippen zusammen. Er würde ein ernstes Wörtchen mit Annika wechseln müssen, denn er vermutete stark, dass es sich um eine kleine Racheaktion seiner Sekretärin handelte. Gestern hatte Laura Zimmermann sie schlecht aussehen lassen, indem sie einfach an ihr vorbei in sein Büro gestürmt war. Aber das war noch lange kein Grund, sie einfach vor die Tür zu setzen. Dazu noch bei diesem Wetter!

„Kommen Sie rein“, sagte er, denn so langsam wurde es ihm selbst empfindlich kalt. Er legte ihr eine Hand auf den Rücken und schob sie in Richtung des Eingangs.

Er atmete erleichtert auf, als sie über die Schwelle traten und die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel. Die Wärme, die sie umfing, war mehr als willkommen. Und seinem Gast war deutlich anzusehen, dass sie ebenso empfand.

Sie machte Anstalten, den Mantel abzustreifen, doch er schüttelte den Kopf. „Behalten Sie ihn noch ein bisschen an. Ich besorge uns jetzt erst einmal eine schöne Kanne heißen Tee. Sie mögen doch Tee?“

Langsam nickte sie und schaute ihn dabei nachdenklich an. „Ich hätte Sie eher für einen Kaffeetrinker gehalten“, sagte sie dann.

Er lachte leise in sich hinein. „Sie glauben wohl, mich vollkommen durchschaut zu haben. Aber Sie täuschen sich. Alles, was sie von mir zu wissen glauben, ist nur Fassade.“

„Weil Sie Schauspieler sind?“ Sie hob eine Braue. „Ist das alles nur ein Spiel für Sie?“

„Sie haben sich also über mich informiert“, stellte Tom fest. Er wusste nicht, ob er sich geschmeichelt oder bedroht fühlen sollte. Nach ihrem Zusammenstoß vom Vortag war es mehr als offensichtlich, dass sie kein Fan von ihm war. „Und um Ihre Frage zu beantworten: Nein, das hier ist kein Spiel für mich, und ich versichere Ihnen, dass ich es auch keineswegs genieße, am sprichwörtlichen längeren Hebel zu sitzen, denn das ist nicht der Platz, an den ich gehöre.“ Er neigte den Kopf ein Stück zur Seite. Irgendetwas hatte sie an sich, das ihn Dinge sagen ließ, die er sonst nie aussprach. Seltsam. „Aber lassen Sie uns diese Unterhaltung in meinem Büro fortsetzen.“

„In Ordnung. Ein Tee wäre nicht schlecht“, sagte sie nach kurzem Zögern. „Earl Grey, wenn Sie haben. Ansonsten tut’s aber auch ein einfacher Pfefferminztee.“

Er führte sie übers Treppenhaus durch den Korridor, von dem aus mehrere Büros und Konferenzräume abgingen, zu seinem Büro. Vorher durchquerten sie aber noch das Vorzimmer, wo Annika an ihrem Schreibtisch saß.

Seine Sekretärin öffnete den Mund, um ihm einen guten Morgen zu wünschen, doch als sie aufblickte und Laura sah, blieben ihr die Worte scheinbar im Halse stecken.

„Tee“, sagte Tom. „Eine ganze Menge davon. Earl Grey, wenn machbar, ansonsten Pfefferminze.“ Als Annika keine Anstalten machte aufzustehen, warf er ihr einen strengen Blick zu. „Und zwar schnell, wenn ich bitten darf.“

Annika nickte hastig, stand auf und eilte davon. Sie hatte eine kleine Lektion für ihr Verhalten wirklich verdient, aber Tom hatte nicht vor, sie lange dafür büßen zu lassen. Das war einfach nicht seine Art.

Er führte Laura in sein Arbeitszimmer, wo er ihr sowohl seinen Mantel als auch ihre eigene Jacke abnahm und an die Garderobe hängte. Dann deutete er in Richtung der Sitzecke, wo die weniger förmlichen Meetings und Geschäftsbesprechungen abgehalten wurden.

Als sie einander in den bequemen braunen Leder-Clubsesseln gegenübersaßen, wirkte Laura schon sehr viel weniger durchgefroren. Ihre Wangen waren zwar noch immer gerötet, doch er konnte nicht genau sagen, wie viel davon der Kälte und wie viel der Situation geschuldet war.

Ehe er das Gespräch eröffnen konnte, betrat Annika mit dem Tee das Büro. Schweigend stellte sie das Tablett auf dem Tisch ab und verschwand wieder.

Neben zwei Tassen und einer Kanne mit – wie Tom nach kurzem Schnuppern zufrieden feststellte – schwarzem Tee befand sich noch ein Teller mit Weihnachtsgebäck auf dem Tablett.

Tom runzelte die Stirn. Annika hatte es sicher gut gemeint und wollte vermutlich einfach nur ihren Fauxpas ausbügeln. Sie kannte ihn nicht persönlich genug, um zu wissen, dass er mit Weihnachten nichts am Hut hatte. Mehr noch – es war ihm die am wenigsten liebe Zeit im Jahr.

Dass die Menschen zusammenrückten und plötzlich Friede, Freude, Eierkuchen herrschte, nur weil Weihnachten war, hielt er für ein Gerücht. Statistiken zufolge gab es um die Feiertage sogar mehr Streit als üblich.

Allerdings konnte Tom dazu kaum etwas sagen, denn er hatte, solange er zurückdenken konnte, seine eigene Familie den ganzen Dezember über so gut wie überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Im Grunde ging es bereits im Frühsommer los, denn spätestens zu Herbstbeginn lagen die ersten Weihnachtsleckereien in den Regalen der Supermärkte.

Tom hatte, anders als sein Bruder, früh gelernt, das alles zu verabscheuen. Aber dafür konnte seine Sekretärin nichts, und sicher war ihr kleiner Fauxpas keine Absicht gewesen.

„Also, Frau Zimmermann, was verschafft mir die Ehre Ihres erneuten Besuchs?“

„Ich bin hier, um noch einmal mit Ihnen über Ihr Angebot zu sprechen.“ Sie faltete die Hände im Schoß, doch er konnte trotzdem sehen, dass sie zitterten. Es fiel ihr also schwer, ruhig und beherrscht zu bleiben. Gut. Aus Erfahrung wusste Tom, dass man solche Menschen einfach aus der Reserve locken konnte. Und genau das hatte er vor, denn er traute dem plötzlichen Frieden nicht.

„Gestern wollten Sie mir noch am liebsten die Augen auskratzen, wenn ich mich recht erinnere. Wieso der plötzliche Stimmungsumschwung? Hatten Sie über Nacht eine Eingebung?“

Laura runzelte die Stirn. „Leicht ist es mir nicht gefallen“, gestand sie. „Und nur um das festzuhalten: Ich finde noch immer, dass Ihr Angebot an eine Unverschämtheit grenzt. Und ich bin nur hier, weil mir – wie Sie vermutlich sehr wohl wissen – kaum eine andere Wahl bleibt.“ Sie blickte auf und schaute ihm geradewegs in die Augen. „Ich habe allerdings nicht vor, mich kampflos in mein Schicksal zu ergeben. Wenn Sie meine Bäckerei kaufen und mich als Ihre Assistentin anstellen wollen, dann erwarte ich im Gegenzug auch etwas von Ihnen.“

Er hob eine Braue. „Und das wäre?“

Sie hatte recht, er wusste inzwischen, dass ihr eigentlich keine großartige Wahl blieb, als ihren Betrieb zu veräußern. Die Akte, die sein Vater angelegt hatte, ließ da keinen Zweifel. Und natürlich kannte er jetzt auch die Angebotssumme, über die die junge Frau sich so aufgeregt hatte.

Und er musste zugeben, dass sie dazu vermutlich auch allen Grund hatte. Die Zahl, die auf einem selbstklebenden Notizzettel ganz oben auf der Akte stand, die Annika ihm gestern noch herausgesucht hatte, war wirklich geradezu beschämend klein. Das passte jedoch sehr gut zu seinem Vater, der niemals auch nur einen Cent mehr ausgab als unbedingt notwendig.

Entsprechend war er ein wenig überrascht darüber, dass sie sich trotzdem traute, noch irgendwelche Bedingungen zu stellen. Überrascht – und beeindruckt.

Er nahm einen Schluck von seinem Tee und ignorierte den Teller mit den Weihnachtskeksen. Dann wandte er ihr wieder seine gesamte Aufmerksamkeit zu. „Also?“

„Wenn ich Ihnen helfe, dann will ich im Gegenzug, dass meine Angestellten bei Ihnen weiter beschäftigt werden. Ich werde mich sogar bereit erklären, diesen vermaledeiten Kaufvertrag zu unterschreiben – aber zusätzlich zur Kaufsumme erwarte ich eine Bonuszahlung an meine Mitarbeiter, und zwar noch in diesem Jahr.“

„So eine Art Weihnachtsgeld, meinen Sie?“

Sie nickte. „Ganz genau. Ihnen mag das egal sein, aber meine Leute haben sich das verdient. Und durch den Verkauf wird sich ja auch für sie alles ändern. Immerhin sind Ulf und Monika dem Hexenhäuschen schon seit Jahrzehnten treu, und unserem Azubi hatte ich eigentlich versprochen, dass er übernommen wird. Den Kaufvertrag unterzeichne ich auch erst, wenn die Bonuszahlung erfolgt ist, und keine Sekunde vorher.“

Tom lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Ich bin einverstanden“, sagte er.

Überrascht schaute sie ihn an. „Ernsthaft?“

„Ja.“ Er nickte. „Aber ich habe ebenfalls eine Bedingung.“

Ihre Miene verdüsterte sich. „Ich bin ganz Ohr.“

„Sie werden als meine Assistentin für mich arbeiten, den Kaufvertrag unterzeichnen und für mich das Rezept für einen echten Gewinnerstollen kreieren. Ich muss nämlich unbedingt den diesjährigen Wettbewerb auf dem Striezelmarkt gewinnen. Und wenn das nicht funktioniert, sind auch die anderen Punkte unserer Vereinbarung damit hinfällig. Habe ich mich klar ausgedrückt?“

„Glasklar.“ Sie runzelte die Stirn. „Aber denken Sie nicht, dass Sie sich das ein bisschen einfach vorstellen? Ich meine, die Anmeldevoraussetzungen erfüllen Sie ja, da Ihr Betrieb mehr als fünf Mitarbeiter hat. Aber wenn es so leicht wäre, den Wettbewerb zu gewinnen, dann würde ja jeder einen solchen Siegerstollen zaubern.“

„Tja, und da berühren Sie einen wichtigen Punkt, den wir vielleicht vorab noch klären sollten. Ich habe nicht die geringste Vorstellung davon, was es braucht, einen Siegerstollen herzustellen, denn ich habe mein halbes Leben damit verbracht, mich von all dem hier“, er machte eine alles umfassende Handbewegung, „zu distanzieren. Ich bin kein Bäcker und erst recht kein Weihnachtsfanatiker. Und abgesehen von den rein logistischen Prozessen, die die Führung so eines Betriebs mit sich bringt, habe ich von dem, was hier Tag für Tag vorgeht, keine Ahnung.“

Laura blinzelte überrascht. „Wie meinen Sie das?“

„Ganz genauso, wie ich es gesagt habe. Ich bin Schauspieler, Frau Zimmermann, kein Unternehmer. Wenn Sie mich fragen, ist Weihnachten doch heutzutage nichts weiter als Kitsch und Konsum. Kaum jemand interessiert sich noch für alte Bräuche und Traditionen. Es geht um Geschenke und darum, sich einmal im Jahr so richtig den Bauch vollschlagen zu dürfen, ohne deswegen ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Macht ja schließlich jeder.“

Jetzt runzelte sie die Stirn. „Das klingt aber ganz schön zynisch. Was haben Sie denn gegen Weihnachten? Und glauben Sie wirklich, dass Sie mit dieser Einstellung der Richtige sind, um eine Stollenbäckerei zu leiten?“

Er lachte bitter auf. „Ob ich das glaube? Nein, auf gar keinen Fall. Wenn Sie mich fragen, ist kaum jemand weniger dazu geeignet als ich. Und was noch viel wichtiger ist, ich will es auch gar nicht. Aber im Augenblick ist leider sonst niemand da, der diese Aufgabe übernehmen könnte. Daher bleibe nur ich – und Sie. Sofern Sie sich dazu durchringen können, mir zu helfen.“

Nachdenklich blickte sie einen Moment ins Leere und nippte dabei an ihrem Tee. Schließlich schüttelte sie den Kopf. „Ich sollte Ihnen gehörig den Kopf waschen“, sagte sie schließlich. „Oder Ihnen zumindest sagen, was Sie mit Ihrem Angebot anstellen können. Denn ich kenne Sie nicht, und niemand kann mir garantieren, dass Sie die Bedingungen, die ich an Sie stelle, tatsächlich erfüllen.“

„Ach ja, die Bedingungen. Der Mitarbeiterstamm der Stollenmanufaktur beläuft sich derzeit auf knapp unter hundert – drei mehr oder weniger machen da keinen großen Unterschied. Sie haben also mein Wort, dass Ihre Mitarbeiter weiterbeschäftigt werden – natürlich nur, solange sie sich nichts zuschulden kommen lassen.“

Sie nickte knapp. „Das klingt nur fair. Und die Bonuszahlung?“

Er lachte leise. „Das dürfte das geringste Übel sein.“ Er nannte ihr eine Summe, die ihm spontan eingefallen war, und ihre Augen wurden groß. „Ich sehe, wir sind uns einig“, kommentierte er trocken und strecke ihr die Hand hin, die sie misstrauisch beäugte.

„Kein Vertrag? Nichts Schriftliches?“

„Natürlich wird unsere Personalabteilung einen Arbeitsvertrag aufsetzen, aber für den Augenblick reicht mir Ihr Wort – und Ihnen wird meines reichen müssen.“

Nach kurzem Zögern schlug sie ein. Dann legte sich ein Lächeln auf Ihre Lippen, das Toms Herz schneller schlagen ließ, aber er blieb misstrauisch.

„Sie führen doch sicher etwas im Schilde.“

„Mitnichten“, entgegnete sie. „Allerdings haben Sie es ja zur Bedingung gemacht, dass ich Ihnen dabei helfen soll, den diesjährigen Stollenwettbewerb auf dem Striezelmarkt zu gewinnen.“

Er nickte knapp. „Ja, das ist korrekt.“

„Ihnen ist schon bewusst, dass es der Firmeninhaber selbst ist, der ihn zubereiten muss, und nicht irgendein Angestellter?“

Tom blinzelte. Er sollte einen Christstollen backen? In seinem ganzen Leben hatte er noch nie etwas Lächerlicheres gehört. „Ich bin nur der stellvertretende Geschäftsführer“, entgegnete er. „Sicher wird man dafür doch eine Ausnahme machen.“

„Das halte ich für eher unwahrscheinlich. Es wäre wohl besser, Sie arrangieren sich mit dem Gedanken, backen zu lernen. Ansonsten könnte ja jeder einfach jemanden engagieren, um für ihn am Wettbewerb teilzunehmen. Wer den Striezelwettbewerb gewinnen will, der muss beweisen, dass sein gesamter Betrieb vom jüngsten Lehrling bis zum Besitzer – oder in Ihrem Fall Geschäftsführer – die Werte und Traditionen des Handwerks vertritt. In den letzten Jahren war das Publikumsinteresse groß, und die regionalen Medien haben allesamt über das Event berichtet.“

„Und wer soll mir backen beibringen? Sie vielleicht?“

Sie zuckte mit den Achseln. „Das wäre sinnvoll. Ich überlege mir ein kreatives Rezept, das sowohl die Jury als auch das Publikum überzeugt, und Sie lernen im Gegenzug, es zu backen.“

Leise fluchend schüttelte er den Kopf. „Das wird nie etwas“, knurrte er. „Ich kann weder kochen noch backen. Jeder Versuch endet unwillkürlich in einer Katastrophe.“

Laura lehnte sich in ihrem Sessel zurück und legte die Finger aneinander. „Sie wissen, dass ich das nicht zulassen kann, richtig? Sie haben die Erfüllung meiner Bedingungen davon abhängig gemacht, dass ich Ihnen dabei helfe, den Wettbewerb zu gewinnen. Und das werde ich auch tun – ob es Ihnen nun gefällt oder nicht.“

„Und wie wollen Sie das anstellen?“ Er hob eine Braue. „Zwingen können Sie mich ja wohl kaum.“

„Nein, aber ich halte Ihnen gern vor Augen, dass eine solche Weigerung auch für Sie nicht ohne Konsequenzen sein wird.“

„Was wollen Sie damit sagen?“ Argwöhnisch runzelte er die Stirn.

„Nun, es wird ja wohl einen Grund geben, warum Sie meine Hilfe benötigen. Die Liebe zum Betrieb oder zu Weihnachten ist es wohl eher nicht, wie es sich vorhin angehört hat.“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist eine Familiengeschichte. Langweilig, wenn man nicht gerade mittendrin steckt. Mein Bruder hat die Stelle als Geschäftsführer verloren, und mein Vater ist gesundheitlich im Augenblick nicht in der Lage, die Stollenmanufaktur zu führen. Ich will diese Firma genauso wenig leiten, wie Sie mir helfen wollen. Aber uns beiden bleibt keine andere Wahl.“

„Erwarten Sie bitte nur kein Mitgefühl von meiner Seite.“

„Würde mir im Traum nicht einfallen.“ Seufzend fuhr er sich durchs Haar. „Also, was muss ich tun? Es kann ja nicht so schwer sein, so einen albernen Stollen zu backen.“

„Nein, ich werde Ihnen alles technisch Notwendige beibringen, das ist kein Problem.“

„Das klingt ganz so, als wäre es damit aber nicht getan.“

„Stimmt.“ Ihre Mundwinkel zuckten. „Und da kommen wir zum kompliziertesten Teil der ganzen Angelegenheit. Einfach nur mit einem tollen Stollen aufzufahren, reicht nämlich leider nicht.“

Tom hob eine Braue. „Es ist ein Stollenwettbewerb, warum sollte das also nicht ausreichen?“

„Weil es bei dem Wettbewerb um mehr geht als nur ums Backen. Die Teilnehmer müssen sowohl vor einer Fachjury bestehen als auch das Publikum auf dem Striezelmarkt überzeugen. Und das schaffen in der Regel nur die Teilnehmer, die das Handwerk und die Traditionen – die weihnachtlichen Traditionen – hochhalten.“

Sofort schüttelte er den Kopf. „Tut mir leid, aber daraus wird niemals etwas. Sie müssen sich etwas anderes einfallen lassen.“

„Würde ich ja wirklich gern“, sagte sie, „aber ich fürchte, das ist zwecklos. Sie werden Ihre Aversion gegen Weihnachten überwinden müssen – zumindest vorübergehend.“

Tom konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass das möglich war. Mit Weihnachten verband er einfach keine schönen Erinnerungen. Von wegen Besinnlichkeit und Frieden: Für seine Familie war es immer die stressigste Zeit des Jahres gewesen! Er bezweifelte also ernsthaft, dass er sich jemals dafür begeistern könnte.

Aber er würde es versuchen.

Wenn er dafür endlich wieder in sein altes Leben zurückkehren konnte, dann war das jede Mühe wert.

„Also schön“, sagte er. „Abgemacht. Tun Sie, was immer Sie tun müssen – ich werde Ihnen zur Verfügung stehen.“

Ihr kaltes Lächeln ließ einen Schauer über Toms Rücken rieseln. Er ahnte, dass er dieses Versprechen noch bereuen würde.

3. KAPITEL

„Du hast was gemacht?“

Mit einem unterdrückten Seufzen fuhr Tom sich durchs Haar. Er aktivierte die Freisprechfunktion seines Telefons und klappte sein Notizbuch zu, in das Laura ihm in ihrer sauberen Handschrift ein Stollen-Grundrezept geschrieben hatte. Er hätte sich denken können, dass die Nachricht von seiner Neuanwerbung sich bereits zu Magnus Heyer herumgesprochen hatte.

Seit zwei Jahrzehnten war Magnus nun schon der Assistent und damit so etwas wie die rechte Hand des jeweiligen Geschäftsführers der Stollenmanufaktur Reuther gewesen; zuerst für Toms Vater, später auch für seinen Bruder – zumindest bis zu dem großen Krach zwischen Chris und Walter Reuther, der dazu geführt hatte, dass Tom jetzt auf dem Chefsessel der Firma saß.

Magnus war, was den Betrieb betraf, besser informiert als jeder andere. Das hatte Tom, seit er widerwillig seine Stelle als vorübergehender Geschäftsführer angetreten hatte, mehr als einmal gemerkt. Manchmal kam es ihm vor, als würde der Mann bereits über Dinge Bescheid wissen, noch bevor sie überhaupt passiert waren.

So hatte er jeden Kandidaten, den Tom bisher für den Posten des stellvertretenden Geschäftsführers gefunden zu haben glaubte, bereits in der Luft zerpflückt, noch ehe der sich überhaupt vorgestellt hatte.

Bedauerlicherweise musste er zugeben, dass Magnus mit seinen Einwänden im Nachhinein zumeist recht gehabt hatte. Die Bewerber waren allesamt entweder inkompetent oder zu ehrgeizig gewesen. Wenn Tom eines mit Sicherheit wusste, dann, dass sein Vater auf keinen Fall jemanden akzeptieren würde, der versuchte, der Firma seinen eigenen Stempel aufzudrücken.

„Ich habe eine persönliche Assistentin für mich eingestellt. Muss ich dafür neuerdings deine Erlaubnis einholen, Magnus?“

Am anderen Ende der Leitung herrschte für einen kurzen Moment verblüfftes Schweigen. Dann räusperte sich der ältere Mann. „Natürlich nicht. Aber ich bin trotzdem ein bisschen verblüfft, dass du eine solche Entscheidung triffst, ohne zuvor wenigstens mit mir Rücksprache zu halten. Allerdings hast du natürlich recht, du bist dazu keineswegs verpflichtet. Von daher …“

Er klang beinahe ein wenig eingeschnappt. Tom konnte nicht behaupten, dass es ihm besonders leidtat. Er hatte nichts gegen Magnus, und er war ihm bisher auch wirklich eine große Hilfe gewesen. Aber seine Loyalität hatte stets Toms Vater gegolten, und das allein reichte, um in Tom eine gewisse Bitterkeit aufkommen zu lassen.

„Aber musste es wirklich ausgerechnet Laura Zimmermann sein?“, fragte Magnus, als Tom keine Anstalten machte, etwas zu erwidern.

„Was ist an Laura Zimmermann auszusetzen?“, entgegnete er. „Sie scheint mir doch mehr als kompetent. Und außerdem hat sie einen guten Grund, mich zu unterstützen.“

„Und der wäre?“

„Ich habe ihr zugesagt, dass wir ihre Mitarbeiter weiterbeschäftigen werden, wenn sie dem Verkauf ihrer Bäckerei zustimmt.“

„Du hast sie dazu bekommen, den Vertrag zu unterschreiben?“ Jetzt war Magnus eindeutig beeindruckt. „Aber … es war doch ohnehin von vornherein geplant, die Angestellten zu behalten und in der neuen Fertigungshalle der Manufaktur einzusetzen.“

„Das ist mir bekannt. Ich habe mir die Akte angesehen, die du über die Angelegenheit angelegt hast. Aber nur weil ich das weiß, heißt das ja nicht, dass Frau Zimmermann davon erfahren muss.“

Hatte er deswegen ein schlechtes Gewissen? Nicht sonderlich. Warum sollte er auch? Letztlich bekam Laura Zimmermann doch genau das, was sie gewollt hatte. Dass von Anfang an nichts anderes vorgesehen war, änderte daran ja nicht wirklich etwas. Es war vielleicht nicht ganz fair, aber für ihn hing zu viel davon ab, dass er die Bedingungen seines Vaters erfüllte.

Das hier war ganz einfach nicht das richtige Leben für ihn.

„Du wirst schon wissen, was du tust“, sagte Magnus nach einer Weile. „Ach, übrigens – hast du jetzt mit deinem Bruder gesprochen?“

Tom verzog das Gesicht. „Nein“, antwortete er dann. „Und jetzt lass uns das Thema wechseln. Es reicht mir schon, dass Mutter mir ständig damit in den Ohren liegt. Ich werde Chris ganz sicher nicht sagen, dass er diese Melanie in den Wind schießen soll. Im Gegenteil. Ich bin fast beeindruckt und ziemlich überrascht, dass mein lieber Herr Bruder es doch einmal geschafft hat, sich gegen unseren Vater aufzulehnen.“

Nachdem er das Gespräch mit Magnus beendet hatte, lehnte Tom sich in seinem Bürosessel zurück. Der Gedanke an Chris hatte seine Laune in den Keller sinken lassen. Auf der einen Seite bereitete der Zwist zwischen seinem Bruder und seinem Vater ihm eine geradezu diebische Schadenfreude. Er hatte immer an zweiter Stelle hinter seinem Bruder gestanden, und für seinen Vater war er mehr oder weniger unsichtbar gewesen. Dass es jemals dazu kommen würde, dass er selbst auf dem Chefsessel des Familienunternehmens sitzen würde, damit hatte er niemals gerechnet.

Und wohl auch sonst niemand.

Ebenso wenig hätte wohl irgendjemand gedacht, dass sein Bruder einer Frau zuliebe ihrem Vater die Stirn bieten würde. Chris hatte immer zu ihrem alten Herren gehalten, ganz gleich, was er auch tat. Und er schien nicht einmal zu merken, wie sehr Reuther senior stets versucht hatte, Tom kleinzumachen und zu demütigen.

Mittlerweile konnte Tom mit den ständigen Kritteleien seines Vaters umgehen – immerhin war er ein erwachsener Mann, der mit beiden Beinen im Leben stand. Aber das änderte nichts an der Bitterkeit, die er noch immer empfand, wenn er an seine Vergangenheit dachte.

Nun stellte sich Chris ausgerechnet für eine Frau den Wünschen seines Vaters entgegen. Seine Freundin war Walter Reuther nämlich nicht gut genug für seinen „Thronerben“ gewesen, und er hatte von Chris verlangt, die Beziehung zu beenden. Doch Toms Bruder, der sonst stets getan hatte, was sein Vater wollte, hatte sich geweigert. Es war zu einem heftigen Streit gekommen, an dessen Ende Walter Reuther seinem älteren Sohn mit Enterbung gedroht hatte.

Doch Chris war damit nicht zu beeindrucken gewesen. Er blieb standhaft und hielt zu seiner Melanie.

Zum ersten Mal seit langer Zeit empfand Tom so etwas wie widerwilligen Respekt für seinen großen Bruder, dem er so lange nachzueifern versucht hatte. Aber das bedeutete nicht, dass er ihm verziehen hätte.

Nein, ganz so einfach war das nicht.

Und auch wenn er wusste, dass es vermutlich die beste Lösung für alle Beteiligten wäre, wenn Chris wieder die Leitung der Stollenmanufaktur übernahm, konnte Tom es doch nicht über sich bringen, ihn anzurufen.

Wozu auch? Solange Chris nicht bereit war, Melanie zu verlassen, würde ihr Vater ohnehin keine Zugeständnisse machen. Und außerdem würde Tom es auch ohne Chris’ Hilfe schaffen. Indem seine Mutter und in gewisser Weise auch Magnus immer wieder andeuteten, dass er nicht dazu taugte, den Betrieb zu leiten, fachten sie nur seinen Ehrgeiz an.

Egal, wer behauptete, Tom könne etwas nicht: Er würde ihnen allen das Gegenteil beweisen.

Als Laura sich am nächsten Morgen auf dem Weg zur Stollenmanufaktur Reuther machte, hatte sie bereits ein unangenehmes Gespräch hinter sich. Doch sie war es ihren Mitarbeitern schuldig gewesen, sie nicht länger über die Zukunft des Hexenhäuschens im Ungewissen zu lassen. Für Ulf und Monika bedeutete die Bäckerei wahrscheinlich sogar mehr als für sie selbst.

Immerhin war Laura mehr als sieben Jahre im Ausland gewesen, um ihren Traum zu leben, und hatte nichts von dem Drama mitbekommen, das sich zu Hause in Dresden anbahnte. Ihre Eltern hatten nie etwas gesagt und jeden Monat aufs Neue pünktlich zum Ersten Geld überwiesen, um ihre Tochter zu unterstützen. Laura hatte das zwar nicht wirklich gebraucht, doch da ihr Vater darauf bestanden hatte, protestierte sie nicht und gönnte sich davon den einen oder anderen Luxus.

Hätte sie geahnt, wie schlecht es damals bereits um das Hexenhäuschen bestellt gewesen war, sie hätte das Geld auf keinen Fall angenommen. Nein, sie hätte – ganz gleich, wie sehr es sie auch geschmerzt hätte – ihre Sachen gepackt und wäre nach Deutschland zurückgekehrt.

Doch so war ihr erst nach dem Tod ihrer Eltern bewusst geworden, was für ein Kampf es gewesen sein musste, alles einigermaßen am Laufen zu halten. Den Menschen saß das Geld einfach nicht mehr so locker in der Tasche, und viele griffen lieber zu Produkten vom Discounter anstatt zur handwerklichen Qualität einer kleinen, aber deutlich teureren Bäckerei. Verdenken konnte sie es ihnen nicht, auch wenn dieses Verhalten den Familienbetrieb langsam, aber stetig in den Ruin getrieben hatte.

Hinzu kam, dass in unmittelbarer Nachbarschaft die Stollenmanufaktur Reuther eine neue Produktionsstätte errichtet hatte – mit angeschlossenem Werksabverkauf. Das hatte dafür gesorgt, dass auch das wirtschaftlich so wichtige Weihnachtsgeschäft eingebrochen war.

Alle hatten die Neuigkeit vom Verkauf des Hexenhäuschens mit großer Fassung aufgenommen. Und nachdem Laura ihnen von Tom Reuthers Zusage berichtet hatte, dass niemand durch die Übernahme seinen Job verlieren würde, war die Erleichterung groß gewesen.

Nun, niemand, abgesehen von Laura selbst. Aber sie hatte sich ja bereits eine neue Stelle gesichert, die sie heute antreten würde.

Sie war mehr als froh und dankbar dafür, dass sie Ulf hatte. Ohne seine Unterstützung hätte sie nicht gewusst, wie sie beide Verpflichtungen – Tom Reuther zu helfen und gleichzeitig das Hexenhäuschen die letzten Monate am Laufen zu halten – bewältigen sollte. Natürlich hätte sie auch für den Rest des Jahres ihre Bäckerei schließen und sich nur auf ihren neuen Job konzentrieren können. Doch das wollte sie nicht. Es gab Leute, die schon seit Jahrzehnten ihren Weihnachtsstollen im Hexenhäuschen kauften. Und sie wollte diese Tradition nicht auf eine solch abrupte Art und Weise zum Abschluss bringen. Das erschien ihr einfach nicht richtig. Es würde also bis zur Übergabe alles so weitergehen wie bisher.

Autor

Anna Keller
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Lilli Wiemers
<p>Früher zog es Lilli Wiemers stets in die weite Welt hinaus. Kein Reiseziel war zu weit, kein Flug zu anstrengend. Erst durch ihren Ehemann hat sie erkannt, wie viel Wahrheit in dem alten Sprichwort steckt: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nah liegt? Heute erforscht sie gemeinsam...
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Nikki West
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